Amaltheas Tochter von Setsu-chan (Das letzte Einhorn - Alternatives Ende und Fortsetzung) ================================================================================ Kapitel 10: Sehen ist nicht glauben... -------------------------------------- Ein paar Tränen kullerten über Kisaras Wangen; die Geschichte hatte sie mitgenommen. Balian war als Kind wie eine Bestie behandelt worden. Sogar seine Eltern... sie hatten nicht zuhören wollen und nachher war es zu spät gewesen. Doch trotz allem war Balian ein freundlicher, offener und selbstbewusster Mensch geworden. „Weine nicht, Kisara. Geschehen ist, was geschehen. Ich weiß, dass Balian, auch wenn er immer sehr stark wirkt, im Grunde von seiner Vergangenheit belastet ist. Er hat es damals nie zugegeben, aber es hat ihm in der Seele wehgetan, dass das Dorf – und vor allem seine Eltern – ihn so behandelt haben. Diese Tatsache ist sein größer Schwachpunkt.“ Als eine Träne Kisaras auf Balians Gesicht landete, zuckten dessen Augenlider und er schlug langsam die Augen wieder auf. Das Erste, was er sah, war Kisaras verweintes Gesicht über sich. „Kisara... was ist passiert? Warum weinst du denn?“ „Ich...“ Beschämt wollte sie die Tränen entfernen, doch Balian war schneller: Er hob die Hand und wischte mit dem Daumen über ihre Tränenspuren. Die 16-jährige starrte ihn gebannt an und verspürte für einen Augenblick den Wunsch, die Zeit möge einfach stillstehen. „Sei mir nicht böse, Balian. Ich habe unserem jungen Fräulein erzählt, wie wir uns kennenlernten.“ Bei dem Gedanken an diese Zeit verengten sich kurz Balians Augen, dann jedoch lächelte er. „Oh ja. Hat was von einer Horrorgeschichte, nicht wahr?“ „Bewundernswert, wie du das so wegstecken kannst“, murmelte Kisara, woraufhin der Mund des 18-jährigen einen traurigen Zug bekam: „Man tut, was man kann, weißt du?“ Kisara wollte nicht weiterbohren, obwohl Balians ausführliche Meinung sie sehr interessiert hätte, doch sie merkte, dass er nicht gerne darüber sprechen wollte; sein Blick war zur Seite ausgewichen. Sie beließ es dabei. „Gehts dir wieder besser, Balian?“ Er erhob sich langsam von Kisaras Schoß. „Ja... ich glaube schon.“ Seit Kisara Henrys Geschichte gehört hatte, wurde ihre Sehnsucht nach ihren heftig vermissten Eltern wieder stärker. Sie hatte sich zwar an das Zusammensein mit den Zauberern gewöhnt und die letzten Erlebnisse hatten sie recht gut von ihrem Heimweh abgelenkt, aber es half alles nichts: Sie war noch nie so lange von zu Hause fort und noch nie so weit weg gewesen. Es war zum verrückt werden... Während Balian und Henry, die sich ziemlich ausgehungert fühlten, etwas aßen, verzog Kisara sich hinter einen Baum, da sie nicht wollte, dass ihre Mitstreiter sie schon wieder weinen sahen. Das kleine Einhorn, das inzwischen wieder aufgewacht war, beäugte sie neugierig, doch Kisara scheuchte es weg: „Lass mich in Ruhe! Dämliches Pferdchen...“ „Wie mir scheint, möchte das junge Fräulein momentan lieber alleine sein, hm?“ „Kisara hat sich wirklich tapfer gehalten. Ich denke, sie braucht mal ein wenig Ruhe und Zeit für sich. Solange sie meinen Schutzwall nicht verlässt, soll es mir recht sein.“ Henry musste schmunzeln: „Wie wahr. Sie hat dich eine ganze Weile geduldig auf ihrem Schoß schlafen lassen und sich sehr um dich gesorgt. Da hat sie eine Pause redlich verdient.“ Balian wirkte irritiert. Wollte sein Meister ihn veräppeln? „Du müsstest jetzt mal deinen Gesichtsausdruck sehen, mein lieber Junge“, meinte der weise Zauberer und lachte einmal herzlich auf, „Wirklich herrlich. Also wenn du meine Meinung hören willst... ihr seid einander sehr zugetan. Oder habe ich unrecht?“ Die Verblüffung, die sich auf Balians Gesicht abzeichnete, wurde schnell abgelöst von Verlegenheit; sein Gesicht nahm einen Hauch rot an. „Henry-“, begann er, wurde jedoch unterbrochen von dem Einhornfohlen, welches zaghaft an seine Schulter stupste. „Oh. Was ist denn los? Was hast du, Kleines?