Der Nachtigall Tod. von Tsuruume ================================================================================ Kapitel 1: Der Nachtigall Tod. ------------------------------ Die Scherben des Glases regneten auf ihn und trotzdem blieb er unbeweglich stehen. Das klirrender Geräusch des berstenden Kristalls klang immer noch in seinen Ohren nach, aber wenigstens musste er dann für einige Augenblicke dieses furchtbare Weinen nicht mehr hören. Zwar sah er die Tränen auf dem Gesicht seiner Schwester, welches ihm von Tag zu Tag fremder wurde, aber das war einfacher. Weil es nicht die Züge von Cordier waren, sondern jene von Gemsilica, das Monster, in das sie sich Tag für Tag mehr verwandelte. Aber ihre Stimme, ihre Stimme war immer noch die seiner kleinen, geliebten Schwester und das war das Schlimmste an der Sache. „Sieh mich an! Sie mich an, Rutil!“ Schrill und hoch durchbrach sie das Klingeln in seinen Ohren, zerrte an seinen Nerven und zwang ihn wieder zurück. Ließ ihn das anblicken, was er am liebsten vergessen hätte. „Sieh dir an, was aus mir wird, Kapellmeister!“ Langsam, unendlich langsam, als würde Blei an jedem einzelnen seiner Glieder hängen, trat er auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke. Sie saß auf dem Boden, war von dem Thron gerutscht, auf dem sie noch viel mehr wie eine überlebensgroße Porzellanpuppe wirkte, als sonst. Die blonden Haare, die einst kupferrot gewesen waren, fielen in Perfektion über ihre Schultern. Große, glänzende Locken, die ihr Gesicht einrahmten. Perfekte, makellose Haut, wo früher kleine Sommersprossen Nase und Wangen bedeckt hatten. Gott, wie sehr er Cordiers Gesicht vermisste. Er hätte alles dafür gegeben, es noch einmal sehen zu können, alles dafür, um in die unschuldigen Tage ihrer Kindheit zurückzukehren. Alles dafür, um die Schuld von seinen Händen zu waschen, die wie Teer daran klebte und sich von Tag zu Tag tiefer fraß. „Sieh, was aus mir wird...“ Cordiers Stimme war nur noch ein leises Flüstern, als sie sich klein vor ihm zusammenkauerte. Wortlos breitete er die Arme aus und umfing damit seine kleine Schwester, die sich wie ein verwundetes Tier darin verkroch. Beruhigend strich er über ihre Haare, während sich jeder ihrer Schluchzer wie ein Messer in sein Herz bohrte. Jeder war eine Anklage für sich, jeder ein Schrei, der ihm seine Schuld ins Gesicht schlug. Und er war verdammt, dieses Bild bis ans Ende seiner Tage zu ertragen. Denn wenn er schon nicht ihren Platz hatte einnehmen können, dann würde er zumindest an ihrer Seite weilen müssen. Eine Erkenntnis, die bitterer als Galle schmeckte und die er einfach nicht mehr schlucken konnte. Der Moment, in dem sie den Kopf hob und ihn mit geröteten Augen ansah und ihm die Frage stellte, vor der er sich am allermeisten fürchtete, machte es nicht leichter zu ertragen. „Du liebst mich doch noch immer, nicht wahr Bruder? Du... du wirst bei mir bleiben, nicht? Weil ich... weil ich die Königin bin, weil...“ Mit einem beruhigenden Laut zog er sie noch enger an sich, drückte ihren Kopf sacht gegen seine Schulter, einerseits, damit sie sich komplett daran lehnen konnte. Andererseits, weil sie dann den bitteren Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen konnte, als er ihr antwortete. „Natürlich.“ Ihr Schluchzen wurde leiser und das Zittern ihres Körpers hörte langsam auf. „Singst du für mich?“ Jetzt, wo sie fast bettelnd klang, da war sie wieder Cordier. „Ich bin die Königin, du musst für mich singen, wenn ich das möchte.“ Ein Schlag ins Gesicht, ein Moment der Hoffnung, gebrochen von der kalten Realität. „Natürlich.