Amaltheas Tochter von Setsu-chan (Das letzte Einhorn - Alternatives Ende und Fortsetzung) ================================================================================ Kapitel 9: Eine Geschichte voller Magie und Traurigkeit ------------------------------------------------------- „Es ist schon über 10 Jahre her, zu einer Zeit, in der ich gerade dabei war, herauszufinden, wie ich meine Zauberkräfte sinnvoll einsetzten wollte. Ich wurde Exorzist.“ „Exorzist?? Sie meinen... Teufelsaustreiber??“ „Ja, richtig. Tatsächlich gibt es Dämonen, die nur dann existieren können, wenn sie die Seele eines Menschen besetzen. Von Dämonen sagt man, sie seien die Lakaien des Teufels. Und es gibt andere Geschichten, die berichten, dass Dämon ein Synonym für Teufel ist. Wie auch immer, es kommt nicht selten vor, dass Menschen besessen sind und dann unter böser Fremdkontrolle ganz schreckliche Dinge tun. Ich lernte, meine Magie so zu benutzen, dass es mir gelang, die Dämonen auszutreiben und die Opfer von ihrem Einfluss zu befreien. Daher machte ich es damals zu meiner Berufung und zog durch die Lande, um überall meine Hilfe anzubieten, wo sie gebraucht wurde. Eines Tages kam ich in ein hübsches kleines Dorf, wo ich einer alten Frau im Sterbebett begegnete, die von einem Dämonen gequält wurde. Ich trieb ihn aus, was sich schnell im Dorf herumsprach. Später trat ein Mann auf mich zu, der mir erzählte, er komme aus einem Nachbardorf. Dort würde ein ganz furchtbarer Teufel hausen. Er bat mich, mit ihm zu kommen und mir selbst ein Bild zu machen.“ Kisara lauschte hingerissen. Es war eine Geschichte von der Art, die ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte. Magisch und geheimnisvoll. Sie wusste nicht, wohin diese Story führen sollte, aber sie beschloss, einfach weiter zuzuhören. „Nun, dieses Dörfchen, in das ich jetzt kam, sah völlig anders aus als das vorherige. Es herrschte eine düstere und kalte Atmosphäre. Die Häuser sahen aus, als wären sie Opfer eines Feuers geworden. Tatsächlich, so wurde mir berichtet: „Vor nicht allzu langer Zeit ist hier ein riesiges Feuer ausgebrochen, müssen Sie wissen...“ Der Mann schauderte. „Es war der Dämon! Ich bitte Sie, vertreiben Sie ihn von hier!“ Henry fragte nach: „Da Sie mich um Hilfe gebeten haben, nehme ich mal an, dass der Dämon sich in einen der hier lebenden Leute eingenistet hat. Könnten Sie mich zu ihm oder ihr bringen? Dann kann ich ganz leicht feststellen, ob wir es mit dem Werk des Teufels zu tun haben.“ „S-Sicher“, antwortete der Dorfbewohner; er klang sehr nervös und ängstlich. In den Gesichtern der dort lebenden Menschen erblickte ich große Angst. Ich machte mich auf einen harten Kampf gefasst. Dämonen lassen sich meist nicht mal eben austreiben, sondern leisten erbitterten Widerstand. Der Mann führte mich zu einem Haus und klopfte an die Tür.“ „Ja, bitte?“ Es öffnete eine Frau. Sie war hübsch, aber ihr Gesicht war blass und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. „Hallo Jack“, begrüßte sie den Mann und ließ dann ihren Blick misstrauisch zu dem Fremden huschen. „Was ist denn los? Wer ist das?“ „Jemand, der euch helfen kann, Lucie. Ganz sicher.“ Henry neigte kurz den Kopf. „Wenn ich mich vorstellen dürfte, Ma'am. Mein Name ist Henry. Ich arbeite als Exorzist, das bedeutet, ich helfe Menschen, die von Dämonen besetzt wurden.“ Ihre Augen wurden groß. „Bitte... kommen Sie doch herein.