Eragon - Kind des Mondes von Lawlya (Murtagh x OC) ================================================================================ Kapitel 6: Bestrafung --------------------- Hastig sprang Araya auf die Füße, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und trat schnellen Schrittes aus den Schatten. Dorn folgte ihr auf dem Fuß. Als sie neben ihn trat, warf Murtagh ihr nur einen kurzen Blick zu, bevor er den Korken aus dem Flaschenhals zog und Araya der Geruch von Alkohol in die Nase stieg. Sie kräuselte die Nase und verzog angewidert ihr Gesicht. „Was ist passiert?“, fragte sie mit erstickter Stimme, denn das Rot auf seinem Hemd breitete sich immer noch weiter aus. Hinter ihm sah sie ein paar Rollen Verbandszeug und hoffte sehr, dass er den Alkohol nur zum Ausspülen der Wunden nehmen wollte, doch sie wurde rasch eines Besseren belehrt. Murtagh nahm einen großen Schluck des hochprozentigen Getränks und schluckte ihn schaudernd hinunter, bevor er sich mit dem sauberen Ende seines Ärmels den Mund abwischte. „Ich wurde bestraft“, war seine knappe Antwort. Er sah sie nicht an. Araya schüttelte den Kopf. „Trotzdem solltest du nicht trinken. Das macht es nämlich nicht besser!“, tadelte sie ihn, und zum ersten Mal sah er sie richtig an. Er fluchte, als er ihren anklagenden und angewiderten Blick sah, der die Flasche in seiner Hand fixierte. Er zog sie hinter sich und entzog die Flasche so ihren Augen, als befürchte er, sie würde sie an sich reißen und zerbrechen. „Wenn ich von Galbatorix bestraft werde, habe ich jedes Recht auf dieser verdammten Welt, mich zu betrinken!“, fauchte er aggressiv, was Araya nur den Eindruck gab, dass er nicht hier damit begonnen hatte zu trinken. Er klammerte sich an die Flasche, als sei sie sein einziger Rettungsanker, und sie hatte so das Gefühl, dass er nur trank, um seine Schmerzen zu übertünchen. Sie musterte ihn erneut. Die Flecken waren noch größer geworden, die Wunden schienen überhaupt nicht zu heilen. „Warum heilst du dich nicht einfach mit einem Zauber?“, fragte sie Murtagh schließlich, vor allem, um ihn von der Flasche in seiner Hand abzulenken. Unauffällig warf sie einen Blick auf den Alkohol. „Weil das nicht geht!“, murrte er. Araya öffnete schon den Mund, doch er redete weiter: „Grundsätzlich kann man Wunden natürlich mit Magie heilen, aber Galbatorix hat einen Zauber auf die Verletzungen gelegt, damit man sie auf natürliche Weise heilen lassen muss!“ Araya nickte. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Blitzschnell griff sie nach der Flasche mit dem Schnaps und riss ihn Murtagh aus den Händen. Er sprang auf und protestierte, doch anstatt auf ihn einzugehen, drehte sie sich um und stolzierte zu dem unterirdischen Fluss. Schweren Herzens schüttete sie das Rosmarinöl weg, füllte die Schale mit Wasser und nahm sowohl die getrocknete Arnika als auch die Wermutblätter mit. Als sie sich abermals neben Murtagh niederließ und die Flasche vorausschauend außerhalb seiner Reichweite neben sich stellte und die Arnika zur Hand nahm, hielt er ihren Arm auf. „Was hast du vor?“, fragte er misstrauisch und Araya schaute auf. „Diese Kräuter haben auch wundheilende und desinfizierende Wirkung. Und ich werde dich hier nicht einfach sitzen lassen!“ Murtagh schüttelte den Kopf. „Du brauchst sie doch heute! Lass es, ich komm schon allein klar”, erwiderte er. Als Araya ihn nur stur weiter ansah und wartete, dass er ihren Arm wieder freiließ, seufzte er. „Was geschieht mit dir, wenn du deiner Göttin heute nicht huldigst?“, fragte er. In ihren Augen blitze Unsicherheit auf, doch dann riss sie sich zusammen. „Wenn man die Möglichkeit hatte und sie nicht wahrnimmt oder ignoriert, wird man bestraft“, antwortete Araya langsam und Murtagh wollte schon triumphierend ausrufen, als Araya fortfuhr. „Aber ich bin sicher, sie wird es verstehen!