Amaltheas Tochter von Setsu-chan (Das letzte Einhorn - Alternatives Ende und Fortsetzung) ================================================================================ Prolog: -------- Was wäre wohl passiert, wenn das letzte Einhorn sich letztendlich doch dafür entschieden hätte, Lady Amalthea – also ein Mensch – zu bleiben? Dann wäre sie mit dem Prinzen Lier zusammen weggegangen und glücklich geworden… ein Einhorn, das liebt und nicht mehr unsterblich ist. Aber sie wäre glücklich, sehr glücklich… Das letzte Einhorn besiegte also den roten Stier, befreite all die anderen Einhörner und wurde danach wieder ein Mensch, weil sie sich das von Schmendrick sehnlichst wünschte. So verließen Lier und Amalthea das Reich von König Haggard und gingen zu einem schönen Fleckchen Erde – in ein kleines Dorf mit vielen Bäumen und einem großen See. Lier begann als Schmied zu arbeiten und verdiente dabei gutes Geld. Amalthea kümmerte sich um den Haushalt in ihrem nicht zu kleinen, gepflegten Haus. Schon bald heirateten sie und wenige Zeit danach wurde Amalthea schwanger. Sie bekam eine Tochter, die sie Kisara nannte. Sie wurde ebenso schön wie ihre Mutter, ahnte jedoch nie etwas von deren wahrer Herkunft. Zumindest nicht bis zum Anfang dieser Geschichte, dessen Hauptperson sie sein wird… Kapitel 1: Einhörner gibt es nicht! ----------------------------------- Es war Winteranfang. Kisara war inzwischen 16 Jahre alt. Für schmutzige Männerarbeit war sie sich nicht zu schade, und so half sie ihrem Vater in seiner Schmiede, die ein Teil des Hauses war. Plötzlich warf Lier einen Blick auf die Uhr. Er sagte: „Meine Güte, so spät schon! Kisara, deine Mutter hat gleich bestimmt schon das Essen fertig. Lass uns für heute aufhören und ins Haus gehen.“ „Och, wieso denn? Ich bin grad so gut dabei! Und außerdem habe ich noch gar keinen Hunger“, erwiderte Kisara bockig. Ihr Vater lachte. „Ich weiß, wie gern du arbeitest, anscheinend mit noch mehr Leidenschaft als ich. Du würdest wirklich einen sehr guten Handwerker abgeben. Aber deine Mutter wartet mit dem Essen.“ „Ja, ich weiß, schon okay, Papa. Dann lass uns gehen. Ich hoffe, Mama hat wieder ihre leckere Suppe gekocht, die ist echt einmalig!“ Es war Abend geworden. Kisara hatte darauf bestanden, zurück in die Schmiede gehen zu dürfen. Amalthea wollte mit Lier über etwas reden, was sie seit geraumer Zeit beschäftigte. „Was ist los, Amalthea? Irgendetwas bedrückt dich doch.“ Sie sah ihn ernst und nachdenklich an. „Soll ich es ihr sagen, Lier? Sie hat das Recht, es zu erfahren, zu erfahren, was ich war, was ich eigentlich bin, ein Einhorn!“ „Ich verstehe dich. Aber würde sie es dir überhaupt glauben? Du kennst Kisara. Sie hält nichts von solchen „Märchenwesen“, sie glaubt nicht daran. Unsere Tochter würde auch kein Einhorn erkennen, wenn ihr eines gegenüberstände. Vielleicht ist es besser, sie erfährt es nie…“ Amalthea blickte traurig zu Boden. Aber es stimmte. Kisara, die kleine erwachsene Realistin, glaubte schon lange nicht mehr an Magie. Kisara war gerade dabei, die Schmiede aufzuräumen. Ihr kleiner Hund Chico leistete ihr Gesellschaft. Kisara seufzte. „Weißt du, was ich mir wünschen würde, Chico? Wenn Mama und Papa – besonders Mama – aufhören würden, mich ständig mit diesen Märchengeschichten über Zauberer, Hexen und Fabelwesen zu belästigen. Speziell Einhörner – ich meine, es gibt doch keine Pferde mit… einem Horn auf der Stirn. Alles Schwachsinn…“ Amalthea blickte zu einem Bild an der Wand, welches ein Einhorn zeigte. Sie stand auf, nahm es von der Wand und betrachtete es. So lang war es her… Jahrhunderte lang hatte sie gelebt und sie hätte bis in die Ewigkeit weitergelebt, wenn sie sich anders entschieden hätte… Plötzlich stand Kisara in der Tür. Sie verdrehte genervt die Augen, als sie das Bild sah. „Mutter, bitte nicht schon wieder! Ich hab es so satt! Immer diese…“ „Schatz, bitte“, warf Amalthea ein, „Einhörner sind keine Märchen, genauso wenig wie Zauberer… Magie existiert! Warum willst du das denn nicht glauben?“ Kisara platzte der Kragen. „Es reicht! Ich bin kein Kind mehr, das Märchen liest und diesen ganzen Quatsch glaubt! Ich hab keine Lust mehr. Komm, wir gehen, Chico.“ Und bevor Amalthea oder Lier noch irgendetwas sagen oder machen konnten, war Kisara auch schon weg. Sie ging mit Chico in den Wald, um sich wieder abzuregen, aber der Zorn auf ihre Mutter war noch nicht verflogen. Sie war doch schon 16, warum erzählte sie ihr, Märchen seien war? Sie verstand es nicht. Aus Trotz kamen ihr plötzlich die Tränen. Kisara schmiss sich auf den Boden. Chico sah sie bekümmert an und schleckte ihr das Gesicht ab. „Ich versteh das nicht, Chico...“, schluchzte sie, „warum behandelt sie mich wie ein kleines Kind?“ Es war Nacht geworden. Irgendwo, mitten im Wald, war Kisara auf dem Waldboden eingeschlafen, ihren kleinen Hund im Arm. Plötzlich kamen Banditen vorbei. In dem schlafenden jungen Mädchen sahen sie ein gefundenes Fressen. Ohne dass Kisara aufwachte, nahmen sie sie mit... Der nächste Morgen. Urplötzlich fuhr Kisara aus dem Schlaf. Chico hockte ängstlich neben ihr. „Wo... wo sind wir? Oh du meine Güte!“ Sie befanden sich in einem arg schaukelnden, kleinen Wagen. Geschockt blickte Kisara aus dem winzigen Fenster. Neben dem Wagen ritten schmierig aussehende Kerle her, ganz ohne Zweifel Banditen. Sie war doch tatsächlich Gefangene von Banditen! Außerdem sah sie draußen eine Landschaft, mit pudrig verschneiten Bäumen, die zwar schön war, ihr aber überhaupt nicht bekannt vorkam... „Oh... oh nein... warum passiert das ausgerechnet mir? Chico, was sollen wir denn jetzt machen?“ Sie begann, lautstark gegen die Wand zu hämmern. „Hey ihr verdammten Freibeuter! Wenn ihr mich nicht sofort raus lasst, könnt ihr was erleben!“ Sie erhielt eine hämische Antwort: „Ach ja, und was willst du gegen uns ausrichten, kleine Lady? Hahaha!“ „Das Lachen wird euch schon noch vergehen, ihr blöden... ach, was mach ich denn hier, Chico, ist doch eh sinnlos.“ Kisara ließ sich auf den Boden sinken. „Wir müssen hier irgendwie raus. Nur wie?“ Der kleine Chico ließ die Ohren hängen. Es war Abend geworden. Die Diebe hatten ihr Lager aufgeschlagen und sich um ein prasselndes Feuer gesetzt. Sie berieten, was sie mit Kisara machen sollten. Diese versuchte währenddessen, aus dem Wagen auszubrechen. Mit einer Haarnadel stocherte sie schon eine ganze Weile im Schloss herum und wurde von Chico aufmerksam beobachtet. „Dieses blöde Schloss geht... einfach nicht... auf... verdammt!“ Doch bei diesen Worten sprang das Schloss endlich auf. „Na bitte, geht doch! Komm, Chico“, flüsterte Kisara ganz leise, um die Aufmerksamkeit der Banditen nicht auf sich zu ziehen. Vorsichtig sprangen sie vom Wagen. Als sie weit genug entfernt waren, rannten sie los, mitten hinein in die fremde Winterlandschaft... Kapitel 2: Die seltsamen Jäger und der (be)zaubernde Junge ---------------------------------------------------------- Irgendwann blieb Kisara stehen. Jetzt würden die Kerle garantiert nicht mehr hinterher kommen. Doch was nun? Da bemerkte sie etwas. „Sieh mal, dort hinten ist Rauch. Vielleicht ist da eine Stadt. ... Hoffentlich keine Banditen“, fügte sie hinzu und verdrehte die Augen. Chico stimmte kläffend und schwanzwedelnd zu. „Weißt du was? Wir gucken mal vorsichtig nach. Ganz vorsichtig...“ Und sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Nachdem sie schon eine ganze Weile geschlichen waren, hörten sie plötzlich etwas anderes. „Schnüffeln, lauernde Schritte, Knurren... lautes Knurren... zu viel Knurren... hört sich gar nicht freundlich an...“ Da hörte sie aus nicht allzu weiter Ferne eine Frauenstimme. Gebieterisch und mit leicht freudig erregter Stimme sagte sie: „Habt ihr eins gewittert? Ist es ganz in der Nähe? Los, sucht weiter!“ Kisara bekam es mit der Angst zu tun. Sie suchten doch sicher Wild, Hirsche oder so etwas? Aber was würden diese Hunde mit ihr machen und mit Chico, wenn sie sie entdeckten? Die Hunde hörten sich riesig an... Chicos Wimmern riss Kisara aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um. Drei riesenhafte Wölfe – es waren tatsächlich WÖLFE – standen vor ihr und knurrten sie an. Sie war wie erstarrt vor Angst. Was jetzt? Eine Frau und drei Männer kamen angerannt. Sie starrten Kisara an und die Frau – es war zweifellos die, die sie gerade gehört hatte - fragte die Wölfe: „Wirklich? Ist das eins?“ Die Wölfe fixierten Kisara weiter mit einem unheimlichen Blick und knurrten unablässig. Kisara war verwundert über die Frage der Frau. Was war sie denn? „ Aber Boss“, sagte einer der Männer verwirrt zu der Frau, „das ist ein Mädchen, ein Mensch und kein...“ „Sei still!“, unterbrach ihn die Frau in einem herrischen Tonfall, „die Wölfe irren sich nie. Offenbar können sie sich in Menschen verwandeln, würde mich wirklich nicht wundern. Diese hellen Haare – ja, das passt!“ Nun verstand Kisara gar nichts mehr. „Hey Sie! Was reden sie da für wirres Zeug? Wer oder was soll ich ihrer Meinung nach denn sein?“ Die Frau brach in irres Gelächter aus. So langsam fragte sich Kisara, ob sie es mit einer Verrückten zu tun hatte. „Du amüsierst mich. Wirklich! Als ob DU nicht genau wüsstest, was du bist!“ „Wovon...“ „Na los, schnappt sie euch!“, schrie sie den Wölfen zu. Kisara nahm Chico auf den Arm und drückte sich in ihrer Verzweiflung gegen den nächsten Baum. Was nun? Die Wölfe würden sie zerfleischen... aber warum eigentlich? Sie schloss die Augen. Doch plötzlich spürte sie einen starken Arm, der sich um ihre Taille schlang. Im nächsten Moment hatte sie das Gefühl, vom Boden abzuheben. Doch sie traute sich nicht, die Augen zu öffnen und hielt sie einfach geschlossen. Sie hörte die Frau schimpfen. „Nicht schon wieder einer von denen! Das... das wirst du büßen!“ „Ach ja?“, antwortete ihr eine sehr junge Männerstimme. „Wollen doch mal sehen, wie gefährlich deine Köter noch sind, wenn sie keine Reißzähne mehr haben, Mary!“ „Was zum...?“ Was Kisara jetzt hörte, ließ sie endgültig an ihrem Verstand zweifeln. „Keine Zähne mehr zum Reißen, können die Wölfe nicht mehr beißen... kommen die Wölfe endlich zur Vernunft, wenn ihre Zähne sind verstumpft!“ Das war zu viel; Kisara riss die Augen auf. Sie glaubte, nicht mehr ganz klar im Kopf zu sein, denn erstens schwebte sie ungefähr 5 Meter über dem Boden und zweitens sah sie die Wölfe, deren Zähne tatsächlich auf einmal total stumpf waren; die Spitzen sahen aus wie abgewetzt. Sie boten einen erbärmlichen Anblick, als sie jetzt auch noch anfingen laut loszuheulen. Die Frau namens Mary tobte. „Verdammter kleiner Zauberlehrling! Das wirst du bereuen!“ Der Junge, in dessen Gesicht zu blicken Kisara noch nicht gewagt hatte, antwortete hämisch: „Selber Schuld, Mary! Das war wohl nichts! Tschüss dann!“ Und er flog weg; er flog tatsächlich! Kisara konnte nicht mehr anders. Sie begann zu schreien. „Hilfe! Ich hab Angst! Ich möchte runter! Hilfe!!“ „Hey, ganz ruhig, ich lande ja schon“, kam als Antwort. Kaum spürte sie wieder festen Boden unter den Füßen, ließ Kisara sich gleich zu Boden fallen und fing an zu schluchzen. Der kleine Chico wimmerte in ihrem Schoß. Langsam wanderte ihr Blick nach oben. Und dann sah sie zum ersten Mal der Person ins Gesicht, die sie gerade gerettet hatte. Es war tatsächlich ein Junge, sicher nicht viel älter als sie. Um sein Gesicht, welches, wie Kisara feststellen musste, verdammt hübsch war, kringelten sich schwarze Löckchen. Seine ausdrucksvollen hellbraunen Augen sahen Kisara neugierig und verwundert an. Kisara dachte, dass sie noch nie einen so attraktiven Jungen getroffen hatte, und errötete leicht. Ihr brannten doch vor allem Fragen auf der Zunge und brach damit plötzlich heraus: „Was... was wollte dieses irre Weib von mir mit... ihren Bestien?? Und... was hast du gemacht und wie bist du geflogen und... wer oder was bist du eigentlich??“ Das alles sprudelte nur so aus ihr heraus. Der Junge lächelte auf einmal. „Ich glaube, die alte Mary hat dich verwechselt. Du bist nie und nimmer ein... nein.“ „WAS? Was bin ich denn?? Jetzt fängst du auch noch an!“ „Hey, hey, ganz ruhig. Sie hat gedacht, du seist ein... Einhorn.“ „ Ein was?? Nein, jetzt klingst du auch noch wie meine Mutter! Die erzählt mir auch ständig von Einhörnern... aber warum sollte ICH denn ein Einhorn sein?? Abgesehen davon, dass es so etwas gar nicht gibt!“ Jetzt lachte der Junge, scheinbar amüsiert. „Du bist garantiert kein Einhorn. Du hättest ja eins sein können, das sich in einen Menschen verwandeln kann. Aber... du würdest ja nicht mal ein Einhorn erkennen, wenn eines vor dir stehen würde!“ Kisara verstand nicht, was er da redete, aber sie fühlte sich beleidigt. „Glaubt denn jeder außer mir an Märchen... ich-“ „Märchen? Einhörner sind keine Märchen. Du glaubst doch sicher auch nicht an Zauberer und Magie? Du hast gerade Magie gesehen. Und der Zauberer, der sie eingesetzt hat, steht vor dir.“ Kisara starrte ihn an. Es stimmte, sie glaubte nicht an diese Dinge, sie schienen einfach kindisch und unlogisch. Wie konnten sie wahr sein?? Doch dieser Junge hatte ohne Zweifel gerade gezaubert. „Ok. Ein Zauberer. Aber... so siehst du gar nicht aus.“ „Ach, du meinst, ich trage keinen Spitzhut? Ist mir zu albern. Einen langen weißen Bart? Nun, nicht alle Zauberer sind alt.“ „Und... wie ist das mit den Einhörnern?“ Kisara verzweifelte an ihrem Verstand. Was ging hier nur vor? Der Junge sah sie prüfend an. „Einhörner existieren. Nur können Ungläubige wie du sie nicht erkennen, weil sie das Horn nicht sehen können. Das Einhorn sieht für dich wie ein einfaches weißes Pferd aus. Aber... es muss einen Grund geben, warum die Wölfe dich für ein Einhorn gehalten haben. Die sind extra darauf trainiert, Einhörner aufzuspüren. Die verwechseln doch kein Einhorn mit einem ganz normalen Menschenmädchen... es sei denn, du bist in ein in ein Mensch verwandeltes Einhorn und weißt es nicht.“ Kisara starrte ihn ungläubig an. „Aber...“ „Oder“, unterbrach er sie, „du bist ein Einhorn und verstellst dich nur, als Tarnung. Aber das glaube ich nicht.“ „Du hast sie doch nicht mehr alle! Oder ich hab sie nicht mehr alle... das muss ein Albtraum sein... gleich wache ich auf...“ Der Junge verdrehte ein wenig genervt die Augen. „Gehen wir der Sache auf den Grund. Komm mit.“ Kisara antwortete empört: „Wie jetzt, mitkommen? Wohin denn? Würdest du mir bitte mal erklären, was hier eigentlich vor sich geht?“ „Ok, noch einmal zum Mitschreiben: Sie denken, du seist ein Einhorn und ich will wissen, warum. Nein, hör zu. Du musst erstmal den Hintergrund kennen. Sie gehören zu einer Organisation, die die Einhörner jagen, um an Macht zu kommen. Lange Zeit waren die Einhörner verschwunden, doch seit einigen Jahren – seit zwei Jahrzehnten, glaube ich – sind sie wieder da und jetzt werden sie von denen gejagt. Und ich gehöre zu einer Vereinigung, die das Gegenteil will: Die Einhörner beschützen. Diese Typen sind jetzt hinter dir her, warum auch immer. Auf jeden Fall scheinst du eine Verbindung zu den Einhörnern zu haben und deswegen werde ich dich beschützen. Oder willst du diesen Leuten in die Hände fallen?“ „Nein. Natürlich nicht.“ Kisara klang nun bedrückt und ängstlich. Was wollten Einhornjäger von ihr? Doch sie wusste, dass sie diesem Zauberer vertrauen musste, sonst war sie verloren. Entschlossen, doch immer noch leicht skeptisch sah sie ihn an. „Na gut, ich komme mit dir.“ Er lächelte. „Gut. Dann halt dich fest.“ Er wies sie an, auf seinen Rücken zu steigen. „Was? Wir fliegen??“ „Na klar.“ Kisaras Gedanken überschlugen sich. Das konnte doch nicht alles wirklich passieren? Doch es passierte und es ging trotzdem nicht in ihren Kopf rein... Mit einem Mal war sie ziemlich müde. Chico schien in der Seitentasche ihrer Oberbekleidung eingeschlafen zu sein. Auf jeden Fall zitterte er nicht mehr. „Sag mal, wie lautet eigentlich dein Name?“ „Mein Name? Ich heiße Kisara. Und du?“ „Mein Name ist Balian. Und ich bin Lehrling in Zauberei, wie unmöglich das auch für dich klingen mag. Aber wo kommst du eigentlich her?“ Kisara seufzte. „Ich weiß gar nicht, wo ich bin oder wie weit mein Heimatdorf entfernt ist. Ich... wurde von Banditen verschleppt.“ „Oh je... Wie ist denn das passiert?“ „Ich... habe mich mit meiner Mutter gestritten und bin abgehauen“, erwiderte Kisara trotzig, doch der Gedanke daran versetzte ihr einen leichten Stich. „Sie erzählt mir immer noch, wie früher als ich ein Kind war, Geschichten über Magie. Immer kommen Einhörner darin vor...“ Kisara verstummte. Sie vermisste ihre Eltern. Doch nun war sie an einem völlig fremden Ort und begegnete all diesen Dingen, die sie einfach nicht glauben konnte... sie war doch kein Kind mehr... Ein paar Tränen liefen über ihr Gesicht; erschöpft ließ sie ihren Kopf auf dem Rücken des Jungen namens Balian sinken. Sie konnte ihre Augen nun keine Sekunde länger mehr aufhalten und schlief ein. Kapitel 3: Ich sehe es, aber ich glaube es nicht! ------------------------------------------------- Ein wunderschöner Wald... Immergrün... denn hier war es immer Frühling. Ein silbrig-weißes Leuchten hinter den Bäumen. Ein Einhorn? Weißes, glänzendes Haar und ebenso die Haut. Die Augen Lavendelfarben. Nein, es war kein Einhorn. Ein Mädchen. Balian öffnete die Augen und setzte sich im Bett auf. Es war ein seltsamer Traum gewesen. Aber irgendetwas musste er zu bedeuten haben. Er stützte seinen Kopf auf die Arme; er fühlte sich ein wenig benommen und schwindelig, wie immer, wenn er eine Vorahnung geträumt hatte. Nachdenklich ließ er sich aufs Kissen zurücksinken, wo ihm vor Erschöpfung die Augen sofort wieder zufielen. Kisara riss die Augen auf. Sie lag in einem warmen Bett. Hastig setzte sie sich auf und blickte sich verwirrt um. Nach ein paar Sekunden der Orientierungslosigkeit fiel ihr wieder ein, was passiert war. Diese seltsamen Leute... Einhornjäger... sie hatten sie angegriffen. Und dieser Junge, der sie gerettet hatte, er war so eine Art Zauberlehrling... Balian... er hatte gesagt, dass er sie vor den Jägern beschützen würde... Auf einmal spürte sie etwas sehr Nasses im Gesicht. „Chico! Hey, was fällt dir eigentlich ein, Kleiner!