The Basement. von Glasmond ================================================================================ Kapitel 1: 1. Der Anfang ------------------------ John keuchte. Er versuchte zu begreifen. Die Welt um ihn herum war schwarz. Es gab kein Oben, kein Unten. Etwas erdrückte ihn. Ein dumpfes Fiepen klang in seinen Ohren und überdeckte alles. Er versuchte seine Arme zu bewegen. Seine Sinne waren betäubt. Er wusste nicht, ob er sie tatsächlich bewegte. Eine dumpfe Berührung in seinem Gesicht drang zu ihm hindurch und erschreckte ihn zuerst, verriet ihm aber dass er seine Arme bewegen konnte. Er tastete sein Gesicht ab. Seine Augen. Waren sie geschlossen? Der Druck wurde stärker. Etwas stimmte mit seinen Beinen nicht. Er konnte nicht herausfinden was es war. Verzweiflung begann in ihm heraufzukriechen. Es war wie damals, als eine Tretmine nur ein paar Meter von ihm entfernt hochgegangen war und den Boden samt auf ihm befindlichen Kumpanen in tausend Stücke zerrissen hatte: Gehörverlust. Sinnesverlust. Das Blut in seinen Augen führte zur vorübergehenden Einschränkung des Augenlichts. Und dieser Druck, dieser schreckliche Druck, den er nicht zuordnen konnte. John Watson zwang sich durchzuatmen. Seinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Er durfte nicht in Panik verfallen. Es konnte über Leben und Tod entscheiden. Er musste begreifen. Er nahm noch einen tiefen Atemzug, doch etwas stoppte den Luftstrom. Verhinderte das Atmen. Dann rann es ihm statt der frischen Luft die Kehle hinab und füllte die Lunge mit schmerzhafter Eiseskälte. Ein starker Würgereflex durchzuckte John, und sein Körper stieß unter Krämpfen das Wasser wieder aus. Wasser? Ja. Das war es. Wasser. Er versuchte sofort den Kopf außer Reichweite der Wasseroberfläche zu bringen. Der Gleichgewichtssinn war nach wie vor nicht vorhanden, also hoffte er einfach inständig darauf dass er sich vom Wasser wegbewegte, den Kopf nach oben bewegte. Dann begriff er auch was mit seinen Beinen nicht stimmte. Sie schwammen. Der Druck wurde stärker, ging ihn durch Mark und Bein und vor allem durch den Kopf, und mit ihm verstärkte sich das entfernte Fiepen zu einem schmerzhaften lauten Oberton. In einem verzweifelten Versuch dem Druck zu entkommen drehte er sich zur Seite, und sofort wurde sein Körper von Eiseskälte eingehüllt. Wasser füllte wieder seinen Mund, doch diesmal schluckte er es nicht. Der Schock der Kälte trieb ihm das Adrenalin durch die Adern und brachte seine Sinne zurück. Er tauchte aus dem Wasser auf und fand mit den Füßen halt. Das Wasser ging ihm nur bis zu den Hüften. Er hielt inne. Beruhigte sich. Konzentrierte sich. Alles um ihn herum war immer noch schwarz. War sein Augenlicht beeinträchtigt? Nein. Er erkannte schwache Umrisse um sich herum. Das Zimmer, in welchem er sich befand, war abgedunkelt. Dann erklang ein Summen und eine zur Hälfte beschädigte Neonröhre beleuchtete seine Umgebung. Das Zimmer war spärlich eingerichtet. Die Wände aus Beton. John befand sich im vorderen Teil des Raumes. Das schwache Licht reichte nicht ganz bis zum Ende, aber er dürfte nicht länger als 10 Meter sein. Die Neonröhre flackerte und dimmte somit das Licht für einige Sekunden. Der Druck in Johns Kopf wurde stärker, breitete sich zu einem fast betäubenden Schmerz aus. Er stöhnte, fasste sich an die Schläfe. Zog die Hand zurück. Betrachtete sie. Blut. Er betastete die Wunde. Nicht tief. Keine Schädelfraktur. Zusammen mit dem immer noch anhaltende Schwindel deuteten auf ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma hin, aber das würde ihn vorerst nicht umbringen. Er tastete schnell den Rest seines Körpers ab, bewegte die Glieder. Aber bis auf einen Venenkatheter in seinem Handrücken fand er keine Veränderungen oder weiteren Verletzungen vor. Er zog die Venüle aus der Haut und sah sich um. Er konnte kaum etwas erkennen. Hinter ihm ein Tisch, auf den musste er gerade gelegen haben, bis er sich seitwärts ins Wasser gerollt hatte. Neben ihm ein morsches Regal. Zu seiner Rechten eine alte Holztür. Sofort watete er darauf zu. Als er die Türklinke umklammerte wurde ihm sofort klar dass es sich um keine normale Tür handelte sondern um ein äußerst stabiles Imitat. Der Griff ließ sich in keinster Art und Weise bewegen. John klopfte dagegen, und der Klang ließ auf einige Zentimeter dickes Metall schließen. Die Neonröhre flackerte mit einem für sie typischen Klickgeräusch und erhellte den Raum ein bisschen mehr. Da fiel es John auf. Neben dem Griff in der dünnen Holzbeschichtung waren Striemen eingraviert. In einem der Striemen war etwas Weißes. Ein… Fingernagel? John keuchte. Er ging einen Schritt zurück, ungläubig auf die Tür starrend. Das waren nicht ein paar Gravuren. Das waren hunderte. Hunderte blutige Kratzer im Holz der Tür. Und neben der Tür, undeutlich zu erkennen, da die Betonwand von braunen Wasserflecken übersät war, blutige Handabdrücke. Von Kinderhänden. John unterdrückte ein Stöhnen. Die Panik, die er sonst sehr gut unter Kontrolle hatte, drohte ihm in den Verstand zu kriechen. Er atmete tief durch, konnte aber ein Hyperventilieren nicht verhindern. Warum? Warum das alles? Wo war er hier gelandet? Wie war er hier gelandet? Die Neonröhre flackerte und nahm wieder einen Großteil des Lichts, und in Johns Ohren klang es wie ein hämisches Kichern. Es war unheimlich. Es machte ihm Angst. Alles hier machte ihm Angst. Übernatürliche Angst. Der Raum um ihn herum schien sich zu bewegen. Er schüttelte den Kopf als könne er damit die Angst von sich lösen. Dann berührte ihn etwas an der Hüfte. Er drehte sich um. Konnte einen Schrei gerade noch unterdrücken. „Guter Gott“ wimmerte er in seine Faust und torkelte rückwärts gegen die Tür. Der Mensch, der ihn berührt hatte, trieb langsam von ihm weg, zurück hinter den Tisch, den Kopf vornüber im Wasser, die Glieder leblos und aufgedunsen, auf und ab wippend durch die von ihm ausgelösten Wellen. Es war offensichtlich eine Frau. Eine Leiche. Er war eingesperrt mit einer Wasserleiche. In einem überschwemmten Raum. Die Neonröhre flackerte. Erhellte wieder die Umgebung. Und dann fiel ihm der Satz auf. Mit großen, roten Lettern stand an der Wand hinter dem treibenden Leichnam: „WER HAT SIE ERMORDET???“ John biss sich in die Faust. Er begriff nicht. Das alles ergab keinen Sinn. Was war das für ein Spiel? Er versuchte verzweifelt seine Gedanken zu ordnen. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er zu Bett ging. Konnte das wirklich sein? Jemand war in seine Wohnung eingebrochen, hatte ihn durch einen Schlag an die Schläfe betäubt, wahrscheinlich intravenös über den Katheter weiter bei Bewusstlosigkeit gehalten. An sich herabsehend erkannte er dass er die Kleidungsstücke vom Vorabend trug, nicht seinen Pyjama. Jemand hatte ihn umgezogen. Hatte ihn hierher, an diesen Tatort, gebracht. Hatte weiß Gott was mit ihm angestellt. Hilflosigkeit übermannte ihn. Verzweiflung. „Hallo?!“ schrie er und watete wieder zur Tür. Seine Stimme brach vor Angst. „Hallo, irgendjemand! Irgendjemand! Ist irgendjemand da? Kann mich jemand hören? Sherlock?!