“ Kurzerhand öffnete sie die Flasche Brandwein und zwängte die getrockneten Arnikapflanzen durch den schmalen Flaschenhals. Dann stopfte sie den Korken wieder hinein. Der Alkohol würde die wichtigsten Stoffe aus dem Kraut lösen und somit eine schwache Tinktur herstellen. Dann gab sie den Wermut in die Schale mit Wasser und drehte sich zu Dorn um. „Es ist mir unangenehm, dich darum zu bitten, aber könntest du mit deinem Feuer das Wasser zum Kochen bringen?“, fragte sie leise und mit gesenktem Kopf. Das Feuer eines Drachen war sein Eigentum und heilig. Sie hatte noch nie gelesen, dass ein Drache für einen Menschen Feuer spie. Dorn senkte den Kopf zu ihr herab. Aber nur, weil es Murtagh helfen wird!, stellte er klar, als er seinen Rachen öffnete und einen dünnen Feuerstrahl erscheinen ließ. „Das wird es“, antwortete sie ungefragt. Araya begann, die Sekunden zu zählen, und als fünfzehn Minuten vergangen waren, entzog sie die Schale dem Feuer. Während sie die Verbände zu sich zog und Murtagh aufforderte, seinen Oberkörper zu entkleiden, damit sie an die Wunden kam, konnte das Wasser abkühlen. Allerdings machte Murtagh nicht die geringsten Anstalten, ihrer Forderung nachzukommen, wie sie bemerkte, als sie die Verbände inspiziert und wieder zu ihm gesehen hatte. Sie runzelte die Stirn. „Stimmt was nicht?“, fragte sie, als er sich immer noch nicht rührte. Murtagh verzog unwillig das Gesicht. „Ich werde mich bestimmt nicht vor dir ausziehen!“, antwortete er empört und verschränkte mit einem gewissen Trotz die Arme vor der Brust. Araya seufzte. Es war meistens dasselbe. Entweder dachten die Männer, es wäre unschicklich, sich vor einer Frau zu entkleiden, oder sie wollten einfach nicht verwundbar dastehen, während das andere Geschlecht in der Nähe war. Wie es bei ihm war, konnte sie nicht ermessen, aber sie würde sich nicht von solchen Lappalien davon abhalten lassen, ihn fachgemäß zu verarzten. „Oh doch, das wirst du!“, erwiderte sie mit einem drohenden Ton und erhob sich. Mit wenigen Schritten stand sie hoch aufragend hinter Murtagh, der sich fast den Hals verrenkte, um sie weiterhin ansehen zu können. „Was hast du denn-“, begann er, schrie jedoch protestierend auf, als sie kurzerhand die Schnüre auf seinem Rücken, die sein Hemd befestigten, auftrennte und ihm sein Oberteil einfach über den Kopf zog. Wütend funkelte er sie an, als sie mit ein paar Schritten neben ihm stand. Dann kniete sie sich wieder neben ihn und zog das nun einigermaßen abgekühlte Wasser mit dem Wermut darin zu sich. Dann fiel ihr ein, dass sie gar nichts hatte, womit sie die Wunden mit der Lösung ausspülen konnte. Sie fluchte, als ihr klar wurde, dass die Verbände niemals für beides reichen würden. Was konnte sie also zum Abtupfen seiner Verletzungen nehmen. Da kam Araya ihr abgelegtes Kleid aus ihrer Heimat in den Sinn. Schnell sprang sie auf die Füße – wobei sie Murtagh, der schmollend vor sich hinstarrte, wohl fürchterlich erschreckte, denn er fuhr deutlich zusammen – und lief zu ihrer Schlafstätte. Sie griff sich ihr Kleid und eilte zu ihm zurück, wo sie es in zwei Hälften riss. So hatte sie wenigstens noch Tücher zum Wechseln. Dann tauchte sie die eine Hälfte in das vorbereitete Wasser und wollte gerade beginnen, seine blutenden Wunden zu reinigen, als sie dieses Mal einen Blick darauf warf, der nicht von Kleidung behindert wurde. Sie sog scharf die Luft ein. Beide Arme waren mit tiefen Schnitten in ziemlich regelmäßigen Abständen versehen und sein Rücken sah keinen Deut besser auf. So, wie sie es einschätzte, waren es Peitschenhiebe, die seine Haut kreuz und quer aufgerissen hatten. Und die lange Narbe, von der sie ja wusste, dass sie von seinem Vater stammte, verbesserte das Gesamtbild auch nicht gerade. Anstatt den Blick abzuwenden, konfrontierte sie sich mit dem Schmerz, den er ertragen haben musste, und versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, hätte sie diese Schläge abbekommen. Das konnte sie einfach nicht. Dann festigte sie ihren Griff um das getränkte Stück Stoff und fuhr damit, da es so breit war, gleich über drei der vielen Schnitte auf seinem linken Arm. „Vorsicht, das brennt!