“ Glücklich nahm sie ihren kleinen Hund in den Arm, der ihr weiterhin freudestrahlend das Gesicht abschleckte. Er schien sich von den Schrecken gestern erholt zu haben. „Na, bist du wach?“ Kisara schreckte auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand auf der Bettkante saß. Es war eine junge Frau, schätzungsweise ein paar Jahre älter als sie. Ihre Augen musterten Kisara neugierig und freundlich. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Ist schon gut...“, murmelte Kisara verstohlen. Sie fühlte sich ziemlich verloren. „Wo bin ich hier? Und wo ist dieser Balian?“ „Keine Sorge, hier bei uns bist du in Sicherheit. Ich weiß nicht, ob Balian es dir schon erzählt hat, aber wir sind eine Art magische Vereinigung zum Schutz der Einhörner. Und du scheinst ja hochinteressant zu sein. Hast du irgendeine besondere Verbindung zu den Einhörnern?“ Kisara schüttelte entschieden den Kopf. „Nein! Überhaupt nicht! Ich...“ Kisara verstummte. Es wollte immer noch nicht in ihren Kopf rein, dass es so etwas wie Einhörner überhaupt gab. Sie seufzte. Die Frau lächelte sie liebenswürdig an. „Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, was es auch immer mit dir auf sich hat, diese Typen werden dich nicht in die Hände bekommen. Magst du was frühstücken? Mein Name ist übrigens Arianne.“ Sie streckte Kisara ihre Hand hin. Kisara erwiderte den Händedruck ein wenig zögernd, aber dankbar. „Mein Name ist Kisara.“ Arianne führte sie in einen großen Raum mit einem langen Tisch. „Du musst wissen, wir befinden uns im Hauptquartier unserer Vereinigung. Und das hier ist unser Versammlungsraum. Hier kann man aber auch frühstücken. Tu ich auch. Ich hab dir dahinten was fertig gemacht. Ich werde jetzt unseren Chef holen, der will dich gerne auch mal kennenlernen. Ok?“ Kisara nickte zögerlich. Arianne war eine sehr liebe, offene und fröhliche Person. Aber wahrscheinlich war sie auch eine Magierin oder so was Ähnliches. Kisara beschloss, sich lieber ihrem Frühstück zuzuwenden, als weiter darüber nachzudenken. „Oh, Chico, du hast bestimmt auch Hunger. Komm her, ich geb dir was ab.“ Erschrocken fiel Kisaras Blick plötzlich auf die Tür. Dort stand Balian, der ein paar unverständliche Worte murmelte; aus seiner leicht ausgestreckten Hand stoben kaum sichtbare Funken. Vor Chicos Nase erschien wie aus dem Nichts ein Teller mit einem fetten, saftigen Steak. Mit großen Augen starrte Kisara ungläubig auf das Stück Fleisch, über das Chico sich nun gierig hermachte. „ Chico... nicht doch... das kann man doch bestimmt gar nicht essen!“ Balian zog eine Augenbraue hoch und kam näher. „Keine Sorge. Es ist ein ganz normales Stück Fleisch. Ich hab’s aus der Küche hergeschafft. Guten Morgen übrigens. Geht’s dir besser?“ Schmollend blitzte Kisara ihn an, dann blickte sie stur zur Seite und aß ihr Frühstück weiter. „Wie hast du das gemacht?“ „Es ist Magie, schon vergessen?“ Kisara ging nicht darauf ein. „Bist du... hier etwa der... Chef oder so?“ „Nein.“ Balian grinste amüsiert. „Ich bin Magielehrling, weißt du nicht mehr?“ Kisara seufzte. Wenn das so weiterging, würde sie noch durchdrehen. Balian musterte das Mädchen aufmerksam von oben bis unten. Die Gestalt aus ihrem Traum... die seltsame junge Frau... konnte es möglich sein, dass sie es war? Andererseits... das Mädchen in seiner Vision hatte weißes Haar gehabt und ihre Augen waren blauviolett gewesen – Kisara hatte zwar ebenso helle Haut wie diese und ihre Haare waren ebenfalls sehr hell, aber nicht farblos, sondern weißblond... und ihre Augen waren ganz normal blau. Sie war wirklich ungewöhnlich hübsch, wie Balian anerkennend feststellen musste, aber sie schien nicht jenes Mädchen zu sein... obwohl sie sich sehr ähnlich sahen. Es war wie ein Einhorn in Menschengestalt gewesen. Eigentlich war es absurd genug, dass Kisara überhaupt etwas mit den Fabelwesen zu tun haben konnte, so ungläubig wie sie war. Und uneinsichtig. Doch irgendetwas war mit ihr. Irgendein Geheimnis umgab Kisara. Fast gegen seinen Willen verwandelte sich Balians Neugier in Faszination für sie. Ein schriller Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Stück neben ihm war wie aus dem Nichts ein Mann aufgetaucht, was Kisaras Realistenverstand mal wieder total überforderte. „Guten Morgen, Henry, schön Euch zu sehen“, begrüßte Balian ihn freundlich. Als Antwort kam ein anerkennendes Nicken. „Guten Morgen, junger Balian, wie ich sehe, bist du wohlauf. Das freut mich.“ Kisara starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Wo kam der denn bitte her? Erneut bekam sie Kopfschmerzen. Doch nun wandte sich der Fremde an sie. „So... du bist also die geheimnisvolle Lady, die von Mary angegriffen worden ist? Wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin Henry, der Anführer derjenigen, die die Einhörner beschützen. Und dein Name ist?“ „I-Ich heiße Kisara.“ Henry ging zu ihr, hob ihr Kinn an und musterte sie eingehend. Kisara wollte erst protestieren, aber dafür war ihr der Mann zu sympathisch. Er war schätzungsweise mittleren Alters und hatte eine beeindrucke Ausstrahlung. „Sag, woher stammst du, Lady Kisara?“ „Nun ja... ich schätze, das Dorf, aus welchem ich stamme, ist ziemlich weit weg von hier. Ich wurde von Banditen geschnappt, und nachdem ich ihnen entkommen bin, fand ich mich in einer Gegend wieder, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Dort, wo ich herkomme, ist alles völlig verschneit, hier hingegen liegt dagegen kaum Schnee, und der Winter scheint fast schon wieder vorbei zu sein, es ist viel wärmer...-“ Sie verstummte, weil ihr wieder klar wurde, wie schrecklich weit weg sie von zu Hause sein musste. Henry sah die Traurigkeit in den Augen des jungen Mädchens und verspürte Mitgefühl. Offensichtlich war sie völlig unschuldig und unwissend. Wie war sie nur in diese Sache hineingeraten? Was war sie? „Anscheinend gibt es da ein großes Geheimnis, das wir erst einmal lüften müssen...“ Kisara wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. „H-Hören Sie... ich weiß nicht, was hier vorgeht, und ich habe nichts mit irgendwelchen komischen Märchenwesen zu tun... das ist doch alles völliger Quatsch! Ich möchte einfach nur nach Hause, verdammt noch mal!!“ Sie fing heftig an zu schluchzen, ohne dass sie ihre Tränen noch zurückhalten konnte. Ergeben legte sie ihren Kopf auf die Tischplatte, barg ihn in ihren Händen und weinte hemmungslos. Chico fiepte mitfühlend. Ein wenig hilflos blickte Henry zu Balian. Dieser schüttelte ratlos den Kopf. Henry konnte ihr Weinen nicht sehr lange mit ansehen. Er ging zu ihr hin, hockte sich neben ihren Stuhl und sagte leise: „Nun beruhige dich doch, meine Liebe. Auch wenn es schwer für dich ist, du musst versuchen durchzuhalten, hörst du? Wir passen auf dich auf. Und wir bringen dich wieder nach Hause, wenn es sicher für dich ist-“ „A-Aber ich will jetzt nach Hause!! Ich...“ Sie schüttelte sich heftig, stand auf und rannte aus dem Zimmer. Henry sah ihr besorgt nach, doch plötzlich fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Erschrocken wandte er sich um. Balian war auf die Knie gesunken. Seine Augen waren mit einem Mal leer, sein Gesicht merkwürdig ausdruckslos. Der ältere Magier wusste, was dies zu bedeuten hatte. Auch wenn es wirkte, als würde der Junge ins Nichts starren, so konnte er doch gerade Dinge sehen, die anderen Augen verschlossen blieben: Er hatte eine Vision. Einige Sekunden später war es vorbei. Balians braune Augen füllten sich wieder mit Leben, benommen fiel er nach vorne und schaffte es gerade noch, sich mit den Händen am Boden abzustützen. Keuchend brachte er hervor: „Schon wieder...“ Derselbe Traum, der ihn schon in der Nacht heimgesucht hatte, war ein weiteres Mal gekommen. Was hatte das zu bedeuten? „Balian, geht es wieder? Was hast du gesehen?“ „Etwas, das ich nicht verstehe, Henry... ich werde es Euch bei Gelegenheit erzählen“, murmelte er und kam wackelig auf die Füße. „Verdammt, wie ich das hasse... dass diese Visionen immer so an meiner Kraft zerren müssen...“ Keuchend ließ er sich auf den Stuhl sinken, den Kisara soeben verlassen hatte. „Kein Wunder... die Gabe zu Sehen ist ein sehr mächtiges Stück uralter Magie“, erwiderte Henry wissend und betrachtete den Zauberlehrling nachdenklich. Balian atmete einmal tief durch und fragte Henry: „Was sagt Ihr zu dem Mädchen?“ Henry seufzte. „Das ist eine gute Frage. So etwas habe ich noch nie erlebt... ich verstehe nicht, was Mary von ihr will... sie ist ein Mädchen, ein ganz normales Menschenmädchen. Und sie scheint Magie für Humbug zu halten, oder wie sehe ich das?“ Balian nickte und musste unwillkürlich lächeln. „Sie ist sehr... kompliziert... wie eine kleine Erwachsene. Sie lässt nichts an sich heran, was hier geschieht und denkt so logisch, dass es unlogisch ist.“ „Hm... wie auch immer, auf jeden Fall ist sie in Gefahr. Die Einhornjäger bedrohen sie und das macht sie automatisch zu unserer Schutzbefohlenen. Warum auch immer sie sie für ein Einhorn halten, es ist, wie es ist. Balian, mein Junge, passe bitte gut auf das kleine Fräulein auf.“ Balian stutzte. „Ich?“ „Ja. Du hast sie vor Mary gerettet, sie ist bei dir in guten Händen. Und du siehst es ja: Hier ist beinahe alles ausgeflogen. Die anderen sind alle auf Mission und bekämpfen diese verfluchten Verbrecher... Arianne wird heute ebenfalls aufbrechen. Und ich muss hier alles organisieren und zusammenhalten.“ „Also gut.“ Der junge Magier dachte daran, wie schwierig Kisara war, doch das änderte schließlich nichts daran, dass sie auf Schutz angewiesen war. Auch wenn ihr Unglauben so langsam nervig wurde, tat ihm das schöne, unglückliche Mädchen trotzdem Leid. Selbstverständlich würde er sie beschützen. „Na du? Wollen wir mal zu deinem Frauchen gehen?“, sagte er an den kleinen Hund gewandt, der ihn neugierig anschaute. „Sie ist traurig. Möchtest du sie nicht trösten? Chico?“ Chico begann, aufgeregt zu bellen, dann folgte er Balian ohne Umschweife aus dem Raum. „Henry? Ich gehe.“ Henry neigte den Kopf und lächelte, dann löste er sich in Luft auf und war verschwunden. Kapitel 4: Ein schwerer Verlust ------------------------------- Balian blieb zögernd vor der Tür stehen, hinter der das Zimmer mit Kisaras Bett lag. Er hörte sie immer noch Tränen vergießen und hatte keine Ahnung, wie er sie trösten sollte. Chico kratzte wimmernd an der Tür. Unentschlossen hob Balian die Hand, doch dann klopfte er. „Ja...?“, kam die kaum hörbare Antwort. Kisara klang, als wäre sie völlig fertig mit der Welt. Balian spürte einen dicken Kloß in seinem Hals anschwellen. „Ich bin es, Balian. Kann ich reinkommen?“ „Meinetwegen...“ Vorsichtig öffnete er die Tür. Das Hündchen preschte sofort begeistert ins Zimmer und sprang aufs Bett, wo Kisara sich gerade wieder aufrichtete und verstohlen über das verweinte Gesicht wischte. Sie streichelte Chico, der ihr auf den Schoß gesprungen war und wünschte sich nun, sie hätte Balian lieber nicht ins Zimmer gelassen. Sie schämte sich, weil sie so eine elende Heulsuse war, obwohl sie doch gerne immer reif und erwachsen sein wollte. Im Moment wusste sie nur eines und zwar, dass sie nach Hause wollte. „T-Tut mir Leid, aber... ich kann einfach nicht mehr... ich verstehe nicht, was hier passiert und ich will es auch gar nicht verstehen...“ „Genau das ist das Problem“, sagte Balian behutsam, „vielleicht versuchst du einfach mal, es zu verstehen. Das ist sehr wichtig. Ansonsten bist du verloren in unserer Welt.“ „Wie bitte? Eure Welt? Jetzt sprich nicht so, als hätte ich... die... die Dimension gewechselt oder so!!“, erwiderte Kisara aufgebracht. Balian atmete tief durch, um nicht die Geduld zu verlieren. „Nein, das hast du auch nicht. Tatsache ist aber, dass es dich jetzt auch etwas angeht. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Diese Typen werden nicht von dir ablassen, bis sie dich geschnappt haben, begreif das doch! Wenn du dich auf diese Situation nicht einlässt, kann ich dich nicht beschützen!“ „Vielleicht will ich ja gar nicht beschützt werden!!!“ Das saß. Bevor Balian sie aufhalten konnte, stürmte Kisara an ihm vorbei aus dem Zimmer. „Arianne! Warte, bevor du gehst...“ Schwer atmend vom Laufen kam Balian vor der jungen Zauberin zum Stehen. Diese blickte ihn verwundert an. „Hey Balian, was ist denn los?“ „Hast du Kisara gesehen? Du weißt, schon, das Mädchen, das-“ „Ja, ich weiß, wen du meinst. Warum fragst du? Ich habe sie zuerst und zuletzt gesehen, als ich sie zum Frühstücken geschickt habe.“ Balians Gesicht wurde weiß. „Das kann doch nicht...“ Arianne sah ihn erst besorgt, dann entsetzt an. „Aber was hast du denn... sag bloß, sie ist verschwunden?!“ „Ich befürchte so langsam, dass sie weggelaufen ist...“ „Hä?? Warum sollte sie? Ich habe ihr doch gesagt, dass sie hier bei uns sicher ist!“ „Anscheinend ist dir entgangen, dass Kisara weder an Magie glaubt noch, dass sie überhaupt nicht einsehen will, dass sie tief in der Sache drinsteckt“, seufzte Balian. Jetzt war er sich sicher: Kisara war nirgendwo im Versteck zu finden. Er musste sie unbedingt finden, bevor Mary oder ein anderer der Einhornjäger es tun würde. „Na, wenn haben wir denn da?“ Kisara schreckte zusammen. Völlig atemlos vom Rennen, Klein-Chico auf dem Arm, wandte sie sich um. Ein paar Meter hinter ihr stand die hysterische Einhornjägerin, die, wie sie inzwischen wusste, Mary hieß. Sie lächelte bösartig. Kisara lief ein Schauer über den Rücken. Und dann hörte sie etwas, was sie endgültig vor Angst erstarrten ließ: Ein schauerliches Knurren ertönte hinter ihr. Sie brauchte sie nicht zu sehen, sie wusste genau, dass es die riesigen Wölfe waren. „Gehen Sie...“, wimmerte Kisara völlig panisch, „Ich bitte Sie... ich bin kein Einhorn... glauben Sie mir doch... lassen Sie mich in Ruhe!“ Sie konnte nicht mehr richtig denken; sie wollte nur eins: Weg. Mary schien amüsiert. „Hm... so so. Anscheinend muss ich dich zwingen, deine wahre Gestalt zu zeigen. Im Moment wirkst du nämlich eher jämmerlich. Da muss ich wohl Gewalt anwenden... was ist los, meine Kleine? Willst du dich denn gar nicht verteidigen? Die Macht dazu hättest du... ich korrigiere: Du hast sie.“ „Nein...“ Kisara schüttelte paralysiert den Kopf. „Nein!!!“ Sie drehte sich auf dem Absatz herum, doch ihr Plan, wegzulaufen, wurde verhindert von dem Anblick, der sich ihr bot: Sie hatte schon vollkommen vergessen, dass sie umzingelt war. Es war zwar nur ein einziger Wolf, aber er stand direkt vor ihr, und das reichte, damit ihre Augen sich vor Schreck weiteten. Als sie ein paar Schritte zurückgegangen war, nahm der Wolf Angriffsposition ein. Er sprang vor; Kisara konnte im letzten Moment noch ausweichen, aber auch nur, das wusste sie, weil das Tier nicht die Absicht hatte, sie hier und jetzt zu zerfleischen. Es war eine Art Treibjagd. Eine kleine Weile ging das noch so weiter, dann rief Mary: „Ich verliere langsam die Geduld! Zeig endlich, was in dir steckt!“ Eine Treibjagd, um ihr etwas zu entlocken, was gar nicht da war? Schon wieder kamen Kisara die Tränen. Konnte das nicht einfach nur ein böser Traum sein? Wütend preschte Mary auf das Mädchen zu und legte ihre Hand um dessen Hals. „Du kleines Miststück, ich weiß, was du bist!! Du willst mich reizen, was? Dich über mich lustig machen! Oh, wie ich euch arroganten Mistviecher hasse!! Das wirst du bereuen!!!“ Kisara wehrte sich nicht; sie hatte einfach keine Kraft mehr. „Mama... Papa...“ Plötzlich wurde Marys Handgelenk von einer anderen Hand ergriffen. „Lass sie sofort los.“ Es war Balian, der die Jägerin mit ernstem und kühlen Blick anschaute. „Du schon wieder, du kleiner-“ „LASS SIE LOS, MARY!!“ Mary zuckte zusammen. Nun drückte seine Hand, die immer noch ihren Arm umschlossen hielt, so fest zu, dass es richtig weh tat. Sie ließ Kisaras Hals los und ging automatisch ein paar Schritte zurück. Balian fing Kisara, die auf der Stelle in sich zusammensackte, behutsam auf. „Kisara? Kisara! Bitte sag doch was!“ Halb ohnmächtig starrte Kisara ausdruckslos ins Leere. Dass sie Chico überhaupt noch so fest umklammern konnte, war ein Wunder. Doch dieser schien sich inzwischen etwas eingeengt zu fühlen, denn er strampelte sich frei. „Kisara! Bitte komm wieder zu dir!“ Kisara schreckte zusammen und blickte Balian benommen an. „B-Balian?“ Er nickte und lächelte dann. „Ich bin da. Du musst jetzt keine Angst mehr haben.“ Dicke Tränen liefen Kisara die Wangen hinunter. „Ich... Ich will nach Hause...