Tage des Donners von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: paint it black ------------------------- „Hey, wird’s bald!? Wo bleibt mein verfluchter Whisky!?“ Ryou stellte zwei Bier an einem Tisch ab und wischte sich dann genervt und hektisch mit dem Armrücken über die Stirn, ehe er weiter eilte. Heute war der heißeste Tag des Jahres bisher und die Menschen waren gereizt. Gereizt von der Hitze, die das Loch namens Labours Lost in einen Brutkasten verwandelte und die Autos ständig zum Absaufen brachte, sie waren gereizt von der schlechten Musik, die blechern aus einer Jukebox vor sich hin leierte, welche ihre besten Jahre schon hinter sich hatte, und sie waren gereizt von der hölzernen Einöde, die dieses trostlose Loch von allen Seiten umschloss. Hier gab es keine Abwechslung. Hier gab es Menschen, schwitzende, gereizte Menschen, die alles dafür geben würden, einmal aus ihrem Alltag zu entfliehen. Am besten ging das noch im Burning Ground, Mais Bar. Mai. Wie beschrieb man Mai? Die wohl taffste Frau in ganz Labours Lost und in 1000 Meilen Umgebung, Inhaberin der einzigen tauglichen Bar in der Gegend und eine Witwe, die schneller mit dem Revolver war, als ein Held aus einem Schmalspur Wildwestfilm. Und Ryou arbeitete für sie. „Keith, du bist nicht der Einzige, der was bei mir bestellt hat“, sagte Ryou leicht vorwurfsvoll, als er an Keith Bandits Tisch kam, um ihm seinen Doppelten hinzustellen. Bandit war ein Berg von einem Mann, mit einem Haufen an Muskeln an allen möglichen und unmöglichen Stellen, trug immer ein, wie Ryou fand, albernes Kopftuch mit der Flagge der Vereinigten Staaten, war aggressiv und unfreundlich und dass er auf Mai Valentine stand, die nicht nur gut mit dem Revolver umging, sondern auch nach dem Jargon heruntergekommener Westernhelden ein Bild von einem Weib war, war nicht der einzige Grund, warum sie ihn im Griff hatte. Keith Bandit riss gern seine Klappe auf, vor allem, wenn er betrunken war, aber im Grunde war er harmlos und regte sich genauso schnell wieder ab und er gehörte zu den Stammgästen hier in der Bar. Wenn auch nicht zu Ryous liebsten. Aber er ließ gelegentlich Trinkgeld springen. Und das war okay. „Das ist auch eine Scheißhitze momentan“, brummte Keith, was wohl eine Art Entschuldigung sein sollte, und Ryou machte sich nichts weiter daraus. Er arbeitete seit etwa zwei Jahren bei Mai und hatte schnell lernen müssen, dass man sich hier nicht unterbuttern lassen durfte, besonders wenn man, wie Mai es so schön ausdrückte, so ein Milchgesicht hatte wie Ryou. Er hatte viele Momente gehabt, in denen er sich gewünscht hatte, aufgeben und in sein altes Leben zurückkehren zu können, aber das ging nicht. Schon damals war ihm klar gewesen, dass es kein Zurück gab. Und jetzt war er hier und er war am Leben und er hatte Freunde und das war wundervoll, auch wenn das Leben hier oft hart war. Aber es lief. Das tat es immer. Die Luft war wenigstens trocken – darum war er froh, denn er mochte es nicht, wenn sich in der hohen Luftfeuchtigkeit seine Haare so kräuselten. Was aber wohl auch bedeutete, dass es so bald nicht regnen würde. Als er alle Gäste bedient hatte, ging Ryou zur Theke, um sich selbst am Zapfhahn ein Glas Wasser einzugießen, welches er dann in einem Zug leer trank, ehe er sich einen Lappen schnappte und begann, die Tische zu wischen, an denen gerade keine Gäste saßen. Mai sah es nicht so gern, wenn man nur untätig in der Gegend herumhing. Und heute hatte er doppelte Arbeit, weil Anzu, die mit ihm Dienst gehabt hätte, einfach nicht erschienen war. Neben Keith waren gerade noch fünf andere Gäste in der Bar. Eine Prostituierte, deren Arbeit während des Sommers erst nachts begann und die die Tage meistens damit zubrachte zu trinken oder neue Kontakte zu knüpfen – sie trug trotz des Wetters ein Korsett, welches ihre Brüste zusammen und nach oben presste und ihnen somit das Doppelte an Volumen gab, was sie wohl ursprünglich hatten, wobei sie ständig mit einem Fächer wedelte und meistens auch eine Zigarette im Mundwinkel hatte. Sie war blond, hatte eine altmodische, leicht schlampige Hochsteckfrisur, ein Muttermal an der linken Wange und war immer ziemlich billig geschminkt, ihr Name hörte sich genauso billig an, wie sie aussah. Cindy. Der alte Joe Daniels, welcher immer ein rotes Gesicht hatte, saß mit seinem Freund Bill Jackson, der so viele Falten hatte, dass niemand sein genaues Alter mehr schätzen konnte (vermutlich wusste er es selbst nicht mehr) an einem Tisch und zusammen vertrieben sie sich die Zeit mit Kartenspielen und gelegentlich mal einem Whiskey. Wobei da die Hitze keinen Einfluss auf die beiden zu nehmen schien. Mai hatte mal im Scherz gesagt, dass sie die beiden damals quasi mit der Bar schon als Zubehör übernommen hatte, aber mittlerweile war Ryou sich nicht mehr so sicher, ob das wirklich ein Scherz gewesen war. Und dann war da noch ein freundlich wirkender Mann mittleren Alters, der ein junges, schüchtern wirkendes Mädchen dabei hatte. Er hatte ein Mineralwasser, sie ein Ginger Ale bestellt. Offenbar waren sie nur auf der Durchreise. Ryou hatte ein ziemlich gutes Gespür dafür, Leute einzuschätzen. Leute, die es eilig hatten, tranken keinen Alkohol. Leute, deren Leben im Grund intakt war, auch nicht. Zumindest nicht in diesem Saloon. Ryou hatte generell ein sehr gutes Gespür. Genauso spürte er nämlich, dass dieser Tag heute, so sehr er allen anderen Tagen in Labours Lost auch ähneln mochte, irgendwie anders war. Irgendetwas lag in der Luft und das war sicher nicht der Gestank des Gullys zwei Straßen weiter, der sich aus irgendeinem Grund verstopft hatte und keine Behörde fühlte sich zuständig, sich um eine schnelle Reinigung zu kümmern, sondern etwas anderes, etwas Bedrohliches, das zu benennen nicht möglich war. Heute würde irgendetwas passieren. „Ryou, ich bezahle dich nicht für‘s Rumstehen, sondern für‘s Arbeiten!“, ließ ihn eine leicht genervte Stimme aus den Gedanken hochschrecken. Ertappt zuckte er zusammen – er hatte gar nicht gemerkt, dass er beim Wischen innegehalten und leicht entrückt in die Ferne gestarrt hatte. Er sah auf und blickte in das strenge Gesicht von Mai, welche sich gerade mit einer zusammengerollten Zeitung eine Mücke vom Leib hielt. „Lästige Biester“, fluchte sie dabei und schob dann ihren weißen Cowboyhut nach oben, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. „Wo steckt Anzu überhaupt? Heute Abend wird’s wieder voll, es ist Freitag und das Spiel läuft. Das schaffst du nicht alleine.“ Als ob er jetzt was dafür konnte. „Ist nicht meine Schuld, dass sie nicht aufgetaucht ist, Mai. Kann Joey nicht einspringen?“ „Wenn die hier auftaucht, kann sie was erleben“, knurrte Mai, „Ist kurzfristig. Ich schau mal, ob ich ihn erreiche.“ Normalerweise war es umgekehrt. Anzu war ein Musterbeispiel an Verlässlichkeit und Joey eher der Unzuverlässige, aber dass das heute ohnehin kein normaler Tag war, hatte Ryou ja schon festgestellt. Ryou band sich den unteren Teil seines Flanellhemdes hoch, der fruchtlose Versuch, etwas mehr frische Luft an die Haut zu lassen, dann ging er hinter die Theke, um die Zapfhähne zu reinigen, während er Mai gedämpft telefonieren hörte. Wenig später kam die Chefin wütend wieder nach vorne gestürmt. „Diesen Taugenichts kann ich nicht erreichen! Was machen wir jetzt? Annie hat letzte Woche gekündigt und Jill ist immer noch im Krankenhaus und wird da wohl auch noch eine Weile bleiben.“ Ryou sah etwas ratlos drein und Mai rollte mit den Augen. „Hilft wohl nichts, ich werd mich selbst hinter die Theke klemmen müssen. Und jetzt lass den Welpenblick, sonst fühl ich mich noch schuldig, dass ich dich angepflaumt hab“, fügte sie grinsend hinzu und wuschelte Ryou durch den weißen Haarschopf, welcher dadurch peinlich berührt leicht errötete. „Da werd ich glatt noch ein Weilchen bleiben“, kam es von Keith, welcher ihr Gespräch wohl mit halbem Ohr belauscht hatte und Mai hob nur abwesend zwei Finger zu einem saloppen Seemannsgruß, was bei ihr so viel hieß wie ‚du kannst mich mal‘. Zum späten Nachmittag hin füllte sich die Bar ein und am frühen Abend war sie bereits gut besucht – heute lief ein Spiel, das sie auf einem an der Wand angebrachten Fernseher übertrugen und sich hier zu versammeln zu solch einem Anlass war für viele das Highlight der Woche - und Ryou hatte alle Hände voll zu tun. Auch wenn der Fernseher viel zu klein war für so viele Leute und nur noch schwarz weiß übertrug, schien das irgendwie niemanden zu stören. Das Verfolgen des Spiels stärkte immer das Gemeinschaftsgefühl und danach waren alle immer gut drauf und ließen fast durchgehend sagenhaftes Trinkgeld fließen. Trotz des Lärms, dem Gegröle und dem Lachen der Leute hörte er das laute Knattern und Brummen als erstes – er runzelte die Stirn. Klang nach einer schweren Maschine. Und schwere Maschinen bedeuteten meistens Ärger. Er warf Mai einen Blick zu, aber die war gerade dabei, ein volles Tablett in die andere Ecke des Raumes zu balancieren, und hatte die Geräusche noch nicht vernommen. Es mochten vielleicht zwei oder drei Motorräder sein, die in der Nähe des Saloons hielten, genau konnte Ryou das nicht einschätzen. Es dauerte nicht lange, da wurden plötzlich die Flügeltüren mit so einer Wucht aufgestoßen, dass sogar die Männer, die gebannt das Spiel auf dem Bildschirm verfolgt hatten, kurz aufsahen. Auch Ryou war neugierig geworden und hatte in seiner Arbeit innegehalten. In der Tat, die Erscheinung, die sich ihm hier bot, empfand er als genauso aufregend, wie dass er sie als unwohl empfand. Ein Mann mit dunkler Haut, ähnlich der der Mexikaner, nur mit einem Stich mehr … Bronze, wie es schien, blondes Haar, das wirr von seinem Kopf abstand – ob das nur die Schuld des wohl zuvor noch getragenen Helmes war, wagte Ryou leise zu bezweifeln – und ein Gesicht umrahmte mit kalten blass fliederfarbenen Augen und einem schmalen Mund, um welchen ein verwegener Zug lag. Er trug einen schwarzen Stoffmantel, der schon seine besten Jahre hinter sich hatte, darunter eine Nadelstreifenweste mit Knöpfen, die auf den ersten Blick wirkten wie Diamanten, und einem blass lilafarbenen Hemd darunter. Abgerundet wurde die Erscheinung mit abgenutzten, ledernen Motorradhosen und altmodischen zerlaufenen Bikerboots, an welchen jeweils hinten an der Ferse silberne Sporen befestigt waren und die einen metallenen Absatz hinten hatten, was ziemlich altmodisch aussah und ein bisschen an die Hells Angels erinnerte. Noch bevor dieser Mann den Mund aufgemacht hatte, war Ryou überzeugt davon, ihn in die Kategorie der Männer einordnen zu können, die ihn schwach machen, ihm aber auch das Herz brechen konnten, weil sie rücksichtlose und kaltblütige Arschlöcher waren. Zu dumm aber auch, dass genau dieser Schlag Mann seine Schwäche zu sein schien. Der Fremde blickte sich um und all jene, die seinem Blick begegneten, sahen schnell wo anders hin, und sagte dann mit lauter Stimme: „Ich habe gehört, wenn man in diesem Kaff nach was Anständigem zu Trinken sucht, ist man hier richtig. Ich hoffe, ich werde nicht enttäuscht, ich war nämlich lange unterwegs und meine Laune ist nicht die Beste.“ Mai, die inzwischen den Neuankömmling ebenso bemerkt hatte, antwortete beiläufig, „Howdy Cowboy, da hast du richtig gehört. Ist‘n bisschen viel los wegen dem Spiel, aber wir halten, was unser Ruf verspricht.“ Das schien dem Fremden zu genügen. Er nickte wohlwollend, sah sich um, wobei sich Ryou einbildete, dass der Blick ihn kurz bewusst streifte, und schritt dann auf den freien Tisch in der Ecke zu, wo er sich so niederließ, dass er den gesamten Raum überblicken konnte. Beim Gehen verursachten seine Schuhe ein rhythmisches Klacken auf dem kahlen Boden. Klar. Da, in die Ecke, damit einem ja niemand von hinten ein Messer in den Rücken stechen konnte. Irgendwie hatte Ryou damit gerechnet, dass er sich für diesen Tisch entschied, und nicht an der Theke Platz nahm, wo man mit dem Rücken zum geöffneten Raum saß und quasi Freiwild war. Blöderweise machte Mai keine Anstalten, den Mann selbst zu bewirten, da sie gerade alle Hände voll zu tun hatte, ein volles Tablett mit Bier zu einem Tisch zu balancieren, deshalb musste Ryou wohl oder übel ran. Er hatte es schon mit allen möglichen Kalibern zu tun gehabt, dennoch war er ein wenig nervös. Sein freundlichstes Lächeln aufsetzend und seinen Bestellblock zückend, ging er also zu dem Tisch des Fremden. „Was darf‘s sein?“, fragte er bemüht lässig. Der Mann holte langsam einen zerdrückten Beutel Tabak aus einer Innentasche seines Mantels, wobei sich Ryou im Stillen fragte, ob ihm dabei nicht zu warm war. Ihm selbst lief ja so schon der Schweiß in Strömen. „Küche?“ „Ja, ist noch geöffnet. Wir haben die besten Spareribs der Stadt. Frisch vom Grill, mit Cole Slaw Salad und Fritten. Oder-“ „Ich nehm die Spareribs, Kleiner. Bring mir dazu `ne Cola und euren besten Whiskey. Doppelt.“ Dabei rollte er das R, sodass Ryou eine Gänsehaut bekam. Mit Mexikaner hatte er falsch gelegen. Der Akzent war ein ganz anderer und auch seine Züge. Ein Araber? Welch eine Seltenheit. Die Augen des Fremden ruhten einen Augenblick auf Ryou, während dieser sich rasch die Nummern der Bestellungen notierte. Sie ruhten einen Augenblick zu lange da und Ryou, welcher wider aller Annahme und dem, was man sich so über ihn erzählte, nie sonderlich schamhaft gewesen war, wünschte sich plötzlich, er hätte sich das Hemd vorhin nicht so weibisch hochgebunden. Irgendetwas in diesem Blick gefiel ihm nicht. Er war lüstern. „Kommt sofort.“ Ryou verschluckte die zwei Worte fast und machte ein bisschen zu zackig auf dem Absatz kehrt, um die Bestellungen weiterzugeben, wobei er ein Grinsen in seinem Rücken spürte und Augen, die ihn förmlich fraßen. Gott, was war nur los mit ihm? Ansonsten war er doch auch nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen und jetzt reichten 30 Sekunden in Gegenwart eines vollkommen Fremden, um ihn nervös und zittrig zu machen. Oder war das nur sein siebter Sinn, der ihn da vor irgendetwas warnen wollte? Als Ryou schließlich hinter die Theke ging, um die Getränke vorzubereiten, fiel ihm glatt das Whiskyglas aus der Hand und zerbrach auf dem Boden. „Scheiße“, fluchte er leise und kehrte die Scherben fahrig mit dem Fuß zusammen, damit sie sich erst mal nicht vertraten, und nahm dann ein neues Glas aus dem Schrank. Viele hatten sie nicht mehr. Irgendjemand würde in den nächsten Minuten spülen müssen, damit sie keinen Engpass bekamen. Während er das Eis in das Whiskyglas gab, wanderten sowohl sein Blick als auch seine Gedanken zu dem Mann hinüber. Dieser hatte sich gerade eine Zigarette gedreht und rauchte, der Blick ruhte dabei hin- und wieder auf den anwesenden Menschen, wirkte dabei gelangweilt. Moment mal … irgendwas stimmte nicht. Ryous Herz begann ein bisschen zu wummern – er wurde allerdings von seinen Gedanken abgelenkt, als zur Tür plötzlich eine sehr fahrig wirkende Anzu hereinstürmte. Mai, die gerade in Ryous Nähe arbeitete, hatte sie auch bemerkt und eine abwartende Haltung eingenommen. Ryou bemerkte eine Schwellung auf der linken Gesichtshälfte des Mädchens. „Tut mir leid, Mai“, sagte das Mädchen, „Ich hatte … Ich hatte etwas Ärger mit meinem Freund…:“ Mais Blick verdüsterte sich zusehends, als sie die Verletzung bemerkte. „War er das? Anzu, ich hab dir schon so oft gesagt, dass du dich von diesem Schwein trennen musst! Nicht genug, dass er dich schlägt, aber wenn das dazu führt, dass du auch noch zu spät zur Arbeit kommst, kann ich das nicht mehr tolerieren…“ Den Rest des Gespräches bekam Ryou nicht mehr mit, da er blöderweise mit der Vorbereitung der Getränke fertig war und sie wohl oder übel nun zurück zu dem Tisch befördern musste. Während er die Getränke mit geübten Griffen schließlich vor ihm abstellte, fragte er so beiläufig wie möglich: „Ganz alleine, Mister?