Dunkler Honig von vanilla_quicksand (Eine Gangrel. Eine Stadt. Eine Menge Probleme.) ================================================================================ Kapitel 3: Schattenlauf (3) --------------------------- Mel huschte die Straße entlang, immer in den Schatten. Sie drückte sich an Hauswände, duckte sich hinter Müllcontainer, legte ein Stück des Weges sogar von Alleebaum zu Alleebaum zurück. Von Zeit zu Zeit lief sie in die Mitte der Straße, biss sich in den Handballen und verteilte ein paar Tropfen auf ihrer alten Spur. Sie erreichte die Weggabelung, an der sie vorhin bergauf gelaufen war, verschwand im Schatten eines Wandvorsprungs und hielt prüfend die Nase in den Wind. Niemand in unmittelbarer Nähe. Der Duft ihres Blutes wehte durch die Nacht, nicht zu viel und nicht zu wenig. Der Regen ließ nach und würde wohl bald ganz aufhören. Sie lief weiter, weg von ihrer alten Spur. Seltsam eigentlich, dass Mar nirgends aufzufinden war. Sehr seltsam. Aber ich werde ihn finden, ihn finden und ihm alles mit gleicher Münze heimzahlen, jede Wunde, jeden Schlag, und vor allem, dass ich auf der Baustelle in diese Abfallgrube getreten bin und mir den Fuß zerfetzt hab … Sie glitt nach rechts in eine kleine Gasse, weiter durch zugemüllte Hinterhöfe und niedrige Durchgänge. Lautlos teilten ihre Hände eine Art Vorhang aus löchrigen Plastiksäcken, der ein gähnendes Loch in einer Mauer bedeckte. Die Maschendrahtabsperrung hinter der behelfsmäßigen Plane hatte schon bessere Tage - ach was, Jahre - gesehen. Mel holte eine kleine Zange aus der Tasche, und ein paar Sekunden später hatte sich eines der Löcher beträchtlich vergrößert. Sie quetschte sich hindurch und stand in einem feuchten, schwach faulig riechenden Tunnel. Ein leichter Luftzug strich von drinnen über ihr Gesicht, als sie angestrengt ins Dunkel horchte. Wenn man sie hier erwischte, würde Mar ihr geringstes Problem sein. Aber da sie schon mal hier drin war, sollte sich das Erwischtwerden wenigstens lohnen, dachte sie, und schritt weiter in die Dunkelheit. Zurück konnte sie nicht mehr, nicht, wenn sie ihre falsche Spur nicht verraten wollte. Sie zuckte heftig zusammen, als ihr etwas von oben in den Nacken tropfte. Wasser, bloß Wasser - noch. Lieber schnell weiter, so lange sie noch unbemerkt war. Nach einiger Zeit wurde ihr mulmig. Sehr mulmig. Sie bemühte sich, lautlos und ohne auszurutschen über den nassen und mit einer Art weichem Schlamm bedecken Boden zu gehen; um so schwieriger, da der Gang schon seit längerem bergab führte. Mel wich halb rückwärts gehend jedem Müllsack, jedem gestaltlosen Haufen Irgendwas am Boden möglichst weit aus, versuchte dabei, ihren Rücken so nah wie möglich an der Tunnelwand zu halten. Diesen Eingang hatte sie immer für ein bloßes Gerücht gehalten, eine von Frantos Spinnereien, und dass er existierte, machte ihr Angst. Wenn dieser Teil seiner Hirngespinste wahr war, was war es dann noch gewesen? Sie versuchte, in jede Richtung gleichzeitig zu sehen in der festen Überzeugung, im nächsten Moment wäre das Letzte, das sie für lange Zeit wahrnehmen würde, ein betäubender Gestank und dann der dumpfe Schmerz eines Pflockes. Wenn sie Glück hatte. Etwas Hartes schlug gegen ihren Rücken. Sie wirbelte herum, die Finger im Bruchteil einer Sekunde zu unterarmlangen Klauen verlängert - und schlug beinahe mit der Nase gegen eine quer verlaufende Eisenstange. Vor Erleichterung hätte sie fast laut aufgelacht. In die Wand eingelassene Querstreben. Eine Leiter. Und sie führte nach oben, einen gut vier Meter hohen Schacht hinauf. Die Krallen verschwanden, und Mel hing schneller unter der Decke des Schachtes, als sie “Notausgang!” hätte jubeln können. Mit aller Kraft stemmte sie das gusseiserne Gitter hoch, das den Durchgang versperrte, und schlüpfte ins Freie. Keine Sekunde zu früh. Wenn sie sich nicht sehr irrte, hatte es unter ihr, im Tunnel, gerade begonnen, wütend zu flüstern und zu tapsen. Sie stand auf einer Terrasse aus rissigem, altem Beton, im ersten oder zweiten Stock eines verfallenen Hauses. Einige Meter weiter begrenzte eine Backsteinmauer ein Stück unbebautes Land. Baumkronen hinderten sie daran, dort Genaueres zu erkennen - wohl ein Park oder ein Friedhof. Perfekt. Mit einem Satz stand sie auf dem Wall aus Ziegeln, mit einem zweiten landete sie an den Wurzeln einer ausladenden Kastanie. Mel atmete - nur so aus Gewohnheit - tief und glücklich ein. Das wäre erst mal geschafft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)