“ Heftig schluchzend klammerte sie sich an Balian fest. Doch nun fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Der Wolf kam auf ihn und Kisara zu gestürmt, die Zähne wütend gefletscht. Balian ergriff den kleinen Hund und hob blitzschnell vom Boden ab. Auch Mary, die sich wieder gefasst hatte, schäumte immer noch vor Wut. Doch dann geschah etwas, womit keiner gerechnet hatte. Eine Art weißer, dünner Blitz fegte wie aus dem Nichts auf Balian zu. Haarscharf wich er aus, und doch streifte ihn die seltsame Attacke am Arm, sodass ihn ein scharfer Schmerz durchzuckte. Kisara war inzwischen bewusstlos geworden. Balian hatte Chico fallen gelassen, glücklicherweise fiel er aber nicht besonders tief und kam wohlbehalten auf. Der Schmerz in Balians Arm wurde zu einem unangenehmen Brennen. „Was zum...“ „So mein Kleiner, es hat sich ausgezaubert...“, sagte eine tiefe, ruhige, hochmütige Stimme. Sowohl Mary als auch Balian wandten ihre Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme kam. Und schon zeigte sich auch deren Urheber: Einige Meter vor Balian, ebenfalls in der Luft schwebend, erschien ein Mann. „Lu-Lucien, was machst du hier?? Misch dich gefälligst nicht in meinen Auftrag ein!!“, schrie Mary den Fremden hysterisch an. „Hm... das tut mir sehr Leid, Mary... ich wollte dir nur ein wenig unter die Arme greifen, da du ja offenbar in Bedrängnis bist...“, antwortete dieser mit höflicher Stimme. „Du bist also auch einer von den Jägern?“, mischte sich Balian in die Konversation ein. „Genauso ist es, mein Junge... wenn ich mich kurz vorstellen darf, mein Name ist Lucien.“ Er verbeugte sich mit einer eleganten Bewegung. Lucien? Balian glaubte, diesen Namen irgendwann schon einmal gehört zu haben. „Und du... bist Balian, nicht wahr?“ Urplötzlich schwebte er nur noch etwa einen halben Meter vor Balian. „Der Junge... mit den Augen, die mehr sehen als jedes unsterbliche Wesen?“ Der Zauberlehrling glaubte seinen Ohren nicht zu trauen: Woher wusste dieser seltsame Mann, der obendrein noch zu dein Einhornjägern gehörte, von seiner Gabe? Entsetzt blickte er in die kühlen dunklen Augen, die ihn neugierig musterten. „ Woher weißt du das...? Was bist du?“ „Das ist nicht wichtig... viel interessanter ist doch: Wer ist sie?“ Balian drückte Kisara fester an sich. „Was auch immer ihr von dem Mädchen wollt, ich werde sie euch ganz sicher nicht übergeben!“ „Hm... das wird sich zeigen. Wenn du sie mir nicht freiwillig aushändigen willst, habe ich wohl keine Wahl, als sie mir zu holen.“ Der Mann namens Lucien feuerte einen weiteren Lichtblitz ab, doch Balian baute ein Kraftfeld um sich auf, an dem der Angriff mit einer gewaltigen Wucht abprallte. Er wollte keinen Kampf – was, wenn Kisara zu Schaden kam? Kisara öffnete mühsam die Augen. Sie hatte überhaupt keine Orientierung mehr, wo sie eigentlich war. Doch als ihr Blick zufällig nach unten auf den Erdboden fiel, wurde ihr Kopf wieder klar:„Oh nein... Chico!!!“ Marys riesenhafter Wolf hatte die Verfolgung des kleinen Hundes aufgenommen und jagte ihn erbarmungslos durch die Bäume. Nach Kisaras Aufschrei wurde auch Balian der Situation bewusst: „Pfeif deinen widerlichen Köter zurück, du alte Schreckschraube!!“ „Hier spielt die Musik... vergiss deine Deckung nicht, junger Freund...“ Luciens nächster Zauber traf Balian so unglücklich in den Magen, dass sein eigener Schwebezauber aufgelöst wurde und er abstürzte. Im letzten Moment, kurz vorm Boden, stellte er ihn glücklicherweise wieder her, um sich anschließend sanft auf die Erde sinken zu lassen. Zu Kisaras Sorge um Chico kam eine weitere: „Balian, was ist mit dir? Sag doch was! Balian!!“ Nicht genug, dass Dinge passierten, die eigentlich unmöglich waren – jetzt kamen auch noch andere wegen ihr, Kisara, zu Schaden! Balian lag flach auf dem Boden, schwer atmend, die Hände auf den Magen gepresst. Als er sah, dass der unheimliche Jäger Lucien auf sie zugerauscht kam, berappelte er sich, zog Kisara an sich und rief: „Des Winters kalter Frost sei mir ergeben, im ewigen Eis soll der Feind sich nicht mehr erheben!“ Aus seiner Hand stob ein Funke; der Schnee in unmittelbarer Umgebung begann unwirklich zu glitzern. Lucien wurde von einer Welle aus Schneestaub erfasst, im nächsten Moment erstarrte er zu Eis – allerdings blieb er in der Luft schweben. Kisara fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Doch viel Zeit sich zu wundern hatte sie nicht, denn Balian, der sich vor Erschöpfung nicht mehr aufrecht halten konnte, fiel ihr in die Arme. „Balian! Bitte, komm wieder zu dir! Lass mich... doch nicht alleine... Balian...“ „So... das ist die Strafe für die unzähligen kindischen Beleidigungen! So einfach lasse ich mich nicht fertig machen, schon gar nicht von Bälgern!“ Es war Mary, die Chico am Nackenfell hochhielt und Kisara mit dem Blick einer Wahnsinnigen anstierte. „Nein!! Bitte lassen Sie ihn in Ruhe!! Sie wollen doch mich, mein Hund hat damit doch gar nichts zu tun!!“ Mary lachte schadenfroh; der wimmernde Chico hing an ihrem ausgestrecktem Arm. Der Wolf lauerte gierig und mir gefletschten Zähnen darauf, dass seine Herrin ihn fallen ließ. „Ich lasse mir von Lucien nichts streitig machen, nein... solange der da oben eingefroren ist, werde ich diejenige sein, die dich bekommt!“ Mary tat es tatsächlich: Sie ließ Chico fallen. „Neeeiiiinnn!!“ Balian kam schlagartig wieder zu sich. Kisara, auf deren Schoß er lag, war so heftig am Zittern, dass ihm die Energie sofort wieder in den Körper schoss. „Kisara! Was-“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er das sah, von dem sie paralysiert die Augen nicht mehr abwenden konnte. Ein Monster mit wahnsinnigen Augen und langen spitzen Zähnen machte sich mit grausamer Brutalität über ein kleines, zerfleischtes und von Blut getränktem Etwas her. Balian verstand augenblicklich; er legte seine Arme um Kisara und drückte ihren Kopf an seine Brust. Keine Sekunde länger sollte sie dabei zusehen, wie ihr geliebtes Hündchen ein grauenhaftes Ende fand... Kapitel 5: Der Junge mit dem Sehenden Auge ------------------------------------------ „Mary... du bist eine elende Bestie... nicht der Wolf ist es, denn er wurde nur gegen seinen Willen abgerichtet. Du... bist das wahre Monster!“ Mary wirkte ungerührt. „Verfluchter kleiner Zauberer, du bist der Nächste!!“, fauchte sie und ließ den Wolf auf Balian los. „Keine Zähne mehr zum Reißen, kann der Wolf nicht mehr beißen... kommt der Wolf endlich zur Vernunft, wenn seine Zähne sind verstumpft!“ Der riesige Wolf – ohne scharfe Zähne – sprang auf Balian zu, dieser versetzte ihm jedoch einen kräftigen Schlag mit dem Arm, sodass er gegen den nächsten Baum prallte und dort reglos liegen blieb. Plötzlich fuhr Balian erschrocken um: Lucien war wieder aufgetaut. Er musterte den Jungen ziemlich interessiert, doch zum ersten Mal lag auch ein Stück Wut in seinen Augen. „Du bist wirklich außergewöhnlich stark, Junge... du trägst eine beeindruckende Magie in dir. Gut... man sollte wissen, wann man verloren hat. Fürs erste werden wir uns zurückziehen, solange gehört das Mädchen noch dir... aber mach nicht den Fehler, mich zu unterschätzen, hörst du?“ Balian blickte in die eiskalten grauen Augen des Mannes und wusste genau, dass er es hier mit einem sehr mächtigen Wesen zu tun hatte – was immer er oder es auch war... „Was bitte meinst du mit wir gehen? Wir gehen überhaupt nirgendwo hin!!“ „Sachte, Mary... wir werden jetzt gehen.“ Lucien verschwand für den Bruchteil einer Sekunde und tauchte dann hinter Mary auf, schlang seinen Arm um ihre Taille und die beiden lösten sich in Luft auf. „Meine Güte Balian... was ist denn bloß passiert??“ Balian, der ziemlich angeschlagen war, hatte sich und Kisara mit den letzten Kräften, die seine Füße noch hergegeben hatten, in Henrys Quartier befördert. In seinen Armen lag Kisara, die inzwischen heftig am Schluchzen war. Er ließ sie behutsam auf einem Stuhl ab, wo sie ihre Knie mit den Armen umschlang und das Gesicht vergrub. Henry fing Balian, dessen Knie endgültig unter ihm nachgaben, auf. „Balian, mein Junge...“ „Wir sollten sie eine Weile allein lassen, Henry... ich werde es Euch später erzählen...“ Doch mit diesen Worten verlor er das Bewusstsein. Kisara konnte es nicht fassen, es konnte einfach nicht geschehen sein... ihr kleiner Chico, fort? Herzlos zerfetzt von einer brutalen Bestie – die Bilder hatten sich tief in ihren Kopf eingebrannt. Sie konnte schon lange nicht mehr rational denken und ihre Gedanken ordnen, denn ihr Gehirn wollte einfach nicht begreifen. Momentan wäre sie lieber gestorben als noch weiter das Chaos ihrer Gefühle zu ertragen... Auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg kam sie immer bei Balian an. Ohne diesen wundersamen Jungen wäre sie schon längst tot... selbst nachdem sie ihm vor den Kopf geworfen hatte, seine Hilfe nicht zu brauchen, hatte er keine Scheu, sie weiterhin zu beschützen. Mehrere Male hatte sie wiederholt, dass sie nicht an Magie glaube, trotzdem hatte er sie nicht im Stich gelassen. Wenn sie etwas tun konnte... dann, ihm zu vertrauen. Denn der Gedanke an ihn nahm Kisara zumindest einen Teil ihrer beklemmenden Angst... Nachdem Balian sich ein wenig ausgeruht hatte, erzählte er Henry, was geschehen war. Die Frage, was es mit Kisara auf sich hatte, was sie mit den Einhörnern verband, wurde immer lauter – ein unlösbares Rätsel? Henry seinerseits wusste zumindest mit dem Namen Lucien mehr anzufangen: „ Ich glaube dir gern, dass du diesen Namen schon einmal gehört hast, Balian. Er ist ein Dämon, musst du wissen.“ „Ein Dämon?“ „Ja, in der Tat, ein Dämon, ein unsterbliches Wesen. Sagt man zumindest. Im Gegensatz zu Wesen wie den Einhörnern allerdings eher von schlechter Gesinnung. Aber ich denke, das war dir bekannt?“ Balian nickte nachdenklich. „Ich bin mir sicher... irgendwoher kenne ich ihn... vielleicht nicht persönlich, aber... ich frage mich vor allem... woher weiß er von meiner Gabe der Vorsehung?“ „Hm... wer weiß... aber so wie ich Lucien einschätze, wundert es mich nicht, dass er davon weiß... wir sollten vorsichtig sein... du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin, mein Junge, dass ihr gerade noch so davongekommen seid. Lucien... ist ein mächtiges Exemplar eines Dämonen, glaube mir. Nun ja, andererseits zeigt es mir, wie außergewöhnlich du bist.“ „Henry-“ „Du magst ein Lehrling sein, aber dein Talent und Potenzial sprechen für sich. Du wirst einmal ein großer Zauberer... wenn du es nicht schon bist.“ Balian senkte den Kopf. „Zu viel der Ehre... Chico konnte ich nicht retten.“ „Es ist traurig... besonders für die arme Kisara. Das Problem ist jedoch, und das sollte dir klar sein, dass sie mit uns an einem Strang ziehen muss. Da bleibt ihr keine Wahl.“ „Ich weiß...“ Es klopfte zaghaft an der Tür. „Ja bitte?“ „Verzeihung...“ Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet und zwei große blaue Augen erschienen. „Lady Kisara... komm doch bitte herein.“ Schüchtern trat Kisara ein. Sie schämte sich für das Theater, das sie veranstaltet hatte. Im Grunde war es doch ihre Schuld, dass Chico nicht mehr da war? Schließlich war sie weg- und der Jägerin direkt in die Arme gelaufen. „Nun setze dich schon, Milady.“ Henry lächelte sie warmherzig und aufmunternd an. Zögerlich nahm sie Platz. Den Kopf hielt sie jedoch gesenkt. Balian beobachtete sie aus den Augenwinkeln; sie tat ihm Leid – auch wenn sie sich durch ihre Sturheit selbst in große Schwierigkeiten gebracht hatte... im Grunde war sie einfach nur hilf- und orientierungslos. Plötzlich ging ein Zucken durch seinen Körper. Obwohl er wusste, was jetzt folgte, empfand er es nach wie vor nicht als besonders angenehm. Als nächstes verschwamm sein Blick und ihm wurde schwarz vor Augen. Henry, der gerade frisch gebrühten Tee in Becher goss, entging, wie Balian vornüber vom Sessel kippte, nicht aber Kisara: Erschrocken sprang sie auf und stoppte seinen Fall. „Balian... Henry, bitte kommen Sie her! Irgendwas stimmt nicht mit Balian!“, rief Kisara panisch; die handwerklichen Tätigkeiten in der Schmiede ihres Vaters hatten ihren Körper soweit gestärkt, dass sie unter dem Gewicht von Balians Oberkörper nicht zusammenbrach. Doch die Angst, die in ihr hochkroch, war groß. Henry stürmte herbei. „Beruhige dich, Kisara. Es ist alles in Ordnung“, beschwichtigte er sie mit ruhiger Stimme, als er die Situation registrierte. Er hob Balian hoch und legte ihn auf das Sofa. Kisara verstand nicht: „Was meinen Sie damit, es sei alles in Ordnung?? Er-“ „Genauso ist es, Milady... es ist alles in Ordnung. Balian geht es gut. Er... träumt gewissermaßen.“ „Wovon bitte reden Sie...?“ Hilflos sank sie auf die Knie und starrte Balian an. Seine hellbraunen Augen hatte ein seltsames Blass angenommen und wirkten völlig leblos. Außerdem waren sie nur halb geschlossen, sodass es gar nicht wirkte, als würde er friedlich schlafen. „Ich werde es dir erklären. Balian... ist ein Seher.“ „Ein Seher...?“ Kisara dachte unwillkürlich an Wahrsager mit Glaskugel, die in Wahrheit eh nur schwindelten, um den Leuten ihr Geld abzunehmen. „Bestimmt ist dir dieser Begriff nicht fremd. Ein Seher kann in die Zukunft blicken. Mir ist durchaus bewusst, dass es gerade dir schwer fällt, das zu begreifen, aber es ist die Wahrheit. Die Gabe zu Sehen ist eine kraftvolle magische Fähigkeit. Der junge Balian wird von Vorsehungen heimgesucht, entweder in seinen Träumen im Schlaf, oder wie jetzt – ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Er verfällt in einen Trancezustand, der ihn so lange fesselt, bis die Vision vorbei ist, erst danach wird er wieder erwachen. So lange müssen wir warten.“ Mal wieder hatte Kisara das Gefühl, dass ihr Kopf platzte von den Eindrücken, die in letzter Zeit auf sie einprasselten. Und so ganz konnte der weise Zauberer sie nicht beruhigen; Balian so vollkommen nicht-ansprechbar da liegen zu sehen, machte ihr Sorgen. Doch zu ihrer Erleichterung kam Balian langsam wieder zu sich: Er zuckte leicht zusammen, seine Augenlider schlossen sich kurz und als er die Augen wieder öffnete, war der – so empfand es Kisara – gruselige Ausdruck aus ihnen verschwunden. Tief ein- und ausatmend drehte er den Kopf zu den beiden Personen, die ihn aufmerksam beobachteten. „Tut mir Leid... ich hab... dich bestimmt erschreckt, oder...?“, fragte er Kisara mit müder Stimme. Als Balian sie so bekümmert anschaute, errötete Kisara mit einem Mal; seine weichen braunen Augen waren wirklich wunderschön... Sie wich seinem Blick aus, nickte und murmelte: „Mach dir keine Sorgen... so langsam wundert mich gar nicht mehr...“ „Aber... glauben... kannst du es immer noch nicht.“ Seine Stimme war toternst, aber, anders als Kisara es erwartet hatte, nicht anklagend oder vorwurfsvoll. Balian versuchte, sich aufzusetzen, allerdings ohne Erfolg. „Bitte bleib liegen, Balian, ruhe dich aus... was hast du gesehen?“ „Ich bin nicht sicher...“ Er dachte angestrengt nach, wovon ihm jedoch ganz schwindelig wurde. „Oh verdammt- e-es war so verschwommen... ich glaube, ein Einhorn ist in großer Gefahr...“ Vor allem jetzt, in diesem Zustand war Balian sich nicht mehr ganz sicher, was er gesehen hatte, aber eine verschwommene Vorahnung hatte definitiv mit Einhörnern zu tun... „Nun gut... du kannst dich erst einmal ausruhen, danach wird es dir sicher leichter fallen, deine Gedanken zu ordnen.“ Balian nickte kaum merklich, dann fielen ihm die Augen zu. „Du musst wissen, Kisara... diese Visionen sind eine gar nicht so leicht zu verkraftende Angstrengung, wie du es hier beispielhaft sehen kannst. Aber mach dir keine Sorgen, er wird sich schnell wieder erholen. Da Balian keinen Zeitpunkt genannt hat, wird das Ereignis wohl noch ein wenig auf sich warten lassen...“ Ein Einhorn war in Gefahr? Ein Einhorn?? Kisara wusste damit immer noch nicht so recht etwas anzufangen. Auch wenn diese grauenhaften Leute sie für eines hielten – was hatte sie damit zu schaffen? Es war schon absurd genug, dass es überhaupt weiße Pferde mit einem Horn auf der Stirn geben sollte... „Kannst du mir mal bitte erklären, was das sollte???“ Im Versteck der mysteriösen Einhornjäger war Mary außer sich. Sie empfand es als Frechheit, dass Lucien sie bei ihrer Arbeit gestört hatte. „Nun komm mal wieder runter, meine liebe Mary... das war in dieser Situation das einzig Richtige.“ „Wie bitte? Wir hätten dieses seltsame Mädchen heute kriegen können!!“ Lucien sah sie mit ernstem Blick an. „Mary... das Mädchen war nicht das Problem. Der junge Zauberer, der sie beschützt... du hast es doch selbst gesehen. Er hat mich, Lucien, mit einem Zauber verflucht! Am Ende war er zwar nicht stark genug, um mich noch weiter zu fesseln, aber immerhin... dieser Junge ist keinesfalls gewöhnlich. Außerdem hat er die Gabe zu Sehen...“ Mary starrte ihn irritiert an. „Dieses Balg ist ein Seher?? Willst du mich auf den Arm nehmen?“ „Keineswegs. Ich weiß es.“ Er lächelte geheimnisvoll. „Die Zukunft voraussagen zu können, stellt für uns unsterbliche Wesen eine äußerst begehrenswerte Fähigkeit da... ich selber schließe mich davon nicht aus. Stattdessen... wird sie einem Magier geschenkt, der im Grunde auch nichts weiter ist als ein Mensch mit ein paar besonderen Kräften.“ Die Jägerin musterte ihren Kollegen argwöhnisch. Auch wenn es sich bei Lucien um einen gefährlichen Dämonen handelte, so hielt sie ihn einfach nur für ziemlich aufgeblasen, auch wenn er immer so höflich tat. „Dennoch... der junge Balian ist in der Tat interessant... aber nicht so sehr wie dieses Mädchen. Ich konnte nicht feststellen, was in ihr steckt. Und ich möchte mich nicht auf das Urteil der Wölfe verlassen. Daher... werde ich mir die hübsche Kleine mal persönlich vornehmen.“ Nun platzte Mary beinahe der Kragen. „Sie ist mein Auftrag, verstanden?? Glaubst du, nur weil du arrogantes Etwas von einem Dämon dich vordrängelst, fallen dir alle Menschen vor die Knie? Du kotzt mich an!!