“ Das Fabeltier zupfte nun ein Stück weit drängend an seiner Kleidung und neigte dann den Kopf nach hinten, als wollte es ihm eine bestimmte Richtung weisen. „Du meinst, ich soll dir folgen?“ Es zupfte noch einmal. Balian nickte und stand auf. „In Ordnung.“ Das Einhorn führte sie zu dem Baum, hinter welchem Kisara nach wie vor hockte. Balian hörte das Mädchen schluchzen. Wollte das Fohlen ihn dazu bewegen, ihr zu helfen, sie zu trösten? Der Zauberlehrling lächelte, strich dem kleinen Tier sanft über die Mähne und nickte: „Ich habe verstanden. Ich danke dir.“ Kisara zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich eine Hand an ihrer Schulter spürte. „Hey. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Ihre großen blauen Augen starrten ihn erst verstört, anschließend abwehrend an. „Geh weg...“, verlangte sie trotzig und verbarg das Gesicht in den Händen. „Geh!“, ihre Stimme wurde lauter, „Ich will alleine sein!“ Balian gab noch nicht auf. Behutsam ergriff er Kisaras Hand, doch sie schlug seine aggressiv weg. „Kisara-“ „Lass mich!! Verschwinde gefälligst!! Ich... i-ich... will nach Hause, verdammt!!! Ich-kann-nicht-mehr!!!“ Inzwischen brüllte sie ihren Schmerz laut hinaus. Im nächsten Moment verlor Balian vollkommen die Fassung; nun reichte es ihm. „Jetzt hör mir mal zu!“, begann er sehr bestimmt und umfasste fest Kisaras Handgelenke. „Durch Jammern änderst du überhaupt nichts! Wann verstehst du es endlich?? Diese Leute sind hinter dir her, möglicherweise würden sie dich sogar töten, wenn sie dich in die Finger bekämen!! Dass du nach Hause willst, ist in dieser Situation verdammt noch mal nebensächlich!!“ Balian redete sich immer mehr in Rage; Kisara schaute ihn nur noch sprachlos und eingeschüchtert an. „Du hast nichts davon kapiert, was Henry oder ich dir erzählt haben! Magie, Glaube und Vertrauen sind Fremdwörter für dich, es prallt alles an dir ab! Ich weiß gar nicht, warum ich mir so viel Mühe gebe!!!“ „Verzeih mir, aber du warst so laut, dass ich alles mithören konnte. Ich habe mich ehrlich gesagt gefragt, wann deine disziplinierte Ruhe ein Ende hat. Vielleicht war es gut, dass du deinem Ärger mal endlich Luft gemacht hast. Auch wenn ich es ein wenig hart fand.“ Balian antwortete nicht. Zwar hatte er jetzt, im Nachhinein, ein schlechtes Gewissen, dennoch fand er, dass es dieser kleinen Heulsuse recht geschah. Scheinbar hatte sie immer noch nichts dazu gelernt und war sich nicht bewusst, was eigentlich um sie herum geschah. Sie wollte einfach nur in ihre alte, logische Welt zurück. „Also wenn du meine Meinung hören willst... ihr seid einander sehr zugetan. Oder habe ich unrecht?“ Er hatte sie gern trösten wollen. Wenn er ehrlich zu sich war, musste er zugeben, dass sein Meister recht hatte. Irgendwie mochte er dieses störrische Mädchen ziemlich. Auch wenn er augenblicklich wütend auf sie war. Zunächst verzog er sich alleine in eine Ecke, um zur Ruhe zu kommen. Kisara indessen vergoss nur noch mehr Tränen nach dieser Predigt. Sie hatte es verdient. Sie benahm sich wie ein heulendes kleines Baby, genauso egoistisch, und überhaupt nicht wie die Erwachsene, die sie gern sein wollte. Als Kisara den Kopf hob, sah sie sich erneut dem kleinen Einhorn gegenüber. „Du schon wieder? Was willst du eigentlich? Mach, dass du wegkommst“, grummelte sie, doch das Kleine machte keine Anstalten. Im Gegenteil, zutraulich kuschelte es sich an die 16-jährige. Kisara hob die Hand zum Zuschlagen, in der nächsten Sekunde jedoch besann sie sich. Was tat sie denn? War sie so gemein? Das Tierchen hatte ihr schließlich gar nichts getan... „Tu-Tut mir Leid...“ Bekümmert blickte Kisara das Einhorn an, doch es schien keineswegs abgeschreckt. Vorsichtig streichelte das Mädchen sein kurzes, seidiges Fell. „Es tut mir so Leid... ich bin echt furchtbar, oder?