“ „Ich danke Ihnen“, meinte Henry zu dem Mann namens Jack, der nickte und wieder seines Weges ging. „Darf ich Ihnen etwas zu essen und zu trinken anbieten? Wenn sie ein Wanderer sind... dann sind Sie doch sicher erschöpft.“ „Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs...-“ „Oh, nennen Sie mich bitte Lucie.“ „Gut, Lucie... wie kann ich Ihnen helfen?“ Lucie senkte den Kopf. Plötzlich wirkte sie, als sei sie den Tränen nahe. Mit gebrochener Stimme erklärte sie: „Mit meinem Sohn stimmt was nicht. Die Leute meinen... er trüge den Teufel im Leib.“ Henry konnte den Schock nicht ganz verbergen: Ein Kind? „Ihr Sohn, sagen Sie? Wie alt ist er?“ „Sieben...“ „So jung noch? Was meinen Sie damit, etwas stimme nicht mit ihm?“ „Dieses Kind...“, unterbrach Kisara zögernd, „War Balian...?“ Henry nickte. „Du hast es erfasst, Milady.“ „A-Aber... Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Balian von einem Dämon-“ „Lass mich weitererzählen, Kisara. Du wirst gleich verstehen.“ „O-Ok.“ „Wissen Sie, es... ist schwer zu beschreiben. Er ist so verschlossen... und er sagt so seltsame Dinge...“ „Dürfte ich ihn kennenlernen?“ „Ja, sicher... folgen Sie mir.“ Ein kleiner Junge, der ein ganzes Dorf in Schrecken versetzte? Der womöglich ein gefährliches Feuer gelegt hatte? Da war definitiv etwas nicht in Ordnung, dessen war Henry sich sicher. Lucie führte ihn durchs Haus zu einer Tür, die sie langsam öffnete. Mit einer Handbewegung wies sie den Besucher hinein. „Wenn Sie mich entschuldigen würden... ich muss noch das Essen für meinen Mann zubereiten.“ Bevor der Exorzist etwas zu dem seltsamen Verhalten der Frau sagen konnte, hatte sie sich auch schon umgedreht. Es musste mit dem Kind zusammenhängen. Zögerlich betrat Henry den Raum, blieb aber vorerst dicht an der Türschwelle stehen. Das Zimmer war recht dunkel und dazu noch nahezu kahl. Nur ein Bett und ein kleiner Schrank, mehr Möbel und Inhalt gab es nicht. Auf dem Bett saß ein Junge. Henry klopfte einmal sachte an die Tür, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Kind blickte auf und schaute den fremden Mann an. Sein Gesicht hatte dieselben hübschen Züge wie das der Mutter. Er hatte schwarze Kringellöckchen, die ihm ein niedliches Aussehen gaben. Die braunen Augen allerdings wirkten kühl und regungslos und gar nicht wie die eines Kindes. Henry fasste den Entschluss, auf der Hut zu bleiben. Er konnte noch nicht eindeutig sagen, was mit dem Jungen nicht stimmte. „Hallo, kleiner Mann. Darf ich reinkommen?“, fragte er freundlich und lächelte. Sein Gegenüber bewegte sich jedoch nicht und erwiderte auch den Gruß keinesfalls. Nur seine Augen verfinsterten sich ein Stück. „Wer sind Sie?“ Seine Stimme war von einer Kälte umgeben, wie alles in diesem Raum. „Sind Sie ein Arzt? Denken Sie auch, dass ich verrückt bin? Wollen Sie mich einsperren?“ Er schrie nicht; sein Ton blieb erschreckend gefühllos. Der Teufelsaustreiber musste schlucken. Noch nie hatte er ein Kind getroffen, welches so verbittert klang. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Schnurstracks ging er auf das Bett zu. Nun schien Leben in den Jungen zu kommen. Er sprang auf den Fußboden und wollte an die Wand zurückweichen, doch Henry fasste ihn an den Schultern und sah ihm eindringlich in die Augen. Diese blickten jetzt nicht mehr nur eiskalt drein. Der 7-jährige schien ein wenig Panik zu bekommen, obwohl er es eisern zurückzuhalten schien. „Lassen Sie mich los...“ Henry wollte hart bleiben, bis er die Wahrheit kannte. „Junge. Beantworte mir bitte: Tust du Dinge, die du gar nicht willst? An die du dich vielleicht gar nicht mehr erinnern kannst? Zwingt dich eine innere Stimme zu irgendetwas?