Reminisce about the Ferris Wheel von SaRiku ([Crow x Seto]) ================================================================================ Kapitel 1: 1. Farewell and Recurrence ------------------------------------- Immer weiter entfernte sich Seto von dem Ort neu gewonnener Erinnerungen. Seine Taschenlampe leuchtete ihm den Weg zurück in die Einsamkeit. Das Licht streifte über das morsche Holz kaputter Bänke, über mit Moos bewachsene, schief stehende Strommäste, über rostende Autos mit eingeschlagenen Fensterscheiben und platten Reifen, über zwei vor langer Zeit an einer Bushaltestelle vergessene Fahrräder, über den aufgerissenen Asphaltboden und es reflektierte sich sogar manchmal in den auf dem Boden verstreuten Glasscherben, oder in vereinzelten Pfützen. Und wenn Seto nach links und rechts blickte, reihten sich dort nur noch die Reste ehemaliger Familienhäuser aneinander. Der allgegenwärtige Verfall hatte auch vor ihnen nicht Halt gemacht und der mittlerweile graue und abblätternde Putz schien bizarre Muster und Bilder an die Wände malen zu wollen. Oft fehlten den Gebäuden die Fenster und Türen, und er fühlte sich ein wenig so, als würden die gähnenden Löcher ihn wie schwarze Augen anschauen und ihn auf Schritt und Tritt mit ihren gierigen Blicken verfolgen. Wenn er sich allerdings umdrehte, konnte er noch immer die kaputte Achterbahn vor dem blau-violetten Nachthimmel sehen, das Riesenrad vor dem großen Halbmond und die Umrisse der anderen Gebäude des alten Freizeitparks, die sich um die beiden riesigen Attraktionen vergangener Zeiten reihten. Weit war er also noch nicht gekommen. Die Achterbahn erinnerte Seto an das Gerippe einer toten Schlange. Sie nur von weitem zu sehen, machte ihm schon Angst. Noch vor ein paar Stunden war er dort oben herumgeklettert und hatte um sein Leben fürchten müssen, als er vorsichtig einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte und der Boden unter ihm jeden Moment hätte wegbrechen können. Er war auf der Suche nach Crow gewesen, der seinen kostbarsten Besitz, ein Medaillon gefüllt mit kleinen Erinnerungsstücken, entwendet hatte. Seto hatte schreckliche Angst gehabt. Doch er hätte auch niemals ohne sein Medaillon weiterreisen können. Würde er den Brief des alten Mannes verlieren, der sich darin befand, dann würde es nicht lange dauern, und ihm würden all seine Erinnerungen an ihn wie Sand durch die Finger gleiten und sich vom Wind davon tragen lassen. Das durfte er nicht zulassen. Was hatte er denn schon in dieser zerstörten Welt, außer seinen Erinnerungen? Außerdem hatte es den alten Herrn viel Überwindung gekostet, für ihn diese Worte auf Papier zu bringen – Seto war es ihm irgendwie schuldig, diesen Brief nicht zu verlieren. Mit jedem Schritt, den Seto tat, entfernte er sich weiter von dem Park. Und ständig ergriff ihn das Gefühl, dass es falsch war, zu gehen. Er hatte zum ersten Mal seit Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten, einen weiteren Überlebenden in der sonst menschenleeren Welt getroffen; Crow. Seitdem sich ihre Wege auf dem Rummelplatz vor dem Riesenrad getrennt hatten, war ihm dieser schwarzhaarige, große Junge nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Seine Gedanken zogen einige weite Kreise, doch früher oder später kehrten sie immer wieder zu diesem Thema zurück. Sicher, der Krähenjunge hatte ihm viel Ärger bereitet und sich ständig über ihn lustig gemacht und war zu Anfang alles andere als freundlich gewesen, aber zuletzt hatte er sich für alles entschuldigt und nun waren sie... beste Freunde. Das hatte Crow jedenfalls gesagt. Seto seufzte. Er verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich an der heruntergekommenen Bushaltestelle stehen. Das Licht seiner Lampe zeigte ihm, dass er dort auf einem der verdreckten Plastikstühle Platz nehmen konnte. Die Stühle wirkten noch nicht so kaputt, als dass sie unter seinem Gewicht zusammenbrechen würden, also setzte er sich. Er legte die Taschenlampe auf seinen Schoß und nahm sein Medaillon in die Hände. Mit einem leisen klick-Geräusch öffnete er