Großer Bruder für einen Tag von Shizana (Tasuki & Chiriko) ================================================================================ Kapitel 3: Die Ankunft ---------------------- "Ruhig, Kuro. Ich weiß, du willst am liebst'n noch etwas weiterrennen, aber da vorn is' Sou'Un. Wir müssen langsamer mach'n." Spürbar unwillig ließ sich der schwarze Hengst auf die Notwendigkeit ein, sein Tempo zu drosseln und von seinem berauschenden Galopp in einen ernüchternden Trab, und schließlich ins gemächliche Schritttempo zurückzufallen. Noch etwas benommen von diesem unglaublichen Gefühl der Schnelligkeit hob sich Chiriko wieder in eine aufrechte Sitzposition. Er hatte etwas Mühe darin, seine angespannten Muskeln wieder zu entspannen, die ihn im Sitz gehalten hatten. Das Ziehen in seinen Händen war etwas unangenehm, aber dafür war es umso entspannender, den Rücken wieder in eine gerade Position zu bringen, da er nicht mehr zwischen Tier und Räuber wie eingeklemmt war. "Un'? Hat Spaß gemacht, ne?" Mit einem breiten, zufriedenen Grinsen blickte der Ältere zu dem Jungen vor sich hinunter. Ein erschöpftes Lächeln begleitete das zaghafte Nicken des Jüngeren. "Ja, das war wirklich toll! Wenn ich größer bin, will ich auch ein Pferd haben, mit dem ich öfter so reiten kann." Tasuki lachte herzlich. "Na ob du nochma' so 'n Pferd wie Kuro findest weiß ich nich'. Aber wenn du 's wirklich willst, dann wirst'e sicher auch irgendwann ma' 'n eigenes Pferd haben. Un' dann kannst'e das auch bestimmt öfters mach'n. Oder du kommst mich einfach ma' besuch'n, dann reiten wir nochma' zusammen mit Kuro so durch 'n Wald oder über 'n Feld. Er mag das!" Und als Lob klopfte er dem Schwarzen den Hals, was das Tier mit einer Art Kopfnicken bestätigte. Nur noch wenig Waldstrecke lag zwischen ihnen und der nächsten großen Stadt. Und nur wenige Minuten später lichteten sich die Bäume und sie sahen hin und wieder Sammler, die nach Pilzen oder Kräutern im Wald suchten. Dann endlich erreichten sie Sou'Un, die große Handelsstadt und gleichzeitig zentraler Treffpunkt zwischen den beiden Bergen Reikaku und Kaou. Hier trafen nicht nur Reisende aller Welt ein, um ihre Waren zu präsentieren und zu tauschen oder um sich zu versorgen, sondern auch Dorfbewohner der zahlreichen kleineren Dörfer in der näheren Umgebung kamen regelmäßig her für Einkäufe oder für den neusten Tratsch und Klatsch. Hier trafen sie sich alle. Vielleicht würden sie schon hier auf jemanden aus Tasuki's Bande treffen? "Ah!" Abrupt brachte der Räuberchef sein Pferd zum Stehen, woraufhin ihn Chiriko fragend ansah. "Was ist denn los?" "Bevor wir da hingeh'n müssen wir noch 'n paar Dinge klär'n! Na los, lass uns absteigen. Ich erklär's dir beim Geh'n." Wie gesagt, so getan. Wieder stieg Tasuki zuerst ab, um dem Kleineren von Kuro's Rücken zu helfen. Er führte das zahme Tier neben sich her, während er den Weg fortsetzte. "Also pass auf. Da wir in der Stadt vielleicht schon auf 'n paar der Jungs treff'n könnten, sag' ich's dir besser gleich. Die Jungs kennen mich nich' unter meinem Seishi-Namen, Kouji ausgenommen. Also nenn' mich ab sofort nich' mehr "Tasuki", sondern "Genrou", klar? Un' am besten nenn' ich dich auch nich' mehr "Chiriko", nur für"n Fall der Fälle." "Ähm… okay. Genrou-san." Unsicher sah Chiriko zum Älteren auf. Schon seltsam, jetzt plötzlich diesen fremden Namen für seinen Freund zu benutzen… Aber okay, er hatte sich Tasuki immerhin aufgedrängt, dass er