“ Sherlock. Sherlock! Erst jetzt kam es ihm. John wollte es gar nicht bestreiten, ja, er hatte Feinde. Menschen, die ihm Böses wollten. Aber das war nichts im Vergleich zu den Feindschaften seines Arbeitspartners und Freundes Sherlock Holmes. Wenn sie John in eine derartige Lage gebracht haben, was mussten sie erst mit Sherlock gemacht haben? Schlimmeres? „Sherlock? Sherlock! Hören Sie mich?!“ schrie er nun lauter und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Das dicke Metall unter der Holzfassade schwächte erbarmungslos die Wucht seiner Schläge zu einem dumpfen Ton ab. John begriff sofort dass ihn hinter der Tür, sofern sich dort jemand aufhielt, niemand hören würde. Trotzdem hämmerte er weiter, es war das Beste, das ihm in diesem Moment einfiel. Bis sich etwas in seinen Augenwinkeln bewegte. Die Leiche. Sie erhob sich aus dem Wasser. Vor Schock erstarrt hielt John inne, unfähig sich zu bewegen. Das konnte nicht sein. Das war nicht real. Das war nicht real. Das war nicht real. John schluckte. Und drehte langsam den Kopf zu ihr um. Doch die Frau trieb immer noch an derselben Stelle, in derselben Position. Er rieb sich über das Gesicht. Halluzinierte er? Er bestastete abermals die Wunde an seiner Schläfe. Der Knochen war vielleicht doch beschädigt. Vielleicht hatte er doch eine schwerwiegendere Gehirnerschütterung. Er wandte die Augen von der Leiche ab. Ihr Anblick löste in ihm eine derartige Beklemmung aus dass ihm übel wurde. John wollte sie nicht sehen. Er wollte gar nichts von alledem sehen. Nicht die schmutzigen graubraun gefleckten Wände, nicht das schwarze Wasser dessen Kälte ihm wie ein Parasit in die Knochen kroch, nicht diese nervenaufreibende Neonlampe. Er wollte nach Hause, in die warme Atmosphäre von seinem Apartment mit Sherlock in 221b Baker Street. Er wollte auf seinen Lieblingssessel und ein gutes Buch lesen. Er wollte Sherlock beim Arbeiten zuhören. Er schluckte. Nein. Nein. Was war nur los mit ihm? Das war nicht seine Art. Sich wie ein Kind in schöne Gedanken flüchten, sich selbst beweinen. Das war nicht er selbst. „Reiß dich zusammen“ sprach er laut aus. Das half. Der befehlerische Ton brachte ihn wieder auf halbwegs klare Gedanken. Dann erteilte er sich selbst noch einen weiteren Befehl. „Denk nach.“ Man verlangte offensichtlich etwas von ihm. Er überflog nochmal die großen Lettern an der Wand. Sollte er den Mordfall aufklären? Wie sollte das möglich sein? Nur mit dieser Leiche? In einem abgeschlossenen Raum? Ohne Hilfsmittel? Sherlock konnte das vielleicht herausfinden, aber doch nicht er. Er war Arzt. Er war kein Detektiv. Allenfalls der konsultierende Hilfsdetektiv eines konsultierenden Detektivs. Aber wahrscheinlich steckte Sherlock gerade selbst in einer ähnlichen Situation. Oder einer schlimmeren? Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe ihn zu kontaktieren, ihn zu … John hielt inne. Man hatte ihm seine Jacke angezogen. Vielleicht hatte er das unfassbare Glück dass man sein Handy nicht daraus entfernt hatte und dass es vom Wasser nicht beschädigt wurde. Er durchforstete die Taschen. Ein Stück Plastik glitt ihm zwischen die Finger. Aus seiner Brusttasche zog er ein wasserdicht verschlossenes Tütchen mit seinem Handy darin. Kein Zweifel. Jemand wollte die Funktionalität gewährleisten. Wollte, dass John Watson es für Irgendetwas verwendet. Es sollte ihn eigentlich alarmieren. Aber er war mit seinen Nerven am Ende. Er wollte einfach nur noch Hilfe. Als Sherlock den Anruf annahm klang er noch schlaftrunken. „John, wissen Sie, wie viel Uhr es ist?“ brachte er wütend hervor und John konnte das Rascheln von Bettwäsche hören. Sherlock musste noch zu Hause sein. John fiel ein Stein vom Herzen, aber zugleich verwirrte ihn diese Information und verstärkte seine Angst. Sherlock war nicht eingesperrt. Sherlock war nicht entführt worden. Man hatte es nur auf ihn selbst, John, abgesehen. „Nein, weiß ich nicht“ erwiderte John. Abermals brach seine Stimme. Sherlock achtete nicht darauf. „Sind Sie denn nun völlig umnachtet, John Watson? Wegen was für einer Kleinigkeit stören Sie mich nun schon wieder? Hat wieder eine Freundin Schluss gemacht?“ brachte er wütend hervor und fuhr ohne auf Antwort zu warten im theatralischen Ton fort: „Ach wie leid mir das tut, et cetera, gute Nacht.“ Normalerweise hätte dies John einen Stich versetzt, worauf es Sherlock wohl auch abgesehen hatte, denn er mochte es nicht gestört zu werden, bei was auch immer. John konnte daran aber im Moment keinen Gedanken verlieren. „Sherlock“ setzte er mit kratziger Stimme an, doch die restlichen Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Er konnte hören, wie sich die Leiche hinter ihm wieder aus dem Wasser erhob. Sein Freund, nicht besonders empfänglich für die emotionale Beschaffenheit seiner Mitmenschen, reagierte erbost. „Was denn, Mann!“ rief er entnervt. Die Worte krochen fast unhörbar über Johns Lippen. „Helfen Sie mir.“ Sofort verstummte Sherlock. John konnte das Geräusch der aneinander reibenden Stoffe und Federn der Decke nicht mehr hören. Schon befürchtete er dass die Leitung unterbrochen worden war, als Sherlock mit einem alarmierten Tonfall sagte: „Wo sind Sie.“ Gurgelnde Geräusche hinter John. Seine Glieder versteiften sich. Das ist nicht echt, dachte er. Das ist nicht echt, das ist nicht echt, das passiert nicht. Das ist nicht echt. „Was ist nicht echt.“ sagte Sherlock und fügte hinzu: „Sie sagten gerade ‚Das ist nicht echt.‘ Sind Sie bei vollem Bewusstsein, John? Bedroht Sie jemand? Beobachtet sie jemand? Summen Sie ein Lied, wenn Sie verhindert sind zu antworten. Oder drücken Sie auf eine Taste.“ Die Neonröhre klickte. Sie flammte für einen Sekundenbruchteil auf und erhellte den ganzen Raum, dann stellte sie ihr Licht ein und hüllte alles wieder in Dunkelheit. John verkrampfte sich. Er konnte hören wie die Leiche hinter ihm mit den Fingernägeln über das Holz des Tisches kratze, dann das Knarzen des Tisches das verriet dass ihn etwas mit Gewicht beschwerte. Sein ganzer Körper war paralysiert, seine Finger wie ein Schraubstock um das Handy geklammert, seine Kehle wie zugeschnürt. Er konnte sich weder bewegen noch einen Laut von sich geben, selbst der Atem versagte ihm. Aus dem Handy klangen Geräusche von zuschlagenden Türen, dann Musik. „John“, drängte Sherlocks Stimme, und ein Funken Verzweiflung schien in seinem Tonfall mitzuschwingen, als wüsste er nicht genau was er machen sollte. „Geben Sie mir ein Zeichen.“ John wollte. Aber er konnte nicht. Die Angst schnürte ihn immer mehr ein. Er wollte sprechen, aber sie ließ ihn nicht. Die Leiche hinter ihm könnte ihn ja hören. Nein. Das war nicht real. Nein. „NEIN!“ schrie John plötzlich laut, halb zu sich, halb zur Bedrohung hinter ihm, und drehte sich dabei mit einem Ruck um. „NEIN!“ wiederholte er und leuchtete mit dem Handy in die Richtung der Leiche. Sie war nicht da. Die Neonröhren flackerten und erhellten wieder die Umgebung. Die Leiche trieb immer noch an derselben Stelle wie vorher. Schnell zog John das Mobiltelefon wieder an sein Ohr. „Sherlock!