Die große Leere von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Die Tage danach -------------------------- Seufzend ließ Justin seine Duffle-Bag auf den Kantstein fallen. Ein Strom gelber Taxis zog hupend und drängelnd direkt neben ihm die breite Hauptstraße entlang, Menschenmassen schoben sich um ihn herum in die unterschiedlichsten Richtungen. Er ließ den Blick wandern: Große und Kleine, Reiche und Arme, Junge und Alte, Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und Herkunft, eilig, zögerlich, hoffnungsvoll und verloren. Und er war mitten unter ihnen, stand im Schatten der Häuserflucht mitten in New York und sein Herz raste. Er war wirklich hier, er hatte es getan: Den Schritt nach draußen, den Schritt ins Ungewisse. Was würde geschehen, was würde aus ihm werden? Es gab Dinge, die konnte man nicht beeinflussen – aber dennoch musste man es doch versuchen, sein Leben zu steuern und nicht bloß ein Spielball zu bleiben. Selbst wenn man auf die Nase fiel dabei – so war das doch besser, als es niemals versucht zu haben, ewig über das was-wäre-wenn nachdenken zu müssen. Er würde kämpfen, er würde wieder aufstehen, solange auch nur ein Funken Energie in ihm steckte, das schwor er sich. Und wer weiß? Vielleicht war das Schicksal oder zumindest diese Stadt ihm ja auch hold. Die Energie der um ihn herum tobenden Metropole durchfloss ihn und stimmte ihn euphorisch. Er atmete die schwere Luft tief ein, reckte den Kopf nach oben, straffte den Kiefer und bahnte seinen Weg vorwärts durch die Masse. ………………………………………………………………………………………………………… Das Popperz war nicht umsonst nie eine wahre Konkurrenz für das Babylon gewesen. Aber das Babylon war eine Ruine, ausgebrannt und mit dem Mal der Angst und des Todes versehen. Auch hier wurde die Dunkelheit durch zuckende bunte Lichter durchbrochen, die auf nackten Muskelsträngen spiegelten, auch hier flossen Alkohol und Drogen durch die Blutbahnen der Feiernden, auch hier wurde sich nur mit Blicken und wenigen Worten über Sex verständigt – aber es war nicht das Babylon. Emmet schwang die Hüften und ließ die langen Arme mit einer für einen so großen Mann erstaunlichen Anmut kreisen. Ein ausgesprochenen leckerer Latino hatte bereits angebissen und umtanzte ihn mit ein paar nicht zu verkennenden Macho-Gesten. Nicht übel, Emmet wusste Dominanz durchaus zu schätzen, sofern sie im Bette blieb. Im Alltagsleben ließ Emmet sich von nichts und niemandem sagen, wo es lang gehen sollte. Er vermisste die anderen und dachte mit Wehmut an die Zeiten zurück, in denen sie gemeinsam um die Blöcke gezogen waren: Er, Ted, Michael und Brian. Aber die Uhren ließen sich nicht zurückdrehen. Michael hatte Mann und Kinder und musste sich noch immer von den psychischen und psychischen Verletzungen erholen, die diese bigotten Irren ihm zugefügt hatten. Ted und seine Geschichte war nicht einfach gewesen, aber sie hatten es geschafft, wieder Freunde zu werden. Aber mehr auch nicht. Ted ging in seiner Beschäftigung bei Kinnetic vollends auf, er war wieder jemand, der sich selbst mit Achtung begegnen konnte. Und immer noch hoffte er auf den Einen, Richtigen. Vielleicht war es ja wirklich dieser Blake, der ihn einst fast umgebracht hatte. Irgendetwas jenseits all dieses Schmerzes, den die beiden einander zugefügt hatten, schien sie über all die Jahre noch immer zu verbinden. Und Brian… Schwer zu sagen. Sie waren nie wirklich Freunde gewesen, eher Weggefährten. Brian war… kompliziert. Trotz all der Päckchen, die sie alle ob ihrer Sexualität und – das sollte man wohl auch nicht vergessen – ihrer verqueren Persönlichkeit zu tragen hatten, war Brian wohl letztlich