“ Er schüttelte den Kopf. „Bitte sag mir, hast du dieses schreckliche Feuer verursacht?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Nein“, flüsterte der Junge. „Alle glauben, ich war es. Aber ich war es nicht. Trotzdem stimmt was nicht mit mir... ich habe es gesehen. Bevor es passiert ist.“ Der Zauberer wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Das Ganze schien sich jedoch in eine vollkommen andere Richtung zu begeben. „Wie meinst du das?“ „Warum wollen Sie das wissen?“ Wieder dieser verhärmte Ton. Henrys Stimme wurde ganz sanft: „Ich will dir nichts Böses. Die Dorfbewohner glauben, in dir steckt ein Teufel. Und ich bekämpfe solche Teufel. Dennoch... habe ich so langsam Zweifel daran...“ Der Junge schien allmählich aufzutauen: „Und Sie halten mich nicht für verrückt?“ Der Exorzist schüttelte lächelnd den Kopf. „Aber... ich habe komische Träume... ich sehe Sachen, die noch gar nicht passiert sind... und niemand glaubt mir das... aber ich habe auch das Feuer gesehen... das hat mir auch keiner geglaubt...“ In diesem Moment wurde Henry endgültig klar, dass dieses Kind keineswegs von einem Dämon besessen war. Der Grund, weshalb alle Angst vor es hatten und es für seltsam hielten, war ein anderer. Der Kleine hatte ganz offensichtlich seherische Fähigkeiten. Im nächsten Moment betrat jemand stürmisch den Raum. Henry fuhr herum. „Sie sind der Teufelsaustreiber??“ Es war ein hochgewachsener, sehr aufgebrachter Mann. Der Besucher vermutete, den Vater des Knaben vor sich zu haben. Er wandte sich ihm zu und machte eine höfliche Verbeugung. „So ist es. Mein Name lautet Henry. Und Sie sind sicher der Hausherr?“ „Der bin ich. Ich will mit Ihnen sprechen. Bitte folgen Sie mir.“ Er sprach kurz angebunden, herrisch und sehr grob. Seinen Sohn würdigte er keinen einzigen Blickes, was Henry nicht verstehen konnte. Er schenkte dem Kind ein aufmunterndes Lächeln – dieses neigte, wieder Distanz schaffend, den Kopf zur Seite – und folgte dem Vater. In der Küche, in welcher die zurückhaltende Lucie gerade das Essen zubereitete, wurde der Exorzist zur Rede gestellt: „Hören Sie genau zu: Ich, Aaron, bestimme, was in diesem Haus passiert. Meiner Frau musste ich es gerade noch einmal erklären, weil ich jemanden wie Sie niemals hereingelassen hätte. Wollen Sie sich dazu äußern?“ „Ich wurde um Hilfe gebeten, Aaron“, antwortete Henry ruhig, „Mir wurde berichtet, dass Ihr kleiner Sohn im Verdacht steht, vom Teufel besessen zu sein. Aus diesem Grund habe ich ihn mir einmal angesehen-“ „Ich weiß, was die Leute sagen. Und ich teile diese Meinung, auch wenn ich es bedauere. Allerdings glaube ich nicht, dass man dieses Verhalten austreiben kann oder wie auch immer Sie das nennen. Leider wurde ich mit einem missratenen Teufelskind bestraft. Das ist meine Meinung.“ Lucie, immer noch am Herd stehend, war kaum merklich zusammengezuckt. Der Magier starrte sein Gegenüber fassungslos an. „Bei allem Respekt... ich begreife nicht, wie man so über sein eigen Fleisch und Blut reden kann. Zudem kann ich Ihnen beinahe versichern, dass er nicht besessen ist.“ Nun drehte sich die Mutter zu den beiden Männern um und blickte den Fremden mit großen Augen an. Aaron schien dennoch nichts hören zu wollen, was nicht seiner Meinung entsprach: „Wie lange waren Sie bei ihm drin? Was nehmen Sie sich heraus? Dieses Kind ist nicht nur verrückt, sondern auch unberechenbar und gefährlich!