“ schrie er hysterisch. „Ja. Was. Reden Sie mit mir“ sagte Sherlock ruhig und schnell, aber die Angst war nun ein merklicher Beiklang in seiner Stimme. Als hätte sie sich wie ein Virus auf ihn übertragen, ihn infiziert, dachte John. „Ja!“ sagte er und wischte sich über sein Gesicht, behielt die Leiche fest im Blick. „Ich bin hier eingesperrt, es ist Wasser überall, die Frau, die Frau ist tot, die Kratzer –„ Er hielt inne. Ihm kam plötzlich ein Gedanke. „Beruhigen Sie sich“ erklang es aus dem Handy. „Nein. Nein. Sherlock. Sie sind es, nicht wahr? Sie spielen wieder mit mir. Machen Experimente. Sie –„ „Nein.“ unterbrach ihn Sherlock mit fester, tiefer Stimme. Aus irgendeinem Grund glaubte John ihm sofort. Als Sherlock nun sprach klang seine Stimme gefasster, ernster. Es waren keine Anzeichen der Angst in den folgenden Worten zu hören. „Was ist passiert.“ Es war die völlige Ungewissheit, die ihn verzweifelt machte, pochte irgendwo ein klarer Gedanke unter Johns Angst hervor. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf diesen Gedanken, denn er war logisch, plausibel, deutlich. Anders als die undurchschaubare Angst. Er wollte nicht wieder in wirre Panik verfallen. „Ich weiß es nicht“ antwortete er gefasster. „Ich bin in einem Keller…“ Aus dem Handy erklangen undeutliche Worte von Mrs. Hudson. Sherlock reagierte nicht darauf und John konnte das ihm bekannte Einrasten der Haustüre ins Schloss von 221B hören, dann Straßenlärm. „Was ist in dem Keller? Können Sie zu den Fenstern hinaussehen? Können Sie Autos sehen? Wie lange hat die Fahrt gedauert? Wie war die Beschaffenheit der Straße? Aus welchem Material sind die Wände des Kellers? Das Mobiliar? Wie schlimm ist die Wunde am Kopf?“ strömte es aus dem Handy. John fasste sich wieder an die Schläfe. Es fiel im schwer die Fragen zu verarbeiten und im Kopf zu behalten. „Ich bin, Ich …“ sagte er zögernd, „Ich … Moment. Woher wissen Sie, dass ich verletzt bin?“ „Es war Blut auf ihrem Kopfkissen.“ Gab Sherlock ihm schlicht als Antwort. Für einen unpassenden Augenblick empfand John einen Anflug von Scham. „Mehrere Zeichen von Gewalteinwirkung. Drei oder vier Männer, kräftig. Sie müssen irgendwann heute Nacht zwischen 1 und 6 entführt worden sein, da Ihr Radiowecker, der auf 6:00 Uhr eingestellt war, lief. Das bedeutet ihr jetziger Standort muss in 4, allerhöchstens 5 Stunden erreichbar sein. Ihre Nummer wird nicht mit Landesvorwahl angezeigt, das heißt Sie befinden sich noch in England. Einen Transport per Flugzeug können wir wohl ausschließen, zu viel Arbeit, zu viel Zeit. Ihr Pyjama lag zerknittert in der Ecke, also war es den Entführern aus irgendeinem Grund wichtig dass sie warm oder akkurat gekleidet sind. Vermutlich nur aus Höflichkeit. Ihre Schränke sind unberührt und kein weiteres Kleidungsstück wurde entnommen, also ist ihr Aufenthalt wohl … zeitlich begrenzt.“ Sherlock sprach die letzten Worte besorgt aus. „Sie waren in meinem Zimmer…“ brachte John hervor. „Nun, das war nicht das erste Mal.“ erwiderte er und John konnte ihn lächeln hören. „Es gibt jedes Mal interessante Informationen von sich und hilft ein bisschen gegen die Langeweile.“ Es war wohl mehr scherzhaft als ernst gemeint, und überraschenderweise beruhigte es John ein bisschen. Müde brachte er sogar ein Lachen, das mehr nach einem Keuchen klang als alles andere, hervor. Sherlock schien erleichtert darüber zu sein dass Johns Situation ein Lachen, wenngleich nervöser Natur, erlaubte, denn er fuhr ruhiger als zuvor fort: „Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“ John atmete durch. „Ich bin gestern zu Bett gegangen und heute hier aufgewacht, in meiner Kleidung von gestern. Ich habe eine Wunde an der Schläfe und wohl eine mittelschwere Gehirnerschütterung. Hier sieht es alt aus, wie in einem Keller, aber die Tür ist in Holz verkleidet. Sie ist eigentlich aus Metall, wie bei einem Safe oder so. In der Tür sind blutige Kratzer und Fingernägel eingeschlagen, und neben der Tür blutige Handabdrücke von Kinderhänden, Sherlock. Kinderhände. Hier ist auch eine Leiche. Eine Frau. Sie treibt im Wasser. Ah, Wasser, ja. Das ist hier auch überall. Es geht mir bis zur Hüfte.“ Er brachte sich Sherlocks Fragen wieder ins Gedächtnis und sah sich um. „Hier gibt es einen Tisch, auf dem ich lag als ich aufgewacht bin, er ist aus Holz. Und ein Regal mit irgendwelchen Kram darauf. Ich glaube am anderen Ende des Raumes steht noch ein Regal, aber ich kann das nicht genau sehen. Es gibt zwei Fenster die wohl zur Oberfläche führen, aber sie sind vergittert und die Laubgitter hinter dem Kanal sind komplett abgedunkelt, man kann nichts sehen. Autos höre ich auch nicht. Ich höre gar nichts von draußen.“ Schnell nahm er wieder wachsam die Leiche in Augenschein. Sie bewegte sich nicht im Geringsten. John gestatte sich den hoffnungsvollen Gedanken dass die Halluzinationen nachzulassen schienen. „An der Wand steht in Großbuchstaben und in roter Farbe geschrieben ‚WER HAT SIE ERMORDET‘ mit drei Fragezeichen dahinter. Soll ich nachsehen ob ich bei den Fenstern irgendwie die Abdunkelung entfernen kann?“ Eine Weile geschah nichts. John konnte durch das Handy den Straßenverkehr hören, aber Sherlock schwieg. John ließ ihm Zeit, denn er kannte ihn und wusste dass er nachdachte. Als sich sein Schweigen jedoch in die Länge zog spürte er, wie die Angst ihm allmählich wieder in die Glieder kroch. Sein Körper begann sich wieder zu verkrampfen, geriet in Alarmbereitschaft. Etwas stimmt nicht. „Sherlock…“ begann er. Er konnte Sherlock ausatmen hören. Es klang unheilvoll. „Sherlock!“ „Haben Sie etwas Eigenartiges an?“ fragte er schnell. John sah verwirrt an sich herab. „Was – ? Nein, meine Sachen von gestern. Jacke, Hose.“ „Öffnen Sie ihre Jacke. Tragen Sie darunter ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt mit einer schwarzen Flagge und einem weißen Totenkopf darauf?“ John verstand diese Frage nicht, tat jedoch wie geheißen. Er klemmte das Handy zwischen seine Schulter und sein Ohr und öffnete die Jacke mit beiden Händen. Dann sah er an sich herab. Seine Augen weiteten sich. „Ja“, stieß er perplex hervor. Als er jetzt sprach nahm Sherlocks Stimme einen eigenartigen Klang an. Hohl, schwach. Wie bei einem Arzt, der eine ernste Diagnose stellte. Mehr zu sich selbst als zu seinem Patienten. „Sie sind im Basement, John. Sie befinden sich in den Grundmanifesten meines Mind Palace.“ Kapitel 2: 2. Das Basement -------------------------- John verstand nicht. Sherlocks Worte hatten eine Bedeutung, doch er konnte sie nicht zu einer vernünftigen Schlussfolgerung kombinieren. „Ich bin … in Ihrem Kopf?“ brachte er verwirrt hervor. Er hatte schon befürchtet dass Sherlock ihn nun grob berichtigen würde, doch seine Stimme blieb weiterhin hohl und ruhig. „Nein. Es ist eine Metapher. Ihre Entführer legten jedoch großen Wert darauf sie so akkurat wie möglich zu gestalten.