Dunkler Honig von vanilla_quicksand (Eine Gangrel. Eine Stadt. Eine Menge Probleme.) ================================================================================ Kapitel 1: Schattenlauf (1) --------------------------- Mel rannte. Ihr linker Fuß war völlig durchnässt, der Stiefel suppte so langsam durch, die langen Haare waren verklebt und strähnig, und die Jacke schien dort, wo sie auf der Haut auflag, ein Loch in ihren Rücken zu brennen, nein, vier Löcher, vier lange Striemen. Etwas triefte von ihrem Haaransatz in ihre Augen und tränkte ihr Halstuch. Sie maß all dem keine Bedeutung bei, nahm es sowieso nur am Rand ihres Bewusstseins wahr. Die Sohlen aus vulkanisiertem Gummi klatschten ein irrsinniges, nasses Stakkato die menschenleere Straße entlang; Wasser spritzte hoch und vermischte sich mit dem Regen, der herabstürzte, als hätte er die Sintflut verpasst und jetzt einiges nachzuholen. Sie schnitt eine Kurve, bog scharf nach rechts ab und rannte bergauf. Das Katzenkopfpflaster war rutschig, der Berg steil, aber die Laternen wurden hier immer weniger und die Dunkelheit und die schmaleren Straßen boten ihr Deckung. Sie rutschte weg, fing sich wieder und war zehn Meter weiter, bevor sie überhaupt wahrgenommen hatte, dass sie rechts keinen Halt gehabt hatte. Wenn ihr Herz noch schlagen würde, wäre es ihr längst aus der Brust gesprungen unter dem Druck ihres unbarmherzig gesammelten Geistes, der in diesem Zustand fünfzig potentiell lebenswichtige Details während eines Wimpernschlags registrierte, es hätte den Dienst quittiert im Angesicht des absoluten Willens zu LAUFEN, der statt Vitae jede einzelne ihrer Adern bis hin zu den kleinsten Kapillargefäßen füllte. Ihr Gewahrsein, ihre Konzentration war so groß, dass sie den kompletten bewussten Teil ihres Geistes, ohne es zu merken, schlicht rausgeschmissen hatte. Sie dachte nicht. Sie lief, sie rannte, schneller, als es möglich hätte sein sollen, weiter, als sie in diesem Stadtteil je unterwegs gewesen war, und es war ihr egal, alles war egal, bis auf den nächsten Schritt auf dem nassen Pflaster, die lückenlose Deckung beim Sprung durch die Schatten, das stete Lauschen auf das halb gefürchtete, halb ersehnte Geräusch der Schritte ihres Verfolgers. Ein Eindruck bahnte sich seinen Weg durch die Barrieren ihrer Konzentration. Nässe am linken Fuß, das Gefühl beim Auftreten war anders … Unwillig gab sie einen Teil ihrer Sammlung auf und keuchte, als die zuvor unterdrückten Schmerzen plötzlich wieder zuschlugen. Sie biss sich auf die Lippe und schrie trotzdem fast auf, als sie sich vom Boden abstieß, um ein geparktes Auto zu überspringen. Links. Links tat WEH. Sie wusste, was passiert war, bevor sie hinsah. Das Stiefelleder hing in Fetzen, tiefe Schnitte in der Sohle, und neben dem Fuß darin sah Freddy Krugers Gesicht direkt intakt aus. Bei jedem Schritt schmatzte eine der tieferen Wunden ihre Bestätigung. Ihre Konzentration verabschiedete sich völlig. Die Welt drehte sich und schwankte; sie versuchte einen Fluch zu murmeln und bemerkte, dass sie sich vor Schmerz fast bis zur halben Länge ihrer Schneidezähne in die eigene Unterlippe verbissen hatte. Sie sog an der Wunde, schluckte Vitae - hirnrissig, aber ein kurzzeitiger Energiestoß - und schaffte es wie durch ein Wunder, noch einmal den Zustand der Sammlung zu erreichen, in der der Schmerz zumindest unwichtig wurde. Das nasse Halstuch abnehmen und das Bein notdürftig abbinden war eins, und erledigt, ohne stehenzubleiben, und jetzt bloß noch - Die Erkenntnis traf sie heftiger als ein Hammerschlag in den Magen. Ihre Beine versagten den Dienst, die Knie knickten ein. Sie hatte mit traumwandlerischer Sicherheit eine Spur gelegt, der selbst ein nasenloser Caitiff problemlos folgen könnte. Ihr Vitae. Durch den Regen über die ganze Straße verteilt. Kain weiß, seit wo schon. Jeder, der auch nur einen rudimentären Geruchssinn besaß, würde wissen, wo sie war, und dass sie jetzt, erschöpft, verletzt, leichte Beute darstellte. All die Abkürzungen für nichts. Ihre geheimen Pfade mit Leuchtfarbe für alle markiert. Was BIST du doch gerissen, Mädchen. Und was für eine Ironie, dass dich dein ganzer Stolz, deine verdammte Clanstärke ins Grab bringen wird. Toll gemacht, Mel. Sie glaubte, Augen links und rechts der Straße funkeln zu sehen. Bringen wir es doch jetzt hinter uns, Leute… ich hab mir Schande gemacht, und ich kann sowieso nicht mehr weiter. Mel sackte zusammen und schloss die Augen. Der Regen prasselte auf sie herunter, wusch ihr mit einer Art unbeteiligten Zärtlichkeit das Blut aus den Haaren und vom Gesicht, linderte die Schmerzen an ihrer Stirn, dort, wo sich weich Schwellungen abzeichneten und der gezackte Rand einer Platzwunde. Das Kopfsteinpflaster kühlte ihren Rücken und die tiefen Risse, die die Klauen hinterlassen hatten. Es war unendlich angenehm, so dazuliegen. Eine Henkersmahlzeit an Eindrücken. Irgendwo über ihr flüsterte Laub. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)