“ Der Dämon lächelte überlegen. Es dauerte nicht länger als einen Wimpernschlag, dann stand er direkt vor ihr. „Aber, aber, du hast ja wirklich ein feuriges Temperament...“, flüsterte Lucien mit honigsüßer Stimme und blickte Mary tief in die Augen. Zornig funkelte diese ihn an. „Glotz mich gefälligst nicht so blöd an, verstanden?“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, „Und rück mir nicht so nah auf die Pelle-“ Völlig unbeirrt hatte Lucien die Hand gehoben und berührte sanft ihre Wange, was Mary die Sprache verschlug. Sie wollte seine Hand wegschlagen, doch sein Blick war so hypnotisch, dass es ihr so langsam die Sinne vernebelte. „Hey... lass das, du verdammter-“ „Pscht... wer wird denn, Mary... hat die eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du wunderschön bist?“ Seine rechte Hand war gefährlich nah an ihrer Brust. „Lass mich los... du widerlicher Perversling! Ich kann mich nicht daran erinnern, deine Frau zu sein!“ „Du bist eine begehrenswerte Frau, das reicht...“ Und mit diesen Worten küsste er sie. Mary protestierte die ersten Sekunden heftig, aber dann war sie nicht mehr in der Lage sich zu wehren. Sanft strich seine Zunge über ihre Lippen und schob sich dann fordernd zwischen ihnen hindurch. Sie hätte sich nicht noch länger gegen die Verführung dieses unwiderstehlichen Mannes wehren können... Kisara war ziemlich aufgekratzt; zwar war sie ziemlich müde, aber eine innere Unruhe hinderte sie am Einschlafen. Stattdessen saß sie an Balians Bett und beneidete ihn richtig, denn er war im Tiefschlaf. Sie konnte es sich nicht erklären, doch in seiner Nähe fühlte sie eine Sicherheit, die sie davon abhielt, völlig den Halt und Verstand zu verlieren. Irgendwann, als Kisara dann beinahe doch eingedöst wäre, schreckte sie mit einem Mal auf. Sie konnte es sich nicht erklären, doch irgendetwas ließ ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper wandern. Nervös schluckend erhob sie sich von der Bettkante und blickte sich zögerlich um. War es wohlmöglich nur Einbildung gewesen? Als die Beruhigte sich gerade wieder hinsetzen wollte, erschien etwas aus dem Nichts, direkt vor ihr. Nach ein paar Sekunden erkannte sie entsetzt: Es war dieser unheimliche Kerl, der schweben konnte und auch zu diesen komischen Jägern gehörte! Kisaras erster Impuls, nämlich der zu schreien, kam nicht zur Ausführung. Blitzschnell zog Lucien das Mädchen an sich; ohne großen Kraftaufwand erstickte seine Hand jeden Laut der sich heftig Wehrenden. „Pscht... nicht so laut, ehrenwertes Fräulein, Ihr wollt Euren Freund doch nicht wecken, oder?“ Panisch starrte Kisara ihn an. Das hätte sie jedoch besser nicht gemacht, denn seine kalten dunklen Augen schienen eine hypnotisierende Wirkung zu haben... in eine tiefe Trance fallend, sank sie schließlich ohnmächtig in Luciens Armen zusammen. Ein gewinnendes, eiskaltes Grinsen trat auf die Lippen des Unsterblichen... Kapitel 6: Verborgene Kräfte? ----------------------------- Kisaras Augenlider zuckten. Langsam kam sie wieder zu sich. Nach einem kurzen Moment der Orientierungslosigkeit schreckte sie hoch: Was hatte der unheimliche Typ von den Einhornjägern mit ihr gemacht? Verwirrt und ängstlich blickte sie sich um: Es war ein dunkler, aber sehr großer Raum und sie selbst saß auf einem pompösen Bett. Durch die riesigen Fenster schien der Mond; inzwischen war also die Nacht hereingebrochen. Er hatte sie entführt... mal wieder saß sie in der Falle. Und immer noch verstand sie nicht, was diese Leute sich davon erhofften. Sie, ein Einhorn? Noch niemals vorher hatte sie so etwas Lächerliches gehört. Dennoch schienen die Feinde der festen Überzeugung zu sein, dass es so war... ein Haufen Verrückter, anders ließ sich das doch nicht erklären? Ein viel größeres Problem war momentan jedoch, dass Kisara nicht den leisesten Schimmer hatte, wo sie war und wie sie hier wieder wegkam. Wider besseren Wissens sprang sie vom Bett Richtung Tür – die allerdings fest verschlossen war. „Hätte ich mir auch denken können...“ Also ging sie zum Fenster, doch auch dieses ließ sich nicht öffnen... „Verzeiht mir, ich fürchte, ich kann Euch nicht gehen lassen...“, ertönte da eine tiefe Stimme hinter ihr und ließ das schreckhafte Mädchen zusammenzucken. Lucien war mal wieder aus dem Nichts aufgetaucht. „W-Was wollen Sie von mir?“, stammelte Kisara und wich an die am entferntesten liegende Wand zurück. „Das... ist wirklich eine interessante Frage... es kommt ganz darauf an... erst einmal ist es mein größtes Anliegen herauszufinden, was es mit Euch auf sich hat, schönes Fräulein...“ „I-Ich... ich habe das zwar schon tausend Mal gesagt, aber... Sie liegen völlig falsch! Ich bin kein... Einhorn, das wüsste ich doch!“ „Kisara... das ist doch Euer Name, oder? Ich habe gehört, wie der junge Zauberer Euch so genannt hat...“ „Was tut denn mein Name zur Sache??“ Kisara schnaubte. Wie gefährlich diese Typen auch sein mochten, eins waren sie noch viel mehr: Nervtötend! „Beeindruckend... obwohl Ihr Angst habt, gelingt es Euch, mich anzuschreien. Ihr erinnert mich ein bisschen an die teure Mary...“ „Wie kommen Sie dazu, mich mit der zu vergleichen??“ „Sagt Kisara... warum glaubt Ihr, haben Euch die Wölfe aufgespürt?“ Verdutzt über den plötzlichen Themenwechsel wusste die Angesprochene nichts mit der Frage anzufangen . „Ich werde es Euch sagen. Sie spüren Magie auf. Die unsterbliche Magie eines Einhorns...“ „Un-sterblich...?“ Das Wort hatte seine eigene Wirkung, denn schließlich benutzte man es nicht einfach so. „So ist es. Einhörner... sind unsterblich, sie leben seit Anfang aller Zeit und das bis in die Ewigkeit. Genauso wie ihre mächtige Magie... könnt Ihr Euch das vorstellen?“ In Kisaras Kopf regte sich etwas. In den Geschichten über Einhörner, die ihre Mutter ihr in der Kindheit erzählt hatte, war auch immer von der Unsterblichkeit der schönen Wesen die Rede gewesen. Aber wie konnte etwas unsterblich sein, das war doch eigentlich total unlogisch? „Außer den Einhörnern gibt es noch andere Wesen, die Unsterblichkeit besitzen. Die Harpyie zum Beispiel... oder die Dämonen. Ich, Lucien, darf mich zu jenen hinzuzählen.“ „Bitte? Wollen Sie mich veräppeln? Sind Sie bald fertig mit Ihrer Märchenstunde oder macht es Ihnen einfach Spaß, mich zu foltern??“ Es hatte Kisara schon gewundert, doch nun ließen die nächsten Tränen nicht mehr auf sich warten... warum, warum konnte der ganze Spuk nicht endlich ein Ende haben? Ohne dass sie es kommen sah, stand der Dämon auf einmal direkt vor ihr, ganz nah. Er ergriff ihre Oberarme und drückte sie an die Wand, zwar nicht grob, aber doch sehr bestimmend. „Ich beliebe nicht zu scherzen, Milady... genau wie die bezaubernden Einhörner bin auch ich unsterblich. Große Kräfte sind mir gegeben worden... magische Kräfte... Ihr seit ein sterbliches Menschenkind, das spüre ich, und doch nehmen die Spürwölfe die unsterbliche Zauberkraft eines Einhorns in Euch wahr. Woran... liegt das? So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt... doch wo ist diese Magie? Ihr könnt Euch ja nicht einmal gegen mich wehren...“ Lucien klang ziemlich verwundert und verwirrt. Er fand keine Erklärung für das Geheimnis dieses Mädchens, was auch immer dieses beinhaltete. Aber wie er nun einmal war, ließ er sich leicht von der Nähe einer schönen Frau betören – und wenn sie keinen Widerstand leistete, umso besser... Behutsam wischte er Kisara die Tränenspuren aus dem Gesicht, und bevor diese auch nur in irgendeiner Weise reagieren konnte, küsste er sie auf den Mund. Protest ließ er nicht gelten, dafür reizten ihn ihre weichen Lippen zu sehr. Kisara dachte nicht im Traum daran zu erwidern. Auch wenn es ein unbeschreiblich schöner Mann war, der sie hier küsste, so ließ sie sich im Gegensatz zu Mary nicht davon becircen. Denn sie hatte noch nicht vergessen, dass der Dämon dem armen Balian, der alles getan hatte um sie, Kisara, zu beschützen, ganz schön zugesetzt hatte. Es war dieser Gedanke, der diesen Widerstand aufrecht erhielt und sie nicht Genuss empfinden ließ, sondern Ekel... Als sie dann auch noch seine Zunge in ihrem Mund spürte, verstärkte sich ihr Ekelgefühl und ihre Panik noch mehr, doch Lucien ließ ihr keine Möglichkeit zur Gegenwehr, egal wie sehr sie auch zappelte. Doch wie durch ein Wunder gelang es ihr irgendwann, ihn von sich zu stoßen. Da ihr Peiniger dies nicht einfach so hinnehmen wollte und erneut versuchte, sich seiner „Beute“ zu bemächtigen, schrie sie, ohne noch weiter nachzudenken, laut: „N-Nein! Nein!! Neeiin-...!!“ Was geschah, nachdem der letzte verzweifelte Schrei über Kisaras Lippen kam, wusste diese nicht – denn ab da setzte bei ihr ein Filmriss ein... „Kisara? Hörst du mich? Meine Güte Kisara, jetzt komm doch zu dir!“ Eine Stimme, sie schien von ganz weit weg zu kommen, brachte das Mädchen wieder zu Bewusstsein. Diese Stimme kannte sie doch...? Kisara schlug die Augen auf. Das erste was sie sah war ein Gesicht, umrahmt von schwarzen, fein gelockten kurzen Haaren. Sie erkannte... „Balian...“ Ihre Stimme war schwach und sich fühlte sich ziemlich benommen und schwindelig. „Gott sei Dank, du bist aufgewacht...“ Das Gesicht des schönen Jungen war voller Besorgnis. Kisara versuchte, ihre Gedanken zu sammeln... „Was ist denn... passiert-“ Da fiel es ihr ein... „D-Dieser Dämon... L-Lucien... wo... ist er...?“ Sie versuchte sich aufzusetzen, doch stattdessen landete sie in Balians Armen. „Hey... jetzt beruhige dich und übernimm dich nicht. Wie soll ich sagen...“ Der Magielehrling klang verwirrt. „Lucien ist... ganz offensichtlich außer Gefecht gesetzt. Er liegt dort hinten auf dem Boden, ohnmächtig.“ Mit großen Augen starrte Kisara erst Balian, dann die reglose Gestalt an. „Was? Aber... was ist denn... geschehen???“ „Das könnte ich dich auch fragen, Kisara.“ „Was? Wie meinst du das?“ „Nun ja, als ich hier ankam, lagen sowohl du als auch er auf der Erde.“ „Häh?? Du hast ihn gar nicht unschädlich gemacht?“ Balian schüttelte den Kopf. Kisara verstand gar nichts mehr. Automatisch war sie davon ausgegangen, dass ihr Beschützer sie – mal wieder – gerettet hatte. Sie dachte scharf nach, aber sie hatte keinerlei Erinnerung daran, was los gewesen war, nachdem sie den lüsternen Mistkerl von sich gestoßen hatte... „Was ist denn passiert, sag, hat er dir irgendwas getan?“ Sich schämend senkte die Gepeinigte den Kopf. „Kisara! Jetzt rede bitte!“ Die eine Hand legte er auf ihre Schulter, mit der anderen hob er ihr Kinn an, seine braunen Augen blickten fest in ihre blauen. Schließlich brachte der ungewohnt Ungestüme seine Schutzbefohlene zum Weinen; wieder sank sie in seinen Armen zusammen. Doch jetzt erzählte sie: „Er... er hat mich geküsst... e-es war so widerlich... a-aber e-er hat einfach nicht aufgehört! Das war so schrecklich...“ In Balian stieg kochende Wut an. Was nahm dieses arrogante Monster sich eigentlich heraus?? Liebend gerne hätte er ihn jetzt, in diesem hilflosen Zustand, erledigen wollen... doch er musste seinen Verstand beisammen halten. Lucien war ein Dämon, ein unsterbliches Wesen – nichts, was man mal ebenso töten konnte. Doch dessen Zustand gab Rätsel auf: Wer oder was hatte ihn auf so effektive Weise in Bewusstlosigkeit versetzt? „Hey... ganz ruhig... es ist wieder alles in Ordnung...“ Fest schmiegte sich die aufgelöste Kisara an ihren Beschützer. Seine starken Arme vermittelten ihr eine Sicherheit und Geborgenheit, die ihr das Gefühl gab, dass alles gut werden würde. Als sie sich wieder beruhigt hatte und ihre Tränen getrocknet waren, richtete sie sich ein wenig verlegen auf und blickte Balian schüchtern an. „Danke...“, murmelte sie. „Bitte“, erwiderte er und konnte nicht umhin zu lächeln, doch dann fiel ihm etwas Seltsames auf. „Kisara... was hast du da?“ Auf ihrer Stirn, von ihren langen weißblonden Ponysträhnen fast vollkommen verdeckt war eine blasse, der Form eines Sterns ähnliche Narbe zu erkennen. Er entfernte die Haare aus ihrer Stirn und legte sie damit frei. Die hatte sie doch vorher noch nicht gehabt? „Was machst du denn da, habe ich irgendwas auf der Stirn?“, fragte Kisara irritiert und bekam leicht rosa Wangen, weil Balian ihr gerade ziemlich nah kam. Als der Zauberer das merkwürdige Mal jedoch mit den Fingerspitzen berührte, durchzuckte es ihn plötzlich – eine neue Vision kündigte sich an... Der immergrüne Wald... und das fremdartige Mädchen, so schön und rein wie es eigentlich nur ein Einhorn sein kann... „Balian! Bitte sag doch was...“ Die Trance dauerte dieses Mal nur wenige Sekunden. „W-Was...?“ Ein wenig orientierungslos schaute Balian sein besorgtes Gegenüber an, dann schüttelte er sich kurz und fasste sich wieder: „K-Keine Angst, es geht schon wieder...“ Irritiert starrte er das Mädchen an. Das merkwürdige Mal war wieder verschwunden... Kisara musste an das denken, was Henry ihr erzählt hatte. „Du hattest-“ Ein lautes Geräusch ließ sie verstummen; irgendjemand trat die verschlossene Tür ein – mit Erfolg: Im Türrahmen standen zwei Typen, die Kisara nach wenigen Sekunden erkannte: Als sie Mary das erste Mal begegnet war, waren diese bei ihr gewesen... „Einbrecher! Zauberer im Haus!“, schrie einer der beiden lautstark, dann rannten beide auf die Eindringlinge zu. Davon ließ Balian sich allerdings nicht beeindrucken. Kisara mit sich auf die Füße ziehend, sagte er mit einem Grinsen auf dem Gesicht: „Keine Angst, ich glaube nicht, dass wir uns vor denen fürchten müssen. Ein bisschen Schlaf wird ihnen bestimmt guttun.“ Mit diesen Worten zog er ein kleines Säckchen hervor, öffnete es und kippte sich ein bisschen von dem Inhalt – es war feiner, weißer Sand – auf die Hand. Die Ungläubige starrte ihn mal wieder an, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. „Balian... was ist das??“ „Das wirst du gleich sehen“, antwortete er schmunzelnd und blies den Handlangern von Mary die puderähnliche Substanz ins Gesicht. „Hey! Was machst-“, begann einer der beiden, doch dann verdrehten sich schläfrig seine Augenlider, genau wie bei seinem Kollegen... „Süße Träume...“, murmelte Balian mit melodischer Stimme, als die beiden tief schlafend auf den Fußboden fielen. „Bist du das Sandmännchen, oder was?“, begann Kisara hysterisch, doch er unterbrach sie; im Moment gab es Wichtigeres. „Wir müssen hier weg, komm.“ Ihren Arm ergreifend, machte er sich auf zum Fenster und rief: „Keine Fensterscheibe hält, wenn sie in tausend Scherben zerfällt!“ Tatsächlich: Die massive Scheibe brach klirrend in sich zusammen. Balian schlang seinen Arm um Kisaras Körpermitte und seine Füße hoben vom Boden ab. Der Dunkelheit draußen nach zu schließen, musste es früher Morgen sein, kurz vor der Dämmerung. Das Weiß des Pulverschnees in dieser verschneiten Region war erst undeutlich zu sehen. Auf einem lichten Waldweg landeten die beiden; inzwischen waren sie einige Kilometer vom Versteck der Jäger entfernt. Kisara hatte etwas auf dem Herzen, es brannte ihr richtig buchstäblich in der Seele; es musste jetzt unbedingt raus: „Balian? Ich muss dir etwas sagen.“ „Hm? Ja, was ist denn-“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, als Kisara sich plötzlich vor ihm auf dem Boden schmiss und die Haltung einer demütigen Verneigung annahm... „Ich möchte mich entschuldigen... bitte verzeih mir! Du... warst von Anfang an nett zu mir und hast mich beschützt, aber ich... ich hab dir und auch Henry nur Ärger gemacht! Und ich bin auch Schuld an Chicos Tod und... s-sowieso an der ganzen Misere! Ich... dachte immer, ich sei so erwachsen, aber... ich hatte unrecht... ich bin ein kleines, egoistisches Kind...“ „Kisara... hör auf. Bitte hör auf, dich so fertig zu machen! Es ehrt mich, dass du dich bei mir entschuldigst... doch man sollte nicht zu viel über seine Fehler jammern, sondern aus ihnen lernen. Das Leben besteht oft aus einer Kette von unglücklich verlaufenden Ereignissen... und... dein kleiner Chico wäre sicher traurig, wenn er sehen würde, dass du allen Mut verlierst. Bitte, steh auf...“ Er hielt Kisara, die verstohlen den Kopf hob, sanft lächelnd die Hand hin. Erst zögerte sie, doch schlussendlich ergriff sie sie. Nachdenklich schaute Balian das immer noch recht mysteriöse Mädchen an. Ihm war ein Gedanke gekommen: Stand Luciens tiefe Ohnmacht mit ihr wohlmöglich im Zusammenhang? Was hatte diese Narbe auf ihrer Stirn zu bedeuten, bestand auch hier eine Verbindung? Und war es nur Zufall, dass er just in dem Moment, in dem er sie berührte, jene undefinierbare Vision schon wieder bekommen hatte? Er wusste es nicht... doch obwohl so vieles noch unklar war, hatte Kisaras Entschuldigung ihm irgendwie das Herz erwärmt. Kurzentschlossen zog er sie in eine Umarmung. Die Überrumpelte wurde puterrot. „Du kannst mir vertrauen“, flüsterte er warmherzig, „Ok? Vertrau mir...“ Kisara nickte und ließ sich von seiner Wärme umhüllen, die ihr unverzichtbaren Trost spendete... Kapitel 7: Ein ungewöhnliches Fohlen ------------------------------------ Im Schutz der Morgendämmerung und begleitet von leisem Vogelgezwitscher gingen Kisara und Balian einen ruhigen Waldweg entlang. Ein wenig Schnee fiel leise vom Himmel. Blendete man den ganzen Hintergrund aus, so wäre es ein ganz normaler Spaziergang. „Eigentlich hättest du doch auch gleich zu eurem Versteck zurückfliegen können, oder?“ „Stimmt schon... aber es tut gut, mal da raus zu kommen. Diese Arbeit ist ganz schön hart, da braucht man mal ein bisschen Pause.“ „Hm... das leuchtet ein. Aber Balian, mir fällt gerade ein... wie kam dieser... Lucien... in euer Versteck?