“, warnte sie ihn, allerdings zu spät, denn Murtagh hatte schon schmerzhaft die Luft eingesogen. Er lachte. „Nett, dass du das auch schon sagst!“ Nun musste auch Araya lachen und machte sich zügig daran, auch den restlichen Arm zu versorgen. Dorn tigerte nervös neben ihnen auf und ab. Als Araya an Murtaghs Rücken angekommen war, hielt sie es nicht mehr aus. Der Drache machte sie nur zusätzlich nervös … „Dorn, könntest du bitte von irgendwo anders zusehen? Du machst mich nervös mit deinem ewigen Auf und Ab“, fragte sie ihn so freundlich, wie es ihr ihre strapazierten Nerven erlaubten. Dorn schien es einzusehen, denn er verzog sich in eine der schattigsten Ecken des Hortes, von wo aus Araya ihn nicht mehr sehen konnte, er sie aber schon. Dann widmete sie sich wieder Murtaghs Rücken, begleitet von seinen unterdrückten Schmerzens-lauten. Auf halbem Weg nahm sie die andere Hälfte des ehemaligen Kleides, tränkte es erneut in der Lösung und kümmerte sich um den unteren Teil des Rückens und um Murtaghs rechten Arm. Als sie endlich fertig war, wischte sie sich mit dem Arm über ihre schweißnasse Stirn. Sie konnte gerade noch einen erleichterten Laut unterdrücken, Murtagh gelang dies allerdings nicht. Sie lächelte. „Pass auf, die Tortur geht erst richtig los. Aber es hilft!“, versprach sie ihm, worauf er nur den Kopf schüttelte, aber nichts erwiderte. Dorn hielt sich nicht zurück. Das will ich dir auch geraten haben, Menschenkind!, grollte er. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie furchtbar es für ihn sein musste, nichts für seinen Reiter tun zu können und zusehen zu müssen, wie er Schmerzen litt. Araya schüttete den Rest der desinfizierenden Lösung aus und holte neues Wasser. Als sie die Schüssel wieder neben Murtagh stellte, wandte der sich ihr neugierig zu. Araya nahm die Flasche mit Alkohol auf, schüttelte sie noch einmal kräftig und schüttete dann einen großen Schuss in das Wasser. Murtagh verzog das Gesicht, er schien zu ahnen, was ihm blühte. Sie warf noch einen nachdenklichen Blick auf den restlichen Alkohol in der Flasche, dann murmelte sie ein „Tut mir echt leid!“ und schüttete einen großzügigen Schluck zusätzlich über Murtaghs Rücken. Der Drachenreiter schrie auf und Dorns drohendes Knurren hallte durch den Drachenhort. Er sah sie vorwurfsvoll an. „Ich hab mich entschuldigt! Und außerdem kann ich nur so sicher sein, dass die Wunden auf deinem Rücken auch wirklich sauber sind!”, verteidigte sie sich hitzig und legte dann die Verbände in die Mischung in der Schüssel. Als sie begann, sie gut durchzurühren, vernahm Araya ein Geräusch am Treppenabsatz. Doch als sie den Kopf herumwarf und in die Dunkelheit spähte, konnte sie niemanden erkennen. Sie sah noch einen Moment misstrauisch in die Schwärze des Aufganges, doch dann verbannte sie mit einem Achselzucken diesen Vorfall vorläufig aus ihrem Gedächtnis und konzentrierte sich wieder voll und ganz auf Murtagh. Seine Arme zu verbinden war nicht die Schwierigkeit, außer natürlich, dass er sich beschwerte, dass die Verbände brannten und zu fest sitzen würden. Dies überging Araya jedoch nur mit einem verdrehen ihrer grünen Augen. Die wirkliche Herausforderung war sein Rücken. Araya hatte noch nie einen Rücken verbinden müssen und musste erst einmal ein wenig experimentieren, bevor sie eine Position der Verbände gefunden hatte, in der sie wenigstens eine Weile halten würden. „Die müssen regelmäßig ausgetauscht werden“, erklärte Araya Murtagh mit Nachdruck und er nickte. Dann fragte er vorsichtig: „Wieder mit diesem Zeug darauf?“ Als Araya seine leidende Miene sah, lachte sie, schüttelte jedoch den Kopf, was Murtagh aufseufzen ließ. Dann wurde sie wieder ernst. Er hatte über eine ganz bestimmte Sache Stillschweigen bewahrt, und sie hatte es hingenommen, um nicht zu riskieren, dass er sie daran hinderte, ihm zu helfen. Doch jetzt war er versorgt; und sie wollte die Wahrheit wissen! „Warum hat Galbatorix dich bestraft?