“ Es dämmerte allmählich. Kisara, Balian und Henry waren schon halb am Einschlafen, als auf einmal eine laute, durch die Bäume hallende Stimme ertönte: „Glaubt ja nicht, dass ihr unter dem Schild ewig sicher seid, verdammte Bälger!!“ Alle drei zuckten zusammen. Das war definitiv- „Mary...“ „Ich versteh das nicht, Henry... diese Wölfe können Kisara und das Fohlen doch unmöglich durch meinen Schutzzauber hindurch gespürt haben??“ Henry runzelte die Stirn, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Die Wölfe nicht, Balian... aber Lucien.“ Balians Augen weiteten sich entsetzt. „Es muss so sein, mein Junge. Anders kann ich mir nicht vorstellen, wie sie uns gefunden haben sollen...“ „Entweder, ihr kommt freiwillig heraus“, erklang da wie zur Bestätigung die Stimme des Dämons, „Oder ich zerbreche dieses beeindruckende Schutzschild. Wird vielleicht ein wenig dauern, aber schaffen werde ich es ganz sicher.“ Henry und Balian tauschten beunruhigte Blicke aus. „Wir sollten uns ihnen stellen, mein Junge.“ „Ja... eine andere Wahl haben wir sowieso nicht. Aber ich werde Kisara sagen, dass sie mit dem Einhorn vorerst im Schutz des Zaubers bleiben soll.“ „Gut. Beeile dich.“ Kisara war vor Angst erstarrt; Mary und Lucien waren für sie wahre Schreckensgestalten. „Kisara.“ Balian trat zu ihr, seine Gesicht voller Anspannung. „Balian...“ „Hör zu, Kisara. Du bleibst hier, ok? Du und das Kleine. Mein Schutzschild wird euch abschirmen. Henry und ich werden diesem Pack gegenübertreten.“ „A-Aber...“ „Hab keine Angst. Wir beschützen dich, das weißt du doch.“ Er nahm ihre Hände behutsam in seine. Ein sanftes Lächeln trat auf seine Lippen. „Sehen ist nicht glauben, Kisara. Glauben ist sehen. Merk dir diese Worte.“ Bevor Kisara sich daraus einen Reim machen konnte, tat der Junge etwas, womit sie nie gerechnet hätte: Er drückte ihr einen leichten Kuss auf den Mund. Mary und Lucien waren mehr als überrascht, als nicht nur der junge Zauberlehrling, sondern auch sein Meister, den sie für tot hielten, vor ihnen erschien. Doch während Mary Henry eine Zeit lang nur ungläubig anstarrte, setzte der böse Dämon sein übliches überhebliches Grinsen auf. „Euer Ruf eilt euch voraus, großer Zauberer Henry. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Ihr den Anschlag überlebt habt, so habe ich nun doch die Chance, Euch kennenzulernen.“ „Genug gequatscht!“, rief die ungestüme Mary aus, „Übergebt uns sofort das Mädchen und das Einhorn! Wir wissen, dass ihr eines habt!“ „Ihr könnt nichts vor uns verheimlichen oder verstecken. Es wäre klug, wenn ihr euch ergebt.“ „Das könnte euch so passen!“, entfuhr es Balian hitzig. „Ich ziehe einen offenen Kampf vor!“ „Gut. Wie ihr wollt.“ Kisara zitterte nach wie vor. Sie konnte das, was außerhalb des Schutzwalls geschah, nur wage hören. Im Moment hoffte sie einfach nur, dass alles gut ging und dass Balian und Henry nichts Schlimmes widerfuhr. Doch vor allem beschäftigten sie die Wortes des Zauberlehrlings. Sehen ist nicht glauben, glauben ist sehen, was wollte er ihr damit sagen? Und warum zum Teufel hatte er sie geküsst??? Doch während sie sich den Kopf zermarterte, ertönte plötzlich ein lauter Knall, wie eine Explosion. Was war da los? „Ihr solltet euch nicht mit einem Dämon anlegen, besonders nicht mit einem, der fest entschlossen ist, sein Ziel zu erreichen. Wie ich sehe, seid Ihr durch den Anschlag noch nicht auf Eurer üblichen Höhe, Henry. Und Balian... du bist ein großartiger Magier für dein Alter, aber ich fürchte, ich bin eine Nummer zu groß für dich.“ Kisara wurde ganz flau im Magen. Luciens Stimme klang siegreich – hatte er schon gewonnen? „So! Und jetzt holen wir uns diese Göre-“ „Nein, Mary. Ich habe eine viel bessere Idee. Milady, ich gehe davon aus, dass Ihr mich hören könnt. Ich werde Euch jetzt nicht aus Eurem Zufluchtsort gewaltsam herausreißen. Aber ich werde Euch bekommen. Denn nun habe ich den Schlüssel, um den Einhörnern näher zu sein. Und hoffentlich auch den Schlüssel zu Eurem Geheimnis. Wir werden uns sicher recht bald wiedersehen.