“ Der Mann wirkte einen Augenblick tatsächlich überrascht, grinste dann, „Sieht wohl so aus, Honeybee. Hast ja ‚nen ganz feinen Blick. Ich wette, du merkst dir jede Fresse, die hier zur Tür hineinmarschiert, hab ich Recht?“ Nun gewann Ryou etwas von seiner Selbstsicherheit zurück. „Sowas gewöhnt man sich irgendwann an, wenn man länger hier in der Gegend lebt.“ Abermals ein Blick, der über Ryous Körper streifte. Diesmal empfand Ryou ein angenehmes Kribbeln. „Wann hast du Feierabend?“ Ryou warf einen flüchtigen Blick hin zu Anzu, die noch immer mit Mai sprach. Jetzt wo das Mädchen da war, konnte er sicher ein, oder zwei Stunden früher gehen, da das Spiel bald vorbei war, und sich die Bar ab Mitternacht meistens ohnehin leerte und nur noch Aufräumarbeiten zu erledigen waren. „So gegen eins“, antwortete er schließlich. „Wie heißt du?“ „Ryou.“ Folgsam und artig, wie wenn er in der Schule etwas gefragt worden war. „Also, Ryou … Ich würde dir nachher gerne meine Maschine zeigen…“ Das Herz wummerte ihm plötzlich in der Kehle. Es lag außerhalb jeglichen Zweifels, was mit diesem Vorschlag gemeint war. Und gerade Ryou, der ein von Natur aus misstrauischer Mensch war, der schon so seine Erfahrungen mit Männern wie diesem gemacht hatte, Ryou, der es eigentlich besser wissen müsste, hörte sich nur selbst schwach antworten: „Klar, ich steh auf Motorräder - Ich glaube, Ihre Spareribs sind jetzt fertig…“ Ryou stürzte sich also in die Arbeit, um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass er gerade eine ziemlich leichtsinnige Zusage gemacht hatte, versuchte zu ignorieren, dass man einem Fremden, gerade hier in dieser Gegend, wo das Gesetz ohnehin immer hinterherhinkte, einfach nicht trauen sollte, dass das unter Umständen lebensbedrohlich enden konnte. Er sah auf die Uhr und schloss kurz die Augen. Eigentlich konnte man gar keinem Menschen auf der Welt vertrauen, wenn man bedachte, was ein Mensch, dem er mal vertraut hatte, in seinem Leben angerichtet hatte. Noch eine halbe Stunde. Er öffnete die Augen wieder. Arbeitete weiter. Die Uhr blieb mit dem langen Zeiger auf der Sechs kleben. „Ryou, du kannst jetzt Schluss machen“, ereilte ihn schließlich Mais Angebot. Immerhin war Ryou jetzt sechs Stunden länger geblieben, als er eigentlich hätte müssen. Er warf noch einen Blick in Richtung des Mannes – oder dorthin, wo er gesessen hatte, denn er war verschwunden. Vermutlich wartete er draußen im Schutz der Dunkelheit. War wohl auch besser. Immerhin musste niemand mitbekommen, mit wem Ryou da weg ging. Ryou ließ sich Zeit im Personalzimmer – eigentlich musste er nur den Gürtel mit dem Bestellblock und dem Beutel für das Geld ablegen und sich die Hände waschen, etwas Wasser ins Gesicht. Er wusste, dass es falsch war, wenn dieser Mann glaubte, dass er es eilig hatte, zu ihm zu kommen. Auch wenn das nur der Wahrheit entspräche. Sein Hemd band er nicht herunter, er zurrte den Knoten sogar nochmal nach. Dann trat er, nachdem er sich von Mai und Anzu verabschiedet hatte, nach draußen in die schwüle Nacht. Sogar den Zikaden war es zu heiß zum Zirpen. Ihm stand sofort wieder der Schweiß auf der Stirn. Sich suchend umblickend sah er ihn schließlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen, dort hatte er auch sein Motorrad abgestellt. Ryou bemerkte schon bei den schlechten Lichtverhältnissen – denn die Hälfte der Straßenlaternen war kaputt – dass es sich um eine Harley Davidson handelte – und beim Näherkommen, dass es wohl ein ziemlich altes Modell war, das man aufgemotzt und meilentauglich gemacht hatte. Der Fremde hatte sich lässig gegen den Sitz gelehnt und rauchte eine von seinen selbstgedrehten Zigaretten. Sein Mantel war dabei zurückgerutscht und beim Näherkommen sah Ryou plötzlich ein Waffenhalfter, aus dem das Ende eines Colts blitzte. Er schluckte. Deshalb hatte er den Mantel wohl nicht ausgezogen. Aber dass er eine Waffe hatte, war erst mal nichts Ungewöhnliches. Hier in der Gegend hatten viele – besonders diejenigen, die am Stadtrand oder noch ein Stück ländlicher lebten – mindestens ein Gewehr oder eine Kleinkaliberpistole. So waren nun mal die Gesetze. Töte den anderen, ehe du zuerst getötet wirst. Nein, es war vielmehr das Gesamtpaket, das Ryou nun gleichsam beunruhigte, wie dass es ihn anzog. Dieser Mann wirkte wie ein Westernschurke aus einem alten Clint Eastwood Film, ihm fehlte nur noch der zerschlissene Cowboyhut und irgendwie wünschte er sich plötzlich, dass er einen trüge. Als Ryou vor ihm stand, sah er zu ihm auf, sah in die kältesten und verschlingendsten Augen, in die er jemals geblickt hatte und der andere sagte auch kein Wort, er hob beide Hände und umfasste Ryous Gesicht, um ihn in einen Kuss zu ziehen und Ryou stieg dabei der Geruch der Zigarette in die Nase und er schmeckte nach Whisky und teurem Tabak und außerdem schmeckte er nach Tod und Vergessen, er schlang die Arme um seinen Nacken, nahm alles in sich auf, den Geschmack des Kusses, den Geruch von Motoröl, das Knarren des Leders und auch den Griff der Waffe, der kurz seinen nackten Bauch streifte. Und während sie sich küssten, während der Kuss immer verlangender wurde und jeglicher Unschuld entbehrte, fand eine von Ryous schlanken Händen ihren Weg in den Schritt des anderen, griff zu, nicht zaghaft, sondern gierig und er spürte seinen halbsteifen Schwanz und die schweren Hoden durch den Stoff seine Hand ausfüllen. Keuchte dabei und irgendwann fing der Fremde seine Hand ein und unterbrach den Kuss. „Hat dir deine Mama nicht beigebracht, dass man nichts mit Fremden anfängt, die eine Waffe bei sich tragen?“ Offenbar hatte er bemerkt, dass Ryou seine Waffe aufgefallen war. Er lächelte, leckte sich hektisch über die Lippen. „Mir hat man viel beigebracht. Ich weiß, was ich tue, Mister. Wollen Sie mir nicht langsam Ihren Namen verraten?“ „Mh…“ Er schien zu überlegen, ob Ryou es wert war, ihn zu erfahren und sagte dann „Mariku.“ Mariku. Das ging runter wie Öl. „Dann bist du jetzt kein Fremder mehr für mich, Mariku … Ich wohne nicht weit von hier.“ Eine unmissverständliche Einladung. Einmal ausgesprochen konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Mariku schien einen Moment zu überlegen, ehe Ryous Angebot auf Zustimmung stieß, dann nickte er. Er deutete auf sein Motorrad. „Wird ‘ne kurze Spritztour, aber glaub mir, das Baby macht dich geil, wenn du‘s unterm Hintern hast.“ Ryou glaubte es ihm sofort. Ohne Helm und Schutzkleidung kroch er kurz darauf hinter Mariku auf den Sitz und schlang die Arme um seinen Leib. Der Motor heulte auf, die Maschine vibrierte so heftig, wie sie knatterte – deshalb hatte er sie wohl vorhin auch durch den gut besuchten Saloon noch gehört. Als Mariku anfuhr, spürte Ryou, was er mit dem gemeint hatte, was er vorhin zu ihm gesagt hatte. Das Vibrieren kroch ihm in den Körper, vor allem in die Schenkel und zwischen die Beine. Ryou stöhnte leise, was Mariku gottseidank nicht hören konnte, und biss sich auf die Unterlippe. Wie lange hatte er eigentlich schon keinen Sex mehr gehabt? Hatte er überhaupt noch Kondome Zuhause? Selbst wenn nicht – scheiß drauf. Im Moment war ihm das irgendwie alles egal. Er wollte mit diesem Mann ficken, am besten die ganze Nacht. „Ich wohne nicht allein“, sagte Ryou später, als er die Wohnung aufschloss, „Aber mein Mitbewohner kommt frühestens in den späten Morgenstunden, er ist Sheriff für diesen Bezirk.“ Er sah nicht, wie Marikus linke Augenbraue in die Höhe zuckte. „Tatsächlich“, antwortete er schlicht. Was wohl so viel bedeuten mochte, wie, dass es ihm auch egal gewesen wäre, wenn sein Mitbewohner Zuhause gewesen wäre. Ryou irgendwie auch. Aber irgendwas musste man ja sagen, wenn jemand das erste Mal eine Wohnung betrat. Die Wohnung war von ausreichender Größe für zwei Personen, denn die Mieten waren hier außerhalb nicht besonders teuer und die Wohnungen auch oft nicht im allerbesten Zustand. Die Rohre hörte man ständig, der Boden knarzte und es gab immer mal wieder Stromausfälle und Ryou hatte schon früh gelernt, dass er sein Fahrrad sogar für zwei Minuten abschloss, wenn er mal irgendwohin ging. Aber für Ryou war es okay, da er meistens ohnehin nur zum Schlafen hier war, er hatte auch freiwillig das kleinere Zimmer bezogen. Und er brauchte ja auch nicht unbedingt ein Fahrrad zum Leben. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, spürte Ryou einen groben Griff in den Haaren – er wurde zurückgerissen und keuchte überrascht und kurz darauf lustvoll auf, als sich scharfe Zähne in jene Haut am Halsansatz gruben. Und sie gruben sich tiefer, so tief, bis es schmerzte, doch es war ein guter Schmerz, ein lebendiger Schmerz, das hatte er schon immer gemocht. In Ryous Lendengegend zuckte es angenehm und er spürte die andere Hand, welche nicht in seinem Haar lag und seinen Kopf nach hinten gebeugt hielt, ging auf Wanderschaft, riss das Hemd mühelos auf, sodass die Knöpfe absprangen, schubste ihn dann nach vorne, fing ihn wieder ein, wieder ein Kuss, diesmal weitaus grober und auf diese Weise bewegten sie sich in Ryous Zimmer, ließen die Tür offen stehen, weil sich keiner in diesem Moment für eine offen stehende Tür interessierte. Mariku gab Ryou einen Stoß, so stark, dass dieser stolperte und nur noch Halt an seinem zerschlissenen Chesterfield Sofa fand, sich dort hochzog und in einer lasziven Pose liegen blieb, wobei er sich umdrehte. Mariku stand breitbeinig im Raum, eine stolze Erscheinung, und streifte sich den Mantel vom Körper, welcher mit einem schweren Geräusch achtlos auf dem Boden zum Liegen kam. Ryou sah nun deutlich Marikus Waffenhalfter, aber auch die Beule in seiner Hose. Sein Mund wurde trocken. Gott, wie gerne würde er … „Lutsch mir den Schwanz. Ich war lange unterwegs und hab Druck, Zeit für Spielereien haben wir später immer noch.“ Offensichtlich hatte Mariku da denselben Gedanken gehabt. Dabei kam er langsam zu Ryou und ließ sich Platz einnehmend auf dem Sofa nieder. Ryou kroch hektisch zwischen seine Beine, wo sich die lederne Hose prall ausbeulte und begann, selbige zu öffnen. Die Beule in der Hose war nicht bloß Illusion gewesen merkte Ryou als sich ihm stolz ein vollkommen steifer Schwanz von beachtlicher Größe entgegen reckte. Es glänzte kurz in seinen Augen, ehe er ihn verschlang, dabei ein nahezu erleichtertes, leicht unterdrücktes, raues Stöhnen erntend. Er versuchte so viel wie möglich von ihm aufzunehmen. Schmeckte fast so, wie er es sich vorgestellt hatte. Verschwitzt, verboten, nach herber, stählerner Männlichkeit, Ryou schloss die Augen, um sich ganz auf diesen Geschmack zu konzentrieren, schmutzig ja, das hatte er immer schon gemocht, nicht mal als er sich damals hatte Entjungfern lassen, hatte er gewollt, dass man besonders rücksichtsvoll mit ihm umging. Bald schon schmeckte Ryou die ersten bitteren Tropfen auf seiner Zunge, erschauerte dabei, leckte einmal andächtig über die Länge, saugte an den schweren Hoden, nur um ihn dann wieder in den Mund zu nehmen, denn er spürte am Zucken und am Zittern, dass es bald soweit war. Und er beschloss, noch einen Schritt weiter zu gehen. Entspannte sich und dirigierte diesen wundervollen Schwanz weiter in seine Kehle hinein, soweit, dass er ihn schließlich bis zum Anschlag in sich aufgenommen hatte und spürte nur, wie wenige Augenblickte später der heiße Saft direkt in seine Speiseröhre schoss und erschauerte bei dem Gefühl, während Mariku sich kurz verkrampfte, dabei die Hand fester in Ryous Haarschopf krallte, und nach einem erlösten, kehligen Stöhnen leicht zusammensackte. Ryou ließ das erschlaffende Glied aus seinem Mund gleiten und sah auf, wobei er Marikus Blick begegnete, welcher ihn auf ziemlich seltsame Weise ansah. „Du stehst auf Schwänze in deinem Maul, wie ich es mir gedacht hatte…“ Dabei streichelte er Ryou über den Kopf, wie man es mit einem Haustier tat. „Auf was stehst du noch?“ Ryou erhob sich und kroch langsam auf Marikus Schoß, welcher mit der Hand langsam von hinten in Ryous Hose fuhr, seine Backen teilte, kurz gegen sein Loch drückte und schließlich von hinten spielerisch an die Hoden stipste. Ryou biss sich leicht auf die Unterlippe und drückte unbewusst das Kreuz durch, um die Reibung der Hand intensiver zu machen. Er selbst war ja heute noch nicht angefasst worden, er war prall und geil und in seiner Hose war es viel zu eng. Aber er mochte das Gefühl ausgeliefert zu sein in seiner Geilheit, mochte es, wenn ein anderer an ihm seine Lust stillte und ihn erst unbefriedigt ließ. Gott, von diesem Mann würde er sich sofort dominieren lassen, würde jede Schweinerei mitmachen, er zog ihn vollständig in seinen Bann. Plötzlich holte ihn eine harte Ohrfeige aus seinen Gedanken und verklärt, mit einem strähnigen Vorhang weißen Haares vor dem Gesicht, blickte er Mariku an. „Ich habe dir eine Frage gestellt!“, zischte dieser. „Ich … steh drauf, hart gefickt zu werden“, antwortete er ohne Scham, „Dinge im Arsch zu haben, ich steh auf Leder und Gürtel und alles … alles, was du … mit mir machen willst…“ Ryou sah Mariku aus dunklen, sehnsüchtigen Augen an und bei diesem Blick wurde diesem ganz anders. Grob packte er Ryou mit einer Hand ins Gesicht und drückte ihm die Wangen zusammen. „Ich warne dich“, zischte er, „Ich nehm dich beim Wort und wenn ich merke, dass du nur große Töne gespuckt hast, dann bring ich dich um!“ Er wusste, dass ihm das Angst machen sollte, ein Adrenalinstoß wurde durch seinen Körper gejagt, als ihm plötzlich bewusst wurde, wie sehr er mit dem Feuer spielte. Ryou nickte und Unterwürfigkeit lag in dieser Geste. Mariku schien damit zufrieden. Das sagte ihm zumindest das mephistophelische Grinsen in dessen Gesicht. „So, du stehst also auf Dinge in deinem Arsch, hm? Was du dir wohl schon alles in den gieriges Loch gesteckt hast… Mach deine Hose auf und zieh sie ein Stückchen runter.“ Es war nur eine rhetorische Frage und als Ryou, während er dieser Anordnung Folge leistete, spürte, wie Marikus Hand aus seiner Hose heraus und an seine rechte Seite glitt, wurde er nervös. Er hielt den Atem an, als sich plötzlich schmales, kaltes Stahl zwischen seine Pobacken presste. „Glaubst du, ich hab sie gesichert?“, raunte Mariku ihm zu, während er begann, den Lauf des Colts der Länge nach mit leichtem Druck auf und ab zu reiben. Ryous Atmung ging schneller. Scheiße, das war doch … er zweifelte keine Sekunde daran, dass diese Waffe nicht gesichert war. Fuck. Er musste stöhnen, sein Schwanz war noch halb in seiner Hose gefangen, in welcher es mittlerweile feucht war aufgrund ausgetretener Lust, Mariku arbeitete mit nachhaltigem Druck, dann legte er sie leicht schräg, um den Lauf gegen Ryous Öffnung zu drücken, verharrte allerdings in dieser Position, Ryou versteifte sich und atmete flach, er versuchte, keinen Muskel zucken zu lassen, aus Furcht, die Waffe könne losgehen. Dann wider Erwarten entfernte sich der Stahl wieder, Mariku hob den Colt zwischen ihre Gesichter und sagte: „Nein, nicht so …“ Und Ryou erzitterte, als Mariku ihm den Lauf der Waffe zwischen die Lippen schob. „Wenn du von Mister Colt gefickt werden willst, musst du ihm erst den Schwanz lutschen. Genauso, wie mir vorhin.