“, fragte Araya vorsichtig. Augenblicklich erstarrte Murtagh und warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Er schien abzuwägen, ob er ihr die Antwort zumuten wollte. Was Araya nicht gerade ein gutes Gefühl bei der Sache gab. Doch sie sah ihm weiterhin fest in die Augen und Murtagh gab mit einem Seufzen seine Niederlage bekannt. „Ich habe getan, was du verlangt hast. Als Galbatorix in meinen Geist eindrang, zeigte ich ihm alles, was er ohne große Probleme wissen durfte. Ich konnte seine Überraschung darüber spüren und kurz auch das Gefühl des Triumphes, das ihn durchflutete. Doch dann …“ Murtagh endete. Araya war froh, dass die Bestrafung nicht deswegen stattgefunden hatte, weil ihre Taktik nicht funktioniert und Galbatorix wütend geworden war, weil Murtagh sich geweigert hatte, irgendetwas freiwillig preiszugeben. „Was, dann?“, fragte sie fest. Wenn sie die Fehlerquelle wussten, würde die nächste Gelegenheit vielleicht besser für Murtagh ausfallen. Sie wollte ihm helfen, indem sie ihren Gedankengang verbesserte. „Er hat bemerkt, dass ich ihm etwas vorenthielt. Und ich glaube, nachdem er erst sicher war, mich endlich gebrochen zu haben, hat ihn das nur noch mehr erregt“, antwortete Murtagh und starrte dabei auf keinen bestimmten Punkt an der Felsenwand des Horts. Araya spürte, wie sie erbleichte. Wusste Galbatorix von dem Vorfall? Wenn ja, war sie verloren. Und die Aktion wäre völlig umsonst gewesen. Sie hätte Murtaghs Bestrafung zu verantworten. „Weiß er es?“, fragte sie mit merklich zitternder Stimme. Murtagh wandte ihr den Kopf zu, das konnte Araya hören, denn sie selbst hatte damit begonnen, den Boden vor ihren Knien zu mustern. Erst jetzt schien dem Drachenreiter klar zu werden, was er mit seiner Aussage impliziert hatte, denn er sog erschrocken den Atem ein. „Himmel, nein! Er weiß nichts über dich!“ Araya sah langsam auf und warf ihm einen fragenden Blick zu. „Ich verschwieg ihm außerdem, dass wir auf dem Hof waren. Weißt du noch, ich sagte dir doch, er wäre nicht besonders erfreut, dich im Freien zu sehen“, fuhr Murtagh fort und Araya nickte vorsichtig. „Nun, ich wollte ihm das, ehrlich gesagt, nicht wie auf dem Silbertablett präsentieren. Aber so viele Dinge zurückzuhalten, war anscheinend zu auffällig. Also warf ich ihm das vor, anstatt die Sache mit deiner Stimme oder dem Gespräch von gestern zu erwähnen. Er schöpfte keinen weiteren Verdacht und gab sich damit zufrieden. Aber weil ich ohne seine Zustimmung gehandelt und mich ihm außerdem widersetzt habe, wurde ich gezüchtigt.“ Araya starrte ihn an. Er hatte die Peitschenhiebe auf sich genommen, um sie zu beschützen? Das hieß aber auch, dass sie daran schuld war. Immerhin hatte sie ihn darum gebeten, auf den Hof zu gehen. Sie hatte sich selbstsüchtiger verhalten, als es ihr in ihrer Situation zustand … Mit tränennassen Augen senkte Araya den Blick. „Und warum bist du hergekommen?“ Vielleicht dachte er wie sie und hatte ihre Hilfe als Entschädigung haben wollen. Sie könnte es ihm nicht verdenken. Als Murtagh antwortete, war seine Stimme sanft. Anscheinend war ihm ihr erstickter Tonfall nicht entgangen. „Ich wollte Dorn sehen. Aber er konnte mir nicht helfen, und weil er sich Sorgen gemacht hat, hat er dich aufgeweckt. Ich habe ihm gesagt, er soll dich schlafen lassen, aber … Du siehst ja, er hat nicht auf mich gehört.“ Sie nickte. Aber trotz seiner Worte fühlte sie sich immer noch schuldig. Nur, weil sie er ihr einen Gefallen tun wollte. Sie starrte auf die Verbände, die immer noch weiß leuchteten. „Ich werde dich nie wieder bitten, mich hinauszubegleiten“, presste sie schließlich hervor und blickte Murtagh ins Gesicht. Er sah verdutzt aus. „Aber das hast du doch gar nicht. Du hast nur hinausgesehen und ich hab mich entschlossen, dir den Gefallen zu tun.“ „Das ist es ja gerade!“, rief Araya aus und erschreckte Murtagh mit ihrer heftigen Reaktion. „Wenn ich dich gebeten hätte, wäre die Sache wenigstens geklärt. Aber so warst du völlig selbstlos und kannst mir nicht einmal die Schuld für all das geben!