ihn mitnehmen würde. Also war es das Mindeste, wenn er jetzt nach seinen Spielregeln mitspielte. "Buäh, das is' ja widerlich! Lass das –san weg!" Und während sie gingen, überlegte Tasuki kurz. Mit einem Seufzen fuhr er schließlich fort: "Notfalls kannst’e mich auch mit "Aniki" ansprechen." Er musste schmunzeln. Noch heute konnte er sich an die Situation erinnern, als Kouji ihm das damals ebenfalls vorgeschlagen hatte, nachdem Hakurou ihn frisch in die Räuberbande aufgenommen und seinem heutigen besten Kumpel unterstellt hatte. Ja, Kouji war wirklich immer sowas wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Auch, wenn er – Genrou – nun der Anführer der Reikaku-Räuberbande war, Kouji war für ihn nie etwas Minderes als sein Bruder und bester Kumpel gewesen. Ja, Tasuki erinnerte sich an alles, als wäre es erst gestern gewesen, wie er seine Anfänge bei der Räuberbande gemacht hatte. Aniki… Seit Reirei's Tod hatte ihn niemand mehr so genannt. Obwohl, er war sich gar nicht mal mehr sicher, ob sie ihn überhaupt jemals "großer Bruder" genannt hatte. Naja, wäre wohl auch etwas komisch für sie gewesen, nachdem er erst von ihren Gefühlen erfuhr, als sie bereits im Sterben lag. "Egal! Weiter!" Energisch schüttelte Tasuki mit dem Kopf. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um in der Vergangenheit nach alten Wunden zu graben! "Als nächstes brauch'n wir andre Klamotten für dich. Sonst halt'n dich die Jungs noch für 'n Mädel, das wär' echt übel." "Was?" Prüfend sah Chiriko an sich herunter. Was war denn an dem Kimono auszusetzen? So einen würde doch kein Mädchen der Welt tragen. "Komm einfach mit. Wir find'n schon was für dich. Nichts leichter als das, haha!" Schnell war ein Schneiderladen gefunden. Kuro wurde mit schnellen Handgriffen angebunden, ehe Tasuki auch schon mit dem noch immer skeptischen Chiriko den Laden betrat. "Guten Tag, kann ich behilflich sein?", wurden sie nach dem hellen Läuten der Türglocke auch schon von einem Mann mittleren Alters begrüßt, der eher schlicht gekleidet war. "Ja! Wir such'n was Modisches für den Kleinen hier! Ohne viel Schnickschnack! Achja un' atmungsaktiv bitte, der Kleine spielt noch sehr viel.", erklärte der Räuber mit einem breiten Grinsen im Gesicht, während Chiriko protestierend an seinem Arm zog. "Tasuki-san…" "Pssst! Was sagt' ich, wie du mich nennen sollst?!" Und Tasuki gab dem Kleineren eine leichte Kopfnuss. Grummelnd bedachte der Kleine den Größeren mit einem schmollenden Blick, doch der Räuber ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Schon kam der Ladenbesitzer mit zwei Dressvorschlägen zu den Jungs zurück und präsentierte sie abwechselnd dem Älteren. "Das da! Probier das an, Knirps." "Nenn mich nicht Knirps…", protestierte Chiriko noch immer kleinlaut, erkannte aber, dass er ohnehin nichts an Tasuki's Willen drehen konnte. Also nahm er dem Verkäufer die Kleidungsstücke ab und ließ sich in eine Umkleideecke führen. "Perfekt! Hey, das sieht ja richtig gut aus! Jetzt siehst'e nich' mehr so wie 'n Mädchen aus un' du kannst auch ruhig ma' langsam etwas erwachsenere Klamotten tragen." Nach wenigen Minuten war Chiriko wieder hinter dem leichten Vorhang hervorgekommen und präsentierte sich, noch immer schmollend, vor seinem Freund, der vorerst den großen Bruder zu mimen versuchte. Bestätigend klatschte Tasuki leicht in die Hände und sein breites, selbstzufriedenes Grinsen sprach Bände darüber, wie er den Kleinen gerade sah. Als