Ambivalenz von Annatar ================================================================================ Kapitel 5: Sakebi ----------------- Sakebi - Schrei „Du hast ihn getötet!“, schrie eine verweinte Kinderstimme. „Du hast meinen Papa umgebracht!“ Das Kreischen in seinen Ohren wurde lauter, steigerte sich immer weiter und schraubte sich in die Höhe, bis die Stimme unmenschlich verzehrt war. „Du hast ihn umgebracht! Mit deinen ekelhaften Händen hast du ihn umgebracht! Du elender Mörder! Weißt du, was du meiner Mama und mir antust?! WEIßT DU DAS?!“ Kayas Schrei zerschnitt die Finsternis. „Sei still! Hör auf! Das war keine Absicht!“, verzweifelt stürzten sich die Worte in die Dunkelheit und erreichten doch nicht ihr Ziel. „ERMORDET!“, kreischte die verzehrte, richtende Kinderstimme. Schweiß ran über Kayas nackten Körper. Er saß aufrecht im Bett. Ein kalter Windzug jagte eine Gänsehaut über seinen Rücken, doch die Kälte, die er fühlte, kam nicht von außen. Mit zitternden Händen tastete er neben sich. „Hakai“, formten seine bebenden Lippen. „Hakai“, wimmerte er. Doch da war nichts außer dem erkalteten Lacken unter seinen Fingern. „Wo bist du? Ich habe Angst …“ Er schluchzte. Tränen füllten seine Augen und selbst die Finsternis verschwamm noch. Seine Schultern bebten und er schluchzte erneut. „Hakai, bitte, bitte, ich habe solche Angst …“ Doch seine Stimme blieb ungehört. Sie vermochte niemanden zu erreichen. Die Schatten krochen auf ihn zu und erneut vernahm er ein Wispern der Kinderstimme. Er ertrug es nicht. Er biss sich auf die Lippen und ließ sich in die Kissen fallen. Er hatte seinen Körper nicht unter Kontrolle und Schluchzer um Schluchzer quoll von seinen Lippen wie die Tränen aus seinen Augen. Der Schmerz in seinem Herzen ließ nicht nach, die Stimme in seinem Kopf schwieg nicht. Er konnte sie nicht zum schweigen bringen, keine Tränen, keine Schluchzer sättigten diesen schrecklichen Richter. „Du widerliches Monster! Nur weil du deine Triebe nicht unter Kontrolle halten kannst, ist er tot! Wenn du ihn nicht verführt hättest, wäre er NICHT TOT!“ Verzweifelt hielt er sich die Ohren zu, während er im Schmerz versank. Er war wie eine große, dunkle Woge, rollte über ihn hinweg und begrub ihn. In den Tiefen des Meeres herrschte eisige Dunkelheit, der Tod war dort zu Hause und seine klammen Finger streckten sich gierig nach seinem Herzen aus. Sein Weinen hörte nicht auf und seine eigene Stimme klang ihm im Ohr. Es war ihm vertraut, dieses Geräusch, oh ja, auch der Schmerz war wohl bekannt. Doch er war noch grausamer, als er ihn kennen gelernt hatte. Es gab einen Unterschied zwischen dem Schmerz, den man spürte, wenn man verletzt wurde und dem Schmerz, den man fühlt, wenn man jemanden verletzt. Letzterer kann weitaus schlimmer sein. Zu der Kinderstimme hinzu mischten sich noch andere, realere Stimmen. „Ekelhaft! Das ist nicht mein Sohn!“ „Mörder!“ „Wie kannst du das Sagen?“ „Hast du es denn nicht gesehen?! Dieser geschlechtsverirrte Bastard ist nicht mein Kind!“ „Mörder!“ „Soll das ein Witz sein? Denkst du ich bin so einer? Verliebt? Geh doch nach Hause und steck dir sonst was in den Arsch!“ „MÖRDER!“ „Hört auf!“, schrie er verzweifelt. „Hört auf …“ Es war nur noch ein Wimmern in der Finsternis. Er spürte Hakais weiche Hände, wie sie ihn in das Lacken drückten, er stöhnte heiser auf, während der andere noch tiefer in ihn drang. „In dieser Illusion gefangen“, hörte er seine dunkle Stimme. „Bis in alle Ewigkeit, werde ich dich nicht mehr frei lassen!“ Arme, die ihn umschlangen. „In dieser Ekstase werde ich dich halten, meine süße Verzweiflung!