“ Immerhin, sie blieb in seinen Armen, eng an ihn gedrückt, als er die Stimme erhob und ihr ein Lied aus den alten Tagen sang, als sie noch zu dritt ihre Tage im Garten verbracht hatten. Als er den Thronsaal schließlich verließ, weil sie ihn wegschickte, da Couc die täglichen Geschäfte mit ihr zu besprechen hatte, fühlte er sich ausgebrannt. Als hätte ihn jemand genommen und alles aus ihm gekratzt, was jemals gewusst hatte, wie es sich anfühlte, zufrieden zu sein. Beide Hände vors Gesicht gepresst lehnte er sich gegen eine der kalten Marmorsäulen und wünschte sich im Moment nichts mehr, als eins mit dem kalten Stein werden zu können. Nicht mehr als eine leblose Puppe, seiner geliebten Schwester gleich. Dann würde er ohne Zweifel immer bei ihr bleiben, aber es würde ihn nicht mehr bedrücken zu sehen, was sie geworden war. Was sie immer noch wurde, dieser hässliche Prozess, denn er nicht aufhalten konnte, ganz gleich, wie sehr er es versuchte. Den er erst in Gang gesetzt hatte... Lächerlicher Narr der er war, ertrug die Konsequenzen seiner eigenen Feigheit nicht, konnte dem, was er angerichtet hatte, kaum mehr entgegentreten, obwohl es ihn selbst vor dem gleichen Schicksal bewahrt hatte. „Du bist widerlich... widerlich, widerlich, widerlich...“, zischend wiederholte er das Wort immer und immer wieder, einer Geißel gleich, die er auf sich selbst niederfahren ließ. Nur der befreiende Schmerz blieb aus, es erreichte nicht den Punkt, den er hatte treffen wollen. „Herr Kapellmeister?“ Müde hob er den Kopf und zog den rechten Mundwinkel in der Andeutung eines leichten Lächelns nach oben. „Du sollst mich doch nicht so nennen, Morion.“ Der Freund aus Kindertagen, der sich nicht verändert hatte. Der immer noch an seiner Seite war, der Cordier auch nie im Stich ließ. Dessen bewundernder Blick für sie sich in all der Zeit niemals verändert hatte. Guter, alter Morion. Wenn er nur ein wenig von seiner Unschuld hätte haben können, er hätte dafür getötet. „Es ist dein offizieller Titel, warum sollte ich es nicht tun?“ Linkisch vergrub er die Hände in den tiefen Taschen seines Mantels und rümpfte die Nase leicht, um die Brille, die ein wenig nach unten gerutscht war, wieder weiter nach oben zu schieben. „Weil ich bei meinen Freunden keinen offiziellen Titel trage, das ist doch... lächerlich.“ Irgendwie schaffte er es, ein breites Lächeln auf seine Züge zu zaubern, ein wenig Erheiterung in seine Stimme zu legen und wirklich gut gelaunt zu wirken. Zumindest fragte Morion nicht nach, also musste die Illusion, die er ihm bot, perfekt sein. In dumpfer Zufriedenheit stieß er sich von der Säule ab und trat näher an ihn heran. „Wohin wolltest du?“ Sorge schlich sich auf die Züge seines Kindheitsfreundes, der einen fast schon ängstlichen Blick in Richtung des Thronsaals warf. „Ich... ich dachte, ich sehe nach, wie es ihr geht. Nur kurz, vielleicht hat sie ein wenig Zeit.“ Sein Egoismus hatte nicht nur ein Leben zerstört. Er war auch über dieses hier getrampelt, nur viel leiser. Fast schon unbemerkt, weil Morion sich niemals beschwerte. Der ständig übende, ihm nacheifernde Freund, der krampfhaft darum bemüht war, mit seiner Stimme die Perfektion zu erreichen, die ihm angezüchtet worden war. Er hätte sie ihm gerne geschenkt, diese verfluchte Gabe. Mit beiden Händen hätte er sich die Stimmbänder herausgerissen und sie ihm in die Finger gedrückt, wenn er nur etwas damit hätte ändern können. „Couc ist gerade bei ihr, ich... weiß nicht, ob du wirklich hinein solltest.“ Bedrückt nickte er, zog die Schultern ein wenig nach oben, als könnten sie ihm Schutz geben und blickte wieder verstohlen neben sich. „Nun, dann... warte ich, bis er ihn wieder verlässt, dann hat sie sicher einen Augenblick Zeit für mich.“ Ein verlogenes Lächeln. Ein gelogenes, aufmunterndes Klopfen auf seinen Rücken. Geheuchelte Zustimmung. Und das, wo er wusste, dass Morion wie ein geschlagener Hund vor der Tür warten würde, bis sie jemand öffnete, um dann hineinzuschleichen, nur, um ein paar Augenblicke bei ihr sein zu können. Weil er derjenige war, der das Versprechen, für immer bei ihr zu bleiben, auch halten würde. Halten konnte, ohne sich dabei selbst zu verachten oder gegen den Reflex, zu flüchten, anzukämpfen. Er beneidete ihn um diese bedingungslose Zuneigung zu ihr. Er hasste ihn dafür, dass er es konnte. „Ich wollte dich aber auch gar nicht weiter aufhalten, du hast sicher... wichtige Dinge zu erledigen, nicht?