“ „Ihr Sohn... hat eine Gabe. Er sieht die Zukunft. Er hat mir erzählt, dass er dieses Feuer vorausgesehen hat-“ „Das hat er uns allen versucht weiszumachen, guter Herr! Und als er eingesehen hat, dass er mit seinen Lügenmärchen nicht weiterkommt, hat er das Dorf in Brand gesetzt!“ „Nein“, flüsterte Lucie; sie hatte Tränen in den Augen. „Das glaubst du nicht wirklich, Aaron... er hat das nicht getan...“ „Meine Güte, Lucie, sei nicht so naiv! Das kann nicht so weitergehen! Hör endlich auf, ihn zu verteidigen! Und Sie“, er warf Henry einen vernichtenden Blick zu, „Verschwinden schnell wieder aus unserem Dorf. Ihre Hilfe ist hier sinnlos.“ Aaron schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Schatz... wohin gehst du?“ „Ich gehe wieder in die Werkstatt. Mit Arbeit kann ich mich am Besten abreagieren.“ Die Haustür fiel laut ins Schloss. Henry hoffte, wenigstens mit der Frau sprechen zu können, doch sie warf ihm nur einen sehr ängstlichen Blick zu und murmelte: „Für ein paar Nächte kann ich Ihnen einen Schlafplatz anbieten... wenn Sie möchten.“ „Hören Sie, Lucie“, versuchte Henry sie zu erreichen, „Ich meine das sehr ernst. Ihr Sohn ist nicht gefährlich. Und so extrem still ist er meiner Ansicht nach nur, weil ihn alle wie einen Aussätzigen behandeln. Ich kann Ihnen versichern, er hat besondere Fähigkeiten. Das ist nichts, vor dem man sich fürchten müsste.“ „Helfen Sie meinem Kind, Henry... bitte.“ „A-Aber...“ „Befreien Sie ihn von dem schrecklichen Dämonen.“ Kisara war entsetzt. Wenn sie ihre Eltern mit denen Balians verglich... ein himmelweiter Unterschied... „Sogar seine Eltern haben ihn für einen... Teufel gehalten? Ich kapier das nicht...“ „Nun, in Wahrheit hatten sie beide einfach nur panische Angst. Sein Vater hat darauf mit Aggression und Stolz reagiert. Und die Mutter... sie konnte nicht daran glauben, dass ihr eigenes Kind anscheinend so teuflisch war, aber gleichzeitig glaubte sie auch mir nicht, sondern war der Ansicht, er müsse vor einem Monster in seinem Inneren gerettet werden. Auf jeden Fall bin ich geblieben. Ich wollte den Jungen bei seinem schweren Los irgendwie unterstützen... auch wenn ich da noch keinen konkreten Plan hatte...“ Henry bekam in Lucies Haus ein kleines Zimmer, in dem er schlafen konnte. Der Junge ließ ihn nicht los, auch nicht, als es schon lange dunkel geworden war. Daher beschloss er, ihn nochmals aufzusuchen. Da er davon ausgehen musste, dass das Kind am Schlafen war, trat er so leise wie er konnte auf Zehenspitzen in dessen Zimmer. Doch Fehlanzeige: Der kleine Bursche stand reglos am Fenster. Als er den Exorzist bemerkte, drehte er sich ruckartig um und starrte diesen in der ersten Sekunde erschrocken an. „Sie sind es“, sagte er schließlich mit seiner tonlosen Stimme. „Ja. Kannst du nicht schlafen? Ich hoffe, du schickst mich nicht raus?“ „Nein. Ist mir egal.“ Henry wollte nicht locker lassen. Er setzte sich auf das Bett, zunächst hielt er aus Rücksicht Abstand zu dem Jungen. „Verrätst du mir deinen Namen?“ Nach kurzem Zögern murmelte er: „Balian.“ „Balian... was für ein schöner Name. Mein Name lautet Henry.“ Der Junge namens Balian schwieg und blickte weiterhin stur aus dem Fenster. „Balian. Ich möchte dir gerne helfen, hörst du? Ich habe es dir gesagt: Du bist nicht verrückt oder krank. Bitte... sieh mich an. Du musst keine Angst haben.“ „Ich habe keine Angst.“ „Warum drehst du dich dann nicht einfach mal um? Wenn man sich in die Augen guckt, kann man viel besser miteinander sprechen.