“ Danach schwieg er. Die Fakten ergaben kein logisches Bild. „Ich verstehe nicht, Sherlock“ sagte John nach einer Weile, „Warum würde sich irgendjemand die Mühe machen …“ „Es ist ein Spiel, John.“ erwiderte Sherlock, „Es geht nicht um Lösegeld, es geht nicht um Rache. Jemand vertreibt sich die Langeweile mit einem lebensgefährlichen Spiel. Stellt Sie auf eine Probe, John. Und zeigt mir auf diese Weise gleichzeitig …“ Er brach mitten im Satz ab. Im Hintergrund waren Menschen zu hören. John meinte Detective Inspector Lestrades Stimme zu erkennen. „…gleichzeitig?“ drängte John und beobachtete nervös die Leiche im unregelmäßigen Licht der Leuchtröhre. Sie schwamm völlig geräuschlos und gab keine Wellen von sich. Aus irgendeinem Grund beunruhigte das John noch mehr. Sherlock reagierte nicht sofort. John konnte das einrasten eines Türschlosses hören, dann verstummten die Hintergrundgeräusche im Handy. „Sherlock?“ „Ja.“ erwiderte Sherlock sofort in einem fast entschuldigenden Tonfall, „Ich bin hier.“ Seine Stimme klang anders. Etwas dumpfer, etwas komprimierter. Er musste in einem sehr engen Raum stehen. „Das Basement ist“ begann er leise, zögerte dann, als würden ihm die Worte nur schwer über die Lippen kommen, „… Es ist … der Ort, an dem alles begann. Mit mir, meine ich.“ Er machte eine Pause. Schien zu überlegen wie - und vielleicht auch ob - er fortfahren sollte. John schwieg. „Ich war noch sehr jung als er auftauchte. Sieben. Ich war gerade zu Bett gegangen. Meine Eltern und mein Bruder waren nicht zu Hause. Da hörte ich eine Frau schreien. Ein grauenhafter Schrei. Ich sprang sofort aus dem Bett auf und lief aus dem Haus, in Richtung des Schreis. Ich kam schnell zum Schluss dass es aus dem Kellergewölbe unserer Nachbarin kommen musste. Ich schlüpfte durch die Gitter des Fensterschachtes und ließ mich in den Raum fallen. Meine nackten Füße landeten in einer Pfütze. Ich musste mich erst an das Licht gewöhnen. Dann erkannte ich die Umrisse unserer Nachbarin. Sie lag auf dem Boden. Ihr Blut war zu mir herüber gesickert und vermischte sich mit der Wasserpfütze, in der ich stand. Sie war völlig reglos. Erst dann kam ich langsam zu mir. Ich hatte nicht nachgedacht, hatte instinktiv gehandelt. Und nun war ich mit einer Leiche in einem Raum. Ich drehte mich um und wollte wieder gehen, doch ich konnte die glatte Betonwand nicht wieder hinaufklettern. Dann sah ich in den Augenwinkeln einen Schatten über die Rückwand huschen. Und plötzlich war ich mir sicher dass sie ermordet wurde.“ Sherlock fuhr fort, noch leiser als zuvor. „Die Angst lähmte mich. Meinen Körper, meinen Geist. Ich war mir auf einmal sicher dass sich der Mörder noch im Raum befand. Ich drehte mich um und sah wie sich eine abscheuliche Kreatur in Schatten hinter der Tür aufhielt. Ein Monster. Ein unwirkliches, unrealistisches Monster stand dort und zuckte. Beobachtete mich. Drohte mir. Versperrte mir den einzigen Ausweg. Ich tat das einzige zu dem ich noch fähig war: Ich versteckte mich unter einen Tisch und hielt mir Ohren und Augen zu. Es war dumm, aber ich konnte einfach nicht anders“ Er machte eine Pause. „Jedes andere Kind hätte ähnlich reagiert …“ Setzte John an, doch Sherlock beachtete ihn nicht und redete weiter. „Danach weiß ich nicht mehr, was passiert ist. Das einzige, woran ich mich erinnere, ist die Angst. Noch am selben Tag fand mich die Mutter der Nachbarin und holte mich unter dem Tisch hervor. Doch im Geiste blieb ich noch viele Jahre in diesem Raum gefangen. Wann immer ein Rätsel in meinem Leben auftauchte verschanzte es sich in diesem Raum und trieb mich in den Wahnsinn, wenn ich es nicht aufdeckte. Die Fakten vermischten sich mit Hirngespinsten und nahmen albtraumhafte Gestalten an. Es gab kein Entrinnen. Erst, wenn ich sie mir genau ansah und deduktierte und verstand, ließen sie mich in Ruhe. Ich habe es nie ganz geschafft aus diesem Raum zu fliehen, John.“ sagte Sherlock langsam. „Aber nach einer Weile war ich fähig ihn als Basis für weitere Räume zu nutzen, in welchen ich mich frei bewegen konnte. Die mich nicht beängstigten. Die so aussahen, wie ich es wollte. Meinen Mind Palace.“, beendete er seine Geschichte. Erschüttert lehnte John sich an die Wand und vergaß für einen kurzen Augenblick die Welt um sich herum. „Das ist ja schrecklich“ flüsterte er. Plötzlich schämte er sich bei dem Gedanken an die vielen Gelegenheten, in denen er Sherlock wegen seiner oft respektlosen zielstrebigen Art, mit welcher er Mordfälle aufklärte, beschimpft hatte. Sherlock hatte sich seinen Weg nicht ausgesucht, nur das Beste daraus gemacht und musste sich dafür auch noch Vorwürfe von John anhören. Wie mochte er sich dabei fühlen, ihm unter Zwang diese Geschichte anzuvertrauen, wo er doch höchsten Wert darauf legte die Gründe seiner Aktionen stets unnachvollziehbar zu halten? Durch das Handy erklang ein klicken, dann waren wieder Hintergrundgeräusche von plappernden Menschen zu hören und holten John somit aus seinen Gedanken in die kalte Realität zurück. „Es tut mir leid es Ihnen unter derartigen Umständen zu erzählen.“, sagte Sherlock nun emotionslos. „Schon gut“, antwortete John leise. „Bei einem bin ich mir sicher, John. Aus diesem Raum gibt es kein unplanmäßiges Entrinnen. Dafür werden Ihre Entführer gesorgt haben. Sie müssen mitspielen. Müssen das Rätsel lösen. Man hat Ihnen etwas gespritzt, angstzentrierte Halluzinogene wahrscheinlich. Verinnerlichen Sie das, wenn Ihnen etwas Angst einjagt.“ John schwieg und betrachtete die Leiche. Er konnte Sherlock tief durchatmen hören. „Ich weiß, das ist nicht einfach.“, sagte er und John zweifelte nicht an der Ehrlichkeit seiner Worte, „Aber ich bin mir sicher, dass Sie diesen Fall mit den gegebenen Fakten aufdecken können. Sie müssen sie nur finden und kombinieren, so einfach ist das.“ „So einfach ist das…“, wiederholte John mutlos und sein Blick fiel auf die blutigen Handabdrücke um die Tür herum. Ein Knoten bildete sich in seinem Hals. Neben all der unbegründeten Angst fand er es außerdem höchst beunruhigend wie jemand derartiges Wissen über Sherlock in Erfahrung bringen konnte und es auch noch auf diese Art anwandte. Wahrscheinlich beängstigte es Sherlock mindestens genau so sehr. Aber es war jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Das Neonlicht flackerte. Irgendetwas Kratzte in der Ferne. John zuckte zusammen und sah sich hektisch um, konnte aber nichts erkennen. „Also. Halten wir uns an die Fakten.“ drängte Sherlock, „Ein Fakt ist, dass Sie ein hervorragender Arzt sind. Das wird Ihnen hier zugutekommen. Haben Sie schon die Todesursache der Leiche festgestellt?“ John schluckte. „N-nein.“ „Worauf warten Sie dann noch?“ Kapitel 3: 3. Die Leiche ------------------------ John wollte protestieren. Wollte ihn bitten ihm eine andere Aufgabe zu erteilen. Hatte den Drang, Ausreden zu finden. Alles, um engeren Kontakt mit dieser Leiche zu vermeiden, deren bleiche aufgedunsene Extremitäten unter dem rotem Stoff ihres Kleides und dem schwarzen Wasser wie Maden hervorstachen. „Sie schaffen das.“ erklang ermutigend Sherlocks tiefe Stimme aus dem Telefon. „Ich bin hier, hören Sie?