“ Ein paar Sekunden später, und alles war still. Wie ausgestorben. Kisara spürte irgendwie, dass der magische Schutz verschwunden war. Sie war wie erstarrt – und sie ahnte Schreckliches. In Kisara zog sich alles zusammen: Der Kampfplatz war ausgestorben. Doch auf den zweiten Blick erblickte sie Henry, der regungslos am Boden lag. Kisara traute sich kaum von der Stelle aus Angst davor, was sie möglicherweise erwartete... Und wo war Balian? Die 16-jährige bekam einen Schock, als sie an des Dämons Worte zurückdachte: „Aber ich werde Euch bekommen. Denn nun habe ich den Schlüssel, um den Einhörnern näher zu sein. Und hoffentlich auch den Schlüssel zu Eurem Geheimnis.“ „B-Balian...“ „Wir haben zwar schon einige vor den Jägern gerettet, aber das lief dann so ab, dass Balian den ungefähren Standort der Einhörner in seinen Vorahnungen gesehen hat und wir Mary an diesen Plätzen dann zuvorgekommen sind, sodass die Einhörner fliehen konnten.“ Mit dem Schlüssel hatte Lucien also Balian gemeint... er hatte ihn entführt... Kisara rannte mit tränenverschleierten Augen zu Henry und sackte anschließend neben ihm auf die Knie. Erleichtert stellte sie fest, dass Henry noch einen Puls hatte. Er, der vorher schon massiv angeschlagen gewesen war, hatte keine Chance gegen den mächtigen Dämon gehabt. Und Balian, der sich beim letzten Mal doch recht gut geschlagen hatte, scheinbar auch nicht. „Oh n-ne-ein... e-es ist alles... m-m-meine Schu-uld...!!!“ Heftig schluchzend ließ Kisara sich auf dem Boden sinken. Alles drehte sich um sie und die Einhörner. Menschen wurden verletzt, und das alles nur wegen ihr. Obwohl sie noch immer nicht wusste, warum eigentlich... Weinend ergriff sie Henrys Hand und flüsterte: „Es tut mir so Leid... i-ich hab das nicht gewollt... ich wünschte... ich könnte irgendetwas für Sie tun, Henry...“ Warum konnte sie nicht das sehen, was Henry und Balian sahen? Warum gelang es ihr nicht, zu glauben, wie früher als Kind? Kisara ließ den Kopf hängen, ihre Tränen tropften in rascher Folge gen Erde. Mehrere Minuten vergingen. Auf einmal geschah etwas, das Kisara nicht einordnen konnte. Obwohl ihr die letzten Minuten eine klamme Gänsehaut über den Körper gelaufen war, wurde ihr plötzlich ganz warm. Sie starrte an sich herunter und konnte nicht glauben, was sie sah: Es schien, als sei sie umgeben von Licht, ihr gesamter Körper. Und dieses seltsame Licht wanderte von ihrer Hand auf die Henrys. Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, da waren alle seine Verletzungen verschwunden. Geheilt. Kisaras Augen wurden riesengroß. Dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen: „Sehen ist nicht glauben, Kisara. Glauben ist sehen. Merk dir diese Worte.“ Die ganze Zeit hatte sie es nicht geschafft zu glauben, auch wenn sie alles mit eigenen Augen gesehen hatte. Glauben entstand nicht dadurch, dass man etwas sah... „Der Glaube lebt nicht durch Beweise, mein kleiner Schatz. Glaube kommt aus dem Herzen... man kann ihn nicht logisch erklären. Erst wenn man glaubt, kann man die wunderbaren Dinge sehen...“ Erst jetzt erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter vor etlichen Jahren, die ganz ähnlich geklungen hatten wie Balians. „Danke, Balian...“, murmelte sie und brachte ein Lächeln zustande, „Ich... glaube...“ Er hatte das kleine Mädchen in ihr erreicht, das Mädchen, das an Hexen, Feen und Einhörner geglaubt hatte... und das nur mit einer Erklärung, die sie schon von ihrer Mutter gehört hatte. Die letzten Jahre hatte sie sich darauf konzentriert, erwachsen werden zu wollen, um einen tollen Beruf zu erlernen und so stark und beständig zu werden wie ihr Vater. Kindische Träume waren da im Weg, so dachte sie. Doch die alten Gefühle kamen wieder hoch; und es war kein Traum, es war alles wahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)