die Schatulle und achtete darauf, dass die Schraube von PC nicht auf den Boden fiel. Er brauchte nicht lange, um zu finden, wonach er suchte: Crow´s Ring. Dieser Ring bewies doch, dass er ihm wirklich begegnet war und dass er sich nicht wieder bloß eingebildet hatte, jemanden zu treffen, der eigentlich gar nicht existierte. Denn das war ihm schon viel zu oft passiert, und zuletzt musste er sich immer wieder schmerzlich eingestehen, dass er doch alleine war. Er drehte den Ring zwischen seinen Fingern und nach einer Weile versuchte er, ihn über zu streifen. An welcher Hand hatte Crow ihn eigentlich getragen? Und an welchem Finger? Seto wusste es schon nicht mehr. Er bemerkte nur, dass ihm der Ring nicht mal am Daumen passte. Hatte Crow wirklich so große Hände gehabt? Oder lag das vielleicht daran, dass er den Ring noch über seinen Handschuhen getragen hatte? Und warum hatte er ihm ausgerechnet diesen Ring gegeben? War er etwas sehr besonderes für Crow gewesen? Oder wollte er ihm nur etwas geben, das in sein Medaillon passte? Seto lehnte seinen Kopf an die Glasscheibe hinter ihm. „Wie gerne würde ich zurückgehen und ihn all das fragen... .“ Er seufzte abermals und schaute in den sternenbesetzten Nachthimmel. Seine Augen wanderten zum Riesenrad hinüber und er fühlte ein Stechen in seiner Brust. Er hätte bei ihm bleiben sollen! Er hatte die Gesellschaft einer reellen Person gegen die blasse Vision eines fremden Mädchens eingetauscht. Letztlich konnte er nicht einmal wissen, ob er sie tatsächlich jemals finden würde. Und er konnte auch nicht genau sagen, ob sie nicht vielleicht doch nur eine Halluzination gewesen war und er nun einem Hirngespinst hinterherjagte. Aber er hatte sie singen gehört, und als er ihre Wange berührt hatte, war sie warm gewesen... Er wollte einfach fest daran glauben, dass er sie wiedersehen konnte, und dann... dann könnten sie doch sicher auch Freunde werden, so wie er und Crow? Seto spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen kroch. Wie er und Crow? Ja, die beiden waren jetzt beste Freunde, aber das hatten sie nicht bloß mit Worten, sondern auch mit einem Kuss besiegelt. Setos Herz klopfte etwas schneller als sonst, als er an diesen sonderbaren Moment zurückdachte. Crow hatte ihm einfach so, ohne Vorwarnung, ohne zu fragen und ohne Rücksicht auf Setos Gefühle zu nehmen, einen Kuss gegeben. Seto war mächtig überrascht gewesen! Und auch jetzt noch war er viel zu durcheinander, um dieses Ereignis in irgendeiner Form klar einordnen zu können. Er konnte nicht einmal sagen, ob ihm das Ganze nun gefallen hatte oder nicht. Er war auch nicht wirklich wütend auf Crow, das einzige, was ihn ärgerte, war, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, sobald er daran dachte. Dann wurde ihm nämlich ganz heiß und sein Herz schlug viel schneller als sonst, das... das war ihm natürlich aufgefallen. Aber sonst? Er hatte doch gar keine Erfahrung mit solchen, ...solchen zwischenmenschlichen Dingen! Der alte Mann, mit dem er zusammengelebt hatte, hatte ihm ein paar Mal liebevoll durch die Haare gewuschelt, und wann immer Seto geweint hatte, hatte er ihn in den Arm genommen und ihm über den Rücken gestreichelt. Mit anderen Dingen kannte sich Seto einfach nicht aus. Damals hatte er einmal in einem Buch der alten Bibliothek der Sternwarte über eine Frau gelesen, die durch den liebevollen Kuss eines Prinzen aus einem langen, langen Schlaf erwacht war. Aber die Geschichte wäre bloß eine erfundene Geschichte gewesen, ein Märchen, hatte ihm der alte Mann erklärt. „Zu einem Kuss kommt es nur dann, wenn zwei sich lieben, also starke Gefühle füreinander empfinden. Mit Zauberei hat das nichts zu tun. Eines Tages wirst du vielleicht mal ein süßes Mädchen treffen und dann wirst du wissen, was ich meine“, sagte er und klang dabei ein wenig verbittert. Er war nicht sonderlich gesprächig gewesen und hatte Aufzeichnungen über den Sternenhimmel in sein vergilbtes Büchlein eingetragen, und so blieb es dabei, dass Seto nie mehr über dieses Thema erfuhr. Außerdem hatte er an der Tonlage des Mannes erkannt, dass er nach etwas gefragt hatte, worüber der alte Mann nur sehr ungern sprach. Für Seto hatte ein Kuss also etwas mit Liebe zu tun, für Crow war es ein Freundschaftsbeweis. Ob er ihm das hätte sagen sollen? Wusste Crow überhaupt etwas über Liebe? Seto schüttelte den Kopf und senkte den Blick, drehte den Ring weiter in seinen Händen hin und her. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er ja selbst nicht, was es mit diesem großen Gefühl, mit „Liebe“, auf sich hatte. Und außerdem schien Crow einen Großteil seines Wissens doch nur aus dieser kurzen Piraten Geschichte zu haben. Seto musste schmunzeln. Crow hatte die Sätze des kleinen Piraten wohl auswendig gelernt und deshalb zu Anfang so mit ihm gesprochen. Irgendwie hatten sie dadurch eine kleine Gemeinsamkeit. Auch Seto war ungeübt darin, mit anderen Menschen zu reden, eine Konversation zu führen. Außerdem hatte auch er sein Wissen überwiegend aus Büchern. Aus Büchern, die von Dingen handelten, die in Setos Gegenwart verstaubt, zerstört und verschwunden waren. Diese fröhliche, bunte Welt, die sich Seto immer vorstellen konnte, wenn er in den Büchern von ihr las, manchmal auch nur zwischen den Zeilen, war zu dem geworden, was er nun um sich herum sehen konnte, Tag für Tag: Ein trauriger, einsamer Ort. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Einsamkeit war ein schreckliches Gefühl und machte einen so verwundbar. Konnte es nicht sogar sein, dass Crow viel länger allein gewesen war als er? Ob er die Einsamkeit wohl auch so verabscheute? Der Krähenjunge konnte sich ja nicht einmal an seine Kindheit erinnern, hatte er gesagt! Allein das sprach doch dafür, dass er ganz furchtbar einsam sein musste! Seto ärgerte sich sehr über sich selbst. Er war es gewesen, der gesagt hatte, dass er nun gehen würde. Er war Schuld, dass sich ihre Wege wieder getrennt hatten. Wieso hatte er das nur getan?! Bisher hatte er noch jeden aus den Augen verloren oder sterben sehen, den er in dieser verlassenen Welt getroffen hatte. Er sollte dafür sorgen, dass das nicht nochmal geschah! Seto biss sich auf die Unterlippe und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich bin wirklich ein Idiot, wie Crow gesagt hat.“ Mit diesen Worten stand er auf, nachdem er seine kleinen Kostbarkeiten wieder sicher in dem Medaillon verstaut hatte, und mit immer schneller werdenden Schritten ging er den Weg zurück, den er gekommen war. An dem lauten Klackern seiner Habseligkeiten und an dem wild vor ihm tanzenden Licht seiner Taschenlampe merkte er schließlich, dass er den restlichen Weg zurück zum Freizeitpark rannte. Kapitel 2: Reunion ------------------ „Crow!“ Seto stand keuchend und völlig verschwitzt am Fuß der Achterbahn. Er hatte einen Arm an seine Seite gepresst, um dem starken Seitenstechen Einhalt zu gebieten, das nun schon seit einer Weile beharrlich dort blieb, wo es war. Er war nämlich tatsächlich den Rest des Weges zurück gerannt, ohne eine einzige Pause einzulegen. „Crooow!“ Er lauschte angestrengt in die Stille der dunklen Nacht hinein, konnte aber keinen Laut hören, da war nur sein eigenes, unregelmäßiges Atmen. Mit seiner Taschenlampe beleuchtete er die in den luftigen Höhen positionierten Schienen. Er konnte dort oben keine Bewegung ausmachen. Hier war Crow wohl nicht. Seto erinnerte sich daran, dass er, als sie sich getrennt hatten, Richtung Riesenrad verschwunden war. Also würde es wohl mehr Sinn machen, ihn in diesem Teil des Parks zu suchen, gestand er sich ein. Seto überlegte kurz, ob er den unterirdischen Gang nehmen sollte, der direkt zum Riesenrad führte, also quasi eine Abkürzung darstellte, und in dem er auch das Buch „Pirate Isle“ gefunden hatte. Doch er dachte wirklich nur sehr kurz darüber nach, diesen Weg einzuschlagen. Die Erinnerung daran, wie vielen Geistern und wilden Hunden er dort ausgesetzt gewesen war, war noch zu frisch und er wollte all diesen grauenhaften Gestalten kein zweites Mal begegnen. Also machte er sich auf den Weg zu dem großen, mit hohem Gras bewachsenen Platz. Dort angekommen war er dem Riesenrad schon ein gutes Stückchen näher gekommen. Er rief noch ein paar Mal Crows Namen, doch ihm antwortete weiterhin nur die Stille. Nur das hohe Gras raschelte sanft, sobald eine Windböe es ergriff. Seto warf einen flüchtigen Blick auf die übergroßen Tassen zu seiner Rechten. Darin versteckte sich Crow jedenfalls nicht. Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnerte sich Seto daran, wie er Crow an dieser Stelle schließlich ausgetrickst und zu fassen bekommen hatte. Mit jeder Erinnerung, die in ihm aufkam, verfestigte sich sein Wunsch, ihm erneut zu begegnen. „Crow, bist du hier?!“, rief er noch ein letztes Mal, so laut er konnte, doch als er wieder keine Antwort bekam, ging er zielstrebig in Richtung Riesenrad weiter. Doch auch in diesem Teil des Freizeitparks war er nicht. Seto schluckte hart. Er hatte jetzt mindestens zehn Mal nach im gerufen und hatte das Riesenrad genau unter die Lupe genommen, ebenso wie alle anderen Bauwerke in dieser Ecke. Aber... Crow war einfach nirgends zu finden. Das konnte doch nicht sein! Hatte er den Freizeitpark etwa schon verlassen?! Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Seto zwang sich, ruhig ein und wieder aus zu atmen. Und wieder sah er sich um. Ließ seine Taschenlampe über das kaputte Karussell gleiten. Nichts. Rechts, in diesem Gruselkabinett, war auch keine Spur von seinem neuen besten Freund zu finden. Wieder atmete Seto gezwungen ruhig ein und wieder aus. Er stand gerade ungefähr dort, wo sich die beiden zum letzten Mal gesehen hatten, wo Crow ihm das Foto gezeigt hatte. So langsam tat es schon fast weh, an ihn zurückzudenken... „Crow!!“ Trotzdem, er war sicher noch eine Weile auf dem Gelände des Vergnügungsparks geblieben, redete sich Seto ein. Er rannte weiter, zu dem Platz, an dem er Crow zum ersten Mal gesehen und wo dieser ihm sein Medaillon entwendet hatte. Während er auch dort alle Gebäude und jede noch so kleine, unscheinbare Ecke genaustens unter die Lupe nahm, schweiften seine Gedanken ein wenig ab. Wenn er doch wusste, wie schrecklich und wie unheimlich das Alleinsein war, wieso hatte er dann sich von Crow getrennt...? Wieso nur?! Seto rieb sich fröstelnd über die Arme, und rief kurz danach noch ein weiteres Mal nach Crow. Wieder bekam er keine Antwort, nirgendwo regte sich etwas. Seto hoffte wirklich sehr, dass Crow noch in der Nähe war. Wenn nicht... Oh, er wollte gar nicht erst daran denken! Sein Herz begann zu rasen und er zitterte leicht. Unbarmherzig schweiften seine Gedanken wieder ab: Ob er ihn denn überhaupt noch finden würde? Wenn er nicht beim Riesenrad war, wo denn sonst? Das war doch sein Lieblingsplatz gewesen... oder? Seto bewegte sich auf dünnem Eis, das spürte er, denn seine Laune drohte jeden Moment zu kippen. In einem Moment war er unendlich traurig, fühlte sich einsam, im nächsten war er richtig wütend. Auf sich selbst, aber auch auf Crow. Dass dieser nichts dagegen eingewendet hatte, dass Seto gehen wollte, war ja wohl auch ein Fehler von ihm gewesen! Außerdem war Seto nur fortgegangen, weil ihn die ganze Situation so schrecklich überfordert hatte! Hatte er nicht sogar ein bisschen Angst gehabt, bei Crow zu bleiben? Dieser Kerl war so furchtbar launisch, zumindest kam es Seto so vor, sein unvorhersehbares Verhalten war wirklich anstrengend. Erst ärgerte er ihn die ganze Zeit, kümmerte sich einen Dreck darum, wie gefährlich es für Seto war, ihm zu folgen, danach, als Seto ihn endlich gestellt hatte, wäre er auch noch beinahe umgekommen und ganz zum Schluss spielte er sich als sein bester Freund auf. Den sollte doch mal einer verstehen! Und dann der Kuss... Setos Wangen glühten. Er schüttelte energisch den Kopf und rannte nach links. Es gab nur noch einen Teilbereich in diesem Park, wo er noch nicht nach ihm gesucht hatte. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass er Crow jetzt jeden Moment finden würde. Aber er konnte nicht verhindern, dass sich ein äußerst ungutes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. ~*~ „Crooow! Wo bist du?!“, rief er noch ein letztes Mal mit bebender Stimme. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Schnell wischte er sie mit seinem Ärmel weg. Wieso war er überhaupt zurückgekommen? Hatte er wirklich damit gerechnet, Crow würde hier irgendwo auf ihn warten? Natürlich nicht! Warum auch? Seto hatte doch selbst gesagt, dass sie beide von nun an getrennte Wege gehen würden, und es gab nur dieses vage Versprechen, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden. Hatte ihm das etwa als Grund ausgereicht, hierher zurück zu kommen und sich letzten Endes nur selbst zum Idioten zu machen? Wäre Crow irgendwo in der Nähe gewesen, hätte er ihm doch längst geantwortet und wäre jetzt hier... Es war zwecklos, darauf zu hoffen, dass er den anderen Jungen bald wiedersehen würde. Setos verschwommener Blick huschte hinüber zu der kleinen Rundbrücke, auf der Crow vor ein paar Stunden noch völlig selbstsicher gestanden und frech gesagt hatte, dass er sein Medaillon aufgeben sollte, weil er ihn sowieso nie fangen würde. Jetzt kullerten endgültig ein paar Tränen Setos Wangen hinunter. Dies hier war der letzte Ort gewesen, an dem Crow hätte sein können. Doch von ihm fehlte jede Spur. Nur sein Graffiti prangte noch an der Wand und beleidigte ihn mit den Worten: „Seto ist ein doofer Name. Probier´s nochmal, Loser!“ Er senkte den Blick wieder und leicht ziellos ging er ein paar Schritte weiter. Rechts war dieses verfallene Häuschen, in dem er den Schlüssel für das Tor zur Achterbahn gefunden hatte. Ihm war schon vorher aufgefallen, dass dieses Gebäude früher einmal dem Zweck gedient haben musste, dass verloren gegangene Kinder hier her kommen konnten, um auf ihre besorgten Eltern zu warten. Setos Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Niemand würde kommen, um ihn abzuholen. Er war wirklich verloren. Und allein. Völlig allein. Er ging zu dem Haus hinüber und ließ sich an der Wand entlang auf den Boden gleiten. Er zog die Knie an und bettete seinen Kopf darauf. Mittlerweile war es ihm egal, dass sich seine Tränen ungehemmt einen Weg seine Wangen hinunter bahnten und seine Kleidung durchnässten. Es würde eh niemand kommen und ihn so sehen, richtig? Und es war seine eigene Schuld! Er hatte ihn weggeschickt. Es war kein schönes Gefühl zu wissen, dass er nun auch noch Crow verloren hatte. „Crow, komm zurück...“, flüsterte er und schluchzte. Eine Weile lang saß er einfach nur so da, mit bebenden Schultern und heißen Tränen auf seinen Wangen; er ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Als er aber schließlich aufhörte zu Schluchzen, hatte er plötzlich das Gefühl, ein Geräusch hinter dem Haus zu hören. Sofort verstummte er, hielt den Atem an und spitzte die Ohren. Da hörte er das Rascheln erneut. Tatsächlich! In dem Gebüsch hinter dem Häuschen regte sich etwas! Setos Herz begann wie wild zu pochen. Also doch! Also doch! Crow war wieder da! Oder? Aber er bildete sich das Geräusch nicht bloß ein, da war es schon wieder! Es hörte sich so an, als würde sich jemand aus dem Dickicht zwängen. Hatte er sich etwa so lange versteckt gehalten, bis Seto angefangen hatte zu weinen? Um ihn zu ärgern vielleicht, so wie er es schon von Anfang an gerne getan hatte? Seto ärgerte sich ein wenig bei dieser Vorstellung, aber die in ihm aufsteigende Vorfreude auf ihr Wiedersehen ließ diesen kleinen, bitteren Beigeschmack fast augenblicklich wieder verfliegen. Und wieder das Rascheln, ganz deutlich hörbar. Seto richtete sich auf, versuchte eine möglichst selbstsichere Haltung einzunehmen, wischte sich noch schnell die letzten Tränen aus den Augen und trat aus dem Schatten des Hauses hervor, lugte um die Ecke. „Crow, wo warst du?! Ich-“ Mit diesen Worten schlug Seto die Augen auf, um seinem Gegenüber mit einem möglichst festen Blick in die Augen sehen zu können. Doch plötzlich... Plötzlich gefror ihm das Blut in den Adern und seine Augen weiteten sich erschrocken und ungläubig. Wen er dort sah, das war nicht sein bester Freund! „W-was..?!