Chiriko das ebenfalls bemerkte, wandelte sich seine Skepsis in Neugierde. In der Umkleideecke hatte es keinen Spiegel gegeben, um sich zu betrachten. Und als hätte der Verkäufer die Gedanken des Jungen gelesen wandte er ihn an der Schulter in Richtung eines hohen Spiegels. Was Chiriko dort erblickte, verschlug ihm im ersten Moment die Sprache. Der Junge dort hatte dieselben kastanienbraunen Haare wie er, ebenfalls zu einem Zopf nach oben gebunden, wo jener locker abstand. Ein paar Strähnen hingen lose aus dem Zopf und ein fransiger Pony fiel leicht über die platinagrünen, großen Augen. Über dem weißen, locker liegenden Hemd, welches bis zum Dreiviertel seine Arme bedeckte, trug dieser Junge eine Art tiefdunkelblaue Weste im typischen, chinesischen Stil. Der zwei Zentimeter hohe Kragen war mit einem goldgelben, verdickten Stoff versehen und stand aufrecht im weiterem Abstand zu seinem Hals ab, was viel Platz zum Atmen bot. Ihm fielen sogar die fein verarbeiteten Knöpfe am Kragen auf – zwei auf jeder Kragenseite aus einem glänzenden Kupfermaterial – und der feine Streifen selben Stoffes wie der vom Kragen, wie er weit rechts gebunden und von denselben Knöpfen wie am Kragen geschlossen, vier Stück an der Zahl, ab Hüfthöhe seitlich abwärts verlief und als Stoffrand fungierte. Die Restweste auf der rechten Seite, von der von vorne betrachtet wenig zu sehen war, war etwas kürzer in der Länge verarbeitet, verlief aber am Rücken weiter seitlich abwärts fehlerfrei in der Kontur mit der anderen Seite, die länger nach unten verarbeitet war. Zwei schräge Streifen zierten die linke Westenhälfte auf der Vorderseite in einem Sonnengelb, dass es wie eine Mischung aus zwei Blitzen oder zwei Kratzern wirkte. Die lockere Baumwollhose bestand aus einem tiefen, etwas dunklem Rot und reichte bis zum Knöchel, wo – ebenso wie übrigens an den Ärmeln – jeweils ein kräftiger, dünner Faden das individuelle Zuschnüren des Stoffendes ermöglichte, um sie so eng wie möglich abzuschließen. Weiße Socken mündeten abschließend in schwarze, schlichte Schlüpfschuhe. "Na? Nu' sag' schon was!", drängelte auf einmal ein ungeduldiger Tasuki, nachdem Chiriko mittlerweile schon seit Minuten sein eigenes, neues Spiegelbild angestarrt hatte. Erschrocken fuhr der Junge in sich zusammen, dann wandte er sich aber an den älteren Freund und strahlte ihn etwas verlegen an. "Das ist toll!" "Gebongt! Meister, das nehmen wir! Kann der Kleine 's gleich anbehalt'n?" "Aber natürlich. Das macht dann 10 Silber-Ryo." "Was?! 10 Silber-Ryo?! Das is' Wucher! Geh'n Sie ma' 'n bisschen mitm Preis runter, Meister!", beklagte sich der Räuber, als der Verkäufer ihm den gewünschten Preis nannte. Er stemmte die linke Hand in die Hüfte, während der mit dem rechten Zeigefinger vor der Nase des älteren Mannes rumwuselte, der ein gutes Stück kleiner als er selbst war. Eine lautstarke Diskussion entbrannte, als die beiden Männer über den Preis verhandelten. "Okay, 5 Silber-Ryo un' dafür dürf'n Sie den Rest des Monats den Berg Reikaku ohne Wegzoll für Ihre Händlerreisen passieren!" Mit einem breiten, selbstzufriedenen Grinsen im Gesicht steckte Tasuki seinen Harisen wieder in seine Halterung am Rücken zurück und schlug mit dem eingeschüchterten Mann für den Handelsabschluss ein. Jener sah weniger zufrieden aus. Kein Wunder, jetzt wo er wusste, dass er gerade einem dieser Banditen vom Berg Reikaku gegenüberstand. Als er den Harisen gesehen hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er den jungen Burschen mit den roten Haaren besser nicht unnötig provozieren sollte – außer, er wolle sein Geschäft gänzlich umsonst in Schutt und Asche legen lassen. Also war er mit dem Preis um die Hälfte runtergegangen, was immernoch besser war, als wenn sich der Bursche mit den feinen Stoffen einfach aus dem Staub gemacht oder alles niedergebrannt hätte. Die Formalität, umsonst den Berg passieren zu dürfen, erschien dem Händler als eine eher traurige Vertröstung und er glaubte nicht an das ehrenhafte Wort des Räubers. Nachdem Tasuki den vereinbarten Preis gezahlt hatte, drängte er Chiriko zur Weiterreise. Die Sonne stand bereits nur noch knapp am Himmel und bald würde die Abenddämmerung anbrechen. Sie mussten dringend den Banditensitz vor Einbruch der Nacht erreichen. "Na siehst'e. Mir kannst'e schon ab un' an vertrauen. Jetzt werd'n die Jungs dich nich' mehr für 'n Mädel halten, was sowohl für dich als auch für mich gleich viel sicherer is'. Un' du siehst jetzt viel erwachsener aus, richtig cool!" "Findest du wirklich?" Verlegen strich sich der Kleine eine der wirren Haarsträhnen hinters Ohr und schmunzelte zufrieden in sich hinein. Dann aber sah er den Größeren wieder ernst an. "Aber musstest du den armen Händler wirklich so einschüchtern? Es ist nicht nett, wehrlose Menschen so zu bedrohen…" "Hey! Was hast'e denn erwartet? Gewöhn' dich besser schonma' dran. Hier is' unser Jagdrevier. Un' wenn wir erstma' am Berg Reikaku sin', spielt alles nachm Gesetz des Dschungels – da läuft alles nach unsren Regeln!" Unbeeindruckt zuckte der Rothaarige mit den Schultern. In einer Seelenruhe band er den schwarzen Hengst los und führte ihn am Zügel vorwärts, das Gemurmel einiger Leute hinter sich ignorierend. "Außerdem is' das hier Sou'Un, eine der größten Handelsstädte des Landes. Dass die Leute verhandeln is' vollkommen normal." "Ja, verhandeln…" "Mir is' übrigens im Laden aufgefall'n, dass ich ja gar nich' weiß, wie dein richtiger Name is'. Es is' wirklich besser, wenn wir nich' erst das Risiko eingeh'n, dass einer der Jungs schnallt, dass du auch 'n Seishi bist." "Oh…" "Doukun heiße ich richtig… Onii-san." "Hä?! Hast'e mich grade "Onii-san" genannt? Lass das… wenn, dann nenn' mich "Aniki", Knirps." "Aber man verwendet bei uns nicht die unhöfliche Variante! Und nenn du mich nicht Knirps!", protestierte Chiriko und in seiner jungen Stimme schwang kindlicher Trotz mit. Tasuki seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf. "Was denkst'e denn? Ich sag's dir nochma': Wir sin' auf'n Weg zum Berg Reikaku un' du wirst dich vorerst nur mit Typen wie mir abgeben müss'n. Nur dass die noch schlimmer sin' als ich. Da kannst'e auf sämtliche Gepflogenheiten un' Höflichkeiten verzichten. Also hab' dich nich' so. Immerhin wolltest DU ja unbedingt mitkommen." Nur schmollend ließ sich Chiriko von dem Älteren aufs Pferd heben, damit sie den letzten Rest des Weges so schnell wie möglich hinter sich bringen könnten. Aber in Einem waren sich beide insgeheim einig: An ihre neuen Anreden würden sie sich gewiss nicht so einfach gewöhnen. Als sie Sou'Un schließlich ebenfalls hinter sich gelassen hatten war die Sonne schon so gut wie untergegangen. Nicht mehr lange, und sie hätten ihr Reiseziel endlich erreicht. Nur noch ein kurzer Wanderweg, der in einer geraden Spur zu dem bewaldeten Berg führte. "Wow, das ist der Berg Reikaku?" Chiriko blieb neben Tasuki stehen, der für den