“ Araya hielt die Tränen nur noch mit Mühe zurück. Sie wollte nicht vor ihm weinen. Das wäre ihm sicher noch unangenehmer, auch wenn er das letzte Mal außerordentliches Feingefühl bewiesen hatte. Murtagh seufzte tief. „Ich würde dir auch so nicht die Schuld geben.“ Araya starrte ihn fassungslos an. Wie konnte er das sagen? War er wirklich so selbstlos? Sie sah ihn plötzlich mit ganz anderen Augen. Murtagh war weder selbstsüchtig noch zu irgendeinem Verrat fähig. Er war ein freiheitsliebender Mensch, der in Ketten lag. Und weil diese Ketten ihn zu etwas zwangen, das vollkommen gegen seine Natur sprach, tat er ihr nur noch mehr leid. Sie konnte ein glückliches Lächeln nicht zurückhalten. „Ich danke dir!“, rief sie und strahlte ihn an. Murtagh sah sie zwar verwundert an, musste aber auch leicht lächeln. Anscheinend verstand er nicht ganz, was sie meinte, war aber glücklich darüber, dass sie nicht mehr Trübsal blies. Trotzdem schein ein Schatten über seinem Gesicht zu liegen, den sie nicht deuten konnte. Araya erhob sich und wollte gerade Dorn zu ihnen zurückrufen, da vernahm sie das Öffnen der Pforte zum Hort. Verwirrt starrte sie auf die große schwarze und bogenförmige Aussparung im Fels und wartete. Wer kam schon hier herunter? Jedenfalls, wenn Murtagh hier war? Ihre Gedanken drehten sich nur noch schneller, als sie das Mädchen erblickte, das sie bedroht hatte. Aber dieses Mal war sie nicht allein. Zwei Schränke von Männern begleiteten sie. Sie überragten die Dienerin weit über zwei Köpfe und schienen zudem endlos breite Schultern zu haben. Araya hatte noch nie so grobschlächtig gebaute Männer gesehen. Das Mädchen warf ihr erst einen wütenden Blick zu, bevor sie sich Murtagh zuwandte. „Argetlam, ich würde Euch bitten, den Hort zu verlassen. Es geht hierbei um äußerst private Angelegenheiten zwischen des Königs Gast und uns“, erhob sie das Wort und behielt dabei den ziemlich entrückt wirkenden Blick unverändert auf Murtagh. Der ihn skeptisch erwiderte, zumindest soweit Araya das von ihrer Position aus erkennen konnte. Immerhin verstellten ihr die beiden Männer die Sicht. Aber Murtagh war nicht dumm. Er würde sie doch niemals allein lassen, wenn er doch wusste, dass sie außer ihm nur Saliha in diesem Schloss kannte. Er konnte sich sicher denken, dass sie log. „Gut“, hallte seine Stimme wieder, und sie hörte am Knirschen des erdigen Bodens, dass er sich erhob und von ihr entfernte. Er ließ sie doch nicht wirklich allein, oder? Warum? Endlich gaben die Männer den Blick auf ihn frei und Araya konnte sich nicht davon abhalten, ihn mit entsetzten Augen anzustarren. Doch er drehte sich erst um, als diese Dienerin wieder sprach. „Darf man fragen, wo Euer ehrenhafter Drache Dorn ist?“, fragte sie mit einschmeichelnder Stimme, von der Araya nur schlecht werden konnte. Murtagh sah über seine Schulter und antwortete: „Draußen, wo sonst. Oder seht ihr ihn hier?“ Bevor er sich wieder umdrehte, streifte sein Blick kurz Araya. Dann drehte er sich um und stieg die Treppe zum Ausgang hinauf. Kaum war das Geräusch der sich schließenden Tür verklungen, bauten sich die beiden Männer mit verschränkten Armen vor ihr auf. Diese Göre trat vor sie mit einem siegessicheren Ausdruck im Gesicht und einem boshaften Lächeln. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich von Argetlam Murtagh fernhalten. Stattdessen ziehst du ihn aus!“, schrie sie in einem verächtlichen und zugleich eifersüchtigen Ton. Langsam verstand Araya. Das Geräusch, das sie vorhin beim Verbinden seiner Wunden gehört hatte, war ihre fluchtartige Bewegung gewesen, als sie den Hort wieder verlassen hatte. Und sie hatte alles falsch verstanden. Anscheinend war sie ja ernsthaft in Murtagh verliebt und wollte sie als Nebenbuhlerin ausschalten. Trotzdem war es Araya ein Rätsel. Wie konnte sie sie als Gefahr betrachten? Sie hatte keine Zeit mehr, länger darüber nachzudenken, denn auf ein Handzeichen hin näherten sich ihr die beiden Männer, die Arme bedrohlich angewinkelt. Araya hatte sich schon gedacht, dass sie sie nicht umsonst mitgebracht hatte. Sie wollte ihr wohl körperlich einbläuen, sich von dem Drachenreiter