“ „Das haben Henry und ich uns auch gefragt. Ich meine, wenn es kein Problem für ihn gewesen wäre, wäre er doch sicherlich schon vorher irgendwann mal aufgetaucht; ist er aber nicht. Henry vermutet, dass er einen der unseren... aufgespürt und erpresst hat.“ „Was?“ Abrupt blieb Kisara stehen. „Im... Ernst?“ Balian nickte. „So sieht es wohl leider aus. Und... er wird denjenigen danach bestimmt nicht am Leben gelassen haben. Laufen gelassen sowieso nicht. Aber ich gehe eher von ersterem aus...“ Als er das weiß gewordene Gesicht seiner Begleitung sah, fügte er beschwichtigend hinzu: „Das ist leider bittere Realität, Kisara. Schon einige haben in dem Krieg gegen die Einhornjäger ihr Leben lassen müssen. Dieser Job ist sehr gefährlich.“ „Das ist schrecklich...“, murmelte sie traurig, den Kopf gesenkt. „Ja, das ist es leider... aber mach dir keine Sorgen, ich habe nicht vor, deine Sicherheit zu vernachlässigen.“ Kisara wurde gegen ihren Willen rot: „M-Mach dir wegen mir keine Umstände...“ „Tja, ich fürchte, das ist schon längst passiert. Mach du dir keinen Kopf, solange du meine Schutzbefohlene bist, werde ich auf dich acht geben.“ Sie spürte erneut eine Wärme in ihrem Inneren aufkeimen, so angenehm war dieses unentbehrliche Gefühl, nicht allein zu sein und jemandem vertrauen zu können. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Verlegen und auch ein wenig nachdenklich ließ Kisara ihren Blick über die dunklen, aber sanft wehenden Bäumen schweifen. Doch jäh und plötzlich, dass man es unmöglich hätte kommen sehen, sah sie ein seltsam unwirkliches Glitzern durch das dichte Blattwerk. Irritiert blieb sie stehen; ein überaus merkwürdiges Gefühl stieg in ihr hoch. „Kisara? Was ist los, was hast du?“ „Was... was ist das?“, fragte sie und ihre Stimme schien von ganz weit weg zu kommen. Balian blickte dorthin, wo Kisaras Blick ruhte und nun sah er es auch. Er brauchte nur wenige Sekunden, um zu verstehen – dann ergriff er die Hand seiner Weggefährtin und schlich mit ihr behutsam näher. „Balian... was-“ „Pscht...! Bitte sei leise, sonst wirst du es erschrecken!“ Balian war sich sicher, dass seine Sinne ihn nicht betrugen. Und tatsächlich, durch ein Loch im Gebüsch sah er es: An einem kleinen, malerischen See stand eines der schönsten Geschöpfe, die er jemals gesehen hatte, und löschte seinen Durst mit dem klaren Wasser. Die Mähne leuchtete strahlend weiß und schmiegte sich harmonisch an den schönen, schlanken Körper. Auf der Stirn thronte ein Horn. Balian musste kräftig schlucken, denn ihm stockte der Atem; es war lange her, dass er zuletzt eines gesehen hatte... Kisara verstand kein bisschen, was hier vor sich ging, erst recht nicht, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Begleiters sah; was konnte so faszinierend sein, dass es ihn offenbar so ganz und gar fesselte? Verwundert spähte sie durch das Guckloch. Ein See kam in ihr Blickfeld, doch so etwas wie das Wesen, was an ebendiesen stand und trank, hatte sie noch nie gesehen: Es sah aus wie eine kleine Pferdestute, aber konnte ein Pferd derartig schön sein? Normalerweise waren die Fohlen, die sie bislang gesehen hatte, tapsig und unsicher auf den Beinen, dieses jedoch wirkte atemberaubend anmutig, sogar wenn es einfach nur regungslos dastand. Zudem war es reinweiß, ohne ein Zeichen von Schmutz oder einem sonstigen Makel. „Wow... das ist wunderschön...“ „Weißt du, was das ist, Kisara?“ „Eine ziemlich hübsche kleine Stute, oder?“ Der Zauberlehrling schnaubte. Er hätte es wissen müssen... „Keineswegs. Das ist ein... Einhorn.“ „Hääää? Willst du mich veräppeln??“ „Verdammt nochmal, nicht so laut!“, schalte Balian das Mädchen mit zusammengebissenen Zähnen. Tatsächlich schien ihr Ausruf das junge Fabeltier aufgeschreckt zu haben: Mit großen fliederfarbenen Augen blickte es sich ängstlich um, schließlich verschwand es hinter die nächsten Bäume. „Na toll. Jetzt hast du es verschreckt!“ „Was bitte meinst du mit Einhorn? Ich dachte, die hätten ein Horn oder sowas!“ „Ich habe es dir bereits einmal erklärt. Du glaubst nicht an sie, deshalb kannst du sie auch nicht erkennen. Du nimmst das Horn nicht wahr.“ „Aber du kannst es sehen, oder wie?“ „Ja, allerdings. Und jetzt hör auf, hier so aggressiv rumzumaulen! Du musst dem kleinen Einhorn nicht noch mehr Angst einjagen.“ „Was soll das denn jetzt? Was auch immer das war, es ist doch bestimmt eh schon über alle Berge!“ „Nein. Ist es nicht. Es ist noch da.“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich spüre es...“ Seine schmalen braunen Augen blickten nun sehr ernst, gar kühl, drein. Was er sagte, konnte doch nicht einfach so daher gesagt sein? Mal wieder war Kisara vollkommen verwirrt. Das, was sie gerade gesehen hatte, war ein Einhorn? Ein Einhorn? Balians Ernsthaftigkeit brachte sie schließlich dazu, beschämt den Kopf zu senken. Schon um Einiges sanftmütiger forderte er sie auf: „Komm mit.“ Sie gingen zum Seeufer und Balian starrte angestrengt nachdenkend auf die Stelle, wo das Einhornfohlen hinter die Bäume geflüchtet war. „Willst du es wieder herauslocken?“ „Ja... weißt du, dieses Einhorn wirkt noch äußerst jung, und eine Einhorngeburt ist etwas, was wirklich sehr, sehr selten vorkommt. Ich werde nicht zulassen, dass diese schrecklichen Jäger es in die Finger bekommen...“ Und da war es wieder: Erneut sahen sie das silbrige Leuchten, das das Einhorn auf magische Art und Weise ausstrahlte. „Es... ist wirklich noch da... aber... wie willst du es dazu bringen, zu uns zu kommen?“ „Geduld. Ich versuch mal was.“ Balian atmete einmal tief durch, streckte die Hände aus und formte mit den Händen eine Schale. Nach ein paar Sekunden erschien auf seiner Handfläche eine Art durchsichtige Lichtkugel, die sanft glühte. „Was... was ist das?“ „Magie natürlich. Materialisierte Magie, mit anderen Worten: Ich presse sie in eine gestaltliche Form, mehr oder weniger zumindest. Und Einhörner sind mächtige Träger der weißen Magie. Magie lockt sie an, solange sie von guter Natur ist.“ Kisara betrachtete ihn voller Skepsis; obwohl es direkt vor ihrer Nase geschah, war es ihrem Kopf einfach nicht möglich, es zu glauben... Als Balian hauchzartes Hufgetrippel hörte, wusste er, dass sein Vorhaben funktionierte. Langsam und mit äußerster Vorsicht kam das Einhornfohlen zwischen den Ästen hervor. Neugierig blickten seine schönen Augen den Jungen an, der den Blick ohne Blinzeln erwiderte. Seine materialisierte Magie wurde zu schimmerndem Rauch, flog auf das Fabelwesen zu und zerstob an seinem Horn. Das Einhorn neigte langsam den Kopf nach vorne, bis es die dargereichte Hand sachte berührte. Sanft streichelte Balian den zierlichen Kopf des Fabeltieres. „So ist es gut... du musst keine Angst haben.“ Es sieht aus wie die Einhörner aus Mamas Geschichten, schoss es Kisara durch den Kopf. Mit einem Unterschied: Ein Horn konnte sie nicht entdecken, auch wenn Balian meinte, das eines da wäre. Stimmte tatsächlich irgendetwas mit ihrer Wahrnehmung nicht? „Wir nehmen es mit“, beschloss der junge Zauberer, „Erinnerst du dich, Kisara? Diese Vision, die ich letztens hatte. Ich konnte es nicht besonders gut erkennen... aber vielleicht habe ich dieses hier gesehen. Es ist definitiv in Gefahr. Wir werden jetzt ersteinmal zum Hauptquartier zurückkehren, und dann sehen wir weiter.“ „O-Ok... aber glaubst du echt, dass das Pferdchen mit uns kommt?“ „Es ist ein Einhorn“, wiederholte Balian und verdrehte leicht genervt die Augen. „Und ja. Es vertraut mir. Zudem ist es noch ziemlich jung. Das wird nicht so schwer sein.“ Tatsächlich schaute ihn das Einhornfohlen sehr treu an und trippelte neugierig um ihn, aber auch um das nach wie vor völlig misstrauische Mädchen herum. Balian lächelte: „Dann komm mal mit, Kleines. Wir passen auf dich auf, versprochen.“ „Woher willst du wissen, ob es dich überhaupt versteht?“ „Sicher bin ich mir nicht. Aber... so lange es uns folgt, ist alles gut.“ Und nach diesen Worten nahm er einfach Kisaras Hand und zog sie zum Weitergehen hinter sich her. Erneut wurde sie rot. Langsam fragte sie sich, warum dieser Junge sie ständig – und immer öfter – so befangen machte. Doch bevor sie diese Gedankengänge weiter erforschen konnte, wunderte sie sich ziemlich über das kleine – was auch immer es war – welches ihnen tatsächlich munter hinterhertrabte. „Ich habs dir doch gesagt“, meinte der junge Magier und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Schließlich legte er seine Hand auf die weiche Mähne des Fohlens und murmelte: „Was mein sei dein. Erhebe ich mich in die Lüfte, so sollst du es auch...“ Kisara verstand mal wieder nur Bahnhof, doch dann aktivierte Balian, der immer noch ihre Hand hielt, seinen Schwebezauber. Wie er es beabsichtigt hatte, ging dieser automatisch auf das Einhorn über. „In Ordnung. Wir kehren jetzt zu Henry zurück.“ Es dauerte nicht lange, und sie waren beim Versteck angekommen. Dort traf sie jedoch der Schlag: Es war vollkommen zerstört. Nur noch Trümmer waren übrig... „D-Das kann doch nicht... diese miesen Jäger...“, entfuhr es Balian wütend und entsetzt. „Den anderen... Zauberern... und Henry... wird es doch hoffentlich gut gehen, oder?“, fragte Kisara unsicher, als sie auf dem Boden angekommen waren. „Das kann ich nur sehnlichst hoffen, Kisara...“ Das kleine Einhorn schien die Unruhe der beiden zu fühlen und scharrte nervös mit den Hufen auf der Erde. Langsam bahnten sie sich einen Weg durch die verwüsteten Gemäuer. Balian vernahm einen leichten Geruch von Blut und ihm drehte sich der Magen um. Plötzlich blieb Kisara abrupt stehen. „Kisara... was-“ „Balian. B-Bitte sag mir nicht, dass das dort... H-Henry ist.“ Der Zauberer wandte den Kopf zu der Stelle, auf die das Mädchen starrte, und bekam einen heftigen Schrecken. An einem kaputten Mauervorsprung lehnte reglos der mächtigste Magier, den er kannte, blutüberströmt... Kapitel 8: Missliche Lage ------------------------- Mary konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie Lucien, den mächtigen Dämonen, ausgeknockt auf dem Boden gefunden hatte. Auch wenn sie zunächst nicht gewusst hatte, was genau passiert war, so befand sie, dass es diesem arroganten Kerl recht geschah. Sie hasste Lucien wie die Pest. Er konnte sie mühelos um den Finger wickeln, verführen, bis sie alles um sich herum vergaß, selbst ihren Abscheu ihm gegenüber. Es war zum verrückt werden. Denn danach fühlte sie sich jedes Mal furchtbar. Veräppelt und gedemütigt. Als Mary danach erfahren hatte, dass dieses komische Einhornmädchen den Dämonen so zugerichtet hatte, gönnte sie es ihm nur noch mehr. Bestimmt hatte er versucht, ihr ebenfalls Honig ums Mäulchen zu schmieren. Warum sonst hatte er sie selbst entführt und sie in seinem Zimmer eingesperrt? Was sie auch immer war, ob Einhorn oder nicht – auf jeden Fall hatte sie die Gestalt einer sehr hübschen jungen Frau. Das hatte er nun davon, dass er seine trieb gesteuerten Finger nicht von ihr hatte lassen wollen. Lucien selber war recht erzürnt. Ihn konnte selten etwas aus der Fassung bringen, doch dass das Mädchen, das er einfach nirgendwo einordnen konnte, ihn so übel erwischt hatte, brachte ihn in Rage. Vor allem, weil er dachte, sie in seinen Besitz gebracht zu haben. Sie musste tatsächlich magische Kräfte haben – wie sonst hätte sie sich aus ihrer Lage befreien können? Der Dämon wusste nicht einmal genau, was passiert war. Nur dass sie wie am Spieß geschrien und gestrampelt hatte, und dann war plötzlich alles hell gewesen... blendend hell. Weißes Licht, überall wohin er geschaut hatte. Sekunden später hatte Lucien gespürt, wie ihn eine unsichtbare starke Kraft gegen die nächste Wand geschleudert hatte. Danach muss er ohnmächtig geworden sein. Obwohl der äußerliche Schein keinen anderen Schluss zuließ, war das junge Fräulein definitiv kein gewöhnlicher Mensch. Schon gar nicht, wenn sie es schaffte, ihm Schaden zuzufügen. Irgendetwas verband sie mit den Einhörnern... deshalb würde er nicht ruhen, bis er sie hatte. „Wir brauchen einen neue Idee, Mary“, meinte Lucien nachdenklich; seine Mitstreiterin zuckte erschrocken zusammen, denn sie hatte allein auf einem Balkon des Jägerquartiers gestanden und gedankenverloren in die Ferne geblickt. Seine Fähigkeit, einfach wie aus dem Nichts auftauchen zu können, nervte sie ziemlich. Daher schnaubte sie extra laut: „Du störst. Kannst du nicht woanders hingehen?“ Lucien ließ sich natürlich nicht abwimmeln. „Mary, Mary. Du solltest nicht vergessen, wer den ganzen Laden hier schmeißt: Einzig allein ich. Und du... bist meine tüchtige rechte Hand. Die ganzen Anderen, die sonst noch hier herumlaufen, sind doch bloß Wasserträger. Mit wem soll ich mich sonst besprechen?“ Mary wurde ungehalten: „Diese Wasserträger, wie du sie nennst, haben mir immerhin dabei geholfen, das Versteck dieser Zaubereridioten zu stürmen.“ „Hm... ja, es lief überraschend glatt.“ Der Dämon lächelte sein typisches überlegenes Grinsen. „Jetzt haben wir diese ach so mutigen und hilfsbereiten Zauberer endgültig in der Tasche. Schließlich habe ich mithilfe dieser hübschen kleinen Magierin – Arianne hieß sie, glaube ich – nicht nur den Standort des Verstecks erfahren, sondern auch die anderen Menschen, die sich Magier nennen und zu dieser schwachsinnigen Vereinigung gehören, aufgespürt. Sie waren keine große Herausforderung für mich. Zu dem Zeitpunkt, als ich die arme Arianne in der Gewalt hatte, war es aus mit ihnen. Sie sind nun einmal nicht mehr als normale Sterbliche, die ein bisschen zaubern können. Ich habe sie alle getötet.“ Er sprach besonders den letzten Satz mit Genuss aus und bemerkte amüsiert aus den Augenwinkeln, dass Marys Augen sich entsetzt ein wenig weiteten, obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollte. „Damit blieben nur noch zwei. Ich nehme mal an, dass du den kleinen Hellseher, der die junge Lady ja anscheinend von hier weggeholt hat, nicht dort angetroffen hast?“ „Nein... da war bloß noch Henry, der Kopf dieser verfluchten Einhornsamariter. Da er mit unserem Auftauchen nicht gerechnet hat, haben die Wölfe ihn ziemlich schwer verwundet. Wir haben den Laden angezündet, ich vermute stark, er ist im Feuer umgekommen.“ „Henry ist - oder war - für einen Menschen ein äußerst mächtiger Magier. Aber Mensch bleibt Mensch. Eigentlich schade um ihn... oder eher um seine großartigen Zauberkräfte. Nun... dann bleibt ja nur noch Balian übrig. Ich denke, die kleine Lady Kisara und er sind irgendwo auf der Flucht. Aber wir werden sie früher oder später finden.“ Wütend biss Mary die Zähne zusammen; Luciens abfällige Bemerkungen über menschliche Schwäche passten ihr überhaupt nicht. Und mal wieder konnte sie ihre Zunge nicht im Zaum halten: „Du aufgeblasener Angeber... ich an deiner Stelle wäre nicht mehr so großspurig, schließlich hat dir diese Göre ganz ordentlich den Wind aus den Segeln genommen!“ Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs zeigte Luciens Gesicht eine Spur von Ärgernis. So schnell konnte Mary gar nicht gucken, da hatte der Unsterbliche sie auch schon an die Wand gedrängt und seine Arme links und rechts von ihr abgestützt. In seiner tiefen dunklen Stimme lag eine leise Drohung: „Ich schätze dich überaus, Mary. Aber reiz mich nicht zu sehr... es könnte dir nicht gut bekommen.“ Mary schluckte, doch ansonsten verzog sie keine Miene. „Mistkerl...“, zischte sie. Lucien grinste unbeeindruckt und wandte sich dann ab. „Du bist gewarnt, Teuerste.“ „Ist er... tot...?“ Kisara zitterte am ganzen Leib, während Balian zu seinem Lehrer lief und einen Puls suchte. Henry hatte viel Blut verloren und rührte nicht – doch er lebte noch: Balian fand einen regelmäßigen Herzschlag. Erleichtert entspannte sich sein Körper und er atmete tief durch. „Nein, Kisara... er ist nicht tot. Gott sei Dank...“ Auch Kisara fiel nun ob der Gewissheit, dass der weise, gutmütige Mann lebte, ein Stein vom Herzen. Dennoch schien es mit ihm nicht zum Besten zu stehen: „Komm her, Kisara. Du musst mir helfen, wir müssen uns schleunigst um seine Verletzungen kümmern. Und dafür sorgen, dass er nicht noch mehr Blut verliert...“ „O-Ok.“ Während die beiden jungen Leute Henry notdürftig verarzteten – nachdem sie ihn erst einmal aus den Trümmern gezogen und sich an einem ruhigen Platz an einer Waldlichtung niedergelassen hatten – kam Balian ein Gedanke: „Ich frage mich... kannst du uns nicht helfen?“ Seine Augen trafen auf die des kleinen Einhorns, welches ihnen die ganze Zeit gefolgt war, und blickten fragend drein. Das schöne Fabelwesen schien nicht zu verstehen – Kisara ebenso wenig: „Wovon redest du?“ „Nun ja... man sagt Einhörnern nach, dass das Heilen Teil ihrer magischen Kraft ist, weißt du?“ Mal wieder war das Gesicht der 16-jährigen voller Skepsis. „Heilen? Im Ernst?? Aber... kannst du... das nicht??“ „Leider nein. Der Magie sind Grenzen gesetzt. Ich bin gut in der Levitation – also die Überwindung der Schwerkraft, fliegen – aber heilen ist nichts, was jeder Zauberer lernen kann, das ist genauso wie mit dem Sehen.“ Kisara fühlte sich, als verknotete sich ihr Gehirn. „Also... hab ich das richtig verstanden, das... Einhorn... kann Henry heilen?“ „Das Problem ist... es scheint noch zu jung zu sein. Seine Kräfte scheinen noch nicht entwickelt... sonst hätte es wahrscheinlich schon längst von sich aus etwas getan. Denn sie sind von Natur aus gut und stets hilfsbereit. Ich weiß auch, dass... Einhörner sprechen können. Das kann unser kleines Exemplar wohl auch noch nicht...