“ Das half. John atmete tief durch. Es gibt keinen Grund sich zu fürchten, dachte er, sie ist tot und kann mir nichts anhaben. Er ging auf die Leiche zu und klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr, dann streckte er die Hände nach ihr aus. Zögerlich, auf alles vorbereitet, legte er vorsichtig die Hand auf ihre Schulter. Er musste Sherlock irgendein Signal gegeben haben, dass er seiner Bitte nachkam, vielleicht einen Seufzer, denn aus dem Handy konnte er Sherlock „Sehr gut“ sagen hören. Er brachte ein extrem nervöses Lachen hervor und schämte sich sogleich dafür. „Auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen.“ Begann er, wurde jedoch durch den Klang seiner eigenen Stimme und dem gewohnten Arbeitsgebiet selbstbewusster und fuhr professioneller fort: „Die Beschaffenheit der Haut lässt darauf schließen dass sie seit etwa einem Tag im Wasser treibt. Dem Geruch nach zu urteilen kann sie auch nicht viel länger tot sein.“ „Sehr gut“, sagte Holmes abermals, „Weiter.“ Der Raum schien plötzlich weniger unheilvoll. Fast schon normal. Ist es das?, dachte John. Wenn ich mich der Angst stelle und sie überwinde haben die Halluzinogene nichts, was sie verstärken können. Natürlich! Durch das Handy erklang wieder dumpf Lestrades Stimme. „Wir haben ihn!“ rief er aus, „Er befindet sich bei +51.885270,-0.910597, etwa 1 ½ Stunden nordwestlich von London, bei Aylesbury.“ John lauschte verwirrt. Wann hatte Sherlock mit Lestrade gesprochen? „Geben Sie mir einen Streifenwagen.“ Hörte er Sherlock Holmes befehlen. Ablehnendes Murmeln im Hintergrund. Lestrade nuschelte etwas, dann, lauter: „Geben Sie ihm einen.“ Irgendjemand schien Protest zu erheben. „Was passiert?“ fragte John. Irgendwas alarmierte ihn. Der Schall des Raumes war irgendwie anders. Komprimierter. „Machen Sie einfach weiter, John. Lassen Sie sich nicht ablenken.“ Sie wussten, wo er war. Sie hatten seine Koordinaten geortet. In 1 ½ Stunden würden sie hier sein. John spürte Hoffnung in ihm aufkeimen. Vielleicht musste er nicht einmal diesen Fall lösen, aber er würde sicher nicht untätig herumsitzen. „Eh, ja. Sie hat … ist das…. Ja. Sie hat eine Wunde am Hinterkopf. Breitflächig, aber gewaltig. Augenscheinlich der Grund ihres Todes. Sie wurde wahrscheinlich mit einem großen, stumpfen Gegenstand von hinten erschlagen.“ Aus dem Handy ertönte das Geräusch einer zuschlagenden Autotür, dann das Aufbrummen eines Motors und schließlich eine Sirene. „Weiter“ drängte Sherlock. „Sie brauchen mehr Fakten. Ihr Alter, trägt sie Schmuck bei sich, die Beschaffenheit ihrer Zähne, weitere Wunden – alles, was sie kriegen können.“ „Ja, natürlich. Einen Augenblick. Ich drehe sie um.“ John nahm die Leiche mit beiden Händen und drehte sie im Wasser auf den Rücken. „Frau mittleren Alters. Normale bis schlanke Statur. Keine Auffälligkeiten bei Zähnen und Zahnfleisch. Unter den Nägeln keine Anzeichen von Blut, der Lack auf den Fingernägeln ist unbeschädigt. Am Hals hat sie drei parallel verlaufende, kurze Kratzer. Sie hat… Augenblick, ich stelle das Handy schnell auf Lautsprecher und lege es auf den Tisch.“ Der Tisch schwankte unter seiner Bewegung und driftete von ihm ab. John sah ihn lange an. Gerade vorhin war er noch stabil gewesen, hatte sich nicht bewegt. Weswegen…? Dann fiel es ihm auf. Das Wasser stand ihm nun nicht mehr bis zur Hüfte, sondern bis zum Bauchnabel. Es war gestiegen. „Sherlock!“ war alles, was er hervorbringen konnte, bevor er etwas im hinteren, abgedunkelten Bereich des Raumes ins Wasser platschen hörte. Dann geschah alles sehr schnell. Schockiert drehte er sich in die Richtung des Geräusches und konnte eine kleine, schemenhafte Gestalt ausmachen. Die Angst brach wieder aus und plötzlich schien die ganze Umgebung zu kippen und zu pochen. „Nein!“ schrie er gegen die Angst und drehte sich zur Leiche. Doch diese schwamm nicht mehr im Wasser. Sie stand nun direkt vor ihm, die blutunterlaufenen Augen auf ihn gerichtet, und schloss urplötzlich die Finger um seine Kehle. Kapitel 4: 4. ------------- Bevor John auf irgendeine Weise reagieren konnte drückte sie ihn vornüber ins schmutzige Wasser, versenkte sie beide in der unheilvollen Tiefe. Ihre Finger bohrten sich in seinen Hals, und selbst unter Wasser konnte er noch ihre furchterregenden, roten Augen sehen, die ihn wütend anstarrten. Nein! wollte er schreien, Nein, nein! Das ist nicht echt! Doch er konnte nicht schreien. Stattdessen nahmen andere Gedanken seinen Verstand ein und verfestigten sich in jeder Zelle seines Körpers. Das ist sehr wohl echt. Es tut weh. Ich ertrinke. Die Frau öffnete ihren Mund. Entblößte eine Reihe spitzer, unmenschlicher Zähne, und schlug sie fest in Johns Hals, während sie immer weiter in die Tiefe drifteten. Der Raum war nun nicht mehr wenige Quadratmeter groß – er war ein Meer. Ein tiefer, tödlicher Ozean, der John nie mehr wieder hergeben würde. Das war’s, dachte er. Er konnte spüren wie die langen Zähne der Leiche auf Knochen trafen. Er schrie auf, und wieder füllte sich sein Mund mit Wasser. Er spürte alle Hoffnung fahren. Und mit der Hoffnung verschwand auch die Angst und ließ ein fast schon zärtliches Gefühl der Leere zurück. Lass es schnell vorbeigehen, dachte er. Guter Gott, bitte lass es schnell vorbeigehen. Dann traf er mit dem Hinterkopf auf etwas hartes. Er öffnete die Augen und tastete nach hinten. Eine Fläche. Keine unendliche Tiefe. Ja. Keine unendliche Tiefe. Das hier war nicht das Meer. “Man hat Ihnen etwas gespritzt, angstzentrierte Halluzinogene wahrscheinlich. Verinnerlichen Sie das, wenn ihnen etwas Angst einjagt”, hallte Sherlocks Stimme in seiner Erinnerung wieder. Er klammerte sich an diesen Gedanken. Das hier ist ein ganz normaler Raum. Diese Frau ist tot und kann mir nichts anhaben. Er zog die Beine an seinen Körper und stieß sich mit aller Kraft von der Fläche ab. Fast augenblicklich durchstieß er die Wasseroberfläche und klatschte wieder mit dem Bauch auf. Neben sich spürte er den Tisch, griff hektisch danach und zog sich wieder hoch, wobei er einen Schwall Wasser erbrach. Aus dem Handy, dass nach wie vor auf dem Tisch lag, ertönte die Sirene und Sherlocks nervöse, fast schon panische Stimme. “Das ist nicht echt, John! Hören Sie mich? John! Was auch immer Sie sehen, es ist nicht echt! John! Reden Sie mit mir!” John hustete, stieß ein abgehacktes “Ja!” aus bevor er sich wieder erbrach. Kleine Lichtblitze zuckten vor seinen Augen auf. Mit der einen Hand klammerte er sich immer noch fest, mit der anderen tastete er seinen Körper ab und rang nach Orientierung. Keine Leiche umfasste seine Kehle. Keine Fleischwunde war an seinem Hals zu spüren. Ein hektischer Blick nach links. Die tote Frau schwamm noch immer an derselben Stelle, reglos. Aus dem Handy verstummte der Klang der Sirene, nur noch der Motor des Autos war zu hören. “Sind Sie verletzt?”, fragte der Lautsprecher. “Nein”, erwiderte John sofort, während er immer noch die Umgebung nach möglichen Gefahren absuchte. “Die Halluzinogene, ich … ich glaub ich habe mir nur