“, keuchte Seto auf und wich einen Schritt zurück. Panik machte sich in ihm breit. Vor ihm stand ein wirklich riesiger Hund, die Zähne angriffslustig gefletscht und in einer Haltung, als würde er ihn jeden Moment anspringen wollten. Als Seto einen weiteren Schritt zurück machte, knurrte er drohend. In diesem Moment sah Seto aus den Augenwinkeln, dass noch drei weitere Hunde langsam aus den Schatten auf ihn zu geschlichen kamen. Setos Herz schlug ohrenbetäubend laut und das Blut rauschte in seinen Ohren. Oh Gott. War er diesen Hunden nicht vorher schonmal begegnet? Er fing an zu zittern. Leichte Gegner waren sie jedenfalls nicht, und zu viert strahlten sie eine noch größere Bedrohung aus. Was ihm aber mehr Angst machte als alles andere, war die Tatsache, dass er gerade keine Waffe bei sich trug! Seine Gedanken überschlugen sich. Als Crow ihm diesen unheimlichen Geist mit der Eisenmaske auf den Hals gehetzt hatte, war seine Waffe, ein bloßer Stock, während des Gefechts kaputt gegangen. Er hatte den Kampf zwar trotzdem noch für sich entscheiden können, aber er wollte sich danach unbedingt eine neue Waffe gesucht haben und hatte den Stock auf dem Rummelplatz zurückgelassen, in der festen Überzeugung, jeden Moment etwas anderes Brauchbares zu finden... Der bullige Hund ließ ihm keine Zeit für weitere Gedanken, als Seto registrierte, dass er in die Hocke ging und zum Sprung ansetzte, wirbelte er sofort herum und rannte los. Seine müden Beine konnten ihn nicht mehr so schnell tragen wie sonst, weil er sich heute schon fast völlig verausgabt hatte, aber die schreckliche Angst vor diesem gigantischen Tier beflügelte trotzdem seine Schritte. Er rannte so schnell er nur konnte. Hektisch und verzweifelt versuchte er, die Hunde abzuschütteln. Immer wieder drehte er sich im Laufen gehetzt zu ihnen um. Er rannte die Treppen hoch, zu dem großen Platz, wo das Karussell stand und das Riesenrad und - Im nächsten Moment knallte er auf den Boden und ihm wurde die Luft aus den Lungen gepresst. Seine Taschenlampe kullerte in weitem Bogen über den Boden. Er fiel unglücklich auf die große Dose, die er immer vorne vor seinem Bauch trug. Jetzt bereute er es, sie dort zu haben. Der große Hund hatte ihn angesprungen und jetzt drückten ihn seine gewaltigen Pranken gen Boden. Seto bekam kaum Luft, versuchte verzweifelt, sich herum zu drehen und das Tier von sich zu stoßen. Ihm fehlte aber die Kraft und schließlich biss ihm der Hund mit voller Wucht in den Arm. Seto schrie auf und versuchte sich loszureißen, aber es schien zwecklos zu sein – je mehr er sich bewegte, desto mehr verbiss sich das Tier in seinem Fleisch. Seto schrie und keuchte vor Schmerz. Seine andere Hand tastete fahrig über den Boden und suchte nach einem Stein oder irgendetwas, das er seinem Gegner vielleicht ins Auge stechen konnte. Er fand nichts. Stattdessen spürte er, wie sein eigenes, warmes Blut begann an seinem Arm hinunter zu rinnen. Völlig panisch versuchte er weiterhin, den Hund irgendwie abzuschütteln und schlug und trat so kraftvoll um sich, wie er nur konnte. Das konnte doch nicht sein Ende sein, das durfte nicht...! Oh, bitte, bitte nicht! Aber was sollte er nur tun? Was ...?! Er wollte nicht sterben! „SETO!!!“ Setos Kopf wirbelte herum und er konnte sehen, wie Crow angestürmt kann, in der rechten Hand irgendeinen langen, metallischen Gegenstand, der im Mondlicht blitzte, und als er dem Hund dieses Ding eine Sekunde später mit voller Wucht vor den Schädel donnerte, heulte das Tier schmerzerfüllt auf und ließ sofort von Seto ab. „Lass ihn in Ruhe, du Drecksvieh!“, schrie Crow völlig außer sich und prügelte weiterhin schreiend auf den Hund ein. Dieser konnte sich nach ein paar Schlägen wieder aufrichten, sein Kopf und seine linke Seite bluteten stark. Große Bluttropfen fielen zu Boden. Er knurrte Crow böse an, doch als dieser einen weiteren Schritt auf ihn zu machte und die Metallstange drohend über seinen Kopf hob, überlegte es sich das Tier anders und rannte davon. Erst jetzt fiel Seto am Rande auf, dass die anderen drei Hunde nirgends zu sehen waren. „Hau bloß ab! Verpiss dich!