“ Gedankenverloren streichelte er den Kopf des Fohlens, welches auf irgendeine seltsame Art und Weise so wirkte, als sorge es sich auch um den ohnmächtigen Mann. Kein Pferd der Welt würde so eindringlich gucken, schoss es Kisara durch den Kopf. Doch dann fiel ihr etwas anderes ein: „Das waren diese Jäger, stimmts? Sie haben euer Quartier zerstört...“ „Ja. Definitiv. Seit dieser böse Dämon in unserem Versteck aufgetaucht war, war es nur eine Frage der Zeit... jedoch bin ich nicht darauf gekommen.... verdammter Mist!“, fluchte Balian und ballte die Fäuste. „Du... warst damit beschäftigt, mich zu retten...“, murmelte Kisara schuldbewusst. „Red keinen Unsinn“, erwiderte der junge Zauberer und seine Stimmlage wurde wieder sanfter, „Henry hat mich damit betraut, dich zu beschützen und ich habe diese Aufgabe angenommen, weil ich es wollte. Dich trifft überhaupt keine Schuld, Kisara.“ „Dich genauso wenig, Balian! Seit dieser... dieser Lucien in Erscheinung getreten ist, scheint nichts mehr zu funktionieren...“ „Ja, das ist wahr. Mit Mary und ihren Handlangern sind wir immer fertig geworden. Und jetzt haben wir es mit einem schwarzmagischen Unsterblichen zu tun. Es entwickelt sich zu einer Katastrophe. Fragt sich nur, was nun zu machen ist...“ Balian lehnte sich an einen Baum und ließ seufzend den Kopf auf die Knie sinken. Er war sichtbar erschöpft. Ein Anflug von Mitleid überkam Kisara. Dieser Junge war wirklich unglaublich tüchtig und mutig, hatte Nerven aus Stahl und beklagte sich nie. Wann hatte er sich zuletzt richtig ausgeruht? Seine Schutzbefohlene gönnte ihm eine Verschnaufpause von Herzen. Das Einhorn gesellte sich zu ihm und schmiegte seinen Kopf an seiner Hand. Kisara setzte sich an Henrys Seite, dessen Brust sich ruhig und gleichmäßig hob und senkte, und beobachtete das seltsame weiße Tier, das Einhorn ohne Horn. Sie begriff es einfach nicht... „Ich werde einen Schutzzauber auf die Lichtung legen, dann können wir eine Weile gefahrlos hier bleiben“, sagte Balian kurze Zeit später. Kisara wollte antworten, doch stattdessen meldete sich auf einmal laut ihr Magen. Verlegen senkte sie den Kopf. „Oh je...“ Balian nahm seinen Umhängebeutel, den er ständig bei sich trug, und warf ihn ihr zu. „Bedien dich, ich hab noch genug Vorräte.“ Das Mädchen wusste schon gar nicht mehr, wann es zum letzten Mal etwas zu sich genommen hatte. Ihr Leben war seit Kurzem so abenteuerlich und gefährlich geworden, da schienen solche elementaren Dinge wie Essen und Trinken Nebensache zu sein... Henry gab ein schwaches Ächzen von sich. Balian und Kisara stürmten sofort zu ihm hin. Wenn er jetzt wieder zu sich kam, war das ein gutes Zeichen. „W-Warum... machst du... das...?“, stammelte der Magier; seine Augen waren immer noch geschlossen. Die beiden Beobachter sahen sich mit großen Fragezeichen auf den Gesichtern an. Wovon sprach Henry? „Was ist mit ihm, Balian? Träumt er etwa?“ „Hört sich ganz danach an...“ Doch im nächsten Augenblick schlug Henry langsam die Augen auf. Noch sehr orientierungslos schaute er sich um. Als er Kisara und Balian über ihn gebeugt erblickte, trat ein leichtes Lächeln auf seine Lippen. „Schön zu sehen... dass es euch Zweien gut geht...“, brachte er hervor, dann aber schnappte er keuchend nach Luft. Sicher hatte er Schmerzen... „Das können wir von Euch erst recht behaupten, Henry“, sagte Balian, „Zuerst dachten wir, wir hätten Euch... verloren.“ Kisara nickte zustimmend und musste mit den Tränen kämpfen. „Henry, Sie... wirken so unerschütterlich. Als ob Ihnen so etwas niemals passieren könnte...“ „Oh... weit gefehlt, Milady. Jeder Mensch ist verwundbar...“, antwortete er in einem sanftmütigen Tonfall. „Was ist geschehen, Henry?“, erkundigte sich sein Lehrling. „Dass es die Einhornjäger waren, müsst Ihr mir nicht erst sagen, aber... wie kommt es, dass unser Quartier und vor allem Ihr in so einen Zustand geraten seid?“ Henry atmete einmal kräftig durch. Ihm war klar, dass er nicht imstande war, sich aufzusetzen geschweige denn aufzustehen, obwohl er eine Sekunde lang den Impuls verspürte, es zu versuchen. Jedoch brauchte er seine ganzen angeschlagenen Kräfte zum Sprechen, das wusste er: „I-Ich... habe es nicht kommen sehen. Dabei war ich gewarnt... schließlich... ist Lucien in unser V-Versteck eingedrungen... d-dennoch... Mary... hat es sehr geschickt angestellt... i-ich vergesse wohl manchmal... dass die Magie nicht vor allem bewahren k-kann...-“ Seine Stimme brach wieder ab und er brachte nur noch ein schmerzerfülltes Keuchen heraus. Balian bereute schon, dass er gefragt hatte, was genau passiert war; es strengte seinen Lehrmeister zu sehr an. Besorgt legte er seine Hand auf die Henrys. Plötzlich durchfuhr es ihn wieder wie ein Gewitterblitz... die Umgebung verschwamm augenblicklich vor seinen Augen. Er fühlte noch, wie sein Körper, der ihm nicht mehr gehorchte, einsank, und wie Kisara ängstlich seinen Namen rief, danach schwanden ihm die Sinne... zumindest für das, was in der wirklichen Welt passierte... Tiefes, unheimliches Knurren... vier riesenhafte Wölfe... eine Frau, die geschickt mit der Hilfe von zwei Ästen ein kleines Feuer entfachte. Mary. Eine winzige Flamme, die schon bald ein gewaltiges Inferno war... Henry, dem der Schweiß von der Stirn perlte, versuchte, das Feuer mit einem Zauber zu löschen... etwas, das er nicht kommen sah. Die Wölfe, die ihn umzingelten und gleichzeitig auf ihn sprangen. Ihn umwarfen. Blut spritzte. Ein Flehen... „Warum... machst du... das...?“ Balian sah wieder das Gegenwärtige. Grüne Bäume, leicht von pudrigem Schnee bedeckt. Ein paar weiche Sonnenstrahlen drangen durch die Baumkronen. Kisaras hübsches Gesicht mit den großen blauen Augen, die ihn sorgenvoll musterten. Er rang nach Luft und musste auf einmal heftig husten; ihm war, als wäre er selbst mit dem Feuer konfrontiert gewesen, als wäre der dicke graue Rauch ihm in die Lungen gedrungen. „Balian... hey, was hast du denn? Beruhige dich... ruhig atmen... b-bitte...“ Kisaras Stimme war zwar eine Spur Unsicherheit anzumerken, trotzdem half es Balian sehr, dass sein Kopf auf ihrem Schoß lag, sie seine Hand in ihre nahm und ihn fest umarmte. Eine Wärme drang auf ihn ein, die das kalte Unbehagen wegfegte. Er machte ein paar tiefe Atemzüge und beruhigte sich langsam. Kisaras unmittelbare Nähe war wohltuend, irgendwie heilsam, ohne dass Balian sich plausibel erklären konnte, warum. „Gehts wieder?“, fragte Kisara, immer noch mit Sorgenfalten zwischen den Augenbrauen, nachdem sie ihren Oberkörper wieder aufgerichtet hatte. „Ja“, murmelte Balian und lächelte anschließend, „Ich danke dir, Kisara.“ „Wofür? U-Unsinn, dafür musst du dich doch nicht bedanken...“ Die 16-jährige wurde ein wenig rosa im Gesicht und senkte verlegen den Kopf. „Wie geht es Henry?“, fragte der Erschöpfte nach und schaffte es, sich aufzusetzen. „Er ist wieder eingeschlafen... aber vorher hat er mir noch einmal gesagt, ich solle mir keine Sorgen um dich machen.“ Kisara klang beschämt. „Was ich trotzdem gemacht habe.“ „Musst du nicht. Meine Visionen sind nichts Beängstigendes. Und keine dauert je länger als ein paar Minuten. Trotzdem, sehr lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst.“ Der Hauch rot auf ihren Wangen wurde noch ein kleines bisschen leuchtender. „Du bist mir ein einziges Rätsel, weißt du das?“ Der durchdringende Blick aus diesen hellbraunen Augen machte Kisara ganz nervös. Dass sie in der letzten Zeit von jedem, der ihr begegnete, behandelt wurde, als wäre sie von einem besonderen, gar magischen Geheimnis umgeben, war ihr unangenehm und passte nicht in ihr Weltbild. Es war zum Verrückt werden... doch es änderte nichts daran, dass sie sich in der Gegenwart dieses Jungen sicher fühlte... Um sich von ihren Gedanken abzulenken, erkundigte sie sich: „Was... hast du eigentlich... gesehen?“ „Nun... es war diesmal ein Blick in die Vergangenheit. Ich brauche den Meister jetzt nicht mehr fragen, was vorgefallen ist. Ich habe es gesehen.“ Kisara bekam ziemlich große Augen. „Du hast es gesehen?? Du... siehst auch, was schon vergangen ist...?“ „Ja, das kommt schon mal vor. Es war Mary mit ihren Rüpeln und mit den abgerichteten Wölfen. Sie hat das Versteck in Brand gesetzt und ihre Viecher sind alle auf einmal auf Henry losgegangen. Am Ende hab ich nur noch Flammen und Rauch gesehen... das war echt grauenvoll.“ Gegen ihren Willen wurde die stolze Realistin auf einmal recht neugierig. Da war eine Stimme in ihrem Kopf, die brüllte „Glaub es nicht, das ist Humbug!“, aber sie würgte sie zum ersten Mal einfach ab: „Sag mal... wie siehst du es? Läuft da... ein Film vor deinen Augen ab oder so?“ „Nein... ich sehe meistens nur einzelne Bruchstücke. Manchmal hat es nicht einmal eine zeitlich zusammenhängende Abfolge, in diesem Fall zum Glück schon, das macht das Nachvollziehen einfacher. Es kann auch sein, dass ich nicht mal weiß, ob ich das Vergangene oder Zukünftige sehe. Ich sehe auch nicht immer konkrete Geschehnisse. Sehr oft sind meine Visionen auch von symbolischer Art... Symbole, die ich erst mal deuten muss...“ Die Vorsehung mit dem weißen Mädchen in dem immergrünen Wald... das war von symbolischer Natur, dessen war Balian sich fast sicher. Inzwischen hatte er diesen Traum schon dreimal gehabt, und mit jedem Mal waren die Bilder zusammenhängender und deutlicher geworden. Nur die Bedeutung verstand er nach wie vor nicht... Seine Arme, mit denen er den oberen Teil seines Körpers abstützte, wollten diesen plötzlich nicht mehr tragen; sowieso fühlte er sich müde und schwerfällig. Ergeben sank er in Kisaras Armen zusammen. „Balian...“ „Keine Panik... nur ein Schwächeanfall...“ „Ich versteh das nicht... warum bist du immer so kaputt nach deinen... komischen... Träumen?“ „Ich habe keine Ahnung... aber Henry hat dazu eine Theorie... er meint, dass die Magie ihren eigenen Willen hat... und dass Zauber, die sich ganz unserer Kontrolle entziehen, die Mächtigsten sind. Und meine Gabe... ist eine solche Magie. Ich kann sie nicht steuern... das scheint mir eine logische Erklärung dafür zu sein, dass so starke Zauberkräfte mich so heftig erschöpfen...“ Und nach diesen Worten fielen ihm endgültig die Augen zu. Bekümmert musterte Kisara den Tiefschlafenden. Balian hatte dunkle Schatten unter den Augen und sicherlich eine Menge an Schlaf nachzuholen – und redlich verdient. Kisara wollte Balian erst neben Henry legen, hatte dann aber auf einmal keine große Lust mehr dazu. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht ganz verstand, wollte sie Balians Kopf gerne auf ihrem Schoß ruhen lassen. Sie wusste nur, dass sie ihn inzwischen sehr mochte und dass er ihr wichtig war. Sie sorgte sich um ihn. Er war so ein liebenswürdiger Mensch und hatte soviel für sie getan... Als ihr das Wort liebenswürdig durch den Kopf schoss, wurde ihr bewusst, dass es Liebe beinhaltete, und erneut wurde sie rot. Hatte ihr ein Junge jemals vorher soviel bedeutet? Nein. War sie etwa doch verliebt? In Balian? Kisara schüttelte sich heftig ob ihrer Gedankengänge. Es irritierte sie sehr... und unmöglich konnte sie momentan noch mehr Verwirrung gebrauchen. Verstohlen betrachtete sie Balians Gesicht und konnte nicht an sich halten, ihm die eine Locke, die ihm ständig in die Stirn fiel, zur Seite zu streichen. Henry kam wieder zu sich. Er blickte auf und das Erste, was er sah, ließ ihn glauben, er halluziniere. „G-Grund-gütiger...“ Er schaffte es in die Sitzhaltung und starrte das Wesen an, welches ihn unverhohlen neugierig musterte. Es war wahrhaftig ein Einhorn. Kisara horchte auf. „Henry... geht es Ihnen besser?“ „B-Blendend, Milady... nur... wo kommt dieses Einhorn her?“ Kisara hatte Henry bislang nie so fassungslos gesehen. „Also, wir, Balian und ich... haben es zufällig entdeckt.“ „Ich... habe noch nie eines so aus der Nähe gesehen... doch so ein junges Exemplar wäre ein leichtes Opfer für die Jäger...“ Henry streckte dem Fohlen vorsichtig eine Hand hin; es beschnupperte diese zaghaft. Der Zauberer tätschelte dem Einhorn den Kopf und lächelte, dann wandte er sich Kisara zu: „Wie mir scheint, hat der junge Balian ein gutes Schlafplätzchen gefunden“, meinte er schmunzelnd, woraufhin Kisara erneut die Röte ins Gesicht stieg. Danach lachte Henry amüsiert, wurde allerdings schnell von seinen Schmerzen abgewürgt. „Argh... verdammt nochmal... aber ich sehe, ihr habt euch um meine Verletzungen gekümmert... danke dafür.“ Als Henry sich auf die Füße stellen wollte, wollte das Mädchen erst protestieren, jedoch half das Babyeinhorn ihm und bewahrte ihn vor dem Fallen, indem es ihn stütze. Kisara klappten die Kinnläden herunter. „Oh, ich danke dir, kleines Einhorn.“ So gelang es ihm, sich an Kisaras Seite zu begeben. Schnaubend ließ er sich neben ihr nieder. „Sag mal, Milady. Kannst du eigentlich sein Horn sehen?“ Die Angesprochene verzog leicht die Mundwinkel. Plötzlich hatte sie wieder das Gefühl, Distanz schaffen zu wollen. „Ich... sehe nichts, was es nicht gibt“, antwortete sie trotzig und versuchte, nicht ganz so unhöflich zu klingen. Zu ihrer Überraschung jedoch schien der weise Zauberer nicht beleidigt zu sein; das Lächeln wich nicht von seinen Lippen. „Ich werde dich nicht belehren, Fräulein Kisara. Ich bin guter Hoffnung, dass du auf dem richtigen Weg bist.“ Kisara machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch schließlich ließ sie es bleiben. Bringen würde es sowieso nichts... sie hatte immer noch das Gefühl, dass sie und die Leute, denen sie in der letzten Zeit begegnet war, ständig aneinander vorbeiredeten. Das Einhorn ließ sich neben ihnen nieder, gähnte einmal und machte die Augen zu. „Es ist wirklich bildhübsch“, sagte Henry und lächelte. „Weißt du, ich bin einem Einhorn noch nie so nah gekommen. Wir haben zwar schon einige vor den Jägern gerettet, aber das lief dann so ab, dass Balian den ungefähren Standort der Einhörner in seinen Vorahnungen gesehen hat und wir Mary an diesen Plätzen dann zuvorgekommen sind, sodass die Einhörner fliehen konnten. Ich habe vielleicht mal einen Schweif gesehen oder ein silbriges Glitzern... aber mehr nicht. Hier erfüllt sich ein lang geträumter Traum... ich habe als kleiner Junge ein Einhorn von fern gesehen und war so fasziniert, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte.“ Ohne dass sie es wollte, nahm bei Kisara erneut die Wissbegierde die Oberhand: „Möchten Sie sie deshalb beschützen?“ „Hm... irgendwie schon... ich meine... sie sind friedliebend und wollen niemandem etwas Böses.“ „Warum... jagen diese Typen eigentlich die... Einhörner?“ „Zu allen Zeiten wurden sie vor allem wegen ihres Horns gejagt. Es enthält ihre Magie, musst du wissen. So ist es auch in diesem Fall. Ein weiterer Grund ist ihr Blut. Es hat starke Heilkräfte.“ Das Mädchen musste unwillkürlich schlucken. „Deshalb wollen sie sie meucheln?“ Sie dachte an den unheimlichen Dämon Lucien und an die grausame Mary, die den armen Chico ohne mit der Wimper zu zucken umbringen ließ. Die Bilder kamen ihr nach längerer Zeit wieder in den Sinn und ein Schauer ging durch ihren Körper. Sie schüttelte sich heftig. „Das... ist grauenhaft...“ Henry legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Alles wird gut, Milady. Wir werden das schaffen. Aufgeben hab ich noch nie gemocht.“ Da die Erschütterte nicht antwortete, beschloss Henry, sie ein wenig abzulenken: „Du magst den jungen Balian sehr, nicht wahr?“ Kisaras Kopf fuhr augenblicklich in die Höhe. „W-Wie kommen Sie denn da drauf??“ „Nun, weil du ihn auf deinem Schoß schlafen lässt. Das gibt ein sehr inniges Bild.“ „I-Ich... weiß es nicht... irgendwie schon... er... hat mich die ganze Zeit beschützt.“ „Oh ja. Er ist ein guter Junge. Ich habe gerade gemerkt, dass uns ein Schutzzauber umgibt. Wirklich... er ist auch ein exzellenter Schüler.“ Henry ließ seinen Blick eine Weile über die leicht verschneiten Bäume schweifen. „Kisara. Soll ich dir erzählen, wie ich Balian kennengelernt habe? Glaub mir, es ist eine überaus spannende Geschichte.“ Interessiert war sie in der Tat, auch wenn es ihr schwerfiel, das zuzugeben. Doch dann nickte sie. Kapitel 9: Eine Geschichte voller Magie und Traurigkeit ------------------------------------------------------- „Es ist schon über 10 Jahre her, zu einer Zeit, in der ich gerade dabei war, herauszufinden, wie ich meine Zauberkräfte sinnvoll einsetzten wollte. Ich wurde Exorzist.“ „Exorzist?? Sie meinen... Teufelsaustreiber??“ „Ja, richtig. Tatsächlich gibt es Dämonen, die nur dann existieren können, wenn sie die Seele eines Menschen besetzen. Von Dämonen sagt man, sie seien die Lakaien des Teufels. Und es gibt andere Geschichten, die berichten, dass Dämon ein Synonym für Teufel ist. Wie auch immer, es kommt nicht selten vor, dass Menschen besessen sind und dann unter böser Fremdkontrolle ganz schreckliche Dinge tun. Ich lernte, meine Magie so zu benutzen, dass es mir gelang, die Dämonen auszutreiben und die Opfer von ihrem Einfluss zu befreien. Daher machte ich es damals zu meiner Berufung und zog durch die Lande, um überall meine Hilfe anzubieten, wo sie gebraucht wurde. Eines Tages kam ich in ein hübsches kleines Dorf, wo ich einer alten Frau im Sterbebett begegnete, die von einem Dämonen gequält wurde. Ich trieb ihn aus, was sich schnell im Dorf herumsprach. Später trat ein Mann auf mich zu, der mir erzählte, er komme aus einem Nachbardorf. Dort würde ein ganz furchtbarer Teufel hausen. Er bat mich, mit ihm zu kommen und mir selbst ein Bild zu machen.