“ Ryou hörte ein Klicken. Der Colt war entsichert, jetzt hatte er den Beweis. Er zitterte, als sich die Mündung tiefer in seinen Rachen schob. Eine falsche Bewegung und er wäre tot. Die Kugel würde ihm ein Loch direkt durch den Rachen und den Hinterkopf schießen. Gäbe sicherlich eine schöne Sauerei und Malik hätte endlich seinen ersten richtigen Tatort. Was hatte ihn nur geritten, sich freiwillig in solche Gefahr zu begeben? Wieso hatte er nicht auf sein Gefühl gehört? Und wieso nur … Wieso wich seine Erregung nicht, wieso wuchs sie nur mehr, als er langsam begann, an dem Lauf zu saugen und zu lutschen, wie an einem verdammten Schwanz und der Geschmack von Stahl und Schmauch war die Lust dieses leblosen Henkers, er wurde warm in seinem Mund, das bildete er sich zumindest ein und Ryou merkte nicht, wie ihm plötzlich lautlose Tränen über die Wangen liefen, was Mariku mit einem andächtigen Blick zur Kenntnis nahm. In was für ein Loch hatte er kommen müssen, um so einem Engel zu begegnen. Unfassbar. Er unterwarf sich seinen Berührungen, nein, mehr als das, er stellte sein Leben unter seine, Marikus Gewalt und bei dem Gedanken daran, dass er einfach jederzeit abdrücken konnte, wenn er wollte, zuckte es wieder verräterisch in seinen Lenden. Er war weinend so schön, so wunderschön und so sinnlich und er gehörte ihm in diesem Moment, vollkommen unterworfen, hin- und hergerissen zwischen der Geilheit und der nackten Furcht um sein Leben und da tat er Ryou den Gefallen, ihn endlich anzufassen und Ryou wimmerte leise auf, ein Geräusch, das schnell wieder erstarb, da ihn die Furcht vor der tödlichen Waffe einholte. So verkniff er sich seine Lust, während Mariku quälend langsam seinen Schwanz rieb und weinte stumm Rotz und Wasser, konnte nicht schreien und ergoss sich schließlich still und steif in Marikus Hand. Die Waffe glitt aus seinem Mund und Ryou sackte heulend in sich zusammen mit gerötetem Gesicht und noch lange nicht gestillter Lust. „Na-Na“, sagte Mariku streng und legte den Zeigefinger an Ryous Kinn, um es mühelos in die Höhe zu drücken. Ihre Blicke begegneten sich und Ryou war kaum fähig, ihm stand zu halten, ergeben, wie ein Hund vor seinem Alpha-Tier, wandte er den Blick ab. „Du sollst mich ansehen“, ereilte ihn der leise Befehl, gleichsam mit einem mahnenden Klaps auf die Wange und Ryou wandte den Blick gequält wieder in den Fokus der blass lavendelfarbenen Iriden, Mariku fraß ihn auf mit seinem Blick und plötzlich … riss Ryou die Augen weit auf, japste, oder versuchte es – kein Laut drang mehr über seine Lippen. Mariku würgte ihn, drückte mühelos mit einer Hand seine Luftkanäle ab und aus seinen Augen sprach Abscheu. „Hör auf zu heulen, wenn du gerade gekommen bist, das ist ja ekelhaft!“, fauchte er. Und er würgte ihn lange, sehr lange, bis Ryous Tränen durch den Schock und die Panik versiegten und schon schwarze Punkte vor seinen Augen tanzten, dann endlich ließ er ab von ihm. Ryou atmete schnappartig, beruhigte sich jedoch bald wieder und bettete unaufgefordert und zusammensinkend das Gesicht seitlich in Marikus Halsbeuge. Gott, dieser Mann roch so gut, er roch nach Sünde und Erlösung. Und nach Dominanz. Etwas, das sich Ryou schon so lange herbei gesehnt hatte. Denn wer ihn dominieren konnte, der konnte ihn auch beschützen. Der konnte ihm auch die Einsamkeit nehmen. Eine kurze, zärtliche Berührung, ein Kraulen durch den Haaransatz und Ryou seufzte ergeben, etwas ruhiger, die erste Lust war gestillt, der erste Schreck verwunden. Doch diese kurze Ruhe war trügerisch. „Willst du mir eigentlich nichts zu Trinken anbieten?“, raunte Mariku und ziepte kurz an den feinen Härchen in Ryous Nacken. Sicherlich hatte er dabei kein Glas Leitungswasser im Sinn. Ryou trank nicht viel und nicht oft, aber von vor zwei Wochen, als er seinen 21. Geburtstag gefeiert hatte, war noch eine halbe Flasche Bourbon übrig. Den hatte Mai ihm geschenkt. „Klar“, hauchte er und rutschte von Mariku herunter, welcher beiläufig die Knöpfe seiner Weste öffnete, offenbar war ihm nun doch ein wenig warm geworden. Ryou lächelte schmal, machte sich dabei nicht die Mühe, seine Hose wieder zu schließen, zog sie lediglich lapidar hoch, sodass sie ihm nicht ganz herunterrutschte. Mariku lehnte sich gegen die Küchenanrichte, beobachtete Ryous schlanke Rückenansicht, das Hemd hatte er ihm ja vorhin quasi vom Leib gerissen. Die Haut war weiß wie Milch, trotz der heißen Temperaturen, denen dieser Junge hier beinahe durchgehend ausgesetzt war. Mariku beobachtete das feine Muskelspiel seiner, während Ryou mit dem Alkohol hantierte – man sah die Routine in seinen Bewegungen – verlor sich kurz in dem weißen Haar, das leicht glitzerte, wenn Licht darauf fiel, dachte einen Moment daran, wie das tiefrote Blut unter dieser unendlich weißen Haut rauschte und wie schön es wohl aussähe, wenn diese beiden Komponenten eine Einheit bilden würden, beinahe ein Jammer, so nah, ein Leben lang und doch für immer getrennt. Er wurde härter, je länger er sich diesem Gedanken hingab. Ryou war gerade damit beschäftigt, zwei Eiswürfel in das Whiskeyglas zu bugsieren, als er plötzlich spürte, wie sich etwas Kaltes und Glattes um seinen Hals schlang und sich abrupt zuzog, wie eine Schlinge. Vor Schreck aufkeuchend hätte er das Glas beinahe umgestoßen, während die Hände reflexartig zu seinem Hals schnellten, um den Angreifer abzuwehren. Er brachte nur noch ein Keuchen hervor, dann spürte er Marikus heißen Atem an seinem linken Ohr, hörte seine raue Stimme, die ihm eine Gänsehaut verschaffte. „Weißt du, was ich mich die ganze Zeit schon gefragt habe? Warum bist du nur so ekelhaft naiv? Ich bin vielleicht ein Mörder, oder ein Vergewaltiger – oder beides. Vielleicht bring ich dich auch um und ficke dann mit deiner Leiche. Ich könnte dich auch bei lebendigem Leib ausweiden, oder … dir die Augen ausstechen. Ich mag Augen“, fügte er im Plauderton hinzu, „vielleicht sammele ich sie ja.“ Dabei zog er die Schlinge enger zusammen. Ryou wusste, dass es ein lederner Gürtel war. Abgenutzt. er hatte das schon mal gespürt. Vor langer Zeit. Er öffnete den Mund, röchelte leise, weil sein Atem schwer ging. Mariku hatte Recht. Er wusste gar nichts von ihm. Tatsächlich könnte Mariku all das sein, was er ihm da eben ins Ohr geraunt hatte, vielleicht war er ein Massenmörder auf der Flucht, dessen Zielobjekte zarte, naive Jungs waren, die sich auf der Suche nach Abenteuern auf ihn einließen und so leichte Beute waren. „Vielleicht wirst du das…“, keuchte Ryou gedämpft, „wenn du nicht Manns genug bist, mich zu ficken, wenn ich noch am Leben bin, dir dabei zusehen kann. Machen .. dir … Augen Angst?“ Er spielte mit dem Feuer. Der Gürtel zog sich abrupt noch enger, Ryou konnte förmlich sehen, wie Marikus Augen sich erbost zusammenzogen, so eng, dass Ryou sich aufbäumte und mit dem Zug mitging, um zu verhindern, dass er ihm ernsthaften Schaden zufügte und ihm traten Tränen in die Augen, denn anders als beim bloßen Würgen mit der Hand, wo lediglich die Luftkanäle zugedrückt wurden, entstand hier ein immenser und lebensbedrohlicher Druck auf seinen Kehlkopf und dann … dann ließ der Druck nach. Nicht vollständig, er hielt ihn immer noch gefangen, er wollte wohl nicht, dass Ryou das Bewusstsein verlor. Schließlich nutzte er ihm so ja nichts. So verharrte Ryou in einer angespannten Körperhaltung, die Sehnen des Halses begannen ihm zu schmerzen, er verdrehte die Augen nach hinten, nur um dann gepeinigt aufzuwimmern, als sich kalter Stahl von hinten in ihn bohrte, nur ein wenig glitschig von seinem Speichel noch, doch lange nicht genug, um ihm keine Schmerzen zu bereiten. Ein Revolver war nicht für solche Zwecke geeignet, aus diesem Grunde hatte er auch keine weichen Kanten, sondern war glatt geschliffen – Ryou traten Tränen in die Augen, doch dieser Schmerz war in jenem Moment so grell, dass er nicht einmal mehr zu schreien vermochte und so verharrte er in einer anmutig angespannten Körperhaltung, in der seine Sehnen Feuer fingen, und konnte nichts tun, als zu warten, bis er sich bis hin zur Trommel in ihn hineingeschoben hatte – erleichternder Weise verharrte er dort erst einmal. Ryou bemerkte, wie Mariku langsam an ihm vorbeigriff und nach dem Whiskeyglas langte. Und da sah Ryou es. Blut. Winzige Blutstropfen am Hemdsärmel. Und das war sicher nicht seins. Er trank. In aller Seelenruhe. Dann schwenkte er das Glas langsam und bedächtig, das hörte Ryou am Klirren, das die Eiswürfel im Glas dabei verursachten. „Guter Tropfen“, sagte er dabei. „Weißt du eigentlich, wie ich zu dem Colt gekommen bin? Die Serie wird heute gar nicht mehr hergestellt.“ Wollte Ryou es wissen? Er glaubte nicht. „Hab ihn gestohlen. Verwundert dich sicherlich nicht. Der Mann, der ihm gehört hat, hat mal über mich gelacht. Als ich mit ihm fertig war…“ Finger, die auf das Metall der Trommel trippelten. Ryou fing an, zu schwitzen, schwerer zu atmen. „Hat er nur noch … große Augen gemacht.“ Ein so hämisches Kichern, dass Ryou eine Gänsehaut davon bekam, welches kurz darauf durch den Restalkohol im Glas erstickt wurde. Zitternde Glieder. Der Colt bewegte sich kein Stück. Er war einfach nur in Ryou drin. Seine Geilheit kehrte zusammen mit der Angst und den Schmerzen zurück, denn er hatte ihn wundgescheuert. Dieser Typ war doch vollkommen durchgeknallt. „So, ich hab jetzt Bock auf ne Fluppe. Ich fürchte, wir müssen jetzt wieder in das andere Zimmer. Leider kannst du nicht auf beiden Beinen gehen, sonst verlierst du ihn womöglich noch-“ Dabei ruckelte er an der Waffe, die tief in Ryous verkrampftem Hintern steckte, traf dabei zufällig die Prostata, was dem Jungen ein Aufwimmern entlockte. Mariku gefiel es, wie verzerrt und angespannt seine Gesichtszüge waren, wie er schwitzte. Er leckte ihm den Schweiß von der Schläfe. „Mhmm, schmeckt nach Angst …“ Dann packte er ihn im Genick und stieß ihn so brutal auf die Knie, dass Ryous Kniescheiben schmerzten, das Ende des Gürtels behielt Mariku in der anderen Hand. Er wurde mehr hinter Mariku her gezerrt, als dass er kroch, für Ryou war es eine Tortur, bis sie in seinem Zimmer waren – dort gab Mariku Ryou einen Tritt, sodass dieser vorüberkippte, dann spürte er die gerillte, grobe Sohle der Motorradstiefel auf seiner Wange, die ihn seitlich zu Boden drückten. Unter ihm der harte Holzdielenboden, über ihm Mariku, der nur sein Gewicht verlagern musste, um ihm den Kiefer zu brechen. Während Ryou also geradeaus starrte, die Wange auf dem Boden und den Hintern dank der knienden Haltung obszön und erniedrigend in die Höhe gereckt, denn eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht, drehte sich Mariku in aller Ruhe eine Zigarette, dabei summte er eine Melodie, die Ryou bekannt vorkam, aber nicht zuordnen konnte. Dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass es ‚Paint it Black‘ war von den Rolling Stones. Die hatte sein Vater immer gehört. Bis er ermordet worden war. Als Ryou schluckte, fühle sich seine Kehle an wie Sandpapier, er hörte seinen eigenen Puls dröhnend in den Ohren, so laut, immer lauter, bis es kaum noch zu ertragen war. Er atmete zischend und flach durch die zusammengebissenen Zähne. Mariku zündete sich die Zigarette an, er rauchte sie ohne Filter, damit der Rauch sich schneller in die Lungen fressen konnte, damit er richtig schön biss. Er hörte, wie Mariku den Rauch ausatmete, mit dem Stiefel immer noch seinen Kopf seitlich zu Boden drückend, dabei verlagerte er das Gewicht, sodass der harte, stählerne Absatz sich an der Kante in Ryous Wange drückte. Er stieß ein kehliges Lachen aus. „Was ist, hast du schon genug, kleiner Ryou? Bereust du es inzwischen, dass du den Schwarzen Mann in dein Haus geholt hast?“ Die Frage kam herablassend und schadenfroh. Ryou antwortete nicht und verharrte. Mariku beugte sich herab, das sagte Ryou zumindest das Gewicht, das kurz mehr wurde, dann packte er den Griff des Colts und bewegte ihn mit langsamen Bewegungen, zog ihn dann heraus und verpasste Ryous nacktem Hintern einen beilläufigen Klaps, als sei er ein Stück Vieh. Das Gewicht verschwand von Ryou und mit einem Ächzen rollte er sich auf die Seite. Zuerst sah er nur Beine, sah ihm von unten in den Schritt und leckte sich sehnsüchtig über die gesprungenen brennenden Lippen, sah dann ganz an ihm herauf. Mariku hielt die Waffe noch in der Hand, dann hob er sie und sog auf eine widerwärtige Art genießerisch den Geruch ein, der nun an ihr haftete. „Riecht nach deiner kleinen Fotze“, sagte er dann und starrte kalt auf Ryou herab, der sich in diesem Moment so sehr nach einer Zärtlichkeit sehnte, einem Kuss, oder nur einem flüchtigen Streicheln und dabei hatte er gar nicht gemerkt, dass er blutete und dass Mariku genau darauf abgezielt hatte und dass es auch der Geruch des Blutes war, der Mariku so gefiel. Erst das Blut machte die Menschen vollkommen, wenn jemand blutete, dann war das Beweis, dass er nichts anderes war, nichts Besseres, als all die anderen Menschen auf der Welt, mochten sie auch mehr Geld haben, oder mehr Einfluss oder die hübscheren Frauen oder Jungen in ihrem Bett. Mariku bewegte sich schwerfällig von ihm weg. Ryou mochte das Geräusch der schweren Schritte auf seinem Boden. Mariku ließ sich abermals auf Ryous Sofa nieder, breitbeinig, rauchend. „Zieh dich mal ganz aus“, befahl er dann so beifällig, als würde er ihm empfehlen, anstatt eines weißen Hemdes ein grünes anzuziehen. Ryou rappelte sich unter Anstrengung auf, denn jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, zog dann die Hose ganz aus und dann erst, als er die dunklen Flecken sah, bemerkte er, dass er geblutet hatte. Es war ihm egal. Er wollte mehr. Wollte, dass Mariku die Leere in ihm füllte, denn dazu waren sie sich begegnet, einen anderen Grund dafür gab es nicht. Auch seine Beine waren verschmiert von seinem Blut. Mariku gefiel das. Das war ein wunderschöner Kontrast. Rotes Blut auf schneeweißer Haut. Das war für ihn schon immer der Inbegriff von Schönheit gewesen. Vielleicht sollte er Ryou ein Stück Haut herausschneiden und es mitnehmen, so als Erinnerung. Und wenn es dann verfaulte und begann zu stinken, dann wusste er endgültig, dass es keine Engel gab auf der Welt, dass selbst ein so weißer Engel wie dieser Junge in seinem Inneren verdorben und im Grunde doch kein Engel war. Ein plötzlicher Hass überkam ihn. Da kam Ryou zu ihm, er kam von selbst, ohne, dass Mariku es ihm befohlen hatte, und rutschte auf seinen Schoß und da war es Mariku, der von einem Blick getroffen wurde, dem er nicht stand halten kann, ließ den Kopf zurücksinken und blickte an die Decke. „Was willst du von mir?“, knurrte er. „Friss mich ganz und gar“, hauchte der Junge und ließ sich schließlich auf Mariku gleiten und Ryous geschundener Hintern nahm ihn so tief in sich auf, als sei er einzig und allein für ihn gemacht. Nun war es Mariku, der erschauerte, er krallte die Hände fest in den weißen Hintern, als Ryou anfing, sich auf Mariku zu bewegen, sich an seinem Schwanz zu ficken und es gefiel ihm, es war gut, es war heiß, es war Blut, es war Leben, sie lebten, sie beide, nur in diesem Moment. Mariku begann sich Ryou entgegen zu bewegen, stieß von unten in ihn und der Junge stöhnte, weil er immer wieder seine Prostata traf und fast ließ er sich dazu hinreißen, Ryou einfach so bis zu Ende zu ficken, bis sie beide kamen, aber er wollte das nicht, wollte ihm keinen Gefallen tun, nein, er wollte, er … er würde sich in ihm verewigen. Bevor er ihn kommen ließ. Ryou, der geglaubt hatte, endlich die Befriedigung zu bekommen, nach der er sich schon so lange gesehnt hatte, wurde bitterlich aus seiner Lust herausgerissen, als Mariku ihm erneut an den Hals ging, erstarrte er. Mariku schob ihn von sich herunter und ließ ein ekelhaftes Gefühl der Leere in Ryou zurück. Er zerrte ihn zu seinem Bett. Ryou hatte weiße Bettwäsche. Das Fenster lag direkt über dem Bett, die Jalousie war nur zu einem Viertel herabgelassen worden. Die wenigen Straßenlaternen, die nicht kaputt waren, leuchteten dreckig herein, in Ryous Zimmer brannte nur ein schwaches Licht. Er wurde aufs Bett geschubst. Wieder summte er dieses Lied, beinahe wie ein Wiegenlied und es wurde Ryou zum Trost anstelle der Zärtlichkeiten, die er nicht bekam, er schloss die Augen, er spürte, dass etwas geschehen würde, etwas Bedeutungsvolleres als das, was sie bisher den ganzen Abend getrieben hatten. Abend? Nacht? Nein, wurde es nicht bald schon wieder Morgen? Jegliches Zeitgefühl war verloren. Er war nur noch hier bei Mariku, Marikus Präsenz fraß alles, sie fraß die Zeit, sie fraß seine Einsamkeit und seine ungestillte Lust und die Sehnsucht in seinem Herzen. Er hatte den Colt zur Seite gelegt. Jetzt hatte er ein Messer in der Hand. Wo hatte er das Messer her? Dann kam er zu Ryou ans Bett. Die kühle Spitze der Klinge drückte sich in seine Haut, ohne sie zu verletzen. „Ein letztes Mal“, sagte Mariku und wie er das sagte, wusste Ryou, dass er ihn liebte, „Ein letztes Mal… dann schenke ich dir das, was du dir wünscht.