beeindruckenden Anblick vom Tiefland aus im Gehen innegehalten hatte. Sein Gesicht hellte sich in Stolz und Vorfreude auf, während er die vertraute, warme Landluft tief einsog, die sich bereits mit der frischen Waldluft des Berges vermischte. "Is' cool ne?" "Beeindruckend…" Der Fuß des Berges war gesäumt von Waldbäumen, die den Eingang immer mehr verdichteten, sodass man schier gezwungen war, dem vorgegebenen Weg über den Berg zu folgen. Die Silhouette des Berges glich in etwa dem Umriss eines Wolfes, der aufrecht sitzend den Kopf in den Nacken gelegt hatte und den Himmel anzuheulen schien. Am violetten Horizont konnte man bereits die ersten Umrisse des Mondes sehen, der im Laufe der Nacht voll und rund neben dem riesigen Wolf über den Berg wachen würde. "Na los, geh'n wir weiter." Je weiter sie in den Berg vordrangen, umso mehr befiel den jungen Chiriko das Gefühl, dass es immer dunkler wurde – was zunächst nicht weniger daran lag, dass der Berg reichlich bewachsen war. Die Bäume ragten hoch hinaus und schmückten sich am Fuße mit den verschiedensten Gräsern, Wildblumen und hohem Gebüsch, hinter denen sich sogar wilde Bären problemlos hätten verbergen können. Hier und da war ein lautes Knacken im Unterholz zu hören, was den Jungen jedes Mal wieder aufschrecken ließ. Jede seiner Nerven waren bis aufs Äußerste gereizt und er konzentrierte alles auf seine Augen, um mögliche Gefahren in der Dämmerung erkennen zu können. Die Luft war frisch, ein wenig schwül, und regnete kühl gen Boden nieder. Wie ein immerwährender Regenschleier, der keine Nässe mit sich trug. "Chiriko… du machst mich nervös. Entspann dich! Solang' ich in der Nähe bin, passiert dir nichts." Der Räuber brach in schallendes Gelächter aus. "Ich bin so ziemlich das Gefährlichste, was hier rumlaufen dürft'. Außerdem würd' Kuro sofort reagier'n, wenn wirklich Gefahr drohen sollt'." Und um seine Aussage noch zu unterstreichen klopfte er seinem schwarzen Tiergefährten aufmunternd den Hals. Trotzdem konnte sich Chiriko nicht entspannen. Das alles war so unheimlich aufregend. Er hatte ja vom Berg Reikaku gehört, von seiner überwältigenden Schönheit und seiner beeindruckenden Größe. Aber er hatte sich nie ausmalen können, wie es wäre, ihn mal zu passieren. Nachdem sie schon einige Zeit ohne Vorfälle dem engen Pfad gefolgt waren, hielt Tasuki auf einmal an. Fragend blickte Chiriko zu dem Älteren auf, ängstlich, dass er etwas gehört haben könnte. "Lass uns ma' kurz da rübergeh'n. Ich will was schau'n." Der Räuber deutete leicht mit dem Arm in eine Richtung, die vom Trampelpfad ins Geäst wegführte. Dem Kleinen war bei dem Gedanken nicht wohl, den einigermaßen sicheren Weg zu verlassen. Trotzdem nickte er und griff fest nach Tasuki's Hand. Kurz blickte der Größere den Kleineren an, grinste dann aber und führte ihn an der Linken, den Hengst an der Rechten durch das dichte Gestrüpp. Ein paar Minuten weiter lichtete sich das Geäst zu einer kleinen Lichtung, wo etwas mehr Licht durch das sonst so dichte Blätterdach der Bäume fiel. Chiriko weitete erstaunt die Augen, als er einen kleinen Schrein erkannte, der schon Jahrhunderte alt sein musste. Er war aus dunkelgrauem Gestein gefertigt. Ein kleines Steinhäuschen auf einer kleinen Steinplattform, nicht mal ein ganzer Meter hoch. In dem Häuschen war eine metallene, kupferartige Schale eingebaut, in der aktuell ein paar Samen als letzte Gabe lagen. An der linken Seite waren zwei kleine Glöckchen