“ Ihm war klar, dass Morion darauf wartete, dass er es verneinte. Dass er ein wenig Zeit mit ihm verbringen würde, hier ein wenig warten. Aber er konnte ihm diesen Gefallen nicht tun. Zu sehr widerte es ihn an zu sehen, wie er selbst hätte sein müssen, um gleichzeitig zu wissen, dass er es niemals sein konnte. „Richtig, das tut mir auch wirklich leid, ich...“ Sein Gegenüber hob die Hand mit einem offenen Lächeln und winkte einfach nur ab. „Entschuldige dich nicht dafür. Der Posten des Kapellmeisters ist ein sehr verantwortungsvoller, du solltest deine Pflichten nicht vernachlässigen, nur, weil ich nicht weiß, was ich mit meinem Tag anfangen muss.“ Guter, alter Freund. Er gab ihm neben der Ausrede, warum er ihn einfach hier zurück lassen konnte, auch noch einen weiteren Grund, um diese zu untermauern. Irgendwann würde er es ihm zurückgeben. Aber vermutlich wohl nie, weil es eine leere Phrase bleiben würde, wie all das, was er seiner Schwester versprach, nur, damit sie aufhörte zu weinen. Seine Hand hob sich wie von selbst zum Abschied, berührte Morions Schulter und drückte sie aufmunternd, ehe er ihm den Rücken kehrte und ging. Am liebsten wäre er gerannt, eine kopflose Flucht durch diese Gänge, einfach nur fort, fort, fort. Diesen Ort hinter sich lassen und all ihre traurigen Gestalten, die ihn bevölkerten. Dieses Drama, das er selbst verfasst hatte, nur, um zu vergessen, wie es enden konnte. Aber er blieb äußerlich ruhig, eine lächelnde Marionette, die jeden, der ihm begegnete, freundlich grüßte, ein perfektes Bild, genau das wiederspiegelnd, was die Leute von ihm erwarteten... er konnte es keinen Tag mehr länger ertragen. Er würde es beenden müssen, er würde... Die Lippen schmal zusammengepresst, blieb er mitten im Gang stehen und warf einen Blick aus dem Fenster, vor dem sich die Ausläufer der Landschaft erstreckten, die das Schloss umgaben. Was hätte er dafür gegeben, das Land sehen zu können. Jeden noch so entfernten Ort, einfach unterwegs, immer, immer, immer unterwegs, immer das Wissen im Kopf, nie mehr hierher zurückkommen zu können. Aber er war ein feiger Hund, er würde niemals die Stärke besitzen, fortzulaufen. Er würde Tag für Tag wieder hier stehen, sehnsüchtig aus dem Fenster blicken, davon träumen, wie es sein konnte, ein Teil der fremden Welt dort zu sein, aber es niemals werden. Das Gras dort draußen würde niemals unter seinen Füßen liegen, er war dazu verdammt, ewig die staubige Luft des Palastes zu riechen, die sich in seine Lungen einnistete und alles verpestete. Manchmal, wenn er hier stand und die Finger gegen das kalte Glas presste, wünschte er sich, er hätte Cordiers Platz eingenommen. Den Platz, der eigentlich ihm zugedacht gewesen war. Wo war der Unterschied dazwischen, eine Puppe auf dem Thron zu sein, die langsam den Wahnsinn anheim fiel und die immer mehr ihrer Gefühle verlor oder seiner Stellung? Es gab keinen, aber das hätte er vielleicht vorher wissen müssen. Aber wahrscheinlich hätte er sich dann auch nicht anders entschieden. „Ich habe gelesen, dass es Leute gibt, die ihre Haare, wenn sie lang genug sind flechten, sie aus dem Fenster hängen und dann darauf warten, dass jemand daran nach oben klettert und sie rettet. Ist es das, worauf du wartest? Dann müsstest du das, was da so unordentlich herumhängt aber in eine Form bringen, die jemandem hilft.