“ Klang er nicht zärtlich dabei? Nicht liebevoll? Nicht beschützend? Ryou zitterte am ganzen Körper. Er bat Mariku, ihn nicht zu knebeln, denn er würde nicht schreien, es sei denn, Mariku wollte es so. Er gewährte die Bitte, ausnahmsweise. Und dann spürte er, wie sich die Klinge in sein Fleisch bohrte, tiefer, als ein versehentlicher Schnitt es jemals vermochte, so tief, dass bald warmes Blut über seinen Rücken floss. Er hörte nicht auf nach dem einen Schnitt, er schnitt weiter, nach seinem System, er ritzte das Chaos aus seinem Kopf in Ryous Rücken und Ryou war für Mariku ein Märtyrer, denn er ertrug es ohne zu schreien, ohne zu zucken, er lag da, ganz entspannt, mit dem verklärtesten Blick, zu dem ein Mensch wohl fähig war, und er lächelte entrückt, denn das was hier geschah, das war gut. Irgendwann hörte Mariku auf, zu schneiden. Er summte auch nicht mehr. Er stand auf und griff nach der Flasche Alkohol, die er wohl vorhin aus der Küche mitgenommen haben musste, Ryou hatte das nicht bemerkt. Und dann rann flüssige Lava auf Ryous Rücken und die Welt explodierte in einem grellen Weiß, nun schrie er doch kurz auf, er wurde ohnmächtig, für etwa 1 Minute. Als er zu sich kam, lag er in Marikus Armen, er umfing ihn wie ein Erlöser und Ryou hieß den Schmerz, der dumpf in den Wunden auf seinem Rücken pochte willkommen wie einen Freund. Denn Schmerz war Leben … richtig? Mariku streichelte ihm gedankenverloren durch das Haar und als Ryou aufblickte, wirkte er das erste Mal, als sei er ein normaler Mensch, wie er auch. Er küsste Ryou, er küsste ihn lange und leidenschaftlich und hungrig und sehnsuchtsvoll, während er ihn nieder legte, auf den Bauch, damit er keine großen Schmerzen mehr ertragen musste, doch Ryou wollte das nicht. Nicht so. Er wollte Mariku in die Augen sehen, wenn er in ihm zum Ende kam, er wollte ihm so nah sein, wie möglich. Er spürte den Schmerz nicht, als er in ihn eindrang, er spürte nur die Lust, die er in ihn trieb, seine Beine schlangen sich um die Hüften und er passte sich dem Rhythmus an, der das Finale ihrer Zusammenkunft einläutete. Er grub sich in ihn, wie ein Dämon, der von einer menschlichen Seele Besitz ergreift, dabei stöhnte er tief und kehlig, eroberte Ryous Mund abermals für sich, um das Stöhnen in den Griff zu kriegen, biss ihm auf die Unterlippe, bis er blutete, doch es half nicht, es war stärker und dieser weiße, schöne Leib, wie er sich so verboten unter im räkelte, von ihm gefressen werden wollte, von ihm genommen werden wollte, mit seinen Bewegungen verschmolz, er war Sein in diesem Moment, er war nur für ihn gemacht und er gehörte ihm für alle Ewigkeit, denn er trug jetzt sein Zeichen auf dem Rücken, er war so herrlich eng, er … Marikus Bewegungen wurden ruppiger und schwungvoller, Ryou ließ sich mittlerweile nur noch gehen, da er wieder und wieder seine Prostata traf, sie regelrecht malträtiere, sodass er vor Lust nur noch schreien konnte, er schrie und schrie und er wollte nicht aufhören damit, weil dann die grässliche Stille wieder kam, weil dann alles vorbei war. Immer schneller trieben sie auf den gemeinsamen Höhepunkt zu, die Welt begann sich zu drehen, sie verschmolzen zu einem Wesen aus Lust und Schönheit und Verkommenheit gleichermaßen, zwei Gegensätze, die ähnlicher nicht sein könnten und dann explodierte die Welt abermals für Ryou in süßem hellen Licht – Mariku vergrub die Zähne in dem weißen Schwanenhals, um einen gutturalen Schrei zu dämpfen, der seine Kehle ungezügelt hinaufdrängte und dann füllte er Ryou mit seinem heißen Saft, tief in der Hitze seines Körpers und dann … war es vorbei … Eine Stille breitete sich aus. Eine schöne Stille, eine Stille, die nur von zwei Wesen verursacht werden konnte, die in der Seele zusammengehörten. Mariku hatte dem Drang wiederstanden, sich auf Ryou zusammensinken zu lassen. Verweilte, schwer atmend über ihm abgestützt, sah ihn wortlos an. Wie das weiße Haar im einfallenden Licht silbrig schimmerte und sich wie Wasser fließend auf das Kissen ergoss. Sah das, was tief in seinen dunklen Augen lag und erschauerte. Seine Seele war schön. Nicht nur sein Körper. War es das gewesen, was ihn an diesem Jungen so fasziniert hatte? Nun konnte er der Versuchung nicht mehr widerstehen, eine Hand auszustrecken und ihm über das Gesicht zu streichen, zärtlich zittrig, etwas unbeholfen und ratlos, mit den Fingerkuppen und Ryou fragte sich, ob er das Raubtier, das er sich aus der freien Wildbahn nachhause geholt hatte, gezähmt hatte, ob es ihm jetzt sein wahres Gesicht zeigte. Ryou zog ihn wortlos herab und er wehrte sich nicht dagegen, er bettete seinen Kopf so, dass er direkt auf seinem Herzen lag. Zarte Finger wühlten sich durch wirres, blondes Haar. Ein Schauer überlief die bronzefarbene Haut. „Morgen wirst du weg sein, oder?“ Die Stimme klang verloren. „Ja.“ „Nimm mich mit.“ „Was…?“ „Lass mich nicht hier zurück.“ „Das geht nicht, Ryou.“ „Warum?“ Kein flehendes Warum. Ein einfaches, sachliches Warum. Vielleicht wusste Ryou die Antwort bereits selbst. „Weil ich einen Grund brauche, um irgendwohin zurückzukehren.“ Das war das erste Mal seit Langem, dass Mariku zu einem anderen Menschen die Wahrheit sprach. Ryous Lider wurden schwer. Er kämpfte gegen den Schlaf an, mit aller Macht. Weil er wusste, wenn er wieder aufwachte, würde er weg sein. Dann würde er in seinem Leben alleine zurück bleiben. Und müsste sich wieder einreden, wie gut es ihm doch ging. Und dann hüllte ihn der Schlaf ein und Mariku blieb noch eine ganze Weile und sah ihm beim Schlafen zu. Ließ sich zu einem Kuss auf die glühend heiße Stirn hinreißen, ehe er ging, als die Sonne bereits ihre ersten Strahlen sandte. Er würde die Nacht hinter sich lassen. Wie alles andere in seinem Leben. Er war auf der Flucht. Wenn er nur einen Tag länger blieb, würden sie ihn morgen kriegen und übermorgen wäre er vielleicht schon tot. Er warf einen letzten Blick auf den schlafenden Jungen, der der Märtyrer in seinem Bett geworden war und drehte sich eine Zigarette. Zündete sie an und fühlte sich plötzlich alt. Dann ging er. I see a line of cars and they're all painted black With flowers and my love, both never to come back I see people turn their heads and quickly look away Like a newborn baby it just happens ev'ryday (The Rolling Stones 'Paint it black') Kapitel 2: no milk today ------------------------ Ryou hatte kaum Erinnerung an seine früheste Kindheit. Er wusste, dass er nicht in Amerika geboren worden war, sondern in Irland. Sein großer Bruder Bakura hatte ihm das erzählt, denn sie waren in die USA gekommen, als Ryou gerade mal ein Jahr alt war. Seine Mutter hatte nie gerne über ihre Vergangenheit in Irland gesprochen, denn ihre Tage dort waren erfüllt gewesen von der Angst um das nackte Überleben und Ryous Vater, ein Kämpfer der IRA mit Leib und Seele, verlor sein Leben eines Tages bei dem berühmten Rebellenaufstand am Starpoint und seine Mutter, als die starke Frau, die sie war, war nicht eingebrochen, auch wenn der Schmerz ihr nahezu den Verstand geraubt hatte, sondern hatte ihre beiden Söhne genommen und das kleine Mädchen, das sie unter dem Herzen trug und war nach Amerika gegangen, denn sie wusste, dass die Engländer jeden jagen würden, der in irgendeiner Form mit den Rebellen in Verbindung gebracht werden konnte und es nur eine Frage der Zeit war, ehe sie sie ausfindig machen würden. Ryou erinnerte sich nur noch daran, dass er eine ganz lange Zeit von seinem Bruder, der selbst gerade acht Jahre alt war, getragen worden war, er erinnerte sich an die Wärme und den schnellen Atem und an die Angst, aber auch an die Stärke. Früher hatte ihn Bakura immer beschützt, ihn und seine Mutter. Sie hatten den Vorteil gehabt, die Landessprache zu sprechen und Ryous Mutter fand sehr schnell eine Anstellung als Sekretärin, da sie zusätzlich fließend Spanisch und Französisch sprach – Ryous Großeltern, die zu diesem Zeitpunkt schon lange tot waren, hatten trotz der schweren Zeiten darauf bestanden, dass ihre Tochter Bildung erfuhr und die machte sich jetzt bezahlt. Ryou wuchs auf und lebte den American Way of Life, wie jedes andere Kind in seiner Umgebung, auch wenn er tief in seinem Inneren seine Wurzeln spürte und als Bakura ihm von der Nacht erzählt hatte, als ihr Vater starb, eine Erzählung für die er mit damals 3 Jahren noch viel zu jung war, zumindest in der Härte, in der Bakura sie auf ihn herniederschlagen ließ, hatte er gespürt, dass er eines Tages vielleicht dahin zurückkehren würde. Sie lebten eine Weile in New York, doch seiner Mutter hatte es dort nicht gefallen, denn die Sommer waren zu heiß und die Winter zu kalt und die Menschen zu egoistisch. Dann waren sie weiter in den Süden gegangen, als Ryou neun war, Amane 7 und Bakura im schlimmsten Flegelalter und hatten schließlich in Louisiana ihr Heim gefunden. Dort lebten sie eine lange Zeit und trotz Bakuras Eskapaden, denn er rauchte und prügelte sich und forderte jeden Idioten heraus, der zwei Köpfe größer war als er selbst, waren sie eine glückliche Familie. Irgendwie. Sie waren so lange glücklich, bis Ryous Mutter einen neuen Mann kennenlernte. Sein Name war Harry und Ryou mochte ihn nicht, während Amane vollkommen begeistert von der neuen Vaterfigur in ihrem Leben war, die sie vorher nicht gekannt hatte. Harry schlich sich in das Herz seiner Mutter und Bakura riss an dem Tag von zuhause aus, als sie ihre Verlobung bekannt gaben. Die Hochzeit wurde verschoben, weil Sharon untröstlich war und Bakura wurde schließlich drei Monate später wieder von der Polizei eingefangen, als er in ziemliche Schwierigkeiten mit ein paar Drogendealern geraten war. Es war das erste Mal, dass Sharon eines ihrer Kinder schlug. Dreimal mit der flachen Hand ins Gesicht, ehe sie ihn weinend an sich zog. Nicht, weil Harry sie daraufhin verlassen hatte, sondern weil sie das zweite Mal um den Verlust eines geliebten Menschen hatte fürchten müssen. Und dann verlor sie eines ihrer anderen Kinder. Amane, das stille, höfliche Mädchen mit den guten Manieren, das eigentlich vor gehabt hatte, wenn sie groß war, Jura zu studieren, wurde entführt oder ermordert oder was auch immer auf dieser Welt mit jungen Mädchen passierte, und galt von da an als vermisst. Sie tauchte nie wieder auf. Sharon zerbrach daran. Sie begann zu trinken und sie weinte viel. Bakura und Ryou trieben sich viel draußen herum. Bakura brachte Ryou das Rauchen bei und nahm ihn mit zu seinen Kumpels, weil er ihn nicht zuhause bei dieser Mutter lassen wollte, dabei wollte Ryou nichts anderes als eben dort zu sein. Es tat ihm weh, seine Mutter weinen zu sehen. Sie weinte viel und sie trank viel und einmal, da war Ryou früher von einer Party zurückgekommen, als Bakura, weil er sich nicht gut fühlte und da fand er seine Mutter in der Badewanne, mit einer Überdosis Tabletten und die Sanitäter konnten gerade noch so ihr Leben retten. Doch an diesem Tag war zum ersten Mal die knallharte Realität über Ryou hereingebrochen. Sharon machte einen Entzug und Ryou und Bakura kamen in getrennte Pflegefamilien. Und irgendwann war Bakura 21 und er hatte niemanden mehr, der sich um ihn scherte und ihm war das auch Recht gewesen, denn er hatte es immer gehasst, sich unterzuordnen. Ryou war zurück zur Mutter gegangen, als diese sich von ihrem Klinikaufenthalt erholt hatte und sie hatten wirklich schöne zwei Jahre gehabt, ehe das nächste Unglück über sie hereinstürzte, in Form eines Mannes der seiner Mutter das Herz stahl und es in tausend Teile brach. Und er schlug sie, weil sie so schwach gewesen war, sich in sie zu verlieben und Ryou wurde depressiv, begann sich herumzutreiben und ließ sich schließlich mit frisch 16 Jahren von irgendeinem Typen entjungfern, an dessen Gesicht er sich fünf Minuten später nicht mal mehr erinnerte. Mit 17 versuchte Ryou, sich umzubringen, indem er sich die Pulsadern aufschlitzte, doch er war nicht schnell genug gewesen, denn seine Mutter hatte ihn gefunden und man holte ihn zurück in die Hölle. Von da an, begann er Liebe zu suchen, darin war er seiner Mutter gar nicht so unähnlich geworden und er fand sie bei Männern, die kleine Jungs wie ihn lieb hatten, und irgendwann spürte er schon keinen Schmerz mehr. Ryou wusste nicht, was dazu geführt hatte, dass schlussendlich eine Sicherung in ihm durchgebrannt war. Eines Tages kam er nachhause im Morgengrauen und schon auf dem Hausflur hörte er ein gedämpftes Schreien in ihrer Wohnung. Er hastete hinauf, mit tausend Gedanken in seinem Kopf, doch als er die Tür schließlich aufstieß und sah, wie dieses Schwein sie vergewaltigte, da wurde ihm vor Wut schwarz vor Augen. Und er funktionierte nur noch. Als Ryous Wahrnehmung zurückkehrte, lag der Mann in einem See aus Blut und Ryou hielt einen schweren kristallenen Aschenbecher in der Hand. Er starrte darauf und er starrte seine Mutter an, die seinen Blick erwiderte und so viel lag darin, soviel Schmerz, und ihr Blick fragte ihn, wie es so weit hatte kommen können, doch er sagte nichts. Er ließ den Aschenbecher fallen, er war zu schwer um ihn lange mit einer Hand zu halten. Es war ihm egal, dass seine Fingerabdrücke noch drauf waren. Dann ging er in sein Zimmer und nahm sich eine Tasche. Packte ein paar Sachen zusammen, nahm sich Geld von seiner Mutter, die das stumm billigte und dann ging er einfach zur Tür hinaus, ohne sich einmal umzuwenden, ohne ein Wort des Abschiedes zu verlieren und verließ die Stadt. Er setzte sich einfach in einen Zug, sperrte sich dort auf dem Klo ein um der Ticketkontrolle zu entgehen und fuhr so lang, bis er das Endziel erreichte. Ryou kannte nichtmal den Namen dieser Stadt, doch die Menschen hier waren, wie überall anders, deshalb war es auch egal. Und dann … traf er den Mann, der ihm das Herz schlimmer brechen sollte, als all die anderen vor ihm. Ryou lief, seine Tasche geschultert durch die Straßen, ziellos, er hatte noch keine Unterkunft für die Nacht gefunden. Vielleicht schlief er einfach im Park, denn noch war es angenehm nachts draußen. Er rauchte seine letzte Zigarette. Danach würde er sich etwas einfallen lassen müssen. Er merkte schon bald, dass die Gegend, in der er unterwegs war, wohl nicht zu den allerbesten der Stadt gehörte und machte schleunigst, dass er weiter kam. Dann hörte er einen verzweifelten Schrei. Ryou wollte weitergehen. Er würde sich sicherlich nicht in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen, oder die ihn sein eigenes Leben kosten konnten. Aber irgendwo war er immer noch ein Mensch. Seufzend und mit pochendem Herzen trat er nähe in die dunkle Gasse, aus welcher er den Schrei vernommen hatte. Sich im Schatten verborgen haltend blieb er schließlich stehen und sah drei Männer um eine hilflose Frau herum stehen, die auf dem Boden lag und die Hände schützend über den Kopf hob. Ryou erkannte, dass sie blutete. Einer der Männer sagte etwas, was das konnte Ryou nicht verstehen, doch was er sehr wohl verstand, war die Sprache, die die Pistole sprach. Ein durch Schalldämpfer lautloser Schuss wurde abgegeben, sie, in den Kopf getroffen sackte zusammen und Ryou konnte nur noch auf dieses intensive Rot starren. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr. Nicht den Mann, der ihn nun plötzlich bemerkt hatte weil er sich nicht von der Stelle rührte, nicht den Regen der einsetzte. Er lief nicht weg, als der Mann auf ihn zukam, er hatte eine Glatze und unheimlich böse Augen, doch ehe er ihn erreichte, wurde Ryou zur Seite gestoßen, er prellte sich bei seinem Sturz schmerzhaft die Hüfte und dann bemerkte er verschwommen, wie aus dem Schatten hinter ihm mehrere Gestalten hervorstürzten und plötzlich war Ryou inmitten eines blutigen Bandenkampfes und er konnte nichts anderes tun, als sich mit schreckensgeweiteten Augen so weit wie möglich gegen die Wand zu pressen, denn beide Wege, die aus der Gasse herausführten, waren versperrt. Irgendwann hob er die Hände und presste sie sich auf die Ohren. Er kniff die Augen zusammen und wünschte sich, dass es endlich vorbei war. Ryou schrie auf, als ihn plötzlich jemand grob am Arm packte, und sah im nächsten Moment in das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes mit einer Narbe auf der rechten Wange und Haar, welches so schneeweiß war, wie sein eigenes. Sofort wurde ihm eine Hand auf den Mund gepresst und eine Klinge tauchte vor seinen Augen auf. „Schhh“, machte der Mann. Ryou verlor das Bewusstsein. Das Echo von Schüssen ließ Ryou aus dem Schlaf schrecken. Mit aufgerissenen Augen und rasendem Herzen lag er da und lauschte in die Dunkelheit. Da waren die Geräusche von Feiernden zu hören. Betrunkenes Gegröle, gelegentlich eine Flasche, die zu Bruch ging. Aber keine Schüsse. Keine Schreie und auch kein Blut. Mühelos wand Ryou sich aus der Schlinge heraus, die ihn an das Bettgestell hätte fesseln sollen. Langsam ließ er die Füße aus dem Bett gleiten. Seine Glieder schmerzten von der unbequemen Liegehaltung – mit einem leisen Stöhnen streckte er sich. Es war heiß hier drin. „Hätte mich auch gewundert, wenns in dieser Bruchbude eine Klimaanlage gegeben hätte“, murmelte der Junge vor sich hin. Er verspürte einen ziemlichen Durst. Blöderweise hatte er nicht die geringste Ahnung, was hier wo war und er hatte auch nicht wirklich Lust, zwischen betrunkene, gewaltbereite Männer zu geraten. Ryou ging zu dem einzigen Fenster des Raumes und spähte hinaus. Heruntergekommen, wie dieses Haus, das war zumindest das, was er erkennen konnte und, dass sie sich mindestens im sechsten Stock befanden. Wahrscheinlich hatten sie ihn hier eingeschlossen, weil sie glaubten, ihn so an einer Flucht hindern zu können. Ein zynisches Lächeln umspielte einen Moment die schmalen Lippen. Er musste ihnen ja nicht sagen, dass er das auch erstmal gar nicht vorhatte. Wenn die ihn hätten umbringen wollen, dann hätten sie es wohl schon längst gemacht und hier zu sein war besser, als auf der Straße zu schlafen. Der Blick der dunklen Augen wurde betrübt. Ryou war alleine. Ein Zuhause, in das er zurückkehren konnte, hatte er nicht. Nicht wirklich. Aber zumindest war er erst einmal in Sicherheit. Und wenn nicht, dann war ihm das auch egal. Es war sehr stickig in dem kleinen Raum und es roch nach Moder und alten Möbeln, auch die Tapete wellte sich bereits von den Wänden, aufgrund der Feuchtigkeit. Etwas mühselig versuchte Ryou das Fenster aufzubekommen, welches irgendwie klemmte. Kurz darauf kam ihm ein Schwall laue Nachtluft entgegen. Wirklich frisch war die Luft hier nicht, aber immer noch erträglicher als in einem geschlossenen Raum dieser Art. „Gott, was gäbe ich jetzt nicht für eine Kippe“, seufzte Ryou und stützte die Unterarme am Fenstersims ab. „Glückwunsch, mein Kätzchen, du hast es geschafft, dich von deinen Fesseln zu befreien…“ Ryou wirbelte herum, wobei er die Hand auf die Brust presste. Im Dunkeln erkannte er nur das glühende Ende einer Zigarette aus Richtung der Türe und die Silhouette eines relativ großen Mannes. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Identität des Mannes auszumachen. Der Stimme nach zu urteilen musste es sich um denjenigen handeln, der ihm das Messer vors Gesicht gehalten hatte. Ryou versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen – ein Umstand, der dem Mann keinesfalls verborgen blieb, wie er amüsiert feststellte, als er sich aus seiner Position im Halbschatten der Türe löste und langsam auf den Jungen zuging. Die schweren Stiefel verursachten ein bedrohliches Geräusch auf dem hölzernen Boden. Er blieb direkt vor dem Jungen stehen, welcher, da er sich umgedreht hatte, das Fenstersims nun im Kreuz hatte. Silberweißes Haar, ein fahler, weicher Glanz. Akefia blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht. Ryou blinzelte nicht einmal, obwohl der Rauch ihm in den Augen brannte. Die Augen schließen, das war irgendwie immer so ein Zeichen von Schwäche. „Sie waren nicht besonders fest“, sagte Ryou mit samtener Stimme, „Wer auch immer das gemacht hat, vielleicht solltest du ihm beibringen, wie man sowas richtig macht.“ Der Mann hob die Hand, setzte sie an die weiche Wange und ließ ein paar Haare durch die Finger gleiten. Seidig. Ob er wohl auch so gut roch, wie er sich anfühlte? Der Mann leckte sich über die Lippen und antwortete: „Vielleicht mache ich es aber auch das nächste Mal einfach selbst. Wie ist dein Name?“ „Was bekomme ich dafür, wenn ich ihn dir verrate?“ „Hn…“ Ein Grinsen, doch das Grinsen verlosch erschreckend schnell, wie es gekommen war, als Ryou seinen Kopf mit einem heftigen Ruck zur Seite gerissen fühlte, sodass er leicht aufkeuchte und ihm zwangsläufig die linke Seite seines Halses präsentierte. Fasziniert beobachtete der Mann einen Moment, wie anmutig sich die Brust in aufgeregten Atemzügen hob und senkte – er war ihm ausgeliefert. Der Versuchung widerstehend, die Lippen auf den empfindlichen Hals zu pressen, kam er dem Ohr des Jungen ganz nahe: „Nun, zuerst einmal könnte es natürlich sein, dass ich dich nicht allzu schlecht behandele, wenn du mir gehorchst. Vielleicht sage ich dann meinen Jungs, dass sie die Finger von dir lassen sollen und damit würde ich dir einen sehr großzügigen Gefallen tun, was ich eigentlich nicht nötig habe. Du hast die Wahl.“ Mit einem Ruck ließ er Ryou wieder los, sodass dieser leicht gegen das Fenstersims sank und sich, den Mann, der orientalischer Herkunft schien, anstarrend dort abstützte. „Ryou“, sagte er schließlich. Der Mann nickte. Das passte. Ein schöner Name für einen schönen Knaben. „Nun denn, Ryou“, nahm er den Faden wieder auf und stützte die Hände lässig seitlich von Ryou auf dem Fenstersims ab, sodass dieser sich inzwischen so weit zurück beugen musste, dass ihm das Kreuz davon wehtat. „Man nennt mich Akefia. Und ich fürchte, du bist da in eine unschöne Sache hineingeraten für die ich keine Zeugen gebrauchen kann.“ „Ist das so“, murmelte Ryou, während Akefia mit dem Gesicht tiefer glitt und der Versuchung schließlich nicht mehr widerstehen konnte, die Nase seitlich in Ryous Haaransatz zu vergraben. Ein ungewollter Schauer überrollte seinen Körper. Wie konnte ein Junge, wie Ryou so verführerisch gut riechen? Er roch nach bittersüßer Unschuld und gleichsam nach tödlichem Gift. Wie ein Engel. Gott, er wollte ihn haben! In Akefias Kehle grollte es, wie bei einem Tier. Verdammt, was fiel diesem kleinen Biest eigentlich ein? Ihn von einem Schlag auf den anderen so zu entwaffnen, dass er ihm außer seiner tumben Geilheit nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Oder war es nur der Alkohol, der ihn dazu verleitete, nur noch auf seine niederen Instinkte zu hören? Mit einem Ruck, der seine ganze Selbstbeherrschung erforderte, wandte er sich von Ryou ab, welcher sich erleichtert wieder in eine aufrechte Position bemühte. Die Zigarette in seiner Hand war zur Hälfte verglüht. Er aschte ab und versuchte, seinen Ständer zu ignorieren. Ob sein Blut wohl auch so süß schmeckte? Solche Gedanken waren nun nicht gerade förderlich. Von diesem kurzen, inneren Konflikt hatte Ryou wohl nichts bemerkt, wohl aber hatte er die Härte gespürt, die sich kurz gegen seine Hüfte gepresst hatte. Und genau dieses kleine Anzeichen reichte ihm. Er hatte also etwas, das er zu seinem Schutz ausspielen konnte, etwas, das ihm, seit er damals von zuhause abgehauen war, schon oft den Arsch gerettet hatte. Damit hatte er schon oft verhindert, bei Wind und Wetter auf der Straße schlafen zu müssen. „So, ich sag dir jetzt mal, wie das hier läuft“, nahm Akefia den Faden wieder auf, die Stimme klang gewohnt eisig, nichts ließ mehr auf das akute Verlangen schließen, das ihn soeben überfallen hatte. „Ich kann dich nicht laufen lassen, solange ich nicht sicher sein kann, dass du uns nicht irgendwo öffentlich mit diesem Mord und der Messerstecherei in Verbindung bringst. Dieses Haus hier wird für einige Zeit vielleicht das einzige sein, das du zu Gesicht bekommst, also solltest du dich schonmal daran gewöhnen. Ich hab meine Männer nicht zur Freundlichkeit gedrillt, also hab bloß keine besonders hohen Erwartungen. Dinge von denen ich nicht sonderlich begeistert bin sind Fluchtversuche, Missachtung meiner Anordnungen und Respektlosigkeit. Wenn du dich unterordnest, dann hast du hier nicht das schlechteste Leben. Und vielleicht…“, fügte Akefia mit einem anzüglichen Grinsen hinzu, „bin ich auch gewillt, es dir ein wenig leichter zu machen, wenn du mir gelegentlich ein paar Sonderleistungen erbringst.“ Kein Platz für Fehlinterpretationen. Ryou lief ein leichter Ekelschauer über den Körper beim Gedanken daran, mit diesem Akefia zu schlafen, aber er wusste sehr wohl, dass es früher oder später keinen Weg daran vorbei gab. Nur all zu leicht würde er es ihm nicht machen. Damit würde er sich ja ins eigene Fleisch schneiden. Den Kopf leicht schief legend, erwiderte Ryou: „Geht klar, Boss. Nur eine Sache wäre da noch, auf die ich bestehen muss.“ Akefias linke Augenbraue zuckte in die Höhe. Mutig war der Kleine ja, auch noch Ansprüche zu stellen – aber es interessierte ihn, was er zu sagen hatte. „Welche da wäre?“ „Ich brauch Klamotten. Wirklich, ich laufe seit mehr als 48 Stunden in denselben Sachen rum und habe absolut nichts bei mir.“ „Morgen“, kommentierte Akefia und er hielt Wort. Tatsächlich verbrachte Ryou ein ganzes Jahr bei Akefia. Schon bald schien der Bandenchef ihm zu vertrauen, denn er spürte wohl, dass Ryou sich zu ihm hingezogen fühlte und Akefia fand bald Gefallen daran, Ryou als sein persönliches Betthäschen zu halten. Es hätte sehr viele Möglichkeiten gegeben, Akefia zu entkommen, doch die stärkste Fessel, die er ihm anlegen hatte können, war, ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn liebte. Etwas, das er vor seinen Männern nie zeigte, aber, wenn sie es miteinander trieben, wenn sie alleine waren, dann war es wundervoll und es gab Momente, da war Ryou wirklich glücklich, obwohl er mit Verbrechern zusammenlebte, obwohl er selbst gegen das Gesetz verstieß, sogar manchmal für Akefia anschaffen ging – dass er ihm nur die angenehmen Kunden gab, sah Ryou als einen Liebesbeweis, denn Akefia hatte viele Nutten und Stricher, die für ihn arbeiteten und bei denen war es ihm scheißegal, wenn sie am nächsten Tag aufgeschlitzt im Rinnstein aufwachten, denn Nachschub fand er immer irgendwo, wo das Elend der Welt besonders groß war, würde sich das auch niemals ändern. Akefia hatte eine ganz eigene Art, Ryou zu bezaubern und Ryou verlor sich fast selbst, in dem Bestreben, Akefia zu Willen zu sein, ihm zu gefallen, alles für ihn zu tun, weil er sich ihm freiwillig unterwarf und somit unter seinem Schutz stand und irgendwann genoss er sogar viele Freiheiten den anderen Mitgliedern der Gang gegenüber und er wurde akzeptiert und keiner wagte es, ihn anzurühren. Sein Leben war nicht perfekt, aber er konnte leben, es war okay, er spürte in diesem Jahr, was es hieß, wenn man Leidenschaft empfand, wenn einem Leidenschaft geschenkt wurde und wäre die Razzia nicht gewesen, denn sie waren hinter Akefia schon lange her, dann wäre er vielleicht bei ihm geblieben. Sie kamen in der Nacht, Ryou lag mit Akefia im Bett, sie hatten Sex gehabt in der Hitze der Sommernacht, sie jagten sie mit Maschinenpistolen aus dem Bett und in dem Moment als er nackt vor einem Polizisten stand, der eine Automatikwaffe auf ihn hielt hatte er mehr Angst, als er sie jemals in seinem Leben zuvor empfunden hatte, sie nahmen ihn fest und zerrten ihn von Akefia weg, Ryou schrie und sie wähnten ihn wohl als einen der Stricher, die Akefia hielt, sie zerrten ihn von Akefia fort und Akefia schenkte ihm einen langen intensiven Blick, sagte nichts, doch in dem Blick sah Ryou die Botschaft, dass er abhauen sollte, fortgehen und nie wieder kommen, wenn er nicht in den Jugendknast, oder sonst wohin wollte. Das war der letzte und vielleicht einzige wahre Liebesbeweis, den er ihm erbrachte. Sie zerrten ihn in ein Polizeiauto und brachten ihn aufs Revier, während Ryou Schüsse noch im Wegfahren hörte – die Polizistin, die mit ihm hinten im Wagen saß, brabbelte beständig auf ihn ein, doch er hörte er nicht zu. Wieder einmal stand er vor einem Nichts in seinem Leben. „Scheiße, was zur Hölle fang ich jetzt nur mit dem kleinen Pisser an“, fluchte Akefia halblaut und setzte kurz darauf eine Flasche Bier an, um ein paar kräftige Züge daraus zu trinken. Dabei wanderte sein Blick zu dem weißhaarigen Jungen, der wie bestellt und nicht abgeholt und in sich zusammengesunken da auf der Couch saß und ins Leere starrte. Sie hatten ihn nichtmal fesseln müssen. Scheinbar stand er noch unter Schock. Eigentlich kein Wunder, immerhin war man nicht jeden Tag Zeuge eines so blutigen Bandenkrieges. Fast schon tat er ihm ein bisschen Leid. Er sah noch so jung aus. „Hast du inzwischen eine Ahnung, wer uns die Kerle auf den Hals gehetzt hat?“ Hands, welcher ihm diese Frage gestellt hatte, war inzwischen zurückgekehrt. Zusammen mit einem der anderen hatte er Schutzgelder kassiert. Sie waren hier im Viertel berüchtigt, Akefia bezeichnete es ganz gerne als eine parasitäre Co-Existenz. Er und seine Leute kassierten die Kohle dafür, dass sie das Viertel sauber hielten. Zumindest auf Akefias Art. Nicht, dass die Geschäftsbesitzer eine großartige Wahl gehabt hätten, aber es war besser, als der Terror. Und für Akefia und seine Leute lebte es sich auf diese Weise nicht schlecht. Die Starken fressen die Schwachen. Das war doch schon immer so. Akefia hob träge den Kopf und wandte seinen Blick von dem Jungen ab. „Hab dir doch schonmal gesagt, dass ich keine beschissene Ahnung hab“, knurrte er schulterzuckend und ließ die Nägel gereizt an der Flasche trippeln. „Warum so pissig?“, erwiderte seine rechte Hand und griff sich ebenfalls eine Flasche Bier. „Das kannst du dir doch denken, oder?“, knurrte Akefia leise und ruckte mit dem Kopf in Richtung Ryou, der bisher nicht einmal aufgesehen hatte. „Ich hab dir gleich gesagt, dass du ihn vor Ort hättest abknallen sollen. Wär doch eh nicht mehr aufgefallen“, entgegnete Hands, welcher nach Akefia in der Hackordnung am höchsten stand, schulterzuckend, wonach er die Flasche ansetzte und ebenfalls ein paar Schlucke trank. „Und ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass ich keine Unschuldigen da mit reinziehe“, erwiderte Akefia leicht gereizt. Ursprünglich war das tatsächlich sein Plan gewesen. Aber diesen Plan hatte er relativ schnell wieder verworfen. Irgendetwas an diesem Jungen hatte sein Interesse geweckt. Nein, es war etwas in seinem Blick gewesen. Die Augen, die ihn so voller sanftem Unglauben angeblickt hatten, ehe sie dann erloschen waren. Es war nicht das Blut gewesen, denn Blut hatte er schon oft gesehen. Warum war er geblieben, er hätte doch während des Scharmützels genug Zeit gehabt, um zu fliehen? War es wirklich nur der Schock? Abermals ruhten die dunklen Augen auf dem Jungen. Er wirkte viel unschuldiger, als er wahrscheinlich war. „Nein, ich denke, dass ich ihn eine Weile behalten werde. Vielleicht probier ich ihn mal aus.