derjenige von ihnen, den es am härtesten getroffen hatte, trotz seines Charismas, seiner Körperlichkeit und seines beruflichen Erfolges. Brian war in seinem tiefsten Inneren immer gebrochen gewesen, das hatte Emmet von Anfang an immer gespürt, ohne es richtig fassen zu können. Eine glanzvolle Fassade, hinter der sich eine grässliche Finsternis verbarg. Aus diesem Grunde hatte er Brian nie für attraktiv halten können, hatte sich nie von ihm angezogen gefühlt. Oh, Brian hatte seine Qualitäten, auch wenn er sie zu verbergen suchte, auch vor sich selbst. Auch wenn er anderen Gutes tat, so konnte er nicht dazu stehen. Als müsste er daran glauben, das letztlich nicht zu sein, den Dank nicht zu verdienen. Nein, eine solche Person zog Emmet nicht wirklich an. Da lieber die hohle und plumpe Annäherung seines Tanzpartners, die nichts weiter war, als das, was er sah und spürte, nicht als Oberfläche, keine lauernde Dunkelheit. Und selbst wenn, über ihn würde er es nie erfahren. ………………………………………………………………………………………………………… Michael stand dick vermummelt in Winterjacke, Schal und Ohrenschützern in dem kleinen Vorgarten, der zu ihrem Haus gehörte. Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht, was angenehm war, seine Haut schmerzte immer noch im Nachhall der Verbrennungen, die er erlitten hatte. Er ruckelte mit steifen Fingern am Postkasten, den der letzte Sturm halb umgeblasen hatte, und wünschte sich, handwerklich ein wenig geschickter zu sein. Ben hielt eine Vorlesung an der Uni, Hunter war in der Schule. Sie hatten gemeinsam beschlossen, dass Hunter auch weiterhin seine alte High School besuchen sollte, auch wenn seine HIV-Erkrankung dort publik geworden war. Es war schwer für den Jungen, aber dasselbe noch einmal an einer anderen Schule durchmachen zu müssen, wäre auch keine Alternative gewesen. Auch wenn es ihnen gelungen wäre, seine Krankheit zu verheimlichen, so hätten sie doch immer in der Angst leben müssen, dass es eine Tage doch wieder heraus kommen würde und alles von vorne beginnen würde. Hunter blieb ein Außenseiter, doch gab es wider Erwarten doch einige Mitschüler, die ihn akzeptierten, neugierig auf ihn waren, ohne abfällig auf ihn herab zu sehen. Dennoch war jeder Tag ein Kampf gegen Ausgrenzung und Drangsale. Michael war stolz auf Hunter, dass er sich dem nun stellte, auch wenn es schmerzhaft war. Ben ging es nach wie vor gesundheitlich gut, doch wusste Michael, dass er jeden Tag schätzen musste, den sie in Gesundheit und Frieden miteinander verbringen konnten. Das Leben mit zwei HIV-Positiven lehrte ihn, die Zeit, jeden Moment zu schätzen. Das Leben war nicht ewig, es passierte jetzt. Lächelnd blickte er über die Straße, wo ihr Nachbar Monty mit seinen Kindern den Schnee zur Seite schippte. Die Kinder jauchzten, wenn ihr Vater die Schaufel zur Seite wuchtete und eine weiße Kaskade sich ergoss. Ein schmerzhafter Stich ließ ihn an seine Tochter Jenny denken. Sein eigen Fleisch und Blut – und er war kein Teil ihres Lebens mehr. Nicht wirklich. Er war der Geburtstags- und Weihnachts-Papa, der Bonus, aber nicht die Basis. Das waren seine Mütter. Natürlich war auch Hunter sein Kind – aber er hatte ihn nie aufwachsen gesehen, ihn nie unschuldig und voller kindlicher Offenheit erlebt. Hunter hatte man Unsägliches angetan, und er, Michael, konnte das lindern. Das hoffte er zumindest. Es gab seinem Leben Sinn. Aber sein Baby in den Armen zu halten, zu sehen, wie sie laufen und sprechen lernte – was hätte er dafür gegeben. Sobald es ihm wieder besser ging, würde er sein kleines Käferchen besuchen fliegen. Der Comic-Laden warf genug ab, dass er sich einen solchen Besuch