“ Kisara lauschte hingerissen. Es war eine Geschichte von der Art, die ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte. Magisch und geheimnisvoll. Sie wusste nicht, wohin diese Story führen sollte, aber sie beschloss, einfach weiter zuzuhören. „Nun, dieses Dörfchen, in das ich jetzt kam, sah völlig anders aus als das vorherige. Es herrschte eine düstere und kalte Atmosphäre. Die Häuser sahen aus, als wären sie Opfer eines Feuers geworden. Tatsächlich, so wurde mir berichtet: „Vor nicht allzu langer Zeit ist hier ein riesiges Feuer ausgebrochen, müssen Sie wissen...“ Der Mann schauderte. „Es war der Dämon! Ich bitte Sie, vertreiben Sie ihn von hier!“ Henry fragte nach: „Da Sie mich um Hilfe gebeten haben, nehme ich mal an, dass der Dämon sich in einen der hier lebenden Leute eingenistet hat. Könnten Sie mich zu ihm oder ihr bringen? Dann kann ich ganz leicht feststellen, ob wir es mit dem Werk des Teufels zu tun haben.“ „S-Sicher“, antwortete der Dorfbewohner; er klang sehr nervös und ängstlich. In den Gesichtern der dort lebenden Menschen erblickte ich große Angst. Ich machte mich auf einen harten Kampf gefasst. Dämonen lassen sich meist nicht mal eben austreiben, sondern leisten erbitterten Widerstand. Der Mann führte mich zu einem Haus und klopfte an die Tür.“ „Ja, bitte?“ Es öffnete eine Frau. Sie war hübsch, aber ihr Gesicht war blass und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. „Hallo Jack“, begrüßte sie den Mann und ließ dann ihren Blick misstrauisch zu dem Fremden huschen. „Was ist denn los? Wer ist das?“ „Jemand, der euch helfen kann, Lucie. Ganz sicher.“ Henry neigte kurz den Kopf. „Wenn ich mich vorstellen dürfte, Ma'am. Mein Name ist Henry. Ich arbeite als Exorzist, das bedeutet, ich helfe Menschen, die von Dämonen besetzt wurden.“ Ihre Augen wurden groß. „Bitte... kommen Sie doch herein.“ „Ich danke Ihnen“, meinte Henry zu dem Mann namens Jack, der nickte und wieder seines Weges ging. „Darf ich Ihnen etwas zu essen und zu trinken anbieten? Wenn sie ein Wanderer sind... dann sind Sie doch sicher erschöpft.“ „Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs...-“ „Oh, nennen Sie mich bitte Lucie.“ „Gut, Lucie... wie kann ich Ihnen helfen?“ Lucie senkte den Kopf. Plötzlich wirkte sie, als sei sie den Tränen nahe. Mit gebrochener Stimme erklärte sie: „Mit meinem Sohn stimmt was nicht. Die Leute meinen... er trüge den Teufel im Leib.“ Henry konnte den Schock nicht ganz verbergen: Ein Kind? „Ihr Sohn, sagen Sie? Wie alt ist er?“ „Sieben...“ „So jung noch? Was meinen Sie damit, etwas stimme nicht mit ihm?“ „Dieses Kind...“, unterbrach Kisara zögernd, „War Balian...?“ Henry nickte. „Du hast es erfasst, Milady.“ „A-Aber... Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Balian von einem Dämon-“ „Lass mich weitererzählen, Kisara. Du wirst gleich verstehen.“ „O-Ok.“ „Wissen Sie, es... ist schwer zu beschreiben. Er ist so verschlossen... und er sagt so seltsame Dinge...“ „Dürfte ich ihn kennenlernen?“ „Ja, sicher... folgen Sie mir.“ Ein kleiner Junge, der ein ganzes Dorf in Schrecken versetzte? Der womöglich ein gefährliches Feuer gelegt hatte? Da war definitiv etwas nicht in Ordnung, dessen war Henry sich sicher. Lucie führte ihn durchs Haus zu einer Tür, die sie langsam öffnete. Mit einer Handbewegung wies sie den Besucher hinein. „Wenn Sie mich entschuldigen würden... ich muss noch das Essen für meinen Mann zubereiten.“ Bevor der Exorzist etwas zu dem seltsamen Verhalten der Frau sagen konnte, hatte sie sich auch schon umgedreht. Es musste mit dem Kind zusammenhängen. Zögerlich betrat Henry den Raum, blieb aber vorerst dicht an der Türschwelle stehen. Das Zimmer war recht dunkel und dazu noch nahezu kahl. Nur ein Bett und ein kleiner Schrank, mehr Möbel und Inhalt gab es nicht. Auf dem Bett saß ein Junge. Henry klopfte einmal sachte an die Tür, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Kind blickte auf und schaute den fremden Mann an. Sein Gesicht hatte dieselben hübschen Züge wie das der Mutter. Er hatte schwarze Kringellöckchen, die ihm ein niedliches Aussehen gaben. Die braunen Augen allerdings wirkten kühl und regungslos und gar nicht wie die eines Kindes. Henry fasste den Entschluss, auf der Hut zu bleiben. Er konnte noch nicht eindeutig sagen, was mit dem Jungen nicht stimmte. „Hallo, kleiner Mann. Darf ich reinkommen?“, fragte er freundlich und lächelte. Sein Gegenüber bewegte sich jedoch nicht und erwiderte auch den Gruß keinesfalls. Nur seine Augen verfinsterten sich ein Stück. „Wer sind Sie?“ Seine Stimme war von einer Kälte umgeben, wie alles in diesem Raum. „Sind Sie ein Arzt? Denken Sie auch, dass ich verrückt bin? Wollen Sie mich einsperren?“ Er schrie nicht; sein Ton blieb erschreckend gefühllos. Der Teufelsaustreiber musste schlucken. Noch nie hatte er ein Kind getroffen, welches so verbittert klang. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Schnurstracks ging er auf das Bett zu. Nun schien Leben in den Jungen zu kommen. Er sprang auf den Fußboden und wollte an die Wand zurückweichen, doch Henry fasste ihn an den Schultern und sah ihm eindringlich in die Augen. Diese blickten jetzt nicht mehr nur eiskalt drein. Der 7-jährige schien ein wenig Panik zu bekommen, obwohl er es eisern zurückzuhalten schien. „Lassen Sie mich los...“ Henry wollte hart bleiben, bis er die Wahrheit kannte. „Junge. Beantworte mir bitte: Tust du Dinge, die du gar nicht willst? An die du dich vielleicht gar nicht mehr erinnern kannst? Zwingt dich eine innere Stimme zu irgendetwas?“ Er schüttelte den Kopf. „Bitte sag mir, hast du dieses schreckliche Feuer verursacht?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Nein“, flüsterte der Junge. „Alle glauben, ich war es. Aber ich war es nicht. Trotzdem stimmt was nicht mit mir... ich habe es gesehen. Bevor es passiert ist.“ Der Zauberer wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Das Ganze schien sich jedoch in eine vollkommen andere Richtung zu begeben. „Wie meinst du das?“ „Warum wollen Sie das wissen?“ Wieder dieser verhärmte Ton. Henrys Stimme wurde ganz sanft: „Ich will dir nichts Böses. Die Dorfbewohner glauben, in dir steckt ein Teufel. Und ich bekämpfe solche Teufel. Dennoch... habe ich so langsam Zweifel daran...“ Der Junge schien allmählich aufzutauen: „Und Sie halten mich nicht für verrückt?“ Der Exorzist schüttelte lächelnd den Kopf. „Aber... ich habe komische Träume... ich sehe Sachen, die noch gar nicht passiert sind... und niemand glaubt mir das... aber ich habe auch das Feuer gesehen... das hat mir auch keiner geglaubt...“ In diesem Moment wurde Henry endgültig klar, dass dieses Kind keineswegs von einem Dämon besessen war. Der Grund, weshalb alle Angst vor es hatten und es für seltsam hielten, war ein anderer. Der Kleine hatte ganz offensichtlich seherische Fähigkeiten. Im nächsten Moment betrat jemand stürmisch den Raum. Henry fuhr herum. „Sie sind der Teufelsaustreiber??“ Es war ein hochgewachsener, sehr aufgebrachter Mann. Der Besucher vermutete, den Vater des Knaben vor sich zu haben. Er wandte sich ihm zu und machte eine höfliche Verbeugung. „So ist es. Mein Name lautet Henry. Und Sie sind sicher der Hausherr?“ „Der bin ich. Ich will mit Ihnen sprechen. Bitte folgen Sie mir.“ Er sprach kurz angebunden, herrisch und sehr grob. Seinen Sohn würdigte er keinen einzigen Blickes, was Henry nicht verstehen konnte. Er schenkte dem Kind ein aufmunterndes Lächeln – dieses neigte, wieder Distanz schaffend, den Kopf zur Seite – und folgte dem Vater. In der Küche, in welcher die zurückhaltende Lucie gerade das Essen zubereitete, wurde der Exorzist zur Rede gestellt: „Hören Sie genau zu: Ich, Aaron, bestimme, was in diesem Haus passiert. Meiner Frau musste ich es gerade noch einmal erklären, weil ich jemanden wie Sie niemals hereingelassen hätte. Wollen Sie sich dazu äußern?“ „Ich wurde um Hilfe gebeten, Aaron“, antwortete Henry ruhig, „Mir wurde berichtet, dass Ihr kleiner Sohn im Verdacht steht, vom Teufel besessen zu sein. Aus diesem Grund habe ich ihn mir einmal angesehen-“ „Ich weiß, was die Leute sagen. Und ich teile diese Meinung, auch wenn ich es bedauere. Allerdings glaube ich nicht, dass man dieses Verhalten austreiben kann oder wie auch immer Sie das nennen. Leider wurde ich mit einem missratenen Teufelskind bestraft. Das ist meine Meinung.“ Lucie, immer noch am Herd stehend, war kaum merklich zusammengezuckt. Der Magier starrte sein Gegenüber fassungslos an. „Bei allem Respekt... ich begreife nicht, wie man so über sein eigen Fleisch und Blut reden kann. Zudem kann ich Ihnen beinahe versichern, dass er nicht besessen ist.“ Nun drehte sich die Mutter zu den beiden Männern um und blickte den Fremden mit großen Augen an. Aaron schien dennoch nichts hören zu wollen, was nicht seiner Meinung entsprach: „Wie lange waren Sie bei ihm drin? Was nehmen Sie sich heraus? Dieses Kind ist nicht nur verrückt, sondern auch unberechenbar und gefährlich!“ „Ihr Sohn... hat eine Gabe. Er sieht die Zukunft. Er hat mir erzählt, dass er dieses Feuer vorausgesehen hat-“ „Das hat er uns allen versucht weiszumachen, guter Herr! Und als er eingesehen hat, dass er mit seinen Lügenmärchen nicht weiterkommt, hat er das Dorf in Brand gesetzt!“ „Nein“, flüsterte Lucie; sie hatte Tränen in den Augen. „Das glaubst du nicht wirklich, Aaron... er hat das nicht getan...“ „Meine Güte, Lucie, sei nicht so naiv! Das kann nicht so weitergehen! Hör endlich auf, ihn zu verteidigen! Und Sie“, er warf Henry einen vernichtenden Blick zu, „Verschwinden schnell wieder aus unserem Dorf. Ihre Hilfe ist hier sinnlos.“ Aaron schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Schatz... wohin gehst du?“ „Ich gehe wieder in die Werkstatt. Mit Arbeit kann ich mich am Besten abreagieren.“ Die Haustür fiel laut ins Schloss. Henry hoffte, wenigstens mit der Frau sprechen zu können, doch sie warf ihm nur einen sehr ängstlichen Blick zu und murmelte: „Für ein paar Nächte kann ich Ihnen einen Schlafplatz anbieten... wenn Sie möchten.“ „Hören Sie, Lucie“, versuchte Henry sie zu erreichen, „Ich meine das sehr ernst. Ihr Sohn ist nicht gefährlich. Und so extrem still ist er meiner Ansicht nach nur, weil ihn alle wie einen Aussätzigen behandeln. Ich kann Ihnen versichern, er hat besondere Fähigkeiten. Das ist nichts, vor dem man sich fürchten müsste.“ „Helfen Sie meinem Kind, Henry... bitte.“ „A-Aber...“ „Befreien Sie ihn von dem schrecklichen Dämonen.“ Kisara war entsetzt. Wenn sie ihre Eltern mit denen Balians verglich... ein himmelweiter Unterschied... „Sogar seine Eltern haben ihn für einen... Teufel gehalten? Ich kapier das nicht...“ „Nun, in Wahrheit hatten sie beide einfach nur panische Angst. Sein Vater hat darauf mit Aggression und Stolz reagiert. Und die Mutter... sie konnte nicht daran glauben, dass ihr eigenes Kind anscheinend so teuflisch war, aber gleichzeitig glaubte sie auch mir nicht, sondern war der Ansicht, er müsse vor einem Monster in seinem Inneren gerettet werden. Auf jeden Fall bin ich geblieben. Ich wollte den Jungen bei seinem schweren Los irgendwie unterstützen... auch wenn ich da noch keinen konkreten Plan hatte...“ Henry bekam in Lucies Haus ein kleines Zimmer, in dem er schlafen konnte. Der Junge ließ ihn nicht los, auch nicht, als es schon lange dunkel geworden war. Daher beschloss er, ihn nochmals aufzusuchen. Da er davon ausgehen musste, dass das Kind am Schlafen war, trat er so leise wie er konnte auf Zehenspitzen in dessen Zimmer. Doch Fehlanzeige: Der kleine Bursche stand reglos am Fenster. Als er den Exorzist bemerkte, drehte er sich ruckartig um und starrte diesen in der ersten Sekunde erschrocken an. „Sie sind es“, sagte er schließlich mit seiner tonlosen Stimme. „Ja. Kannst du nicht schlafen? Ich hoffe, du schickst mich nicht raus?“ „Nein. Ist mir egal.“ Henry wollte nicht locker lassen. Er setzte sich auf das Bett, zunächst hielt er aus Rücksicht Abstand zu dem Jungen. „Verrätst du mir deinen Namen?“ Nach kurzem Zögern murmelte er: „Balian.“ „Balian... was für ein schöner Name. Mein Name lautet Henry.“ Der Junge namens Balian schwieg und blickte weiterhin stur aus dem Fenster. „Balian. Ich möchte dir gerne helfen, hörst du? Ich habe es dir gesagt: Du bist nicht verrückt oder krank. Bitte... sieh mich an. Du musst keine Angst haben.“ „Ich habe keine Angst.“ „Warum drehst du dich dann nicht einfach mal um? Wenn man sich in die Augen guckt, kann man viel besser miteinander sprechen.“ Mehrere Minuten lang passierte gar nichts, dann aber drehte Balian sich zögerlich zu Henry um. Sehr misstrauisch beäugte er ihn: „Was wollen Sie? Warum wollen Sie mir helfen?“ „Ich finde es nicht richtig, wie du behandelt wirst. Das hast du nicht verdient. So etwas hat keiner verdient. Du hast nichts Böses getan.“ Nun schaffte es das Kind, sein Gegenüber direkt anzusehen. „Wissen Sie, was mit mir los ist?“ Ein Flehen breitete sich in seinen Augen aus. Henry war erleichtert, dass Balian zwar unheimlich verschlossen, dennoch von der ganzen Ablehnung nicht völlig abgestumpft war. „Was du kannst, ist etwas Besonderes“, antwortete er, „Du siehst die Zukunft. Das ist Magie.“ „Magie??“ Auf einmal wirkte der Knabe fasziniert. „Sie meinen das, was Hexen und Zauberer können??“ „Ich glaube, wir haben uns damals die ganze Nacht unterhalten. Der Junge blieb zwar immer noch distanziert, aber für seine Verhältnisse blühte er auf. Und ich war fest entschlossen, seinen Eltern und dem ganzen Dorf ordentlich den Kopf zu waschen. Balian hielt nichts davon; er war der Überzeugung, dass das nichts bringen würde. Dennoch suchte ich am nächsten Tag zunächst seinen Vater auf, in der Werkstatt, in der er arbeitete.“ „Was wollen Sie überhaupt noch hier? Verschwinden Sie endlich!“ Henry ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ich will Gerechtigkeit, Aaron. Ihr kleiner Sohn ist hier ein krasser Außenseiter, und das schadet ihm. Dabei ist er unschuldig. Ob Sie es nun glauben wollen oder nicht, er ist ein Seher.“ „Dass ich nicht lache! Dieses dreckige kleine Balg-“ „Halten Sie den Mund, verdammt nochmal!“, befahl Henry ihm bestimmt und seine Stimme war um Einiges lauter geworden. „Ihnen zuzuhören ist eine Schmach! Dieser Junge ist das Kind, das Sie gezeugt haben und das ihre Frau ausgetragen hat! Empfinden Sie denn tatsächlich nur Abscheu für ihr eigenes Kind?? Es hat eine Zeit gegeben, da war er ein winziges Baby und es gab sicherlich keine seltsamen Vorkommnisse wie jetzt! Was haben Sie damals für den Jungen gefühlt?“ Aaron schien nicht zu wissen, wohin er schauen sollte. Betroffenheit machte sich in seinem Gesicht bereit und wurde schnell abgelöst von Traurigkeit. Plötzlich wirkte er völlig verändert. Henry war sich sicher, ihn irgendwo in seinem Inneren erreicht zu haben. „Balian wäre bestimmt nicht so eigenbrötlerisch und zurückgezogen, wenn er nicht zu der Meinung gezwungen worden wäre, dass ihn niemand akzeptiert, nicht einmal seine Eltern. Als ich mit ihm geredet habe ist mir aufgefallen, dass er im Grunde ein liebenswertes Kind ist. Und ein missverstandenes und trauriges Kind. Aaron-“ „Ich habe... immer nur nachgeplappert, was die Anderen erzählt haben. Ich weiß nicht... was ich glauben soll...“ „Vielleicht sollten sie mal auf ihr Herz hören. Dann werden Sie erkennen, dass ihr Sohn nicht der Teufel ist.“ „Was ist danach passiert? Hat er es wirklich eingesehen??“ „Nun, Milady, auf jeden Fall konnte ich sehen, dass sein Sohn ihm nicht so egal war, wie es den Anschein hatte. Leider... hab ich ihn nicht dazu bewegen können, sich mit Balian auszusprechen... aber weißt du, bei der Mutter hatte ich noch weniger Glück...“ „Lucie... es ist wichtig, dass Sie das verstehen. Ihr Junge hat kein Problem und ist weit davon entfernt, von irgendetwas Dunklem besessen zu sein. Er wurde mit einer magischen Gabe geboren. Die Gabe der Vorsehung. Können Sie mir folgen?“ Lucie schwieg; momentan konnte Henry rein gar nichts aus ihrem Gesicht ablesen. Er verstand nicht, warum er nicht an sie heran kam. Sie schien ihr Kind doch zu lieben! „Lucie, ich bitte Sie-“ „Ich habe mein Kind verloren“, begann sie sehr leise; ihr Kopf war gesenkt. „Ich habe meinen süßen kleinen Jungen an einen Teufel verloren... ich verstehe Sie nicht... ich habe Sie darum gebeten, ihm zu helfen... warum tun Sie es nicht???“ Ihre Stimme hatte sich immer mehr erhoben. Henry war erschrocken: „Ihr Sohn ist vollkommen in Ordnung und er selbst! Bitte glauben Sie mir das!“ „Sie glaubte mir einfach nicht. Es war eine verworrene Situation. Aber es wurde noch chaotischer, als der Junge eine neue Vision bekam: „Ich hab was Komisches geträumt... und ich weiß nicht, warum, aber... ich weiß, dass es passieren wird. Bald.“ „Moment. Noch einmal von vorne, Balian“, versuchte Henry das nervöse Kind ein wenig zu beruhigen. „Du hast also von etwas geträumt, das bald geschehen wird? Was hast du gesehen?“ Balian schaute den Exorzisten sehr ernst an. „Ein schrecklicher Sturm... er wird das ganze Dorf zerstören...“ Henry schluckte unwillkürlich. „Bist du sicher?“ Als Antwort kam ein Nicken. Und dann traten plötzlich Tränen in Balians Augen. „Bitte, Henry... glauben wenigstens Sie mir... bitte!“ Henry fand es rührend, diesen zuerst so emotionslos wirkenden kleinen Burschen weinen zu sehen. „Ich glaube dir, Balian. Hab keine Angst.“ Natürlich wollte ich die Dorfbewohner warnen. Doch genauso wenig, wie sie Balian glaubten, wollten sie mich anhören. Auch seine Eltern hielten mich spätestens da für einen riesigen Spinner. Erschwerend hinzu kam, dass Balian nicht konkret sagen konnte, wann dieser Sturm kommen würde. Schließlich kam er... mitten in der Nacht...