an einem roten, breiten Band befestigt, während auf der rechten Seite neben dem kleinen Schreinhäuschen eine Art Wasserwippe aus Bambusholz angebaut wurde. Der Jüngere beobachtete, wie Tasuki den Hengst am Rand der kleinen Lichtung stehenließ und zu dem Schrein hinüberging. Mit etwas Abstand von etwa einem Meter vor dem kleinem Steinhäuschen deutete er eine Verneigung an, hockte sich davor nieder, ließ einmal kurz die Glöckchen auf der linken Seite hell läuten und faltete anschließend die Hände zu einem kurzen, stummen Gebet. Ein merkwürdiger Anblick… Chiriko hätte sich nie vorstellen können, dass ausgerechnet der vorlaute Seishi, den er bisher immer nur überstürzt und hitzköpfig erlebt hatte, sich mit solcher Erfurcht und Respekt einem so unscheinbarem Schrein zu einem Gebet widmen würde. Einfach so. Diese ungewohnte Szene hatte etwas Heiliges, etwas Reines. Und so wagte Chiriko weder zu sprechen, noch sonst irgendwelche Geräusche zu verursachen, die den Rothaarigen von seinem stummen Gebet ablenken könnten. Nach wenigen Minuten löste der Räuber seine Gebetshaltung und erhob sich wieder geschmeidig auf seine Beine. Kurz streckte er sich genüsslich, während er ein zufrieden grummelndes: "Ich bin wieder Zuhause!" verlauten ließ. Schließlich ging er wieder auf den Jungen und das schwarze Tier zu. "Von diesen Schreinen gibt 's hier viele. Weiter oben is' der Hauptschrein, er is' weit größer un' weit schöner als der hier. Aber ich konnt' einfach nich' vorbeigehen, ohne Hallo gesagt zu hab'n." Der Junge musste schmunzeln. Die lebensfrohe Art des Älteren sprang einfach zu ihm über. Komischerweise hatte er das Gefühl, als wäre auch er bereits hier Zuhause. Gerade so, als wäre auch er nach Hause zurückgekehrt. Schon seltsam, dabei war er in seinem ganzen Leben noch nicht mal ansatzweise in die Nähe des Berges gekommen. Aber wie er in Tasuki's Gesicht all das ablesen konnte, diese tiefe Zufriedenheit und all die Glücksgefühle, zog es ihn einfach mit. "Wer da?!" Bei der plötzlichen fremden Männerstimme, die kräftig hinter einem Baum zu ihnen sprach, erschraken beide Jungs gleichzeitig. Reflexartig schob Tasuki den Jüngeren hinter sich und stellte sich schützend vor ihm auf, die Hände zu Fäusten geballt und kampfbereit vor seine Brust gehoben. Zu allem bereit spannten sich Nerven und Muskeln beim Räuberboss an und er bleckte leicht die ausgeprägten Eckzähne, die ihm immerhin seinen Namen "Genrou" eingebracht hatten. Hinter einem Baum nahe dem Schrein trat nach kurzer Zeit ein Mann hervor, kaum größer als Tasuki selbst. Trotz des Schattens, welchen das Geäst auf den Fremden warf, war seine dunkelgebräunte Haut ebenso gut zu erkennen, wie das dunkelgold gewobene Stirnband, welches er trug. Unter den dichten Augenbrauen blitzten dunkelgrüne Augen hervor und suchten nach den Eindringlingen, welche er bemerkt hatte. Plötzlich lockerte sich die Kampfhaltung von Tasuki und Chiriko bemerkte das ungläubige Erstaunen des Älteren, als er den Fremden zu erkennen schien. Auch auf der anderen Seite tat sich etwas, als der Fremde noch etwas näher trat und schließlich die schützenden Schatten verließ. Seine Hand, die eben noch fest um das angebundene Schwert an seiner linken Hüfte geschlossen war, löste sich von der Waffe und hob sich in Richtung der beiden Jungs. "Ge… Genrou?!" "Kouji!!" Und schon stürzten die beiden Männer aufeinander zu, hakten die Arme ineinander und drehten sich gemeinsam, fast schon tanzend, im