fernzuhalten. Und Murtagh hatte sie alleingelassen! Als der erste der beiden Männer mit rechten ausholte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu dem hin auszuweichen, der von ihr aus gesehen rechts stand. Sie duckte sich unter dem Schlag weg und trat einen großen Schritt nach rechts. Der andere hatte sich darauf anscheinend eingestellt, denn er packte sie am rechten Arm. Araya handelte eher instinktiv als rational. Erst riss sie an ihrem Arm, aber natürlich war er viel stärker. Dann drehte sie sich um einhundertachtzig Grad nach links, sodass sie mit dem Rücken an seinem Ellbogen stand. Sie versuchte, sich noch weiter zu drehen, um ihn zu zwingen, ihren Arm loszulassen oder ihn sich zu brechen, doch er knurrte nur und legte den anderen Arm um ihre Taille. Als er sie vom Boden hob, begann Araya zu treten. Der Mann hinter ihr grunzte zwar, als sie ihn mit der Ferse am Schienbein erwischte, lockerte seinen Griff allerdings nicht. Der zweite Mann trat vor sie und ballte die Faust. Wenn sie sich nicht bald aus dem eisernen Klammergriff des Hünen hinter ihr befreien konnte, hätte sie keine Chance mehr, sich zu verteidigen. Das Glück half ihr aus ihrer Lage. Denn plötzlich verlagerte der Mann hinter ihr sein Gewicht so, dass sie ihm ausversehen in den Schritt trat. Was sicher sehr schmerhaft war, denn er schrie auf und ließ sie augenblicklich los. Der schon ausgeholte Schlag vor ihr verlief ins Leere, als Araya sich über den zusammengekauerten und seine Mitte haltenden Mann rollte, Rücken an Rücken, die Beine nach oben gestreckt, um den Schwung nicht zu verlieren. Dann versetzte sie dem immer noch außer Gefecht gesetzten Mann einen Tritt an den Kopf. Er ging zu Boden. Blitzschnell wandte sie sich um und trat einige Schritte vor. Nun stand sie direkt vor dem Kameraden des Gefallenen, so nah, dass nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen waren. Aus dieser Entfernung nutze ihm sein Reichweitenvorteil aufgrund seiner langen Arme nichts. Sie schob ihr linkes Bein nach vorne und klemmte es hinter sein rechtes. Dann versetzte sie ihm einen Faustschlag mitten auf die Nase. Sie spürte Knorpel und Knochen brechen, das Blut spritzte, und der Kerl taumelte rückwärts. Durch ihr Bein, das in seinem Weg stand, verlor er endgültig das Gleichgewicht und ging wie sein Freund vorhin zu Boden. Araya war außer Atem. Sie keuchte vor Anstrengung und hörte so nicht den zweiten Mann, der sich mittlerweile wieder aufgerichtet hatte und sie mit schmerzverzehrtem und hasserfülltem Blick anstarrte. Erst, als er „Du kleine Schlampe!“ schrie, wirbelte Araya herum. Doch sie konnte den Faustschlag in ihr Gesicht nicht mehr aufhalten. Er traf sie an der linken Wange, so heftig, dass sie sofort zu Boden ging und sich zusammenkugelte. Auch der, dem sie die Nase gebrochen hatte, war wieder auf den Beinen und beide ragten vor ihr auf. Sie rechnete mit Tritten gegen ihre Rippen und Nieren, doch plötzlich vernahm sie noch eine Stimme; eine, die nicht wirklich da war. Dorn! Dazwischen, los!!, schrie es in ihrem Kopf, doch sie war viel zu benebelt von dem Schlag, um die Stimme wiederzuerkennen. Araya wollte sie aufrichten, da die Männer anscheinend in ihren Bewegungen innegehalten hatten, doch plötzlich wurde sie von etwas Schwerem niedergedrückt. Dieses etwas besaß scharfe weiße Klauen und es landete direkt auf ihren Rücken. Durch die Wucht, die sie wieder auf den Boden warf, schloss sie die Augen, und dann vernahmen ihre Ohren ein tiefes, lautes Brüllen und Knurren. Gefolgt von einem gedämpften, undeutlicheren Laut, der in ihrem Kopf widerhallte. Ein Knurren wie aus weiter Ferne, so tief, dass ihre Knochen vibrierten. Dann sah Araya über die Schulter und erblickte einen rubinroten Drachen, der drohend die Flügel aufgestellt hatte, den Lefzen hochzog und angriffsbereit über ihr kauerte. Erst jetzt erkannte sie Dorn und konnte somit die Stimme, die durch ihren Geist gehallt war, als Murtaghs zuordnen. Er hatte sie also doch nicht ganz allein gelassen … Eine