“ Aber so hart war Akefia nicht, war er nie gewesen. Er würde die Verantwortung für ihn übernehmen und ihn zu seinem Besitz machen. Akefia hatte kein Herz, doch das, was da ihn ihm war, wurde durch die wenigen Stunden, die er alleine mit diesem Jungen war, erwärmt, ohne, dass er es wollte. Irgendwann dachte er sogar daran, aufzuhören und mit ihm wegzugehen. Aber die Polizei kam ihm zuvor. Auf dem Revier sorgte man dafür, dass er etwas zum Anziehen bekam und ehe man ihn befragen konnte, gab er vor, auf die Toilette zu müssen und in Wahrheit verschwand er aus dem Toilettenfenster, es war ihm egal, dass er sich bei dem Sprung den Knöchel verstauchte und sich das Handgelenk prellte, er wollte nicht bei diesen Menschen bleiben – sie hatten ihm früher nicht geholfen, als er Hilfe gebraucht hätte und jetzt wollte er nicht zum Gefangenen ihrer Selbstgefälligkeit werden. Ryou lief, nein, er rannte, er rannte, bis er im Morgengrauen an den Stadtrand kam und da fuhr er dann per Anhalter irgendwohin. Auf einem Parkplatz fragte er einen Trucker, ob der ihn mitnehmen würde. Der sagte ja, würde er, wenn er ihm im Gegenzug einen blies. Ryou tat es, es war ihm egal. Sie fuhren in den Süden. Durchquerten Louisiana und Texas und New Mexico und in New Mexico war das Ziel des Truckers und weiter wollte er ihn nicht mitnehmen. So kam es nun, dass Ryou dreckig und abgemagert und verloren auf der großen weiten Welt auf der Stufe vor einem Bistro saß und Kreise in den Staub zu seinen Füßen malte und nicht wusste, wo er hinsollte. Er war alleine, er hatte niemanden mehr. Plötzlich sehnte er sich nach einem Zuhause. Nach der Familie, die er verloren hatte, nach seiner Schwester, an deren Gesicht er sich kaum noch erinnerte, weil er es verdrängt hatte, nach seinem Bruder, der ihn früher immer beschützt, nach der Mutter, die ihn in den Schlaf gesungen hatte, als er noch klein war, nach Akefia, der sein Herz in Flammen geworfen hatte, wie nie ein Mensch zuvor und plötzlich sehnte er sich wieder nach dem Tod. Ryou hob den Blick. Er sah in einiger Entfernung die Autos vorbeirauschen. Dann stand er auf und ging darauf zu, auf die Schemen, die immer mehr verschwammen. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Getrunken? Die Hitze hier war unerträglich. Hätte ihn nicht die Frau aus dem Bistro plötzlich am Arm gepackt und mit hineingezerrt von wegen, was er denn da bitte vor habe, hätte er sich einfach auf den Highway auf die LKW Spur gestellt und gewartet, bis ihn der nächste erwischt und ihn zu einem Schmierstreifen an Blut und Eingeweiden auf dem Asphalt gemacht hätte. „Ich kann nicht bezahlen…“, stammelte Ryou zusammenhanglos, während sie ihn sanft auf eine der geflickten Bänke bugsierte. „Das lass mal meine Sorge sein“, sagte sie gutmütig im feinsten Südstaatenakzent und stellte ihm im nächsten Moment ein Glas eiskaltes Wasser mit Zitrone hin. „Ich mach dir mal was zu essen. Du siehst aus, als hättest du seit Wochen nichts Anständiges gehabt.“ Wenig später brachte sie ihm einen Teller Pfannkuchen mit Ahornsirup und das war das Allerköstlichste, das er je gegessen hatte. „So, und nu erzähl mal, was willst du so alleine da draußen, hm?“, sagte die Frau namens Peggy mütterlich und blickte ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Er zuckte mit den Schultern und fand keine Worte. „Ich weiß nicht wer ich bin und wo ich hinsoll, Ma’m.“ Sie legte ihm den Arm um die Schultern. „Kleiner, bist du nicht Bisschen zu jung um zu reden, wie ein alter Trucker, der 30 Jahre seines Lebens auf der Straße verbracht hat?“ Ryou brachte ein schwaches Lächeln zusammen. Die Frau schien sich aufrichtig für ihn zu interessieren und das nicht nur, weil er sexuelle Gefälligkeiten bieten konnte. Und dann erzählte er ihr ihre Geschichte, es floss aus ihm raus, genauso, wie die Tränen und schließlich heulte er sich die Seele aus dem Leib, das Gesicht an den drallen Busen dieser Frau gepresst, die ihre anderen Gäste stehen und ihn einfach nur weinen ließ, so lange er wollte und als die Tränen endlich begannen, zu versiegen, sagte sie zu ihm: „Ich hab eine Cousine, unten in Texas - hat so zwei Stunden von Dallas entfernt in einer Kleinstadt, wo ich den Namen vergessen hab ne Bar, die ziemlich gut läuft, soweit ich weiß, sucht sich gerade wieder zuverlässige Leute. Sie sucht eigentlich immer Leute, aber wenn du willst, ruf ich sie mal für dich an, du könntest sicher für sie arbeiten und im Gegenzug dafür eine feste Unterkunft kriegen. Mai ist ein gutes Mädchen, man kann sich auf sie verlassen.“ Ryou nickte. Das klang okay. Texas. Wieso auch nicht. Peggy ging telefonieren und wenig später kam sie mit einem breiten Grinsen zurück. „Gute Nachrichten. Sie ist einverstanden. Hat zwar ne harte Schale, aber immer ein Herz für verlorene Schäfchen. In zwei Tagen fährt soweit ich weiß einer nach Texas runter bis nach Dallas. Von da aus kannst du einen Weitstreckenbus nehmen.“ Sie gab ihm sogar Geld dafür und behielt im Gegenzug seine unendliche Dankbarkeit und ein bisschen Vertrauen in die Menschen zurück. Peggy ließ ihn bei sich übernachten und in der zweiten Nacht schlief er mit ihr, das erste Mal mit einer Frau und dass sie 35 war und er frisch 18 Jahre störte sie nicht. Frauen waren heiß in ihrem Inneren und von einer ganz anderen Leidenschaft als Männer, doch Ryou waren die Männer trotzdem lieber. Zwei Tage später nahm ihn ein Trucker mit, vom dem Peggy sagte, man könne ihm vertrauen und sie küsste ihn zum Abschied auf die Wangen und rang ihm das Versprechen ab, anzurufen, wenn er angekommen war. Ryou war es sehr wichtig, sein Versprechen einzuhalten. Die Reise verlief ohne Komplikationen, auch wenn die Hitze in dem Bus, in dem die Klimaanlage ausgefallen war, unerträglich war. Etwas unsicher stand er am Bahnhof herum – die Beschreibung von Peggy: Blonde Haare, groß, schlank, traf auf ziemlich viele Amerikanerinnen zu – als er seinen Namen hörte. Er wandte sich um. „Du musst Ryou sein.“ Langes blondes, wallendes Haar, die Kleidung wie ein Cowgirl und ein Kaugummi im Mund, die Kiefer bewegten sich beinahe unentwegt, auf dem Kopf trug sie einen weißen, benutzt aussehenden Cowboyhut. Sein Blick fiel auf ihre Brüste, welche sie mit einem Korsettähnlichen Oberteil zusammengeschnürt hatte und er errötete leicht. „Ja, hallo. D-danke, dass Sie mich bei sich aufnehmen, Ma’m, das ist wirklich-“ Sie lachte und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter, „Na, das Förmliche gewöhn dir mal schnell wieder ab, da fühl ich mich noch älter mit meinen 28 Jahren.“ Er lächelte erleichtert. Sie schien nett zu sein und vor allem ehrlich, das hatte er im Gefühl. Mai führte ihn zu einem alten Jeep und während sie fuhren meinte sie: „Ein Freund von mir hat gesagt, dass du erstmal bei ihm wohnen kannst, wenn du möchtest. Er hat ein paar Jahre mit seiner Freundin zusammen gelebt, doch die hat ihn sitzen lassen und ich glaube, er ist ein bisschen einsam. Ich bezahle so gut ich kann und an guten Abenden gibt’s gutes Trinkgeld. Wenn du anpacken kannst, dann wirst du hier kein schlechtes Leben führen.“ Sie erzählte ihm noch ein bisschen von der Stadt und von den Leuten und vom Wetter und von allem, was sie glaubte, das wichtig sei und am selben Abend machte sie ihn dann mit Malik Ishtar bekannt. Malik Ishtar war zwei Jahre älter als er und absolvierte gerade das letzte Jahr auf der Polizeischule, und Ryou versuchte wirklich mit aller Macht, diesen jungen Mann nicht attraktiv zu finden, das waren sicherlich keine guten Voraussetzungen, zum Zusammenziehen. Allerdings waren sie sich vom ersten Augenblick an sympathisch. Ryou spürte das erste Mal wieder so etwas wie Vertrauen und Rückhalt bei einem anderen Menschen und als sie an diesem ersten Tag nachhause kamen und Malik Ryou das Zimmer zeigte, in dem er von nun an leben würde, ließ Ryou das Rolleau herunter, zog zusätzlich noch die Gardinen zusammen, schloss die Türe und schlief dann ganze zwei Tage am Stück durch. Als er wieder aufwachte, fühlte sich Ryou herrlich ausgeruht, wie schon lange nicht mehr. Da Malik nicht da war, machte er sich auf eigene Faust in der Wohnung auf Erkundungstour, da er sich nach einer Dusche sehnte. Während er unter der Dusche stand, hörte er nebenbei, wie die Haustür klickte, Malik kam zurück. Als er wenig später aus dem Bad kam, in einen Bademantel gewickelt, der nicht ihm gehörte, und in die Küche trat, sah er, dass Malik gerade Frühstück machte. „Hm, das riecht gut“, nuschelte Ryou und sein Magen knurrte sehnsüchtig bei dem Geruch von frischem Omelette. Malik wandte sich um. „Du bist total abgemagert, Mai hat gemeint, ich soll dich eine Woche mästen, ehe du zur Arbeit antrittst.“ Ihr Wort in Gottes Ohr. Ryou war früher immer ein guter Esser gewesen, doch die Zeiten ohne Zuhause hatten ihre Spuren an seinem Körper hinterlassen. „Tut mir leid, dass ich mir einfach deinen Bademantel genommen hab“, sagte Ryou schließlich verlegen, als er sich an den Tisch plumpsen ließ. „Ich hab überhaupt keine Klamotten bei mir …“ „Ist schon okay“, erwiderte Malik mit einem schiefen Grinsen. „Der gehört meiner Ex.“ „Ups.“ Malik lachte, „Halb so wild, sie ist schon seit einem halben Jahr weg, ich bin nur noch nicht dazu gekommen, ihre Sachen wegzuschmeißen.“ „Achso…“ Da wurde Ryou das erste Mal bewusst, dass er noch nie in seinem Leben eine richtige Beziehung geführt hatte. Immer nur dieses Treiben von einem Mann zum nächsten. Sich binden? Das wäre irgendwie schön. Aber es machte ihm auch Angst. „Bist du jetzt erst nachhause gekommen?“, fragte Ryou, während er das Essen in sich hinein schlang, als hätte er wochenlang nichts gehabt. „Ja, ich war mit einem Kollegen auf Streife, ich darf jetzt öfter nachts ran, weil es mein letztes Ausbildungsjahr ist und nachts ist halt am meisten los, da kann ich auch am meisten lernen.“ Sie unterhielten sich über Maliks Arbeit, dann erzählte auch Ryou ein bisschen was von sich und in kürzester Zeit baute sich ein angenehmes Vertrauen zwischen den beiden auf. Malik zeigte Ryou in den nächsten Tagen die Stadt und stellte ihn ein paar Leuten vor und irgendwie wirkte hier alles so friedlich für Ryou, wie in einem Märchen, die Großstädte, die er gekannt hatte, waren voller grausamer Härte gewesen, doch hier war das anders. Hier spürte man Zusammenhalt, hier war er willkommen, hier nahm man ihn auf und er fühlte sich geborgen. Die Arbeit, die er dann eine Woche nach seiner Ankunft bei Mai antrat, war in der ersten Zeit wirklich hart, da sie sehr hohe Ansprüche an ihre Mitarbeiter hatte, aber er fand sich ein und begann, sich hier wohlzufühlen. Er lernte die Menschen kennen, fand Freunde, auch wenn er bis auf Malik niemanden wirklich näher an sich heran ließ, diesen Schutzmechanismus konnte er niemals ganz ablegen. Und irgendwann geschah es dann, dass Malik sich in ihn verliebte. Ryou hatte es lange Zeit nicht bemerkt, vor allem nicht, da er der felsenfesten Überzeugung war, dass dieser Kerl hetero war und Malik sprach es auch nicht direkt aus, doch man merkte es irgendwann in seiner Art, mit Ryou umzugehen. Ryou erbarmte sich schließlich irgendwann und tat den ersten Schritt, küsste ihn und Malik wirkte dabei so unbeholfen, weil er einem anderen Jungen noch nie auf diese Weise nah gewesen war, dass Ryou es schon als niedlich empfand. Und Ryou legte sich schließlich auf den Rücken vor ihm und sagte ihm, was genau er machen musste und entjungferte Malik schließlich auf diese Weise und sie hatten wunderschönen Sex, es war auch für Ryou eine ganz neue Erfahrung, da Malik nicht so grob war und sich die allergrößte Mühe gab, ihn zu befriedigen, was er so nie gekannt hatte. Danach war Malik offenbar von seinen Gefühlen für ihn geheilt, doch war es ein Schlüsselerlebnis gewesen, das er gebraucht hatte, endlich zu schnallen, dass er eigentlich schwul war. Oder beidseitig gepolt. Oder was auch immer. Ryou wollte hier nicht mehr fort. Denn es fühlte sich im Laufe der Jahre an, wie Zuhause. Und an sein altes Leben dachte er kaum noch. Das gehörte der Vergangenheit an, er würde nie wieder dorthin zurückkehren. Und so erfuhr er nie, dass er den Mann, den er niedergeschlagen hatte, nicht getötet hatte. Er erfuhr nie, dass sein großer Bruder Bakura eine Woche nachdem er von zuhause abgehauen war, die ganze Stadt nach ihm abgesucht hatte, weil er sich daran erinnert hatte, einen kleinen Bruder zu haben. Er erfuhr auch nie, dass seine Mutter sich das Leben nahm und was er auch nicht erfuhr war, dass … seine kleine Schwester lebte. How could they know just what this message means The end of my hopes, the end of all my dreams How could they know the palace there had been Behind the door where my love reigned as queen ~ No milk today, it wasn't always so The company was gay, we'd turn night into day. (Herman's Hermits) Kapitel 3: pumped up kicks -------------------------- Der Regen prasselte hernieder, hart wie Geschosse einer Kleinkaliberpistole. Keine Regung ging durch den Körper des Mannes. Er wirkte nahezu statuenhaft, wie er da im Regen stand, und unter dem Pony hervor mit schwarzen bösen Augen seine Gegner anstarrte, die Hände in der Haltung erhoben, als griffe er gleich nach einem Colt. Doch an der Stelle des Colts, da waren Messer und seine Gegner, die den fatalen Fehler machten, Kid nicht zu kennen, grinsten, starrten höhnisch und siegessicher, waren sie doch zu dritt und er allein. Und sie hatten Pistolen und mit diesen Pistolen wollten sie ihn durchlöchern. Und warum? Weil er ihnen in die Quere gekommen war, weil er einen der ihren aufgeschlitzt und seinen Kopf den Sherifs übergeben hatte und auf den Kopf dieses Mannes hatte ein sehr hohes Preisgeld gestanden und die Bande wollte ihr Ansehen wieder herstellen, die mexikanische Drogenmafia mischte man nicht einfach ungestraft auf. Aber Kid stand einfach nur da. Und sah sie an und hatte keine Angst. Die Männer rauchten Zigarillos, die Glut geschützt vorm Regen unter ihren Sombreros. Von Kid hatten sie gehört, auch wenn sie noch nicht wussten, dass er es war, der vor ihnen stand, hätten sie es gewusst und wären sie klug gewesen, hätten sie schleunigst das Weite gesucht, aber sie waren nicht klug, und sie wussten es nicht, sie waren nur geschickt worden und sie waren Männer, die ihre Befehle ausführen, weil sie hofften, irgendwann ein ganz großes Stück Macht abzubekommen, dabei war klar, dass jeder von ihnen die einzige namenlose Bestimmung hatte, die wertlose Vorhut zu bilden, die entbehrlichen Männer, die geschickt wurden um die wahre Stärke eines Gegners zu erforschen. Die rote Glut der Zigarillos glimmte gelegentlich im Halbdunkel auf. Kid stand mit dem Rücken zu Wand. Das wusste er und die Männer wussten das auch. „Ombre“, rief einer von ihnen, „es ist aus mit dir. Wünscht du dir jetzt, dich niemals mit uns angelegt zu haben? Ergibst du dich freiwillig? Vielleicht verschon der Pate dein Leben, wenn du ihm den Ring am Finger küsst!“ Kid lächelte, doch seine Augen blieben kalt dabei, grinste schließlich, entblößte ungewöhnlich spitze Eckzähne und im selben Moment, als ein Lachen aus seiner Kehle erscholl, blitzte es und den Männern schauerte es in dem Augenblick, als die weiße Gestalt mit der abgehalfterten Kleidung in diesem fahlen hellen Licht erstrahlte, es wurde wieder dunkel, doch das Weiß und das Schwarz der Augen blieben und das Lachen, das Lachen machte ihnen Angst, denn er tat nichts, als lachen, beinahe so, als hätte er triumphiert, alleine, weil sie nun hier standen und glaubten, ihm etwas anhaben zu können. Ein weiterer Blitz erhellte die Nacht und als das geschah, sahen sie mit Schrecken, dass der Mann nicht mehr dort in der Ecke stand, in die sie ihn gedrängt hatten, sie wirbelten herum, einer von ihnen fluchte auf Spanisch, während die anderen beiden längst ihre Pistolen gezogen hatten und plötzlich standen sie vor der Wand und Kid lachte nicht mehr, sein Blick spie Tod und kaum, dass der Finger des ersten Mannes am Abzug zuckte, hatte er ihm mit dem schärfsten Messer der Welt den Schädel gespalten – die Augen verdrehten sich, der Schuss ging in den Himmel und er kippte hintenüber, die Augen nach oben verdreht, wie als wollte er das erkennen, was ihm den Tod gebracht hatte, der zweite fluchte „Bastardo!