regelmäßig leisten konnte, auch wenn er momentan einen Angestellten bezahlen musste, der die Stellung hielt, bis er wieder voll genesen war. Den Internet-Handel konnte er Gott sei Dank auch von zu Hause aus betreiben. Vielleicht sollte er das auch weiterhin so halten und nur täglich kurz im Laden vorbei schauen? Den größten Umsatz machte er auf jeden Fall am PC, wo sich die Sammler weltweit tummelten, was man von Pittsburgh nicht gerade behaupten konnte. Vielleicht konnte er Mel und Linds ja sogar davon überzeugen, dass Jenny auch für ein oder zwei Wochen bei ihm bleiben könne? Er vermisste sie so sehr. ………………………………………………………………………………………………………… „Schatz, hat Gus sein Frühstücksbrot?“ „Arg, ich dachte, du…?“ „Nein. Nicht ich. Du warst dran mit Brot schmieren, meine Liebe, falls Ihre Hoheit das nicht als unter ihrer Würde erachtet…“ Melanie zog die Augenbrauen hoch, aber ihr Lächeln nahm der Bemerkung die Schärfe. Lindsey atmete tief durch und lächelte zurück. Sie spürte die Aufregung in ihren Wangen pulsieren. Heute war ihr erster Arbeitstag. Es war ihr tatsächlich gelungen, binnen einer Woche nach ihrer Ankunft in Toronto ein Vorstellungsgespräch an Land zu ziehen, und nun war sie Lehrerin für Kunst an einer weiterführenden Schule. Sie freute sich darauf, mit den Heranwachsenden zu arbeiten, ihren Horizont zu öffnen, den Blick auf die Vielfalt des Lebens zu schärfen, ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, sich kreativ zu äußern. Unwillkürlich müsste sie an Justin denken. Der Junge war schon ein ganz anderes Kaliber gewesen als ihre einstigen und vermutlich auch zukünftigen Schüler. So einem Talent begegnet man wahrscheinlich nur einmal im Leben. Er hatte sich rasend entwickelt von seinen ersten, vom emotional ergriffenen Wesen eines Teenagers geprägten naturalistischen Zeichnungen. Sie fragte sich, was wohl aus jener etwas pornografischen Zeichnung des nackt schlummernden Brian geworden war, die er bei seiner ersten Ausstellung im GLC ausgestellt hatte. Sie war ja verkauft worden. Hing wahrscheinlich im Schlafzimmer irgendeines Brian-Fans und wurde bei Vollmond angeheult. Dann kamen schon rasch politisch provokante Plakate, Entwürfe für Werbungen unter Brians scharfem Auge. Dann die großflächigen abstrakten Leinwände, eine Dichte an Formen und Farben, die selbst Sam in den Schatten stellten. Und der Junge – Mann, verbesserte sie sich – war gerade mal Anfang Zwanzig. Er hatte viel erlebt, viel einstecken müssen, das hatte ihn wohl auch früh reifen lassen. Aber sie musste zugeben, dass sie, obgleich die Ältere, die Erfahrenere, niemals an ihn heran reichen würde. Justin war ihr haushoch überlegen. Jetzt schon. Ja, sie hatte richtig gehandelt, ihm ein Sprungbrett geschaffen – und er war gesprungen. Er war so jung, er hatte ein Recht darauf, das Leben voll auszukosten, Erfahrungen sammeln, sich zu entwickeln – auch wenn es weh tun mochte. Seine Kunst würde mit ihm wachsen. Justin war begnadet, hatte etwas Einzigartiges, das durfte nicht verschwendet werden. Verzeih mir… mein Peter Pan. Sie verfrachtete Gus‘ Frühstücksbrote in eine hellblaue Plastikbox und stopfte diese in Gus Kindergartentasche. Melanie saß am Computer, rührte gedankenverloren in ihrem Kaffe und schaute ihre Emails durch. „Was Neues?“ „Mmm, Moment… Die Anwaltsvereinigung lädt mich vor, damit ich meinen Jura-Abschluss in Kanada gelten machen kann und endlich! hier auch arbeiten kann…“ „Das ist wundervoll“, lächelte Lindsay. „Oh, und hier ist eine Mail von Michael. Er fragt, ob er Jenny demnächst ein oder zwei Wochen haben könnte… mmm, nicht dass er auf krumme Gedanken kommt, Jenny einbehält und gegen uns verwende, dass wir jetzt in Kanada sind…“ „Ach Quatsch, Schatz, er hat seine Ansprüche nach amerikanischen Recht aufgegeben – und andernfalls tritt ihm Brian in den A… äh Allerwertesten.