“ Ein paar Meter lief Crow ihm noch hinterher, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und stürzte zu Seto. „Oh Gott...! Seto! Was ist mit dir?! D-dein Arm!“, in seinem Gesicht spiegelte sich die selbe Angst und Panik, die wohl gerade auch Seto ins Gesicht geschrieben stand. „C-Crow...!“, flüsterte Seto heiser. Er war wie paralysiert. In seinem ganzen Körper pulsierte der Schmerz. „Ist schon gut, ist schon gut“, zitternd legte Crow ihm eine Hand auf die Wange, dann blickte er sich nervös um und im nächsten Moment vergrub er seine Hände unter Setos Rücken, griff fest in den Stoff seiner Jacke und zog ihn auf die Beine. Wieder sah er sich gehetzt um. „Kannst du stehen? Los, wir müssen hier weg! Komm!“ Im Hintergrund konnten sie mehrere Hunde bellen hören. „E-es geht schon!“, sagte Seto schnell, und versuchte auf seinen noch völlig zittrigen Beinen ein paar Schritte in die Richtung zu gehen, die Crow einschlug. Der große Junge stützte ihn so gut er konnte, und nach kurzer Zeit hatte Seto seinen Körper wieder so weit im Griff, dass er halbwegs schnell mit ihm mitlaufen konnte. Sie rannten zu dem Platz, an dem Seto einmal ein Lagerfeuer gemacht hatte, als er eine kurze Pause gebraucht hatte. Die beiden liefen geradewegs an den verkohlten Holzscheiten vorbei und auf das kleine Häuschen zu, auf dessen Dach ein paar mitgenommen aussehende Pinguine standen. Crow schob ihn in den kleinen Raum und schloss die schwere Tür hinter ihnen und legte noch einen Holzbalken quer, damit sie noch schwieriger von außen zu öffnen war, falls die wilden Tiere sie verfolgen und das versuchen sollten. Die beiden Jungen standen eine Weile lang einfach nur da, schwer keuchend und total erschöpft und mitgenommen von dem Geschehnis. Das verbleibende Adrenalin in ihrem Blut jagte ihnen immer wieder und wieder Schauer durch den Körper. Crow war der erste, der sich wieder halbwegs beruhigte, er sah Seto mit einem wirren Blick an und schließlich überbrückte er schnell die Distanz zwischen ihnen und drückte ihn fest an sich. „Oh Gott“, murmelte er mit schwacher Stimme. „Was ist nur passiert? Ich meine, warum bist du wieder hier... und die Hunde...“ Seto bekam kein Wort heraus. Er fühlte sich, als würde er gleich ohnmächtig werden und lehnte sich gegen Crow, um nach Halt zu suchen. Seinen unverwundeten Arm drückte er an Crows Rücken, mit seiner Hand krallte er sich in dem Stoff von dessen Jacke fest. In seinem Kopf drehte sich alles, und er konnte noch immer das Blut in seinen Ohren rauschen hören, unnatürlich schnell. Es dauerte lange, doch nach und nach kam Seto wieder zu Sinnen und nun spürte er auch den pochenden Schmerz in seinem rechten Arm. Seto wimmerte leise. „Seto, ich...was ist nur passiert, du...“, Crow atmete einmal tief ein und wieder aus, „Wie... wie geht es deinem Arm? Zeig mal her!“ Crow löste sich ein wenig von ihm, nahm behutsam seinen Arm in die Hände und strich im nächsten Moment den Ärmel nach oben. Seto zuckte zusammen, als der Stoff über seine Wunde kratzte. „Autsch!“ „Ah, tut mir Leid!“ Beide starrten sie auf Setos Wunde. Das Ganze sah echt übel aus. Sein ganzer Arm war blutverschmiert, seine Haut aufgerissen und man konnte sein bloßes Fleisch sehen. Übelkeit stieg in Seto hoch und er schaute hastig weg. Gleichzeit schien sich sein Schmerzempfinden in unermessliche Höhen steigern zu wollen. Behutsam strich Crow über seinen Arm. Ein wenig von Setos Blut verfing sich in dem dunklem Stoff seiner Handschuhe. „Wir müssen das sofort verbinden. Und desinfizieren!“ Crow schaute sich kurz in dem nur schwach von einigen Kerzen beleuchteten Raum um. Moment! Brennende Kerzen? Also war das hier wohl wirklich sowas wie Crows geheimer Unterschlupf, den er scheinbar ständig nutzte, registrierte Seto. Vorsichtig zog Crow Seto nach rechts. An der Wand waren notdürftig ein paar Holzbretter angebracht, auf denen allerlei Flaschen und andere Gegenstände standen. Er nahm eine große, grüne Flasche zur Hand. „Okay, ich werde jetzt Wasser über die Wunde gießen, um sie etwas zu reinigen, ja?