Kreis, während sie laut lachten. "Kouji! Mann, erschreck' uns doch nich' so! Ich hätt' dir glatt den Arsch versohlt!" "Das hätt' ich gern geseh'n. Es is' so lang' her, Genrou! Endlich bist'e wieder da!" "Was'n das für'n Radau?" Die beiden tänzelnden Männer hielten in ihrem Freudentanz inne und blickten zusammen in die Richtung, aus der eine weitere – etwas jüngere – Stimme kam. Nur kurze Zeit später trat ein weiterer Mann hervor, etwas jünger als Tasuki und Kouji. "Dianou!", rief Tasuki überrascht aus, als er den Jungen ebenfalls erkannte. Wieder machte sich reine Wiedersehensfreude auf seinem Gesicht breit. Wie wild zog er am Arm seines besten Freundes neben sich, als wäre er selbst ein kleiner Junge an Mamas Hand, der eine tolle Entdeckung gemacht hatte und sie ihr unbedingt voller Stolz zeigen wollte. Während der dunkelblonde Junge etwas ungeschickt über das Geäst stieg, sah er irritiert zu den anderen Männern herüber. Er brauchte eine Weile, um die Situation einzuordnen. Dann aber tat er einen lauten Überraschungsschrei und stolperte auf den Banditenchef zu und warf sich ihm regelrecht in die Arme. "Genrou! Genrou, du bis' wieder da!" In einem Gemisch aus Schluchzen und Lachen umarmte er seinen so lange verschollenen Boss und knuddelte ihn regelrecht, woraufhin die anderen beiden Männer lachen mussten. "Dianou, du brauchst echt 'n Mädel, Kleiner.", scherzte Kouji neckend. "Ey!" Böse funkelte der jüngere Räuber den Dunkleren an, ohne dabei von seinem Boss abzulassen. Tasuki lachte noch immer und strich dem Jungen über das zottelige Haar. "Is' ja gut. Ich bin wieder da!" Endlich wich auch die Angst aus Chiriko's Gesicht, während er die Männergruppe vor sich beobachtete. Er hatte begriffen, dass die beiden Fremden wohl Jungs aus Tasuki's Räuberbande waren. Also ging von ihnen höchstwahrscheinlich keine Gefahr aus. So sehr, wie sie sich über die Rückkehr ihres Bosses freuten. Sie wirkten auf Chiriko fast brüderlich zueinander – und ein kleiner Neidstich zog sich durch seine Brust. "He, wer is'n das da?" Mit einem Mal hatte sich die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden auf den kleinen Jungen gerichtet, der etwas abseits von den Älteren stand und unsicher vor sich hinblickte. Als er nun die drei Augenpaare auf sich liegen spürte, wandte sich sein Blick unsicher an seinen Freund. Der Blonde, Dianou, trat schließlich von seinem Boss weg und kam zielstrebig auf den Jungen zu, woraufhin Chiriko reflexartig etwas zurückwich und die Arme auf Kinnhöhe hob, was ohne die langen Kimonoärmel etwas seltsam aussah. "Der Kleine is' mein Otouto." Gerade war der junge Bandit an den Kleineren herangetreten, als bei der kräftigen Stimme sich alle nach dem Rothaarigen umwandten. Solcher hatte dominant die Arme vor der Brust verschränkt und hatte seinen Blick auf den Kleinen fixiert. "Was…?!", klangen die anderen beiden Männer beinahe zeitgleich. "Ich pass' vorübergehend auf ihn auf. Also haltet eure Griffel still, wenn ihr vorhabt, ihn falsch anzurühr'n! Dann werd' ich ernsthaft sauer!" "Genrou…" Kouji trat etwas dichter an seinen besten Kumpel heran und stieß ihm leicht in den Rücken, woraufhin der Banditenchef seinen Kopf etwas zurückhob. "Das da is' doch nich' im Ernst dein kleiner Bruder?" "Jetzt nich', Kouji. Ich erklär's dir später." Die beiden Männer hatten sich nur im Flüstern ausgetauscht, bis Tasuki schließlich vortrat und Chiriko eine Hand beruhigend auf die Schulter