“ Sie schielte zu Gus hinüber, der aber versunken vor der morgendlichen Spongebob-Folge saß und von ihrem beinahe-Ausflug in die Fäkal-Sprache nichts mitbekommen hatte. „Und was ist mit Gus? Er könnte ja auch mal zu seinem Papa?“ Melanie schnaufte durch die Nase. Zwar hatten Brian und sie inzwischen durchaus Berührungspunkte gefunden, aber ein Herz und eine Seele waren sie beileibe noch nicht. Und würden es wahrscheinlich auch nie werden, dazu waren sie sich in ihrem forschen Vorgehen wahrscheinlich zu ähnlich. Gemeinsam waren sie für jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, unausstehlich, gegeneinander gerichtet eine Katastrophe. Lindsay musste schmunzeln. Ihre beiden Alphamännchen alias –weibchen… „Gus bei Brian? Ich hab da so Horror-Vision, wie der alte Sack unseren Sohnemann auf dem Arm hält, während er sich in einer dunklen Seitengasse die Eier von irgendeinem Gehirn amputierten muskelbepackten Zementmischer abschlecken lässt.“ Unwillkürlich musste Lindsay lachen. „Ach, Melanie, das ist doch Blödsinn, das würde Brian niemals tun. Ich gebe zu, er hatte gewissen Anlaufschwierigkeiten, was seine Vaterpflichten angeht, aber darüber ist er inzwischen doch weit hinaus. Und er liebt Gus. Nicht zu vergessen, Gus liebt ihn. Wir dürfen ihm seinen Vater nicht vorenthalten, auch wenn er in Belangen emotionaler Reife manchmal ein arger Griff ins Kl… äh daneben gewesen ist. Gus braucht ihn. Und Brian hat es verdient, sein Vater sein zu dürfen.“ „Na gut, ich seh’s ja ein. Auch Michael hat ja – gelinde gesagt – den ein oder anderen Haken. Trotzdem ist er Jenny Vater. Und ich bin auch nicht ein derartiges Gefühlstrampel, dass ich das ignoriere. Vielleicht könnten wir ja…?“ Melanie stand auf und schlang ihre Arme um Lindsay. Ihre Brüste pressten aufeinander und beiden wurde heiß. „Was..?“ fragte Lindsay mit heiserer Stimme, die Nase in Melanies dichtem Haar versenkend. „Die Kinder fein zu ihren Papas abschieben und auf den Bahamas oder sonst wo richtig die S… die Puppen tanzen lassen?“ „Ich fahr zu Papa?“ wurde Gus plötzlich wieder munter. „Ja, Süßer“, lachte Melanie, während Lindsay sie glücklich summend an sich drückte. „Du und Jenny macht bald Urlaub bei Papa Brian und Papa Michael. Im Sommer, in ein paar Monaten nur.“ „Au ja, Papa!“ freute sich Gus und ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das die frappierende Ähnlichkeit zu seinem biologischen Vater zutage treten ließ. Brian, ohne den ganzen Mist, den er erlebt hat, müsste auch so aussehen, dachte Lindsay traurig. Manchmal, wenn er völlig gelöst war, hatte Brian denselben jungenhaft strahlenden Gesichtsausdruck. Aber das geschah so selten, dass Lindsay es sich an den Fingern abzählen konnte. Wenn nicht Drogen die Ursache gewesen waren, die eine Fälschung dieses Glück auf sein Gesicht gerufen hatten, dann waren es nur Gus und Justin gewesen, denen er es geschenkt hatte, allerding nur, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hatte. Und Justin war fort, ebenso wie Gus. Kurz musste sie schlucken. Was hatte sie Brian angetan…? Aber es ging nicht immer nicht nur um Brian. Es ging vor allem um Gus und um Justin, ihre Zukunft, ihr Glück. Aber ging das nur auf Kosten von Brians Glück? Er war schließlich ihr Freund, und sie wusste, dass es kaum einen so selbstlosen Menschen gab wie Brian, wenn es um die Menschen ging, die er liebte. Aber was war der Preis? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)