“ Ruckartig drehte er den Kopf in die Richtung, aus welcher diese leicht spöttische Stimme gekommen war. Und das erste, ehrliche Lächeln dieses Tages galt seinem Schützling, der, die Arme vor der Brust verschränkt, ihn abschätzig ansah. Er wollte weder wissen, wie lange er hier gestanden und nach draußen gestarrt hatte, noch, wie lange sie schon hinter ihm gestanden und ihn beobachtet hatte. Es gab Tage, da hatte er das Gefühl, dass Spinell die meiste Zeit ihres Tages damit verbrachte, ihm zumindest mit Blicken auf Schritt und Tritt zu folgen und das, obwohl er längst nicht mehr als ihr Tutor fungierte, sondern sie nur noch ab und an besuchte, sich ihre Fortschritte ansah und sich ihren Launen aussetzte. Weil sie das letzte, normale war, das ihm hier geblieben war. Sie hatte sich nicht verändert und ihr war es egal, was aus ihm geworden war. Sie war ruppig wie immer, weigerte sich, ihn mit Samthandschuhen anzufassen und drang an manchen Tagen bis in die Tiefe seines Wesen vor. Er hätte nicht gewusst, was er getan hätte, wenn es sie mit einem Mal nicht mehr geben würde. Seinen letzten Zufluchtspunkt in dieser Welt, der Anker, den er dringend brauchte, um zu überleben. Ja, wenn er es genau betrachtete, dann nutzte er sie nur aus, wie jeden anderen Menschen in seiner Umgebung. Er war ein Egel, der sich so lange vollsaugte, bis man ihm nichts mehr geben konnte und dann fiel er ab, um sich das nächste Opfer zu suchen... vielleicht war Spinell bald leer, vielleicht war ihre bis jetzt unterschütterliche Zuneigung und Treue zu ihm bald erschöpft... ihm graute davor. „Ich glaube nicht, dass ich von jemandem gerettet werden möchte, der an meinen Haaren nach oben klettert. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht gerettet werden muss.“ Grinsend drehte er sich ganz zu ihr um. „Und warum starrst du dann aus dem Fenster, als würdest du ganz dringend auf etwas warten?“ Wenn sie jetzt noch auf ihn zukam und seine Kleidung zurecht zog, dann war es wirklich wie früher. Aber nein, sie hielt Abstand und wartete stattdessen auf eine Antwort. Die er ihr nicht geben konnte, weil... was sollte er dazu sagen? Wobei, wo sie gerade bei Fragen waren, hier gab es eine, die er sehr gerne geklärt gehabt hätte. „Was tust du eigentlich hier?“ Sie hatte ihn so überrannt, erst jetzt hatte sein Kopf mit Nachdruck erklärt, dass sie eigentlich nicht hier sein konnte. Und wenn sie nicht einfach eine Einbildung seines überreizten Geistes war, der sich jemanden wünschte, der seine Schwächen kannte und an dem er sich wieder nach oben ziehen durfte, dann musste es eine logische Erklärung geben. Spinell legte ihre Stirn in viele kleine Falten und er konnte in ihrem Gesicht ablesen, dass sie gerade abwog, ob sie eher antworten oder darauf hinweisen wollte, dass es ihm rein gar nichts bringen würde, vom Thema abzulenken, ehe sie schließlich den Mund öffnete: „Ich habe die Erlaubnis bekommen, die Schüler zu begleiten, die Teil des Orchesters werden, weil...“ Der Blick wurde ein wenig unsteht und er stellte amüsiert fest, dass ihre Wangen sich leicht rötlich färbten. „... weil ich dich lange nicht mehr gesehen habe und ich dachte, vielleicht... wenn ich hier bin, hättest du... Zeit. Ein wenig.“ Vor ein paar Monaten noch wäre ihm warm ums Herz geworden und er hätte sich ehrlich darüber gefreut, aber jetzt war da nichts. Was er gerne getan hätte, wäre sie fortzuschicken. Weil sie diese verkleidete Puppe, die er war, nicht sehen sollte. Weil er ihr jetzt nicht das geben konnte, was sie in ihm suchte, weil... Gott, die Gründe waren elend viele, die Liste war unendlich lang, wahrscheinlich überblickte er sie längst selbst nicht mehr und... Spinells schnipsende Finger direkt vor seinem Gesicht rissen ihn wieder in die Gegenwart. „Man hört nicht einfach auf zu reden, Rutil, das ist unfassbar unhöflich.“ Ein nervöses Lachen kroch aus seiner Kehle und er strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ja, ich weiß... verzeih mir, ich... bin nicht ganz bei mir.“ Der Kopf des Mädchens legte sich leicht schief. „Na das wäre mir ja von alleine absolut und überhaupt gar nicht aufgefallen.