“ Tränenspuren auf seiner Wange, die nicht ungesehen blieben. Ihr Anblick wurde gierig aufgesaugt. Die Dämmerung brach an. Der Himmel in Rot getränkt, ein Mond, der bereits aufging und die Sonne, seine grässliche Schwester, zu verdrängen suchte. Sein silbriges Profil schimmerte durch die verschmutzten Vorhänge des Hotelzimmers. Kayas Atem zeichnete die Glasscheibe, wollte entfliehen, doch er wurde von einer unsichtbaren Mauer festgehalten. Nur eine kurzweilige Spur blieb von ihm zurück. Das kühle Glas betastend waren da Fingerspitzen, die sich nach Freiheit sehnten. Im fleckigen Spiegelbild las er den Wunsch aus diesem grausig-ekstatischen Traum auszubrechen, aber dieser Wunsch war zäh wie Honig und blieb an der Scheibe haften. „Was ist geschehen?“, murmelte seine gebrochene Stimme. „Was ist nur geschehen? Ich will zurück …“ Wieder allein war er im Begriff ein weiteres Mal das vernebelnde Vergessen zu kosten, das ihm versagt war. Doch seine Seele schrie und geiferte danach, sie musste es kosten, sie konnte nicht überleben im Verzicht. Sie suchte Linderung, wenn auch nur für eine bestimme Zeit gegönnt, so war es doch Linderung. Und Linderung war, einen Atemzug tun. Er wollte vergessen. Er ertrug es nicht, sein Körper ertrug es nicht und sein Herz zerbrach. Langsam hatten sich die Risse gebildet, krochen wie Schlangenleiber zu ihrem Opfer, bis sie ihre Zähne gierig ins Leben hineinschlugen. Es würde zerbersten, dieses einst unschuldige Herz, bei noch größerem Druck, es würde zerbersten. Und die Stimme in seinem Kopf blieb nie lange still. Fahrige Finger suchten einen Schutz vor der Kälte. Stoff schmiegte sich an nackte Haut. Er konnte nicht wärmen, was innerlich zu erfrieren begann. Die Maske seines Gesichts, das Gesicht seiner Maske. Seine Schritte waren schnell, der Hunger seiner Seele groß, er führte ihn durch die Blutübergossenen Straßen, nun da die Finsternis ihn noch nicht leiten konnte. Er wollte zurück in den Garten, in dem er das verbotene Vergessen gefunden hatte, in dem er verweilt war, bis … Seine Hände stießen Türen auf, seine Füße trugen ihn von selbst. Töne und Geräusche nisteten sich in seinem Kopfe ein. „Da bist du ja wieder!“, eine honigsüße Stimme. „Ich wusste, zu würdest zurückkommen.“ „Mein Engelchen“, formten seine spröden, aufgeplatzten Lippen. „Mein Engelchen, ich brauche dich …“ Seine Hand wurde ergriffen, er wurde sanft geführt. Der lähmende, köstliche Geruch durchdrang sein Denken und versteckte alle Stimmen und jedwede Erinnerung hinter dichten Schwaden aus duftendem Nebel. „Setz dich, setz dich“, flüsterte es. „Michael hat dich vermisst“, die Stimme des Engels klang so weit weg. Er ließ sich fallen wund wurde von starken Armen wieder aufgefangen. „Herrin, hier bist du sicher, hier wo Gottes Augen am seltensten ruhen.“ Eine gepolsterte Liege unter seinen schweren Gliedern, die allmählich leichter zu werden schienen. Er spürte etwas in seinen Unterarm stechen. „Gleich wird es dir gut gehen, Herrin.“ Eine weiche Hand streichelte ihn und er gab sich diesem Gefühl der Wonne nur allzu gerne hin, das mit einem Mal durch seinen Körper pulsierte. „Dein erschöpfter Geist, Herrin, wird sich entspannen können und dein erschöpfter Körper ebenfalls.“ Dann fühlte er eine Glückseeligkeit, die er vor langen, langen Jahren, das letzte Mal empfunden hatte. „Herrin, es ist Zeit.“ „Du musst jetzt gehen.“ „Herrin, komm wieder!“ „Bis bald, wir erwarten dich.“ Er taumelte durch die Straßen, während mit jedem Atemzug, den er tat, sein Kopf sich klärte und der geliebte Nebel auseinander zog. Je klarer sein Denken wurde, desto klarer wurde auch sein Schmerz. Tränen rannen über seine Wangen. Er wandelte in der Finsternis. Er weinte, er schluchzte, bis jemand ihn hörte. Er brach zusammen. Er wollte nicht mehr aufstehen. Für nichts in der Welt wollte er sich der Realität, diesem schrecklichen Traumgebilde, wieder aussetzen. „Haben Sie keine Angst, ich rufe einen Notarzt.“ „In dieser Illusion gefangen …“ „Ganz ruhig! Es ist alles ok! Gleich werden Sie abgeholt. Ruhig! Bleiben Sie doch ruhig!“ „Bis in alle Ewigkeit, werde ich dich nicht mehr frei lassen!“ „Scht … Gleich Sind sie im Krankenhaus. Alles wird gut … Scht …“ „In dieser Ekstase werde ich dich halten, meine süße Verzweiflung!“ Kapitel 5/Ende *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)