“, in Crows Stimme schwankte ein Hauch von Unsicherheit mit, der bewies, dass auch er noch immer nicht ganz zur Ruhe gekommen war. Trotzdem, die beiden konnten von Glück sagen, dass sich die Hunde nicht vor ihrer Tür versammelten und versuchten, hinein zu gelangen. Draußen war dieselbe Stille eingekehrt, die Seto begegnet war, als er verzweifelt nach Crow gesucht hatte. Diesmal empfand er sie allerdings überhaupt nicht als störend, im Gegenteil. Crow schraubte hastig den Verschluss ab und ließ die Flüssigkeit über Setos Arm laufen. Seto kniff die Augen zusammen und zitterte. Das blutige Wasser floss in Strömen auf den Boden und einige Spritzer benetzten ihre Schuhe. „Gut... Gut machst du das, Seto“, sagte Crow mit weicher und beruhigender Stimme, dann spürte Seto, wie der Fluss des Wassers nachließ. Er öffnete die Augen einen Spalt breit und sah, wie Crow auf dem Regal nach einer anderen Flasche fischte. „Hör zu, das wird jetzt sicher weh tun, aber das muss sein. Okay? Ich werde die Wunde jetzt desinfizieren, ansonsten kann sie nicht richtig heilen und wird sich entzünden.“ Auf eine Entzündung konnte er gerne verzichten. Seto atmete stoßweise und nickte schließlich steif. Eine gewisse Spannung breitete sich in seinem Körper aus. Er biss sich tapfer auf die Unterlippe und erwartete den Schmerz, der nun folgen würde. Und tatsächlich, nur wenige Augenblicke später wünschte er sich, er hätte sich sein dämliches Nicken gespart! Bereits das Wasser hatte sich unangenehm in der Wunde angefühlt, aber dieses stinkende und in seiner Wunde beißende Zeug, das war einfach nur unerträglich! Es kostete ihn all seine Überwindungskraft, seinen Arm nicht sofort aus Crows Griff zu reißen, und er gab unterdrückte Schmerzenslaute von sich. Crow band schließlich einige Stoffstreifen um seinen Unterarm, tränkte diese auch mit dem Desinfektionsmittel und dann... dann war es endlich vorbei, und der beißende Schmerz flaute betont langsam ab und zurück blieb ein vergleichsweise erträgliches Pochen. Seto zitterte, als gäbe es kein Morgen mehr. Ihm wurde richtig schlecht. Crow sah ihn mitleidig an und zog ihn gleich darauf wieder in eine Umarmung und strich ihm etwas zögerlich, aber beruhigend über den Rücken und redete leise auf ihn ein. „Ist schon gut... das wird wieder. Du hast das Schlimmste auf jeden Fall hinter dir. Es wird alles wieder gut.“ Auch er schien überfordert mit der ganzen Situation zu sein, aber er schaffte es trotzdem, dass sich Seto langsam etwas beruhigte und sich seine Haltung entkrampfte. „Bei mir bist du sicher, okay? Ich werde nicht zulassen, dass sowas nochmal passiert und...“ „Crow“, flüsterte Seto leise und sofort verstummte der schwarzhaarige Junge. Seto spürte, wie seine eigenen Augen feucht wurden und schließlich fing er erneut an zu weinen. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte es sich diesmal aber gut und irgendwie erleichternd an. „E-es ist meine Schuld!“, schluchzte er. „...Wie?“ Crow schien ernsthaft überrascht. Er hatte wohl mit etwas anderem gerechnet. „Ich hätte bei dir bleiben sollen! Ich meine, ich weiß doch, wie es ist, allein zu sein! Total furchtbar! Und ich... ich wollte nicht, dass wir uns beide wieder so fühlen müssen. Ich hab dich überall gesucht und dich einfach nicht gefunden und ich dachte schon, ich würde dich jetzt doch nie wieder sehen und … und... dann waren da auf einmal die Hunde...“ So langsam verebbte seine Stimme und er schluchzte nur noch. Crow drückte ihn fest an sich und begann dann zu reden: „ Pssst. Ist schon gut... alles ist gut. Jetzt bin ich ja wieder bei dir. Dir passiert nichts mehr. Und du bist auch nicht mehr allein.“ Seto nickte und drückte seine Nase gegen Crows Schulter. Er schniefte laut. Noch immer fühlte er sich etwas benommen und er war völlig entkräftet. Hätte Crow ihn nicht festgehalten, wäre er sicherlich schon längst zusammengebrochen. Nach einiger Zeit streichelte Crow ihm zusätzlich liebevoll durch die Haare und bettete seinen eigenen Kopf vorsichtig auf Setos. Und plötzlich war es Setos Herz, das da viel intensiver pochte als der Schmerz in seinem rechten Arm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)