“ Sie schnalzte abschätzig mit der Zunge und hängte sich mit einem Mal einfach an seinen Arm. „Dann wirst du dich jetzt auf mich konzentrieren, damit du den Weg aus der Gegenwart nicht mehr verlierst, würde ich vorschlagen. Und komm mir nicht mit der Ausrede, dass du wichtige Dinge zu erledigen hättest, denn wenn der Herr Kapellmeister der Königin mehrere Stunden aus dem Fenster starren kann, dann kann er auch ein paar Stunden mit mir verbringen. Ich bin erheblich besser geworden.“ Sie lachte auf, ein seltener, warmer Laut und er ergab sich der Sache. Ließ sich davon anstecken, einfach mitziehen, wie ein Unbeteiligter, der krampfhaft versuchte, zurück in ein Leben zu kommen, dem er seit langer Zeit einfach nur noch zusah, wie ein Gast im Theater, ohne das, was gespielt wurde, zu verstehen. Und während er krampfhaft versuchte, sich daran zu erinnern, wie er sich damals in ihrer Gegenwart immer gefühlt hatte, anstatt darüber nachzudenken, was er tun musste, um sie von sich fernzuhalten, damit sie nicht am Ende ebenfalls eines seiner Opfer wurde, schlich sich das, was sie ihm vorsang, fast unbemerkt in sein Herz. Ihre Stimme war gereift, hatte einen vollen Klang bekommen und sie schien sich endlich nicht mehr dafür zu schämen. Er war stolz auf sie. Unheimlich stolz. Und wie gerne hätte er den Moment eingefroren und den Rest seines Lebens mit sich herumgetragen, damit er, immer dann, wenn das Elend ihn zu überfluten drohte, einfach aus der Tasche ziehen und ansehen konnte. Er musste es ändern. Er musste es beenden. Er musste irgendetwas tun. Die Erkenntnis, vor der er sich so lange verkrochen hatte, war unaufhaltsam näher gekommen, hatte ihn eingeholt und stellte ihn vor eine endgültige Wahl. Begleitet von Spinells Gesang saß er der eigenen Feigheit gegenüber und schrie ihr stumm entgegen, dass sie ihm nichts mehr zu befehlen hatte. Er würde seine kleine Schwester vor sich selbst retten. Er würde ihr diese Bürde aus den Händen reißen. Er würde jemanden finden, den er an ihrer statt auf diesen Thron setzen konnte, jemand, der ihm egal war. Dann würde aus Gemsilica wieder Cordier werden und alles, alles würde wieder wie früher sein. Sie glücklich und er ohne Schuld. „Und?“ Spinell sah ihn mit großen, strahlenden Augen an, erwartete ein Lob, aber in seinen Ohren klang es viel mehr, als würde sie ihn danach fragen, ob er bereit war, aus der Apathie zu erwachen, in die er sich wie in einen Kokon eingehüllt hatte. „Wundervoll.“ Das meinte er ernst. Das meinte er wirklich, wirklich ernst. Denn wenn er jetzt gehen würde, um das zu tun, was er von Beginn an hätte tun sollen, dann wollte er, dass sie ihn in guter Erinnerung behielt. Dass sie an ihn zurück denken und dabei lächeln konnte. Weil er tief in seinem Inneren ahnte, dass das hier ein Abschied werden würde. Von allen. Und er konnte es ihnen nicht einmal direkt sagen. Er würde alles verpassen, wie sie zu einer erwachsenen Frau werden würde, um die sich die Männer wahrscheinlich rissen – und er konnte es ihnen jetzt schon nicht verübeln – wie Morion endlich einen Platz fand, an dem er bleiben konnte und den Moment, in dem er mit seinem Gesang endlich das erreichen würde, was er sich von jeher wünschte. Aber das war im Vergleich zu dem, was er an Last von seinen Schultern nehmen konnte, ein geringer Preis. Am Ende waren sie glücklicher ohne ihn. Glücklicher ohne ihn. Ein Mantra das er den Rest des Tages stumm immer wieder und wieder abspulte. Als er sich von Spinell verabschiedete und ihr erklärte, dass sie sich morgen wieder sehen würden. Als er Couc darum bat, noch einmal mit der Königin sprechen zu können, weil es wichtig sei. Als er den Thronsaal betrat und er der Hülle, in der irgendwo noch die Seele seiner Schwester steckte, ein falsches Lächeln schenkte. Irgendetwas würde heute Nacht ein Ende finden. Ob es nun das Leben der Königin oder das Leben des Kapellmeisters war, konnte er er in dem Zeitpunkt, als die schwere Tür mit einem dumpfen Laut hinter seinem Rücken ins Schloss fiel nicht sagen. Hauptsache ein Ende. || Fin » Intermezzo # 1: Gemsilica Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)