“ Mehrere Minuten lang passierte gar nichts, dann aber drehte Balian sich zögerlich zu Henry um. Sehr misstrauisch beäugte er ihn: „Was wollen Sie? Warum wollen Sie mir helfen?“ „Ich finde es nicht richtig, wie du behandelt wirst. Das hast du nicht verdient. So etwas hat keiner verdient. Du hast nichts Böses getan.“ Nun schaffte es das Kind, sein Gegenüber direkt anzusehen. „Wissen Sie, was mit mir los ist?“ Ein Flehen breitete sich in seinen Augen aus. Henry war erleichtert, dass Balian zwar unheimlich verschlossen, dennoch von der ganzen Ablehnung nicht völlig abgestumpft war. „Was du kannst, ist etwas Besonderes“, antwortete er, „Du siehst die Zukunft. Das ist Magie.“ „Magie??“ Auf einmal wirkte der Knabe fasziniert. „Sie meinen das, was Hexen und Zauberer können??“ „Ich glaube, wir haben uns damals die ganze Nacht unterhalten. Der Junge blieb zwar immer noch distanziert, aber für seine Verhältnisse blühte er auf. Und ich war fest entschlossen, seinen Eltern und dem ganzen Dorf ordentlich den Kopf zu waschen. Balian hielt nichts davon; er war der Überzeugung, dass das nichts bringen würde. Dennoch suchte ich am nächsten Tag zunächst seinen Vater auf, in der Werkstatt, in der er arbeitete.“ „Was wollen Sie überhaupt noch hier? Verschwinden Sie endlich!“ Henry ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ich will Gerechtigkeit, Aaron. Ihr kleiner Sohn ist hier ein krasser Außenseiter, und das schadet ihm. Dabei ist er unschuldig. Ob Sie es nun glauben wollen oder nicht, er ist ein Seher.“ „Dass ich nicht lache! Dieses dreckige kleine Balg-“ „Halten Sie den Mund, verdammt nochmal!“, befahl Henry ihm bestimmt und seine Stimme war um Einiges lauter geworden. „Ihnen zuzuhören ist eine Schmach! Dieser Junge ist das Kind, das Sie gezeugt haben und das ihre Frau ausgetragen hat! Empfinden Sie denn tatsächlich nur Abscheu für ihr eigenes Kind?? Es hat eine Zeit gegeben, da war er ein winziges Baby und es gab sicherlich keine seltsamen Vorkommnisse wie jetzt! Was haben Sie damals für den Jungen gefühlt?“ Aaron schien nicht zu wissen, wohin er schauen sollte. Betroffenheit machte sich in seinem Gesicht bereit und wurde schnell abgelöst von Traurigkeit. Plötzlich wirkte er völlig verändert. Henry war sich sicher, ihn irgendwo in seinem Inneren erreicht zu haben. „Balian wäre bestimmt nicht so eigenbrötlerisch und zurückgezogen, wenn er nicht zu der Meinung gezwungen worden wäre, dass ihn niemand akzeptiert, nicht einmal seine Eltern. Als ich mit ihm geredet habe ist mir aufgefallen, dass er im Grunde ein liebenswertes Kind ist. Und ein missverstandenes und trauriges Kind. Aaron-“ „Ich habe... immer nur nachgeplappert, was die Anderen erzählt haben. Ich weiß nicht... was ich glauben soll...“ „Vielleicht sollten sie mal auf ihr Herz hören. Dann werden Sie erkennen, dass ihr Sohn nicht der Teufel ist.“ „Was ist danach passiert? Hat er es wirklich eingesehen??“ „Nun, Milady, auf jeden Fall konnte ich sehen, dass sein Sohn ihm nicht so egal war, wie es den Anschein hatte. Leider... hab ich ihn nicht dazu bewegen können, sich mit Balian auszusprechen... aber weißt du, bei der Mutter hatte ich noch weniger Glück...“ „Lucie... es ist wichtig, dass Sie das verstehen. Ihr Junge hat kein Problem und ist weit davon entfernt, von irgendetwas Dunklem besessen zu sein. Er wurde mit einer magischen Gabe geboren. Die Gabe der Vorsehung. Können Sie mir folgen?