Welle der Erleichterung überkam sie. Dorn ließ nicht zu, dass Araya sich erhob oder einer der Männer sich auch nur einen Zentimeter bewegte. Sobald sie auch nur die Anstalten einer Bewegung machten, wurde sein beständiges Knurren lauter und lauter, und ließen sie sich dadurch nicht abschrecken, schnappte er nach ihnen. Das schien die zwei davon zu überzeugen, dass er ihnen notfalls auch die Köpfe abreißen würde. Araya hatte ihre Befreiungsversuche schon nach dem ersten Misserfolg aufgegeben. Der Drache wollte sie am Boden behalten, um sie so besser zu beschützen, und sie würde ihm seinen Willen lassen. Ein Blick auf die Verantwortliche dieses ganzen Unsinns verriet ihr, dass sie anscheinend schwerwiegende Konsequenzen für ihr Handeln vermutete. Sie war leichenblass, konnte aber anscheinend auch nicht den Mut finden, davonzulaufen. Dorn hielt sie so lange auf, bis Murtagh kam. Kaum hatte sich der Drachenreiter vor seinen Drachen und somit auch zwischen Araya und die drei anderen Menschen aufgestellt, gab Dorn seine Drohgebärden auf. Er schien anzunehmen, dass sein Reiter stark genug war, es mit ihnen allein aufzunehmen. Sie selbst durfte sich allerdings trotzdem nicht aufrichten. Araya konnte Murtaghs Blick nicht sehen, immerhin stand er mit den Rücken zu ihr, allerdings konnte sie sich anhand der erschrockenen und ängstlichen Gesichter ungefähr vorstellen, wie glücklich er sie ansah … Seine Stimme räumte ihre letzten Zweifel an seiner guten Laune aus. „Verschwindet!“, zischte er in einer Tonlage, die sie noch nie bei ihm vernommen hatte. Sie kannte sie sanft und beherrscht. Sie hatte ihn auch schon mehrmals wütend erlebt; beispielsweise, als er sie das erste Mal in ihrer Zelle besucht hatte. Aber derart wütend, dass seine Stimme klang, als müsse er mühsam seine Beherrschung nach außen hin aufrecht erhalten, um die Menschen vor ihm nicht anzufallen oder gar mit einem Zauber zu belegen, hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie bezweifelte, dass sie ihn je so erzürnen könnte. Die drei Gestalten vor ihm schienen den gleichen Gedanken zu haben, denn kaum hatte Murtagh das einzelne Wort regelrecht hervorgestoßen, kam plötzlich wieder Leben in sie und hasteten aus dem Drachenhort. Kaum waren sie auch nur aus seinem Blickfeld verschwunden, drehte sich Murtagh zu ihr um. Dorn nahm das wohl als Zeichen, dass die Gefahr gebannt war und entließ sie aus seiner Klaue. Befreit atmete Araya auf. Wenn einen mehrere Kilogramm auf den Boden pinnten, war das Luftholen eines der Dinge, die oberste Priorität bekamen. Langsam stemmte Araya sich hoch. Dabei fiel ihr auf, dass die Haut über ihrer linken Wange unangenehm spannte. Der Schlag saß ihr noch in den Knochen. Als sie aufsah, konnte sie Murtagh das erste Mal in die Augen sehen, seit er hier angekommen war. Der Ausdruck darin versprach pure Gewalt. Wut und Zorn waren längst übertroffen. Für Araya sah es eher so aus, als würde er rasen. Sie senkte den Blick. So etwas wollte sie bei Murtagh nicht sehen. Es würde ihr sonst zu scharf in Erinnerung bleiben, und sie hatte nicht das Bedürfnis, schlecht über ihn zu denken, nur weil er seinen Gefühlen ausgeliefert war. Und wieder war sie schuld. Anscheinend brachte sie in letzter Zeit allen, in deren Nähe sie sich aufhielt, Unglück. Araya zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrer malträtierten Wange spürte. Erschrocken sah sie auf. Murtagh stand nah vor ihr. Und es war seine Hand, die die verletzte Haut sanft berührte und darüber strich. Seine Augen hatten sich wieder verändert. Die Raserei war kaum noch zu erkennen, dafür waren seine Augen sanfter denn je. Als sein Blick auf ihre Wange fiel, die sicher rot, wenn nicht sogar schon purpurfarben war, öffnete er den Mund und flüsterte: „Waîse Heil.“ Der Schmerz verschwand. Von einem Augenblick auf den anderen spürte sie nichts mehr von dem Schlag. Sie starrte Murtagh verwirrt an und er verzog den Mund zu einem Lächeln. „Ein Heilzauber“, erklärte er und nahm dann die Hand fort. Sie fühlte sich auf einmal seltsam kühl an. Doch bevor sie länger darüber nachdenken konnte, wandte Murtagh sich ab und hielt auf den Ausgang zu. „Ähm … Wo willst du denn hin?