“ und wollte schießen, doch schneller, als die Kugel die Mündung verließ, fraß sich mit unmenschlicher und grausamer Wucht die lange Klinge eines Messers hinein, spaltete den Lauf und die Pistole explodierte in seiner Hand, Eisensplitter bohrten sich in seine Augen und einer ging so tief, dass er ihm augenblicklich das Augenlicht auslöschte. Mit gellenden, ohnmächtigen Schreien ging er zu Boden, und der letzte von ihnen, der sah sich, an die Wand zurückgewichen, plötzlich einem Dämonen gegenüber, welcher ihm ein Messer ein die Kehle hielt, so knapp, dass die Spitze gerade so nicht die Haut durchritzte. Und der Dämon, der Dämon mit dem Menschenkörper, er sah aus, als würde er ihn fressen wollen. Kid verzog angewidert das Gesicht. „Kaum sind deine Kumpel weg, pisst du dich ein.“ Spuckte ihm dann ins Gesicht, der Mann zuckte wimmernd zusammen. „Widerlich. Du hast es nicht verdient, zu leben.“ Ein gurgelnder Laut, als das Messer direkt durch die Kehle ging und hinten am Nacken wieder austrat. Emotionslos riss er es wieder heraus. Dann spuckte er nochmal aus, wütend darüber, seine Zeit verschwendet zu haben. Das Haar klebte ihm im Gesicht und die Kleidung am Körper. Kid ging zu dem Mann mit dem Messer im Schädel. Inzwischen lag er in einer Lache Blut, die vom Regen bereits fortgespült wurde. Blut hatte eine schöne Farbe, aber es war so ekelhaft menschlich. Er stellte einen schwer bestiefelten Fuß auf die Kehle des Toten und beugte sich dann herab um das Messer heraus zu ziehen. In Seelenruhe zog er ein Tuch aus dem Inneren seiner Manteltasche und reinigte die Messer. Das Blut dieser Männer war es nicht wert, an ihnen zu kleben. Die Hand des zweiten Mannes, der auf ihn hatte schießen wollen bestand nur mehr aus einem Gemisch von Fleischfetzen und Knochensplittern, er wimmerte noch leise, dort am Boden liegend. Kid brach ihm mit einem gezielten Fußtritt das Genick. ~*~ „Disco“, murmelte Malik, während er den Einsatzwagen startete, der in dieser Dreckshitze Schwierigkeiten hatte, anzuspringen. Die Stadt hatte ja kein Geld für eine vernünftige Ausstattung ihrer Polizei, das einzige, wofür sie, wenn überhaupt Geld aufbrachte, waren sinnlose Werbekampanien um Touristen herzulocken, oder Veranstaltungen, zu denen kaum ein Schwein mehr hinging, weil es doch immer derselbe Scheiß war. Malik war ja froh, dass drei von fünf Zellen auf dem Revier noch richtig schlossen. In Labours Lost gab es immerhin kein Übermaß an Verbrechen, nicht so, dass es bedenklich geworden wäre und so waren die einigen Zelleninsassen gelegentlich Betrunkene, die dort zur Ausnüchterung, mangels einer besseren Alternative hinein gesteckt wurden und das geschah meistens ohnehin nur am Wochenende, vor allem dann, wenn Mai Happy Hour in ihrer Bar hatte. Vorhin war ein Notruf eingegangen, Nachbarn hatten einen handfesten Streit gemeldet und Malik war die undankbare Aufgabe zugefallen, nach dem Rechten zu sehen. Wahrscheinlich war die Sache ohnehin harmlos, er würde ein paar mahnende Worte sprechen, die aufgebrachte alte Dame, die den Notruf gewählt hatte, beruhigen müssen und dann in dem Gewissen wieder fahren, dass die Worte, die er an den vermutlich prügelnden Freund oder Ehemann richtete, nicht fruchteten, wie es meistens der Fall war und dann würde er in Mais Saloon fahren und sich ein kühles Bier genehmigen, und hoffen, dass er den Rest des Tages seine Ruhe hatte. Er durfte nämlich in der letzten Zeit vermehrt Doppelschichten schieben, da ihnen das Personal ausging, denn die Leute zog es aus Labours Lost fort und somit Aufgaben verrichten, die unter seinem Rang als Chief Officer lagen – über ihm stand nur noch Henry Kelso, der Sheriff und wie der zu dem Posten gekommen war, war Malik bis heute ein Rätsel, denn der Kerl war genauso fett, wie er gutmütig und faul war und ohnehin viel zu alt. In wenigen Jahren würde er in Rente gehen und Malik wohl seinen Posten übernehmen, was hoffentlich mal eine Gehaltserhöhung bedeutete. Wenn er es den anderen Pilgern nicht gleich tat und dieses Loch verließ, aber irgendwas hielt ihn hier, oder besser gesagt irgendjemand und dieser Jemand war Ryou. Er würde es niemals über sich bringen, ihn alleine zu lassen, denn wenn ein Mensch es verdient hatte, beschützt zu werden, dann war er es. Auch, wenn er immer wieder betonte, er brauchte das nicht, aber Malik wusste nach den Jahren, die sie miteinander verbracht hatten, mittlerweile hinter die Fassade zu blicken. Er hielt bei der Adresse, die ihm die Anruferin genannt hatte – ein Holzhaus, ziemlich heruntergekommen, aber heruntergekommen war fast die ganze Stadt, das Elend war nicht allzu offensichtlich, da es einfach normal war, wie man hier lebte. Das ganze Viertel bestand aus Häusern dieser Art, die meistens nur über einen großen Wohnraum und ein Badezimmer verfügten, vorne eine Holzveranda, auf der nur mehr der Schaukelstuhl und der Banjo spielende barfüßige ausgediente Cowboy fehlten, um die Illusion eines typischen Wildweststreifen aufrecht zu erhalten. Malik stieg aus dem Wagen, eine ältliche Frau kam aufgeregt ihre Veranda herab gehastet, als sie den Polizeiwagen erblickte und Malik liftete den Hut mit rangauszeichnenden Stern. „Sie haben angerufen, Ma’m?“ „Jaja, Riesengeschrei, ich hab grad rote Beete eingelegt und mein Küchenfenster ist direkt vor dere ihrem Wohnzimmer, da wohnen zwei junge Leute und die streiten ja oft, aber vorhin da hats richtig gekracht, würd mich nicht wundern, wenn der das Mädel totgeprügelt hätte.“ Die Frau war ganz außer sich. Wohl weniger, weil so etwas Schreckliches direkt in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft geschah, sondern, weil sie ihren Freundinnen beim sonntagnachmittäglichen Kaffeekränzchen mal zur Abwechslung etwas mehr erzählen konnte, als den neusten Trick beim Rote Beete einlegen. „Ich seh mir das mal an, Ma’m“, sagte Malik und ging langsam zum Nachbarhaus hinüber, in dem die Dame den Streit mitbekommen haben wollte. Er setzte die Fliegersonnenbrille ab, während die andere Hand gegen die Tür hämmerte – hier in dieser Gegend hatten die wenigsten Wohnungen und Häuser Strom, was nicht nur an der schlechten Versorgung lag, sondern auch daran, dass die Menschen hier so arm waren, ihre Rechnungen nicht hatten zahlen können, dass man ihnen einfach den Strom angedreht hatte. Innerhalb des Hauses war es erst still, dann hörte er Schritte, ein Schloss wurde entriegelt, die Tür öffnete sich und in dem Spalt erschien das blasse Gesicht einer jungen Frau mit braunem Haar. Malik brauchte keine zwei Sekunden um zu schnallen, dass er die Frau erstens kannte – denn es handelte sich um Anzu, die eine Arbeitskollegin von Ryou war – und dass diese Frau vor nicht allzu langer Zeit ein paar Schläge ins Gesicht abbekommen hatte, denn ihre Lippe blutete und das Auge, das nicht im Schatten der Tür lag, war dabei zu zu schwellen. Sie wirkte überrascht und gleichzeitig ein wenig ängstlich, als sie ihn erblickte. Öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als jemand vom Inneren des Hauses erbost rief: „Wer zum Teufel ist da?“ „Liebling, es ist ein Officer“, antwortete sie und es war nicht zu deuten, ob sie selbst über diese Tatsache erleichtert war, oder ob sie Angst hatte. Malik war auf der Hut. Kurz darauf wurde die Tür zugeknallt, die Kette entriegelt und dann ganz aufgerissen. Ein Mann stand vor Malik, Mitte 30, mit offenem Hemd, welches den Blick auf einen Urwald an Brustbehaarung freigab und so an den Mann in seiner Urform erinnerte, das kantige Gesicht abgerundet von Koteletten und Dreitagebart und sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er zu der Sorte Mann gehörte, an denen die Emanzipationsbewegung der letzten paar Jahre gehörig vorübergegangen waren. Das verkniffene Gesicht nahm gleich einen weniger angriffslustigen Ausdruck an, wurde beinahe auf eine irritierende Weise weich. Er schlang einen Arm um Anzus Schultern. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Officer?“ Malik ließ sich von dem geheuchelt harmlosen Auftreten nicht irritieren. „Es ging ein Notruf ein, einer Ihrer Nachbarn meint, besorgniserregende Geräusche gehört zu haben.“ Eine Sekunde wallte Zorn über das Gesicht des Mannes. Zu schnell, als dass es ein ungeübtes Auge bemerkt hätte, doch Malik entging es nicht. „Na sowas! Das war bestimmt die Alte Tilly – wir habens nur ein bisschen zu wild getrieben – wenn Sie verstehen.“ „Sir, mir ist nicht entgangen, dass Sie alkoholisiert sind und die reizende junge Dame an ihrer Seite ein wenig Angst hat. Ich bitte Sie daher höflich, mich freiwillig aufs Revier zu begleiten, nur solange, bis Sie Ihren Rausch los sind.“ Wie er es verabscheute, zu diesen Arschlöchern auch noch höflich sein zu müssen, damit sie brav mitkamen und keinen Ausraster erlitten. Der Griff um die Schultern des Mädchens verstärkte sich einen Moment drohend. „Anzu, Honey Bunny, sag dem Officer, dass du keine Angst hast. Du schämst dich doch nur, weil jemand mitbekommen hat, wie wild du im Bett abgehst.“ Er lachte dröhnend und wie er meinte, auflockernd, aber weder Anzu, die gezwungen lächelte, noch Malik war zum Lachen zumute. Maliks Blick würde härter. Warum konnte der Kerl nicht einfach die Klappe halten und mitkommen, dann kam Malik schneller zu seinem kühlen Bier und musste keine schlechte Laune haben, weil er sich an einem so widerlich heißen Tag, solchen nervenzehrenden Diskussionen aussetzen musste. Und Malik war leider, im Vergleich zu vielen seinen Kollegen in den ländlicheren Gegenden viel zu korrekt um ein Auge zuzudrücken – er hatte sich nicht umsonst für diesen Beruf entschieden. Er würde tun, was getan werden musste, dabei streng auf die Vorschriften achtend und aus diesem Scheißgrund hatte er dem Kerl nicht längst einen Boxhieb in den Magen verpasst, sondern sprach diplomatisch und als hätte er nicht bemerkt, dass dieser Typ sein Mädchen verprügelt hatte, auf ihn ein. Er konnte beinahe sehen, wie es an der Schläfe des Mannes pulsierte. „Hör Mal, Alter“, begann er schließlich und stellte damit einen neuen Rekord im freundlich zu unfreundlich Umschwung auf, „Ich hab eine Scheißahnung, warum du ausgerechnet uns auf die Nerven gehst – bei uns gibt’s keine Probleme, oder geht ihr jedem auf die Nüsse, der mit seinem Mädchen vögelt, habt ihr nichts Besseres zu tun, als unbescholtene Bürger zu nerven. Übrigens solltest du Würstchen vielleicht wissen, dass mein Cousin der Bürgermeister dieser Stadt ist.“ Ein gehässiges Grinsen, weil er meinte, dass Malik, dem man seine Jugend anmerkte und sie fatalerweise mit Einfältigkeit oder Unsicherheit verwechselte, nun sicherlich etwas eingeschüchtert sein musste. Dieser jedoch blieb gelassen. „Selbst, wenn du John Lennon höchstpersönlich wärst, Mann, wäre mir das so ziemlich egal. Ich sorge hier für Recht und Ordnung und wenn ich sage, dass du mich auf das Scheißrevier begleiten sollst, begleitest du mich auch auf das Scheißrevier.“ Er machte nicht den Fehler auszurasten, denn das war immer ein Zeichen von Schwäche, er hatte lediglich die Stimme drohend gehoben und fixierte den Mann mit lauerndem Blick. Der Kerl wirkte einen Moment irritiert. „Geh ins Haus“, blaffte er dann Anzu an, welche zusammen zuckte und sich seiner Order fügte. Dann knackte er mit den Fingerknöcheln und trat einen Schritt hinaus, Malik wich bewusst zurück, die Veranda herunter, weil dort oben nicht genug Platz war für einen eventuellen Kampf und wie es aussah, wollte sich der Typ gleich auf ihn stürzen und dafür, dass er so stark nach Alkohol roch, ging er noch erstaunlich gerade. Wahrscheinlich einer von der Sorte, die so viel soffen, dass der Alkohol schon längst das Blut ersetzt hatte. Wieso waren nur immer die schönsten Frauen mit den schrecklichsten Kerlen zusammen, das war etwas, was einfach nicht in seinen Kopf hinein wollte. Warum hatte es ein Mädchen wie Anzu nötig, sich von so einem Widerling ficken, schlagen und herumkommandieren zu lassen? Wahrscheinlich die verzweifelte Hoffnung an das Aufflackern der Liebe, die einmal gewesen war, das Bisschen Liebe, das dieser Mann ihnen einmal geschenkt hatte. Oh, ihr Frauen dieser Welt, ihr Masochistinnen. So standen sie sich nun gegenüber, der andere hatte in seiner Drohgebärde innegehalten. „Ich will sicher keinen Ärger mit dem Gesetz“, sagte er grinsend, alles in seiner Haltung sprühte Spott. Malik war nicht mehr nach lachen. „Also, warum verschwindest du nicht einfach und wir vergessen die ganze Sache, hm?“ „Ich lasse mich nicht auf Diskussionen mit dir ein. Du hast zwei Optionen. Die erste und wesentlich schmerzlosere für dich ist, brav die Hände auszustrecken, damit ich dir meine Handschellen umlegen kann oder die zweite und hässlichere ist, dass du dich innerhalb von 3 Sekunden mit deiner Fresse im Staub wieder findest und heulst.“ Ein dröhnendes Lachen, das schnell erstarb und der Mann holte aus, „Schluss mit lustig, du Penner“, zielte darauf ab, Malik einen Boxhieb in den Magen zu verpassen, diesem Früchtchen, das sich in seine Angelegenheiten mischte und zufällig eine Polizeiuniform trug, und meinte, die Fresse aufreißen zu müssen. Maliks Miene blieb eingefroren, er packte den Kerl am Arm, riss ihn mit seinem eigenen Schwung in seine Richtung, grätschte mit einem Bein in seinen Lauf, sodass er zu Boden fiel und keine zwei Sekunden später ertönte das Klicken von Maliks Handschellen, die sich um die Handgelenke des Kerls schlossen, welcher nun fluchend, aber ziemlich bewegungsunfähig auf dem Bauch lag, eine Wange gegen den sandigen, heißen Asphalt gedrückt. „Ich hab heute bei dieser Scheißhitze echt keine tolle Laune“, knurrte Malik nun. „Und du bist vorläufig festgenommen, mein Freund, wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Es hätte für uns beide so einfach ausgehen können, aber du musstest ja unbedingt beweisen, was für ein Mordskerl du bist.“ Malik würde lügen, wenn er behauptete, dass es ihm keine Genugtuung verschaffte, den Kerl vor den Augen dieser armen Frau zur Strecke gebracht zu haben. Er sah auf – sie stand in der offenen Tür mit vor den Mund geschlagenen Händen, er wandte seinen Blick wieder ab. „Du stehst jetzt ganz langsam auf. Ich habe nämlich keine Lust, meine Knarre wegen einem störrischen Esel wie dir zum Einsatz bringen zu müssen.“ Der Mann knurrte, stolperte dann in die Höhe, ahnend, was für einen Fehler er gemacht hatte. „Wow, ganz ruhig Mann, lass uns nochmal über alles reden.“ Malik gab ihm einen Stoß, drückte ihn wenig später energisch auf den Rücksitz des Polizeiwagens. Dann setzte er in aller Ruhe seine Sonnenbrille wieder auf. „Der tut dir erstmal nichts mehr, Kleines“, wandte er sich an die junge Frau, welche mit der Situation überfordert schien. „Was passiert mit ihm?“, fragte sie leise. Täuschte Malik sich, oder hörte er Sorge da aus ihrer Stimme? Sorge, dass dem Mann, der sie verprügelte und unterdrückte, vielleicht etwas geschehen könnte? Er würde sie nie verstehen. Nachdem er den Kerl zur Ausnüchterung vorerst in eine Zelle verfrachtet hatte, welcher tobte und fluchte, nachdem man ihm die Handschellen abgenommen hatte, sah Malik auf die Uhr. Er hatte jetzt sage und schreibe mit diesem Typen zwei Stunden verschwendet. Jetzt hatte er ohnehin bald Feierabend. Er beschloss, in Mais Saloon vorbeizuschauen, sich das Bier zu genehmigen, nachdem er sich schon die ganze Zeit sehnte – wie wahrscheinlich war es, dass in einer halben Stunde, die er Streife zu fahren hatte, noch etwas passierte? Wenig später stieß er die Flügeltüren des Saloons auf – wirklich kühl war es hier drin nicht, denn Mai hatte keine Klimaanlage, nur Ventilatoren, die die warme Luft von der einen Seite des Raumes in die andere bliesen, aber dennoch tat der Luftzug auf der erhitzten Haut gut. Er zog sich den Hut vom Kopf und ging langsam an die Theke, um sich dort nieder zu lassen. „Kannst du mir mal sagen, wo Ryou steckt?