ein wenig... den Kopf gestoßen” brachte er zwischen harten Atemstößen hervor. Seine Beine drohten ihm einzuknicken, seine Schläfe brannte wie verrückt, doch er war am Leben. Ein hysterisches Lachen kam ihm über die Lippen. “Ich lebe”, stieß er aus. “John...” begann Sherlock besorgt. “Ja, nein – ich weiß – ich muss … Die Leiche hat mich angegriffen und – ohgott, Sherlock, das Wasser” “Was ist damit?” “Ich glaube, es steigt schneller” John sah an sich herab. Das Wasser ragte ihm nun bis einige Zentimeter über den Bauchnabel. Ihn überkam ein Gefühl des Schwindels, und er musste sich an die Wand lehnen. “Die Luft wird knapp, ich ersticke” brachte er panisch hervor. Sherlock blieb überraschend ruhig und ernst. “Konzentrieren Sie sich auf Fakten, John.” Dann – Platsch. Etwas im hinteren Teil des Raumes bewegte sich hektisch im Wasser. Johns Atem beschleunigte sich wieder augenblicklich. Er konnte sein Herz bis in die Kehle schlagen spüren. Nur noch ein geringer Teil von ihm nahm vage wahr dass er sich nun am Rande des Wahnsinns befand. Ein anderer, viel größerer Teil, erwog sich in absoluter Hysterie. Kein klarer Denkvorgang war mehr möglich, von allen Seiten stürzten alptraumhafte, unkontrollierbare Gedanken und Wünsche auf ihn ein. Ich will nach Hause, dachte John. Ich will hier raus, dachte John. Ich will nicht sterben, dachte John. Wie ein riesiger Kraken war die Urangst nun schließlich gänzlich aus Johns tiefsten emotionalen Abgründen hervorgebrochen. Hatte sich aus dem Gefängnis befreit, dass jeder Mensch im Laufe seiner Kindheit instinktiv errichtet und dann für immer geschlossen hält. Der Kraken schlang seine vielen Arme – in Form des Raumes, des Wassers, der Leiche, der Luft, den Wänden, dem Dreck, der Schmerzen, des Geruchs – fest um jedes Fünkchen Verstand in John und drohte ihn zu erdrücken. Das Wesen im hinteren Teil des Raumes paddelte auf ihn zu. Kam näher ins schmutzige Licht der Neonröhre. Bewegte seine acht Beine unkoordiniert durch das Wasser. Irgendwo am Rande von Johns Wahrnehmung, weit entfernt, schien Sherlock etwas zu sagen. Es kam näher. Zog seine langen, schwarzen Haare in glitschigen Fäden hinter sich her. Hatte die schwarzen Augen auf John gerichtet. Das Bild, das sich John darbot, war unerträglich. So ein Wesen hatte er noch nie gesehen, nicht mal in Filmen. Eigentlich war es nicht einmal lebensfähig. Viele schwarze Spinnenbeine ragten zwischen den Fleischfetzen und Sehnen des Halsstückes eines menschlichen Kopfes hervor. Der Kopf selbst sah aus wie der einer erwachsenen Frau, nur etwas kleiner. Ihre Augen waren komplett schwarz und beobachteten ihn starr während die Beine ohne jegliche Art von Muster in alle Richtungen klappten. Johns Angst nahm derartige Ausmaße an dass es sich sogar in körperlichen Schmerz äußerte. Sein Herz klopfte so stark dass es zu bersten drohte. Die Wände des Raumes drifteten von ihm weg, ließen ihn mit diesem Wesen und der faulenden Leiche hinter sich alleine. Dann: Klicken. Und damit taucht die Neonröhre die Umgebung wieder in Dunkelheit. Obwohl es seine Angst nicht lindern konnte verhalf dies John aus seiner Starre. Er ging ein paar Schritte rückwärts, spürte die Kante des Tisches an seiner Hüfte. John drehte den Kopf. Wie eine schützende warme Feuerstelle bewegte sich ein Licht neben ihm. Er ging näher, berührte wieder den Tisch, und das Licht schwankte und driftete leicht von ihm weg. „JOHN!“, schrie das Licht. Das holte Johns Verstand zurück. Das Handy. Es war das Display des Handys. „John, hören Sie?!“, schrie Sherlock, „Bleiben Sie bei mir!” Seine Stimme klang heiser. „Ich bin hier“, antwortete John und bemerkte dass seine eigene Stimme auch sehr heiser klang. Hatte er geschrien? Wenn ja, konnte er sich nicht mehr daran erinnern. „Bei Gott!“, rief Sherlock aus. Es war das erste mal dass John ihn einen Gott anrufen hörte. „Ich dachte schon –”, fuhr er fort, unterbrach sich dann jedoch und meinte: „Vergessen Sie’s. Bleiben Sie ab jetzt bei mir. Reden Sie, John. Reden Sie mit mir, unterhalten wir uns. Was ist los?“ Einige Meter entfernt plätscherte es im Wasser. John entkam ein Schluchzen. Er hielt sich die Hand auf den Mund und bemerkte dabei wie ihm Tränenbahnen über die Wangen liefen. Sherlock Holmes schrie so laut dass die Lautsprechfunktion knackend übersteuerte. „Wer hat Ihnen erlaubt zu schweigen!? Reden Sie, John Watson! Sie werden jetzt sofort mit mir reden, hören Sie!? Das ist ein Befehl!“ „Jawohl“, antwortete John leise. „Gut. Konzentrieren Sie sich nur auf mich, verstanden? Sie haben jetzt nur für mich da zu sein und werden meine Befehle genauestens ausführen, Captain. Haben Sie das verstanden?“ „Jawohl“, antwortete John nun etwas lauter. John begriff, was der Detektiv mit diesem Tonfall und diesen Worten zu bezwecken versuchte. Er ließ es zu und es half tatsächlich. Wie ein Schutzfeld legte sich die verinnerlichte Routine auf ihn, gab ihm Halt und schirmte ihn etwas von der Angst ab. Er schloss die Augen und lies sich von Sherlocks Worten leiten. “Sehr gut, Captain. Nun atmen Sie tief durch und strecken Ihre Arme über Ihren Kopf. Sofort. Bewegen Sie dabei ihre Beine. Tiefe Atemzüge nehmen, verstanden?” John fragte nicht nach. John tat wie ihm geheißen. “Ich habe Sie nicht antworten gehört!” konnte er Sherlock rufen hören. Seine Stimme nahm wieder einen angsterfüllten Beiklang an. „Es ist wichtig, dass Sie mir immer antworten! Ich muss Ihre Stimme hören. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Die Lampe flackerte. Durchflutete den Raum zuerst mit Blitzen, dann mit einem schmutzigen dämmrigen Licht. Am Rande der Sehweite paddelte immer noch das Wesen. John presste die Augen zusammen. Konzentrierte sich auf Sherlocks Stimme. Versuchte das Platschen auszublenden. „Ja, Sir“, antwortete er. „Gut. Ich wiederhole: Hören Sie nur auf mich. Haben Sie Ihre Augen geschlossen?“ „Ja“, sagte John. „Öffnen Sie diese jetzt und sagen Sie mir, was Sie sehen.“ John zögerte. „Ich–” begann er. „Keine Widerworte, Captain! Das war ein Befehl, keine Bitte. Öffnen Sie ihre Augen!“ „Jawoll.“ John öffnete die Augen. Das Monstrum war nun bis auf ein paar wenige Meter nah an ihn herangekommen. Die Beine platschten jetzt etwas koordinierter auf das Wasser ein, was es schneller näher zu ihm brachte. Die Augen waren immer noch auf ihn fixiert und sein kleiner Puppenmund begann sich zu öffnen. Mit jedem Zentimeter, dass es näher kam, öffnete er sich mehr, offenbarte ein klaffendes und völlig chaotisch bezahntes Maul dass sich von einem Ohr bis zum anderen zog, weit über die Grenzen der Lippen hinaus. Als könne Sherlock seine Gedanken lesen sagte er: „Keinen Nervenzusammenbruch, Mann! Sie sind kein Kind mehr. Schildern Sie mir, was Sie sehen.“ „Ich kann nicht“, stotterte John. „Weshalb nicht?“, fragte Sherlock. John geriet ins Wanken. Er spürte wie die Angst wieder überhandnahm. „Weil es … es ist … es kann nicht–“ Tränen rollten über Johns Wangen. „John Watson.