“, fragte Araya und konnte dabei ihre momentane Angst vor dem Alleinsein nicht unterdrücken. Sie spiegelte sich deutlich im Zittern ihrer Stimme wider. Wer wusste schon, ob die Kerle nicht zurückkommen und ihr Werk vollenden würden. Als Dorn auch noch Anstalten machte, sich zu entfernen, brach sich ihre Furcht ganz los. Murtagh schien es zu bemerken, denn er drehte sich plötzlich um und starrte ihr in die Augen. Araya konnte gar nicht anders, als die Arme vor dem Körper zu verschränken, indem sie den jeweils gegenüberliegenden Ellbogen in die Hände nahm. Sie schaute unverwandt zu Murtagh zurück. Er seufzte. „Keine Sorge. Dorn wird hier bei dir bleiben und auf dich Acht geben. Es tut mir leid, dass ich dich alleingelassen habe. Aber anders hätte ich nie erfahren, was da zwischen dieser Dienerin und dir geschieht.“ Dorn ergab sich in sein Schicksal und ließ sich mit einem lauten Krachen auf dem Boden nieder, legte seinen riesigen Kopf auf seine vorderen Pranken und schloss die Augen. Murtagh wollte gerade die erste Stufe der Treppe besteigen, als er abermals zögerte. Araya war sich sicher, keinen Laut von sich gegeben zu haben. „Sag mal …“, begann er, brach aber wieder ab. Anscheinend hatte er Bedenken, seine Frage an sie zu richten. „Ja?“, ermutigte sie ihn. Was immer er fragen wollte, sie hatte keine Angst zu antworten. Das war sie ihm schuldig für all die Probleme, die er wegen ihr hatte. Er druckste noch eine Weile herum, bis er anscheinend mit der Formulierung zufrieden war. „Ich würde gerne wissen, wo du gelernt hast, dich so gut zu verteidigen.“ Araya starrte ihn an. Murtagh schien es falsch zu deuten, denn er hob abwehrend die Hände und fügte hinzu: „Na ja, du hast einem von ihnen die Nase gebrochen. Dazu gehört schon viel, wenn man so im Nachteil ist, wie du es warst.“ Als sie immer noch nichts sagte, wandte er sich wieder ab. „Vergiss es. Du musst nicht antworten.“ „Papa“, flüsterte Araya gerade laut genug, damit er sie hören konnte. Murtagh erstarrte und wandte sich ihr wieder zu. „Was?“, fragte er, seine Stimme klang betroffen. „Mein Vater hat mir beigebracht, mich im Notfall zu verteidigen. Daher …“, Araya konnte nicht weitersprechen. Das Reden über ihren Vater ließ ihre Augen tränennass werden, und sie wollte nicht mehr weinen. Das hatte sie zu Genüge in ihrer dunklen und lichtlosen Zelle getan. Sie versuchte sich wie gestern an das Bild des fröhlichen Mannes zu klammern, das ihr ihren Vater gut in Erinnerungen erhalten würde. „Verstehe“, hörte sie Murtaghs Stimme. Sie klang traurig. Als Araya aufsah, um ihn anzusehen, hatte er ihr den ganzen Körper zugewandt. Er verharrte in gerader Haltung, die Arme und Hände strikt an die Seiten seines Körpers gepresst, in einer Verbeugung. „Danke“, murmelte Araya und entließ ihn somit. Er drehte sich um und verschwand aus dem Hort ohne ein weiteres Wort. Das war auch gar nicht nötig, Araya wusste, es war zugleich eine Respektbekundung und Entschuldigung gewesen. Sie wird dich nicht noch einmal belästigen, meldete sich unvermittelt Dorn wieder zu Wort. Er hatte die Augen aufgeschlagen und starrte ihr mitfühlend entgegen. Araya war über diese Sinneswandlung des Drachen erstaunt. „Was meinst du?”, fragte sie und erwartete doch keine Antwort. Doch Dorn gab sie ihr. Die Dienerin, die dich bedrohte, und die beiden Männer, die sich an dir vergingen, werden von Murtagh bei Galbatorix angeklagt. Dafür muss er nur zu ihm oder einem nahestehendem Diener gehen und ihm die Straftat mitteilen; die Vollstreckung obliegt Murtagh auch ohne die Zustimmung des Königs. Immerhin ist er sein erster Vasall. Sie würden also bestraft. Und so rasend, wie Murtagh wegen dem Vorfall gewesen war, konnte sie sich die Strafe vorstellen. Sie glaubte nicht, dass irgendjemand die Dienerin und ihre zwei Begleiter je wiedersehen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)