legte. Der Kleine sah aus unsicheren, großen Augen zu ihm auf. "Es wird dunkel un' wir hatt'n 'ne lange Reise. Lasst uns zu den andren zurückkehren un' erstma' feiern, dass euer Boss wieder da is'." Nur kurze Zeit später hatten sie alle zusammen den Rest des Weges zurückgelegt und Chiriko erkannte schon bald die Lichter, die durch die Fenster einer größeren Hütte nach draußen drangen. Er war mittlerweile so müde und erschöpft, dass Tasuki ihn kurzerhand auf seinen Rücken gehoben hatte und ihn das letzte Stück trug, während Dianou den schwarzen Hengst hinter der Meute herführte. Unterwegs berichtete Kouji, was sich in Tasuki's Abwesenheit alles Wichtiges ereignet hatte. Dass zwei Leute aus der Bande ausgetreten waren, einer sich abgesetzt und eine Familie gegründet hatte und dass dafür drei Neulinge vor noch gar nicht so langer Zeit der Räuberbande beigetreten waren. Nachdem Tasuki seiner Pflicht als Seishi gefolgt war – was natürlich nur wenige aus der Bande wussten – und seinen Posten in der Zeit Kouji übertragen hatte, hatte es nur wenig später einen Überfall der Kaou-Bande gegeben. Keiron war schon lange nicht mehr der Boss der Kaou-Räuberbande, dafür hatte der neue Anführer ebenfalls versucht, den Harisen an sich zu bringen und somit auch die Regentschaft über den Berg Reikaku zu erlangen. Zum Glück aber befand sich der magische Fächer all die Zeit über in Tasuki's Obhut, sodass die Räuberrivalen nichts vorfanden und Kouji seine Leute ohne Rücksicht zur Verteidigung einsetzen konnte. Die Auseinandersetzung war glimpflich ausgegangen, keine Opfer, kaum Verluste. Ansonsten hatte sich wenig Neues ergeben. Beim Sitz der Bande schließlich angekommen brachte Dianou den Hengst zu den Ställen und machte sich daran, ihn abzusatteln und zu versorgen. Der blonde Junge war einer der Wenigen, der Hand an das Tier legen konnte auch wenn Tasuki nicht in der Nähe war, ohne dass es wild wurde. Währenddessen drängelten sich Tasuki und Kouji an den ersten Kameraden abwinkend vorbei, um den Kleinen auf ein Zimmer zu bringen, damit er sich ausruhen konnte. Fragen, die den lang zurückersehnten Anführer überfielen, wurden auf "später" vertröstet. All das Gewusel und Gerede bekam Chiriko kaum mit. Er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Den Trubel, den Tasuki's Rückkehr auslöste, bekam er nur schleierhaft mit und er kuschelte sich müde an die Schultern des vertrauten Freundes. "So, jetzt kannst'e erstma' pennen. Es war 'ne anstrengende Reise für dich, hm?" Vorsichtig hob Tasuki den schläfrigen Jungen von seinem Rücken und legte ihn auf einen Futon ab. Mit geschickten Handgriffen entkleidete er Weste und Schuhe des Jungen und deckte ihn anschließend behutsam zu, ehe er ihm nochmal prüfend über die Stirn strich. "Tasuki-san…", die zierliche Stimme des Jüngeren klang schläfrig. "Shhshh, schlaf erstma'. Hier wird dich keiner stör'n. Ich muss nochma' 'ne Weile zu den Jungs un' komm' dann später wieder. Ruh' dich aus, kleiner Mann." "Mhm…" Und mit einem zufriedenen Lächeln rollte sich der Junge auf die Seite, mummelte sich in die Bettdecke und schien auch schon eingeschlafen zu sein. Der Räuber schmunzelte amüsiert, ging dann nochmal zum Fenster um es ein wenig zu öffnen, ehe er leisen Schrittes sein altvertrautes Zimmer verließ. Es war an der Zeit, sich der hungrigen Banditenmeute zuzuwenden, die ihn nur so mit Fragen und Berichten überschütten würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)