“, sagte Sherlock eindringlich. „Das, was Sie sehen, kann nicht wahr sein. Verstehen Sie mich? Was Sie sehen ist verfälscht. Es nimmt Ihnen die Möglichkeit vernünftig zu denken. Sie müssen jetzt etwas tun, John. Ich möchte, dass Sie sich dieses Ding genau ansehen. Ich möchte, dass Sie“, er betonte das folgende Wort sehr stark, „genau hinsehen. Nicht das sehen, was Sie zu sehen denken. Sondern das, was wirklich da ist.“ John zögerte. „Jetzt!“ Er nahm all den verliebenden Mut zusammen. Sah genau hin. „Genau hinsehen. Genau hinsehen, John. Observieren Sie wie ein Arzt. Professionell, ohne Gefühle.“ Er gehorchte. Sah genau in das Maul. Versuchte die Zähne zu zählen. Es waren 28. Nein. 26. Nein? Er zählte noch einmal nach, sah genauer hin. Die Zahl veränderte sich. „Es hat eine sich verändernde Zahl an Zähnen“, sagte John. „Sehr gut!“, rief Sherlock laut aus, „Das ist wunderbar! Verstehen Sie, John? Begreifen Sie, was das bedeutet?“ Die schiefen Zähne wurden immer weniger, begannen sich zu einem deutlicheren Bild zu formen. „Es ist ein unweigerlicher Beweis dafür dass das, was Sie sehen, gar nicht stimmen kann! Ihr Gehirn spielt Ihnen etwas vor, aber es hat keine feste Anzahl von Zähnen festgelegt, ergo ist das?“ Das bezahnte Maul nahm eine ihm bekannte Form an. Die Lippen zogen sich zurück. Die Spinnenbeine rückten näher ins Licht, offenbarten, dass sie gar nicht 8 an der Zahl waren, sondern 4. John konnte unter dem schwarzen Haar Ohren erkennen. Er sah dem Wesen in die Augen. Es waren die Augen einer Katze. Kapitel 5: 5. Die Deduktion --------------------------- „Eine Katze!“, offenbarte John und verspürte jäh eine derartige Erleichterung dass ihm noch mehr Tränen über die Wangen liefen, „Sherlock, es ist eine Katze!“ Er watete auf das Lebewesen zu und hob es auf die Arme. Das erschöpfte Tier heftete sich in seine Hände und hinterließ blutige Kratzer, doch das war John egal. Er musste das Geschöpf einfach anfassen, Trost und Erleichterung aus der ihm völlig bekannten Gestalt schöpfen. Dann setzte er die Katze auf den treibenden Tisch. Wie ein seekranker Passagier krallte sie sich in das Holz des ihr dargebotenen Schiffes und atmete schwach vor sich hin. Am Handy konnte er Sherlock erleichtert und zittrig ausatmen hören. „Jetzt nicht aufhören, John. Klären Sie diesen Mordfall auf. Die Katze spielt offenkundig eine Rolle. Ist irgendwas besonderes mit ihr? Ich höre sie nicht miauen.“ „Sie wirkt schwach. Erschöpft. Ich glaube, sie hat viel Wasser geschluckt. Sie sieht sehr mager aus.“ „Sehr gut, weiter, weiter!“ „Ich glaube, sie hat ein paar kahle Stellen. Vielleicht… wurde sie für dieses Experiment …“ Sherlock unterbrach ihn. „Keine Vermutungen anstellen wenn Sie noch nicht genügend Fakten haben, John! Und vergessen Sie, dass Sie sich in einer gestellten Szenerie befinden. Ihre Entführer haben alles daran gelegt diesen Mordfall so realistisch wie möglich zu halten.“ John richtete den Blick auf die Katze. „Ich … sie… sie bewegt sich irgendwie eigenartig. Vielleicht hat man ihr etwas gespritzt, Drogen?“ Plötzlich verstummte das Handy. „Sherlock?!“, schrie John. „Ja.“, antwortete Sherlock. „Gott sei Dank, es war plötzlich so leise –” „Ich bin hier.“ „Wie bitte?“ „Ich bin hier. Ich bin bei Ihnen. Ich stehe vor einer Art … Hügel. Ein Bunker, wie es scheint. Darin müssen Sie sich befinden.“ Sofort stürmte John, so schnell es das Wasser zuließ, zur Tür. Mit Schrecken musste er feststellen dass sich die Klinke mittlerweile unter Wasser befand. Er griff danach, rüttelte. „Sherlock!!“, rief er. „Ich habe die Tür gefunden. Massives Metall, wie es bei Atombunkern aus den 80ern verwendet wurde. Sonderanfertigung. Sie hat keinen Griff.“ „Sherlock!! Schnell! Das Wasser!“, rief John erneut. „Sie wird elektronisch gesteuert. Ich sehe kein Bedienungsfeld. Die Elektronik muss sich in dem Mauerwerk befinden.“ „Sherlock!“ „John, ich …“, er machte eine Pause und John fürchtete er würde ihn nun vertrösten, sagen dass es keine Möglichkeit für ihn gab hineinzukommen, ihn allein lassen. Aber er fuhr fort: „Ich suche weiter. Aber hören Sie nicht auf. Erfüllen Sie Ihre Aufgabe. Finden Sie die Fakten. Schlussfolgern Sie. Klären Sie den Mordfall auf.“ „Nicht einmal Sie konnten das!“, schrie John nun hoffnungslos, denn mit dem steigenden Wasser verstärkte sich sowohl der Luftdruck als auch abermals die Panik. Das Handy blieb still. Dann hörte er Sherlock sagen: „Das stimmt. Aber Sie können das. Ich weiß es. Nun konzentrieren Sie sich, Captain. Ein letztes Mal. Reißen Sie sich zusammen und deduzieren sie.“ John atmete tief durch. Fasste seinen Mut zusammen. Drehte sich um. Lies seinen Blick über alle sichtbaren Einzelheiten im Raum gleiten. „Also gut“, erwiderte er dann hektisch, aber bestimmt. „Ein Raum. Abgeschlossen.“ „Nicht relevant, weiter.“ „Alt. Sieht aus wie ein Keller.“ „Gut, weiter.“ „Hier ein Tisch. Dort eine Leiche. Eine Katze. Blut an den Wänden. Da hinten ein Regal.“ „Was ist in dem Regal?“ John kämpfte sich durch das Wasser und zu dem Gestell hin. „Alte Einmachgläser. Verstaubt. Sieht aus wie eingelegte Kirschen. Eine Zange. Kann nicht die Mordwaffe gewesen sein. Hier oben ist etwas … etwas matschiges.” „Etwas matschiges?“ John stellte sich auf die unterste Stufe im Regal und stemmte sich ein Stück aus dem Wasser hervor. Er berührte mit den mittlerweilen vom Wasser geschrumpelten Fingern den Matsch, führte ihn dann zur Nase. „Das ist… das ist ein alter Kürbis.“ „Fermentiert?“ „Ja, eindeutig. Aber weshalb ist das von –„ Ein Gedanke kam ihm. Drehte sich dann zur Katze um, die sich immer noch benommen und mit allen vieren von sich gestreckt am Tisch festkrallte. „Ah“, machte er. Dann hörte er mit Schrecken etwas aus den verdunkelten Fenstern schaben. „Keine Angst, das bin ich“, erklärte Sherlocks Stimme aus dem Mobilfunkgerät. Ein schnelles und für seinen Freund eindeutig typisches Klopfen verriet seine Anwesenheit hinter den Abdunklungen. Johns Herz pochte sofort schneller, und er konnte einen grenzfemininen Schrei der Freude nicht rechtzeitig unterdrücken. Dann dröhnten zwei Pistolenschüsse sowohl aus den Lautsprecher des Handys als auch aus den Fensterkanälen. „Keine Chance.“, sagte Sherlock, während er John Watsons fragwürdigen Laut höflich ignorierte, „Ich kriege die Platte nicht auf. Vielleicht finde ich im Streifenwagen etwas mit mehr Schusskraft, oder vielleicht sogar etwas dass eine Explosion auslöst. Aber hören Sie nicht auf! Was ist mit dem Wasser?“ Sherlocks stoßartige Atemzüge verrieten dass er sich hastig bewegte. Wahrscheinlich läuft er gerade zum Wagen, dachte John und spürte den Trost des Wissens dass sein Freund sich in unmittelbarer Nähe befand und John sich ausmalen konnte, was da draußen vor sich ging. „Wie meinen Sie das?“ „Na, wo kommt es her?“ „Das weiß ich nicht.“, erwiderte John und begriff noch während er die Worte aussprach seine Torheit. „Wie bitte?!“, rief Sherlock ungläubig, „Sie haben noch nicht einmal versucht die Quelle zu finden, sie abzudichten?!