“ Lucie schwieg; momentan konnte Henry rein gar nichts aus ihrem Gesicht ablesen. Er verstand nicht, warum er nicht an sie heran kam. Sie schien ihr Kind doch zu lieben! „Lucie, ich bitte Sie-“ „Ich habe mein Kind verloren“, begann sie sehr leise; ihr Kopf war gesenkt. „Ich habe meinen süßen kleinen Jungen an einen Teufel verloren... ich verstehe Sie nicht... ich habe Sie darum gebeten, ihm zu helfen... warum tun Sie es nicht???“ Ihre Stimme hatte sich immer mehr erhoben. Henry war erschrocken: „Ihr Sohn ist vollkommen in Ordnung und er selbst! Bitte glauben Sie mir das!“ „Sie glaubte mir einfach nicht. Es war eine verworrene Situation. Aber es wurde noch chaotischer, als der Junge eine neue Vision bekam: „Ich hab was Komisches geträumt... und ich weiß nicht, warum, aber... ich weiß, dass es passieren wird. Bald.“ „Moment. Noch einmal von vorne, Balian“, versuchte Henry das nervöse Kind ein wenig zu beruhigen. „Du hast also von etwas geträumt, das bald geschehen wird? Was hast du gesehen?“ Balian schaute den Exorzisten sehr ernst an. „Ein schrecklicher Sturm... er wird das ganze Dorf zerstören...“ Henry schluckte unwillkürlich. „Bist du sicher?“ Als Antwort kam ein Nicken. Und dann traten plötzlich Tränen in Balians Augen. „Bitte, Henry... glauben wenigstens Sie mir... bitte!“ Henry fand es rührend, diesen zuerst so emotionslos wirkenden kleinen Burschen weinen zu sehen. „Ich glaube dir, Balian. Hab keine Angst.“ Natürlich wollte ich die Dorfbewohner warnen. Doch genauso wenig, wie sie Balian glaubten, wollten sie mich anhören. Auch seine Eltern hielten mich spätestens da für einen riesigen Spinner. Erschwerend hinzu kam, dass Balian nicht konkret sagen konnte, wann dieser Sturm kommen würde. Schließlich kam er... mitten in der Nacht...“ Kisara war schockiert: „Henry, was... wurde aus dem Dorf?“ „Milady, jeder Magier hat eine Gabe, die er besonders gut beherrscht, und bei mir war es schon damals der Selbstteleport. So habe ich Balian und mich retten können. Für die anderen war es viel zu spät... der Orkan war so heftig, dass die Meisten nicht mehr zu retten waren... und das nur, weil keiner zuhören wollte...“ Kisara merkte, dass Henry sich schuldig fühlte. „Sie können nichts dafür, Henry! Schließlich haben Sie damals alles versucht!“ „Ja, schon... ich hätte mir trotzdem etwas anderes gewünscht. Die Situation zwischen Balian und seinen Eltern konnte nie geklärt werden...“ Der Sturm hatte sich endlich gelegt. Fassungslos begaben sich der Zauberer und der kleine Junge an den Ort, wo noch vor wenigen Stunden das Dorf gestanden hatte. Es hatte so dermaßen gewütet, dass nicht einmal mehr viele Trümmer zu sehen waren. Jede Gleichgültigkeit war aus Balians Augen verschwunden, wenngleich er auch nicht weinte. „Henry... meinen Sie, jemand hat überlebt?“ „Ich... kann es mir nicht vorstellen, mein Kleiner... vielleicht, höchstens vereinzelt... sag, würdest du dir wünschen, dass deine Eltern noch leben?“ Die Gesichtszüge des Kindes verhärteten sich: „Warum sollte ich mir das wünschen? In ihren Augen war ich doch nur ein Monster...“ Und nach diesen Worten drehte er sich weg und ging mit gesenktem Kopf weiter. „Was hast du vor, junger Balian?“ „Ich hab keine Ahnung.“ „Möchtest du mit mir kommen?“ „Ich... warum sollte ich?“ „Nun. Erstens, weil ich dir verspreche, dass du mir vertrauen kannst. Und wenn du magst, lehre ich dich, die Magie, die in dir steckt, zu benutzen. Ich möchte dich nicht alleine lassen.“ Zögerlich und erst nach einigen Sekunden drehte der Junge sich zu Henry um und nickte schließlich. Mit einem Anflug von zaghaftem Zutrauen ergriff er die dargebotene Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)