“ Kisara war schockiert: „Henry, was... wurde aus dem Dorf?“ „Milady, jeder Magier hat eine Gabe, die er besonders gut beherrscht, und bei mir war es schon damals der Selbstteleport. So habe ich Balian und mich retten können. Für die anderen war es viel zu spät... der Orkan war so heftig, dass die Meisten nicht mehr zu retten waren... und das nur, weil keiner zuhören wollte...“ Kisara merkte, dass Henry sich schuldig fühlte. „Sie können nichts dafür, Henry! Schließlich haben Sie damals alles versucht!“ „Ja, schon... ich hätte mir trotzdem etwas anderes gewünscht. Die Situation zwischen Balian und seinen Eltern konnte nie geklärt werden...“ Der Sturm hatte sich endlich gelegt. Fassungslos begaben sich der Zauberer und der kleine Junge an den Ort, wo noch vor wenigen Stunden das Dorf gestanden hatte. Es hatte so dermaßen gewütet, dass nicht einmal mehr viele Trümmer zu sehen waren. Jede Gleichgültigkeit war aus Balians Augen verschwunden, wenngleich er auch nicht weinte. „Henry... meinen Sie, jemand hat überlebt?“ „Ich... kann es mir nicht vorstellen, mein Kleiner... vielleicht, höchstens vereinzelt... sag, würdest du dir wünschen, dass deine Eltern noch leben?“ Die Gesichtszüge des Kindes verhärteten sich: „Warum sollte ich mir das wünschen? In ihren Augen war ich doch nur ein Monster...“ Und nach diesen Worten drehte er sich weg und ging mit gesenktem Kopf weiter. „Was hast du vor, junger Balian?“ „Ich hab keine Ahnung.“ „Möchtest du mit mir kommen?“ „Ich... warum sollte ich?“ „Nun. Erstens, weil ich dir verspreche, dass du mir vertrauen kannst. Und wenn du magst, lehre ich dich, die Magie, die in dir steckt, zu benutzen. Ich möchte dich nicht alleine lassen.“ Zögerlich und erst nach einigen Sekunden drehte der Junge sich zu Henry um und nickte schließlich. Mit einem Anflug von zaghaftem Zutrauen ergriff er die dargebotene Hand. Kapitel 10: Sehen ist nicht glauben... -------------------------------------- Ein paar Tränen kullerten über Kisaras Wangen; die Geschichte hatte sie mitgenommen. Balian war als Kind wie eine Bestie behandelt worden. Sogar seine Eltern... sie hatten nicht zuhören wollen und nachher war es zu spät gewesen. Doch trotz allem war Balian ein freundlicher, offener und selbstbewusster Mensch geworden. „Weine nicht, Kisara. Geschehen ist, was geschehen. Ich weiß, dass Balian, auch wenn er immer sehr stark wirkt, im Grunde von seiner Vergangenheit belastet ist. Er hat es damals nie zugegeben, aber es hat ihm in der Seele wehgetan, dass das Dorf – und vor allem seine Eltern – ihn so behandelt haben. Diese Tatsache ist sein größer Schwachpunkt.“ Als eine Träne Kisaras auf Balians Gesicht landete, zuckten dessen Augenlider und er schlug langsam die Augen wieder auf. Das Erste, was er sah, war Kisaras verweintes Gesicht über sich. „Kisara... was ist passiert? Warum weinst du denn?“ „Ich...“ Beschämt wollte sie die Tränen entfernen, doch Balian war schneller: Er hob die Hand und wischte mit dem Daumen über ihre Tränenspuren. Die 16-jährige starrte ihn gebannt an und verspürte für einen Augenblick den Wunsch, die Zeit möge einfach stillstehen. „Sei mir nicht böse, Balian. Ich habe unserem jungen Fräulein erzählt, wie wir uns kennenlernten.“ Bei dem Gedanken an diese Zeit verengten sich kurz Balians Augen, dann jedoch lächelte er. „Oh ja. Hat was von einer Horrorgeschichte, nicht wahr?“ „Bewundernswert, wie du das so wegstecken kannst“, murmelte Kisara, woraufhin der Mund des 18-jährigen einen traurigen Zug bekam: „Man tut, was man kann, weißt du?“ Kisara wollte nicht weiterbohren, obwohl Balians ausführliche Meinung sie sehr interessiert hätte, doch sie merkte, dass er nicht gerne darüber sprechen wollte; sein Blick war zur Seite ausgewichen. Sie beließ es dabei. „Gehts dir wieder besser, Balian?“ Er erhob sich langsam von Kisaras Schoß. „Ja... ich glaube schon.“ Seit Kisara Henrys Geschichte gehört hatte, wurde ihre Sehnsucht nach ihren heftig vermissten Eltern wieder stärker. Sie hatte sich zwar an das Zusammensein mit den Zauberern gewöhnt und die letzten Erlebnisse hatten sie recht gut von ihrem Heimweh abgelenkt, aber es half alles nichts: Sie war noch nie so lange von zu Hause fort und noch nie so weit weg gewesen. Es war zum verrückt werden... Während Balian und Henry, die sich ziemlich ausgehungert fühlten, etwas aßen, verzog Kisara sich hinter einen Baum, da sie nicht wollte, dass ihre Mitstreiter sie schon wieder weinen sahen. Das kleine Einhorn, das inzwischen wieder aufgewacht war, beäugte sie neugierig, doch Kisara scheuchte es weg: „Lass mich in Ruhe! Dämliches Pferdchen...“ „Wie mir scheint, möchte das junge Fräulein momentan lieber alleine sein, hm?“ „Kisara hat sich wirklich tapfer gehalten. Ich denke, sie braucht mal ein wenig Ruhe und Zeit für sich. Solange sie meinen Schutzwall nicht verlässt, soll es mir recht sein.“ Henry musste schmunzeln: „Wie wahr. Sie hat dich eine ganze Weile geduldig auf ihrem Schoß schlafen lassen und sich sehr um dich gesorgt. Da hat sie eine Pause redlich verdient.“ Balian wirkte irritiert. Wollte sein Meister ihn veräppeln? „Du müsstest jetzt mal deinen Gesichtsausdruck sehen, mein lieber Junge“, meinte der weise Zauberer und lachte einmal herzlich auf, „Wirklich herrlich. Also wenn du meine Meinung hören willst... ihr seid einander sehr zugetan. Oder habe ich unrecht?“ Die Verblüffung, die sich auf Balians Gesicht abzeichnete, wurde schnell abgelöst von Verlegenheit; sein Gesicht nahm einen Hauch rot an. „Henry-“, begann er, wurde jedoch unterbrochen von dem Einhornfohlen, welches zaghaft an seine Schulter stupste. „Oh. Was ist denn los? Was hast du, Kleines?“ Das Fabeltier zupfte nun ein Stück weit drängend an seiner Kleidung und neigte dann den Kopf nach hinten, als wollte es ihm eine bestimmte Richtung weisen. „Du meinst, ich soll dir folgen?“ Es zupfte noch einmal. Balian nickte und stand auf. „In Ordnung.“ Das Einhorn führte sie zu dem Baum, hinter welchem Kisara nach wie vor hockte. Balian hörte das Mädchen schluchzen. Wollte das Fohlen ihn dazu bewegen, ihr zu helfen, sie zu trösten? Der Zauberlehrling lächelte, strich dem kleinen Tier sanft über die Mähne und nickte: „Ich habe verstanden. Ich danke dir.“ Kisara zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich eine Hand an ihrer Schulter spürte. „Hey. Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Ihre großen blauen Augen starrten ihn erst verstört, anschließend abwehrend an. „Geh weg...“, verlangte sie trotzig und verbarg das Gesicht in den Händen. „Geh!“, ihre Stimme wurde lauter, „Ich will alleine sein!“ Balian gab noch nicht auf. Behutsam ergriff er Kisaras Hand, doch sie schlug seine aggressiv weg. „Kisara-“ „Lass mich!! Verschwinde gefälligst!! Ich... i-ich... will nach Hause, verdammt!!! Ich-kann-nicht-mehr!!!“ Inzwischen brüllte sie ihren Schmerz laut hinaus. Im nächsten Moment verlor Balian vollkommen die Fassung; nun reichte es ihm. „Jetzt hör mir mal zu!“, begann er sehr bestimmt und umfasste fest Kisaras Handgelenke. „Durch Jammern änderst du überhaupt nichts! Wann verstehst du es endlich?? Diese Leute sind hinter dir her, möglicherweise würden sie dich sogar töten, wenn sie dich in die Finger bekämen!! Dass du nach Hause willst, ist in dieser Situation verdammt noch mal nebensächlich!!“ Balian redete sich immer mehr in Rage; Kisara schaute ihn nur noch sprachlos und eingeschüchtert an. „Du hast nichts davon kapiert, was Henry oder ich dir erzählt haben! Magie, Glaube und Vertrauen sind Fremdwörter für dich, es prallt alles an dir ab! Ich weiß gar nicht, warum ich mir so viel Mühe gebe!!!“ „Verzeih mir, aber du warst so laut, dass ich alles mithören konnte. Ich habe mich ehrlich gesagt gefragt, wann deine disziplinierte Ruhe ein Ende hat. Vielleicht war es gut, dass du deinem Ärger mal endlich Luft gemacht hast. Auch wenn ich es ein wenig hart fand.“ Balian antwortete nicht. Zwar hatte er jetzt, im Nachhinein, ein schlechtes Gewissen, dennoch fand er, dass es dieser kleinen Heulsuse recht geschah. Scheinbar hatte sie immer noch nichts dazu gelernt und war sich nicht bewusst, was eigentlich um sie herum geschah. Sie wollte einfach nur in ihre alte, logische Welt zurück. „Also wenn du meine Meinung hören willst... ihr seid einander sehr zugetan. Oder habe ich unrecht?“ Er hatte sie gern trösten wollen. Wenn er ehrlich zu sich war, musste er zugeben, dass sein Meister recht hatte. Irgendwie mochte er dieses störrische Mädchen ziemlich. Auch wenn er augenblicklich wütend auf sie war. Zunächst verzog er sich alleine in eine Ecke, um zur Ruhe zu kommen. Kisara indessen vergoss nur noch mehr Tränen nach dieser Predigt. Sie hatte es verdient. Sie benahm sich wie ein heulendes kleines Baby, genauso egoistisch, und überhaupt nicht wie die Erwachsene, die sie gern sein wollte. Als Kisara den Kopf hob, sah sie sich erneut dem kleinen Einhorn gegenüber. „Du schon wieder? Was willst du eigentlich? Mach, dass du wegkommst“, grummelte sie, doch das Kleine machte keine Anstalten. Im Gegenteil, zutraulich kuschelte es sich an die 16-jährige. Kisara hob die Hand zum Zuschlagen, in der nächsten Sekunde jedoch besann sie sich. Was tat sie denn? War sie so gemein? Das Tierchen hatte ihr schließlich gar nichts getan... „Tu-Tut mir Leid...“ Bekümmert blickte Kisara das Einhorn an, doch es schien keineswegs abgeschreckt. Vorsichtig streichelte das Mädchen sein kurzes, seidiges Fell. „Es tut mir so Leid... ich bin echt furchtbar, oder?“ Es dämmerte allmählich. Kisara, Balian und Henry waren schon halb am Einschlafen, als auf einmal eine laute, durch die Bäume hallende Stimme ertönte: „Glaubt ja nicht, dass ihr unter dem Schild ewig sicher seid, verdammte Bälger!!“ Alle drei zuckten zusammen. Das war definitiv- „Mary...“ „Ich versteh das nicht, Henry... diese Wölfe können Kisara und das Fohlen doch unmöglich durch meinen Schutzzauber hindurch gespürt haben??“ Henry runzelte die Stirn, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Die Wölfe nicht, Balian... aber Lucien.“ Balians Augen weiteten sich entsetzt. „Es muss so sein, mein Junge. Anders kann ich mir nicht vorstellen, wie sie uns gefunden haben sollen...“ „Entweder, ihr kommt freiwillig heraus“, erklang da wie zur Bestätigung die Stimme des Dämons, „Oder ich zerbreche dieses beeindruckende Schutzschild. Wird vielleicht ein wenig dauern, aber schaffen werde ich es ganz sicher.“ Henry und Balian tauschten beunruhigte Blicke aus. „Wir sollten uns ihnen stellen, mein Junge.“ „Ja... eine andere Wahl haben wir sowieso nicht. Aber ich werde Kisara sagen, dass sie mit dem Einhorn vorerst im Schutz des Zaubers bleiben soll.“ „Gut. Beeile dich.“ Kisara war vor Angst erstarrt; Mary und Lucien waren für sie wahre Schreckensgestalten. „Kisara.“ Balian trat zu ihr, seine Gesicht voller Anspannung. „Balian...“ „Hör zu, Kisara. Du bleibst hier, ok? Du und das Kleine. Mein Schutzschild wird euch abschirmen. Henry und ich werden diesem Pack gegenübertreten.“ „A-Aber...“ „Hab keine Angst. Wir beschützen dich, das weißt du doch.“ Er nahm ihre Hände behutsam in seine. Ein sanftes Lächeln trat auf seine Lippen. „Sehen ist nicht glauben, Kisara. Glauben ist sehen. Merk dir diese Worte.“ Bevor Kisara sich daraus einen Reim machen konnte, tat der Junge etwas, womit sie nie gerechnet hätte: Er drückte ihr einen leichten Kuss auf den Mund. Mary und Lucien waren mehr als überrascht, als nicht nur der junge Zauberlehrling, sondern auch sein Meister, den sie für tot hielten, vor ihnen erschien. Doch während Mary Henry eine Zeit lang nur ungläubig anstarrte, setzte der böse Dämon sein übliches überhebliches Grinsen auf. „Euer Ruf eilt euch voraus, großer Zauberer Henry. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Ihr den Anschlag überlebt habt, so habe ich nun doch die Chance, Euch kennenzulernen.“ „Genug gequatscht!“, rief die ungestüme Mary aus, „Übergebt uns sofort das Mädchen und das Einhorn! Wir wissen, dass ihr eines habt!“ „Ihr könnt nichts vor uns verheimlichen oder verstecken. Es wäre klug, wenn ihr euch ergebt.“ „Das könnte euch so passen!“, entfuhr es Balian hitzig. „Ich ziehe einen offenen Kampf vor!“ „Gut. Wie ihr wollt.“ Kisara zitterte nach wie vor. Sie konnte das, was außerhalb des Schutzwalls geschah, nur wage hören. Im Moment hoffte sie einfach nur, dass alles gut ging und dass Balian und Henry nichts Schlimmes widerfuhr. Doch vor allem beschäftigten sie die Wortes des Zauberlehrlings. Sehen ist nicht glauben, glauben ist sehen, was wollte er ihr damit sagen? Und warum zum Teufel hatte er sie geküsst??? Doch während sie sich den Kopf zermarterte, ertönte plötzlich ein lauter Knall, wie eine Explosion. Was war da los? „Ihr solltet euch nicht mit einem Dämon anlegen, besonders nicht mit einem, der fest entschlossen ist, sein Ziel zu erreichen. Wie ich sehe, seid Ihr durch den Anschlag noch nicht auf Eurer üblichen Höhe, Henry. Und Balian... du bist ein großartiger Magier für dein Alter, aber ich fürchte, ich bin eine Nummer zu groß für dich.“ Kisara wurde ganz flau im Magen. Luciens Stimme klang siegreich – hatte er schon gewonnen? „So! Und jetzt holen wir uns diese Göre-“ „Nein, Mary. Ich habe eine viel bessere Idee. Milady, ich gehe davon aus, dass Ihr mich hören könnt. Ich werde Euch jetzt nicht aus Eurem Zufluchtsort gewaltsam herausreißen. Aber ich werde Euch bekommen. Denn nun habe ich den Schlüssel, um den Einhörnern näher zu sein. Und hoffentlich auch den Schlüssel zu Eurem Geheimnis. Wir werden uns sicher recht bald wiedersehen.“ Ein paar Sekunden später, und alles war still. Wie ausgestorben. Kisara spürte irgendwie, dass der magische Schutz verschwunden war. Sie war wie erstarrt – und sie ahnte Schreckliches. In Kisara zog sich alles zusammen: Der Kampfplatz war ausgestorben. Doch auf den zweiten Blick erblickte sie Henry, der regungslos am Boden lag. Kisara traute sich kaum von der Stelle aus Angst davor, was sie möglicherweise erwartete... Und wo war Balian? Die 16-jährige bekam einen Schock, als sie an des Dämons Worte zurückdachte: „Aber ich werde Euch bekommen. Denn nun habe ich den Schlüssel, um den Einhörnern näher zu sein. Und hoffentlich auch den Schlüssel zu Eurem Geheimnis.“ „B-Balian...“ „Wir haben zwar schon einige vor den Jägern gerettet, aber das lief dann so ab, dass Balian den ungefähren Standort der Einhörner in seinen Vorahnungen gesehen hat und wir Mary an diesen Plätzen dann zuvorgekommen sind, sodass die Einhörner fliehen konnten.“ Mit dem Schlüssel hatte Lucien also Balian gemeint... er hatte ihn entführt... Kisara rannte mit tränenverschleierten Augen zu Henry und sackte anschließend neben ihm auf die Knie. Erleichtert stellte sie fest, dass Henry noch einen Puls hatte. Er, der vorher schon massiv angeschlagen gewesen war, hatte keine Chance gegen den mächtigen Dämon gehabt. Und Balian, der sich beim letzten Mal doch recht gut geschlagen hatte, scheinbar auch nicht. „Oh n-ne-ein... e-es ist alles... m-m-meine Schu-uld...!!!“ Heftig schluchzend ließ Kisara sich auf dem Boden sinken. Alles drehte sich um sie und die Einhörner. Menschen wurden verletzt, und das alles nur wegen ihr. Obwohl sie noch immer nicht wusste, warum eigentlich... Weinend ergriff sie Henrys Hand und flüsterte: „Es tut mir so Leid... i-ich hab das nicht gewollt... ich wünschte... ich könnte irgendetwas für Sie tun, Henry...“ Warum konnte sie nicht das sehen, was Henry und Balian sahen? Warum gelang es ihr nicht, zu glauben, wie früher als Kind? Kisara ließ den Kopf hängen, ihre Tränen tropften in rascher Folge gen Erde. Mehrere Minuten vergingen. Auf einmal geschah etwas, das Kisara nicht einordnen konnte. Obwohl ihr die letzten Minuten eine klamme Gänsehaut über den Körper gelaufen war, wurde ihr plötzlich ganz warm. Sie starrte an sich herunter und konnte nicht glauben, was sie sah: Es schien, als sei sie umgeben von Licht, ihr gesamter Körper. Und dieses seltsame Licht wanderte von ihrer Hand auf die Henrys. Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, da waren alle seine Verletzungen verschwunden. Geheilt. Kisaras Augen wurden riesengroß. Dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen: „Sehen ist nicht glauben, Kisara. Glauben ist sehen. Merk dir diese Worte.“ Die ganze Zeit hatte sie es nicht geschafft zu glauben, auch wenn sie alles mit eigenen Augen gesehen hatte. Glauben entstand nicht dadurch, dass man etwas sah... „Der Glaube lebt nicht durch Beweise, mein kleiner Schatz. Glaube kommt aus dem Herzen... man kann ihn nicht logisch erklären. Erst wenn man glaubt, kann man die wunderbaren Dinge sehen...“ Erst jetzt erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter vor etlichen Jahren, die ganz ähnlich geklungen hatten wie Balians. „Danke, Balian...“, murmelte sie und brachte ein Lächeln zustande, „Ich... glaube...“ Er hatte das kleine Mädchen in ihr erreicht, das Mädchen, das an Hexen, Feen und Einhörner geglaubt hatte... und das nur mit einer Erklärung, die sie schon von ihrer Mutter gehört hatte. Die letzten Jahre hatte sie sich darauf konzentriert, erwachsen werden zu wollen, um einen tollen Beruf zu erlernen und so stark und beständig zu werden wie ihr Vater. Kindische Träume waren da im Weg, so dachte sie. Doch die alten Gefühle kamen wieder hoch; und es war kein Traum, es war alles wahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)