“ John drückte sich an der Wand entlang und versuchte mit den Füßen ein Rohr, einen Hahn oder etwas ähnliches zu erspüren. „Ich hatten den Kopf mit anderen Dingen voll, Sherlock“, brachte er nervös hervor. Unter normalen Umständen hätte ihm sein perfektionistischer Freund nun wohl einen Vortrag gehalten, doch die Lage reduzierte seine Aufgebrachtheit auf ein verächtliches Schnauben. John war dankbar dass er es dabei beließ. Er hörte das knacken eines Funkgeräts, dann Sherlocks Stimme. „Hier Holmes, bin bereits am Zielort. Ich brauche dringendst einen Bunsenbrenner, den stärksten den Sie innerhalb kürzester Zeit auftreiben können. Und einen Presslufthammer. Es geht um Minuten“ „Wie konnten Sie so schnell dort sein, Holmes?“ erklang Lestrades verzerrte Stimme. Das Decrescendo verriet dass Sherlock sich bereits wieder vom Wagen entfernte. „Der Wasserstand?“, fragte Sherlock. John hatte nun bereits drei Wände abgetastet. „Schulterblatt“, gab er knapp von sich. Sein Atem ging stark und schnell. Sherlock schwieg. Dann ertönten abermals zwei Schüsse aus Lautsprecher und Fensterkanal. „Ich dachte das kann nicht funktionieren“, meinte John. Wieder zwei Schüsse. „Sherlock!“ „Suchen Sie weiter, verdammt!“, schrie Sherlock. Seine Stimme brach. Bevor John darauf reagieren konnte traf sein Fuß auf etwas Hartes. Ohne sich Gedanken über eventuelle Konsequenzen zu machen tauchte er sofort unter und griff blind mit den Fingern danach. Sie trafen auf Metall, tasteten es ab. Ein Wasserhahn!, dachte John glücklich. Er griff nach dem Gewinde, doch stattdessen fand er nur ein Loch vor. Er tauchte auf und schnappte nach Luft. „Was haben Sie gefunden?“, fragte Sherlock. Die Schüsse schien er nun eingestellt zu haben. „Einen Wasserhahn, direkt gegenüber der Tür. Aber der Griff ist weg. Vielleicht wurde er aus Versehen entfernt, ich suche noch mal danach“, stieß John aus. Seine Worte überschlugen sich fast. Der Zeitdruck machte ihm zu schaffen. Er presste die Luft aus seinen Lungen und tauchte wieder ab, tastete mit den Händen am Boden entlang. Das eiskalte Wasser stach ihm in Ohren, Nase, Hände. Dann glitt ihm etwas Scharfes zwischen seine Finger und durchtrennte seine Haut und sein Fleisch. Sofort tauchte John wieder auf, schnappte wieder nach Luft und stieß einen zischenden Schmerzenslaut aus. Die Umgebung begann sich wieder zu verändern, zu pochen. “Nein, nein, nein!”, rief John der Angst entgegen. Er musste bei Sinnen bleiben. Die Zeit drängte. Es war überlebenswichtig. Streng dröhnte es aus dem Handy: „Was ist passiert? Was ist passiert, John? Bleiben Sie bei mir, atmen Sie tief durch, nicht hyperventilieren! Bleiben Sie in der Realität! Ich bin hier, hören Sie?“ Ein Klopfen an der Abdunkelung. “Hören Sie?” „J-ja“, brachte John knapp hervor. Er durfte jetzt auf keinen Fall schwach werden. Er hielt seine Finger mehr ins fahle Licht und betrachtete die tiefe Wunde. Eine saubere, gerade Einkerbung. Das konnte kein Monster gewesen sein. Selbstverständlich konnte es kein Monster gewesen sein. Nicht einmal ein Tier. Ein Messer vielleicht. War das wichtig? Spielte das eine Rolle? Er musste es nachprüfen. „Ich schaffe das“, sagte John, diesmal mehr zu Sherlock als zu sich selbst, bevor er wieder in die schmerzhafte Kälte abtauchte. Ein Teil des Deckenlichts brach sich im schmutzigen Wasser und lies schwach weiße Umrisse erkennen. Vorsichtig griff er nach dem scharfen Gegenstand, nahm es in die Hände. Diesmal ohne sich zu schneiden. Dann stellte er die Füße auf den Boden, streckte sich und presste sich somit aus dem Wasser hevor. „…keine Zeit!“, hörte er Sherlock einen Satz beenden. „Was haben Sie gesagt?“, fragte John nervös während er den Gegenstand in seiner Hand betrachtete. Es war eine bemalte Porzellanscherbe, leicht gewölbt. „Sie haben keine Zeit mehr nach dem Gewinde zu suchen, konzentrieren Sie sich auf die Lösung des Mordes, John, jetzt!“ „Aber – ” setzte John an. „Los! Was ist hier passiert?“ Der Schmerz in Johns Schläfe pochte, verstärkt durch den Luft- und wohlmöglich auch Zeitdruck. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. „Ich weiß nicht“, brachte er hervor. „John, es muss, verstehen Sie, muss einfach möglich sein den Mordfall aufzuklären. Ansonsten wäre das – … es muss. Ich weiß es.“ „Und wenn Sie sich irren?“ „Los!“, schrie Sherlock und fast im selben Augenblick knallte wieder ein Pistolenschuss aus Richtung der Fenster. „Ja, ich – “, setzte John an. Er schluckte. Sah sich um. Sah sich alles noch mal an. Versuchte angestrengt seinen Kopf klar zu kriegen und aus den Puzzlestücken ein Gesamtbild zu legen. „Die Katze… hat … der Mörder …“, setzte er zerstreut an. Doch es war vergebens. Das alles machte keinen Sinn. Er hatte auch keinen Hinweis des Mörders, weder eine Tatwaffe noch ein Motiv noch irgendwelche Anzeichen darauf dass es überhaupt einen Mörder gab. Wie sollte er da, um Himmels Willen, fähig sein – Halt. Keine Hinweise des Mörders? Keine Anzeichen eines Mordes? Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag. „Sherlock, ich – ich glaub ich weiß es jetzt“, sagte John langsam, denn er kombinierte noch die Bruchstücke in seinem Kopf. Sie passten. Alle. Das schaben und Klopfen an den Abdunkelungen hörte sofort auf. „Sprechen Sie es aus“, sagte Sherlock. Er klang angespannt. „Laut. Ihre Entführer werden irgendwo ein Abhörgerät installiert haben.“ John holte Luft. „Die Frau hat den Keller betreten um Wasser zu holen. In einer Porzellanschüssel. Vielleicht weil oben der Hahn besetzt war, oder weil sie sowieso in der Nähe war oder warum auch immer. Sie ging also zum Wasserhahn, kniete sich hin. Bemerkte jedoch nicht die Streunerkatze die sich ins Gewölbe geschlichen hatte und nicht wieder herausgekommen war. Vor Hunger hatte die Katze die fermentierten Überreste des Kürbisses verspeist und hat dann alkoholisiert und wahrscheinlich auch noch dehydriert die Frau als Bedrohung gesehen und attackiert. Noch während der Wasserhahn lief ließ die Frau die Schüssel fallen, riss schockiert das Gewinde, das sowieso instabil war, ab, stand schockiert auf und fiel wohlmöglich mit der Katze noch im Gesicht rückwärts auf die Kellerstufe vor der Tür. Die Blutungen oder eine Fraktur führten dann zum Tod. Ich kann den Mordfall nicht aufklären, denn es war kein Mord, Sherlock! Es war ein Unfall! Es gibt keinen Mörder!” Beide, Sherlock Holmes und er selbst, John Watson, hielten inne. Verarbeiteten das Gesagte. Überlegten. Lauschten. War das wirklich des Rätsels Lösung? War das wirklich das, was seine Entführer von ihm verlangten? Sein Leben hing nun einzig und allein von ihrem Wohlwollen ab. Aber was, wenn sie gar kein Abhörgerät installiert haben? Wenn er sie auf andere Art und Weise kontaktieren sollte? John spürte dass Sherlock wohl ähnliche Gedanken haben musste. Er griff nach dem Handy, schaltete den Lautsprecher ab und wollte es gerade zum Ohr führen als ein völlig neues Geräusch den Raum erfüllte. Ein Knacken. „Was?“, rief John verblüfft. Ein starker Wassersog zog ihn Richtung Tür. Dann zeichnete sich ein dünner Spalt grelles Sonnenlicht sich zwischen Tür und Rahmen ab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)