“ Mit diesem Satz wurde ihm ein Glas Bier zugeschoben, welches er dankend entgegennahm. „Dir auch einen guten Tag, Mai“, witzelte er und schob die Sonnenbrille hoch. „Hat er heute keinen Dienst?“ Das wunderte ihn. Ryou war, soviel er wusste, für heute eingeteilt – er erinnerte sich so gut daran, weil Ryou geklagt hatte, dass die Früh- bzw. Mittagsschichten bei diesem Wetter die reinste Tortur waren. „Doch, den hat er“, erwiderte Mai schlecht gelaunt. Was nachvollziehbar war, da nach Anzu allem Anschein nach auch noch ihr zuverlässigster Mitarbeiter unentschuldigt fehlte. „Aber er ist heute einfach nicht zur Arbeit aufgetaucht. Hast du ihn zwischenzeitlich gesehen?“ „Ich hatte `ne Doppelschicht und war nur kurz zuhause, da hab ich nicht drauf geachtet, ob er da ist. Aber ich kann ihm `nen Tritt in den Hintern von dir geben, falls ich ihn sehe, wenn dir das hilft.“ „Malik, ich finde das überhaupt nicht witzig, wie bitte soll ich einen Saloon führen, wenn mir dauernd die Leute ausfallen!?“ Malik trank ein paar Schlucke von dem kalten Bier. Eine echte Wohltat, nach so einem strapaziösen Tag. Dann meinte er: „Dieses Mädchen … Anzu, die arbeitet doch bei dir, oder?“ „Ja“, erwiderte Mai zögerlich, irritiert über den plötzlichen Themawechsel. „Sag ihr, sie soll sich von ihrem Kerl trennen. Ich musste ihn heute festnehmen, das war wirklich kein Spaß.“ „Mein lieber Junge, das sage ich ihr schon seit bestimmt einem Jahr.“ Sie unterhielten sich eine Weile. Dann zahlte Malik, nicht ohne ein Trinkgeld zu geben und machte sich auf den Weg nachhause. Das Funkgerät hatte nicht geknackt, während er hier gewesen war, was bedeutete, dass er jetzt ganz ruhig und entspannt seinen Feierabend genießen konnte. Das hieß, beinahe zumindest, denn da hatte sich eine gewisse Sorge in seine Gedanken geschlichen. Ryou war unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben. Das passte gar nicht zu ihm. Er wusste, wie dankbar Ryou Mai war, dass diese ihn damals bei sich aufgenommen hatte, in den Jahren, in denen er hier war, hatte er niemals etwas getan, das diese Frau in irgendeiner Weise erzürnt hätte und das schloss auch das einfach mal nicht zur Arbeit kommen ein. Ob ihm etwas zugestoßen war? Eigentlich deutete nichts darauf hin, vielleicht hatte er tatsächlich verschlafen, oder sein Kreislauf war ihm in den Keller gerauscht, was leider häufiger passierte. Tatsächlich, als Malik später nachhause kam, bemerkte er, dass irgendetwas seltsam war. Es war ruhig, alles deutete darauf hin, dass Ryou nicht zuhause war, es war still in der Wohnung, still und dunkel. Malik wurde misstrauisch. Malik wurde nie ohne Grund misstrauisch und er litt auch nicht unter Verfolgungswahn. Er widerstand dem Drang, nach Ryou zu rufen und anders, als es seine Gewohnheit war, entledigte er sich nicht sofort, nachdem die Wohnungstür hinter ihm zugeschlagen war, seiner Uniform und dem Waffenhalfter, sondern zog die Tür ganz leise hinter sich zu – so leise, wie es zumindest möglich war und ging gemäßigten Schrittes den kurzen Gang entlang in Richtung Ryous Zimmer, wobei ihm nicht entging, dass hier eine außerordentliche Unordnung herrschte – mit einem Blick in die Küche stellte er fest, dass es da offenbar nicht anders aussah; Unordentlichkeit war nun in einem Männerhaushalt keine Seltenheit und erst Recht kein Grund, misstrauisch zu werden, wenn es nicht diese eine Art von Unordentlichkeit gewesen wäre, die man nur in Filmen sah, in welchen jemand ermordet oder überfallen worden war. Er zog langsam die Waffe aus dem Hüftthalfter, mit geübtem Griff umfassend. Ryous Zimmertür war angelehnt – er schob sie, die Waffe angewinkelt, mit der anderen, freien Hand auf, stieß sie dann zur Gänze auf und sein Blick erfasste in Sekundenschnelle das Innere des Zimmers und in diesem Inneren befand sich glücklicherweise kein Eindringling, soweit er das bei dem heruntergelassenen Rollo, das nur schmale Streifen grellen Lichtes herein ließ, erkennen konnte, und er ließ die Waffe sinken. Was ihm allerdings als zweites auffiel, war, dass der winzige Schwarzweiß-Fernseher, den Ryou in seinem Zimmer hatte, flimmerte, ganz leise gedreht, sodass der Ton nur mehr als unverständliches Murmeln zu vernehmen war, zusätzlich zu jenem Knistern, das dem Gerät aufgrund seines Alters schon zu Eigen geworden war. Mehr zufällig wandte er den Blick zur Seite, dorthin wo er den Blick längst hatte schweifen lassen – und erschrak plötzlich, einen Satz machend und den Revolver hochreißend in Richtung der Gestalt, die dort zusammengesunken in unmittelbarer Nähe zur Tür saß. „Scheiße, Ryou!“, rief er verärgert aus und schob den Revolver zurück ins Halfter. „Du hättest dich ruhig mal bemerkbar machen können – kannst du mir mal sagen, warum es hier aussieht, als hätte eine Bombe eingeschlagen? Mai ist fuchsteufelswild, weil du heute nicht zur Arbeit aufgetaucht bist!“ Da Ryou im ersten Moment nicht antwortete, ging Malik in die Hocke, um ihm auf Augenhöhe zu sein und da schlug ihm der unverkennbare Geruch von Alkohol entgegen. Auch das noch. „Ryou, hey, ich bins, Malik, hörst du mich?“ Die leere Flasche Whisky, die halb zwischen Ryous angewinkelten Beinen lag, sprach Bände. Die war nämlich vor zwei Tagen noch zu drei Vierteln voll gewesen, soweit er sich richtig erinnerte. Verdammt, bei diesen Lichtverhältnissen sah man aber auch nichts. Ryou war bei Bewusstsein, er hatte ihn deutlich angesehen und nun lächelte er entrückt, aber wirklich weiter brachte Malik das nicht, also stand er wieder auf, ging zum Fenster und zog das Rollo hoch. Die gleißende, untergehende Abendsonne drang in den Raum und blendete, sodass Malik das Rollo nur zu Dreivierteln hochzog. Dann ging er zurück zu Ryou. Und erbleichte. Das Haar hing ihm strähnig ins Gesicht, war verklebt mit Blut und etwas anderem, das verdächtig nach Sperma aussah, ein Auge zugeschwollen, die Wange auf derselben Seite wurde von tiefen Kratzern geziert, die Lippe aufgeplatzt, Mundwinkel blutverkrustet, ein Gemisch aus Speichel und Alkohol war ihm seitlich aus dem Mund gelaufen – Ryou hatte sich nicht die Mühe gemacht, das zu entfernen – der ganze Körper übersäht mit blauen Flecken, und zwar der Art von blauen Flecken, die sicherlich nicht daher rührten, dass man sich versehentlich das Schienbein an einer Ecke anschlug. Um den Hals herum ein schwarzblaues Halsband, verursacht durch stetes Würgen, wie Malik im ersten Augenblick erkannte und da Ryou nur ein abgenutztes schmutzig weißes offenes Hemd trug und sonst nichts am Leib, blieb ihm natürlich auch die getrocknete Blutspermaspur nicht verborgen, die seine Beine verschmierte. Nur ein absoluter Idiot hätte länger als zwei Sekunden gebraucht um zu erkennen, dass dieser arme Junge vergewaltigt worden war und in Malik schrillten nicht zum ersten Mal an diesem Tag die Alarmglocken. „Ryou! Hey, scheiße, wer war das? Sag was, komm“, dabei schnipste er vor Ryous Gesicht herum, um zu erkennen, ob dieser irgendeine Reaktion zeigte. Ryou musste ins Krankenhaus, beschloss Malik, auch wenn das, was hier in der Stadt den Titel Krankenhaus trug, fast ein Witz war, aber die gröbste medizinische Versorgung bekam man hier und schon allein zur Spurensicherung musste Ryou umgehend von einem Arzt … „Vorhin kams in den Nachricht’n …“ Die wirre und nur unterschwellig lallende Stimme ließ Malik inne halten, „Auf ihn steht’n Kopfgeld …“ Dann grinste Ryou entrückt. „Malik, wir hab‘n die ganze Nacht gebumst und oh Gott, war das gut … so gut … so gut …“ Ryous Blick ging wieder ins Leere, Malik schlug ihm leicht aber bestimmt auf die Wange. „Ryou, wer ist er?!“ Etwa gar kein Überfall, war dieses Chaos hier in der Wohnung und die Zerstörung an Ryou etwa nur die Spur eines heftigen, kranken Liebesspieles, das über die Stränge geschlagen war, war nur Ryous selbstzerstörerische Seite hier wieder zum Vorschein gekommen? Oh, wie er das hasste, dieser Zustand in dem Ryou sich befand, zumindest der seelische war nichts Neues für ihn und wenn er sich auf einen ruhigen Feierabend gefreut hatte, wurde diese Freude allerspätestens jetzt zerschlagen. „Sie nennen ihn Sundance …“ Sundance? Malik wurde kalt. „Ryou …?“ Unwillkürlich krallten sich Maliks Hände in Ryous Schultern. Malik kannte die Fahndungsbilder, die Steckbriefe und er wusste, dass der Mann, von dem Ryou sprach, wenn er es denn war, zu der Sorte gehörte, die einst im Namen der Exekutive einen Freibrief erhalten hatten, weil sie so gefährlich waren, dass man ihnen lieber die Erlaubnis gab, ihresgleichen zu ermorden, als sich ihnen entgegen zu stellen und das in einem Staat, in dem die Todesstrafe als effektives Mittel zur Abschreckung hochgepriesen wurde. Malik schauerte es, er hatte plötzlich einen galligen Geschmack im Mund. Fragte sich im Bruchteil dieses Momentes nicht zum ersten Mal, für was für eine Regierung er sich der Exekutive verpflichtet hatte. Schluckte dann schwer, diesen Gedanken beiseite schiebend, denn Ryous Zustand war immer noch bedenklich, und sagte dann: „Ryou, jemand muss sich deine Verletzungen ansehen. Komm…“ Wenn es keine Vergewaltigung war, würde er ihn auch hier versorgen können. Malik zog ihn auf die Beine, Ryou schwankte erstaunlich wenig, bedachte man die Menge an Alkohol, die er intus haben musste. Es war Malik schon immer ein Rätsel gewesen, wie solch ein schmächtiger Körper so viel vertragen konnte, vor allem nach dem, was er schon alles mitgemacht hatte in seinem jungen Leben. Ryou allerdings mochte jetzt nicht angefasst werden. Er brauchte keine Hilfe, keine Bemutterung, die Verletzungen störten ihn nicht, sie fühlten sich erfrischend an und er wollte jetzt rauchen. Sich das zerknautschte Soft-Päckchen Lucky Strike und ein Feuerzeug greifend, schlurfte er zum Fenster, riss es auf. Dann steckte er sich eine Zigarette an, registrierte Maliks scharfes Aufkeuchen nicht, als er ihm die Kehrseite zuwandte, denn das Hemd, das er trug, war viel zu durchsichtig als dass man die tiefroten Schnitte auf Ryous Rücken nicht hätte durchschimmern sehen können. „Was zum Teufel…?“, zischte Malik, war mit schnellen Schritten bei seinem Freund und nötigte ihn, das Hemd auszuziehen, was Ryou widerstandslos über sich ergehen ließ, stand nun nackt und rauchend und den Blick aus dem Fenster gerichtet da, während Malik sich fragte, welches kranke Schwein auf die Idee kam, seinen Namen in jemandes Rücken zu schneiden und ja, er hatte ihn hinein geschnitten, nicht nur geritzt, sodass, selbst wenn die Schnitte verheilt waren, Narben bleiben würden. Sundance D.E.A.T.H. Zu seinem Erstaunen lächelte Ryou, als Malik es ihm sagte. „Ich gehöre jetzt wohl ihm.“ Das klang auf verstörende Weise unbeschwert und Malik zweifelte langsam an Ryous Geisteszustand. Malik fuhr sich durchs Haar und machte einen tiefen Atemzug. „Malik, ich glaube, ich muss hier weg…“ „Wie meinst du das?“ „Ich liebe ihn …“ Korrektur. JETZT zweifelte er an Ryous Geisteszustand. Mit Psychologie kannte er sich nicht aus, aber man musste kein Psychiater sein, um zu erkennen, dass dieser Junge nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. „Du hast eine Nacht mit ihm verbracht, Ryou“, sagte er schließlich langsam und eindringlich, wie als könnte Ryou das mal eben vergessen haben. „Ich bin kein Vollidiot, Malik.“ „Ich glaube schon.“ Ryou sah ihn jetzt doch an und sein Blick ließ ihn schauern, denn er war so melancholisch, wie damals, als er ihm endlich hatte erzählen können, was er in seinem Leben schon alles hätte ertragen müssen. „Du weißt nicht, wie das ist, Malik. Du weißt nicht, wie es ist, jemand wie ich zu sein. Ich bin allein, trotz dass ich euch alle hier habe. Er … er konnte als erster die Sehnsucht in mir stillen, den Hunger in meinem Herzen, die Leere in meinem Kopf. Er und ich sind in der Seele gleich …“ Nun traten Ryou doch Tränen in die Augen und darüber war Malik erleichtert, jeder normale Mensch würde nach so einem Erlebnis weinen, ob Mann oder Frau. Ryou musste die ganze Sache emotional mehr mitgenommen haben, als er zuerst angenommen hatte. „Hey“, sagte er schließlich zögerlich, leicht überfordert mit der Situation, „Du solltest erstmal duschen und danach werd ich mit deine Verletzungen mal ansehen. Und dann bestellen wir eine schöne fettige Pizza und reden ein bisschen, hm?“ Ryou sah ihn dankbar an. Froh darüber, dass Malik ihn nicht ausquetschte, ihm Vorwürfe machte, wie leichtsinnig er doch gewesen war (gut, indirekt hatte er das wohl schon) und ihm erstmal Zeit ließ, wieder zu sich selbst zu finden, denn das letzte Mal, als er emotional so aufgewühlt gewesen war, war zu der Zeit als er sein Herz an Akefia verloren hatte. Akefia, der nur mehr eine blasse Erinnerung war, umnebelt von Qual. Und er wusste auch, dass Mariku wohl die alten Narben in seinem Herzen unangetastet ließ, schlimmer noch, wahrscheinlich würde er ihn vollends in den Abgrund reißen. Aber Ryou war es das wert. Vielleicht war es an der Zeit, weiter zu ziehen. Malik ging in dieser Nacht mit rasenden Kopfschmerzen ins Bett. Wenig später stand er wieder auf und nahm drei Aspirin. Doch die Kopfschmerzen wichen nicht – die hatte er auch ziemlich oft in der letzten Zeit und Malik schrieb es der Hitze zu. War die jemals so drückend gewesen? Er war hier aufgewachsen und so extrem hatte er es nicht in Erinnerung. Er dachte neuerdings sehr viel nach beim Einschlafen und das nahm ihm oft den Schlaf. Er dachte an Anzu Mazaki, das japanische Mädchen, heiß begehrt bei den Männern weil sie so exotisch war, das Mädchen, das jeden hätte haben können, aber sich mit einem prügelnden Wichser wie Zeus abgab. Zeus Byrnes, der abgehalfterte Elvis Verschnitt. Sein Kopfschmerz zerschmolz zu Dunkelheit und am Ende dieser Dunkelheit stand etwas Anderes, etwas Helles, Grelles, das er immer verdrängt, aber nie vergessen hatte. Schon eigenartig, was geschehen konnte, was einen nicht direkt betraf, aber etwas in einem auslöste, dass einen der eigenen Vergangenheit schmerzhaft gedenken ließ. Und plötzlich war Malik wieder ein elfjähriger Junge in jenem Sommer, der sein Leben maßgeblich geprägt hatte. Denn irgendetwas war in diesem Sommer geschehen. ~*~ Es war heiß, so heiß, dass die unbefestigten Straßen Staub aufwirbelten, wenn man sie nur schief ansah und Malik saß auf der Veranda des winzigen Hauses, in dem er mit seinen Eltern lebte. Malik hatte keine Freunde, denn die Fremdenfeindlichkeit war auch mit dem Gleichheitsgesetz, dass erst vor wenigen Jahren verabschiedet worden war, nicht gewichen. Malik wusste das nur zu gut, denn als sie vor zwei Jahren noch in der Großstadt gelebt hatten, war sein großer Bruder Rishid von Weißen erschossen worden. Die waren zwar geschnappt worden, doch in der Rechtsprechung, in der natürlich auch nur Republikaner saßen, hatte die Aussage von zwei Weißen gereicht, um glaubhaft zu machen, dass dieser Mord Totschlag war, sie erhielten Milde und kamen je mit zwei Jahren Zuchthaus davon. Maliks Eltern hatte es so schwer getroffen, dass sie diese Stadt nicht mehr ertragen hatten und in ein vergessenes Nest namens Labours Lost irgendwo in Texas gezogen waren. Für Malik hatte es keine Rolle gespielt. Der Wohnortwechsel war ihm erstaunlich leicht gefallen, er hatte einen Schutzmechanismus entwickelt, der ihn daran hinderte, an Rishid zu denken, der ihn alles ausblenden ließ, was ihm zu schaffen machte, und so konnte man leben und ganz so schlecht hatten sie es hier nicht. Sie wurden ja auch nicht von der ganzen Stadt gemieden. Meist waren es die Älteren, von denen ihnen Ablehnung entgegenschlug, denn die waren in der Zeit der Rassentrennung aufgewachsen, doch auch sie vermochten es diese Einstellung auf ihre Kinder und Enkel zu übertragen und so kam es, dass Malik hier keinen einzigen Freund hatte. Das lag aber nicht ausschließlich an seiner arabischen Herkunft, sondern auch an der kühlen Distanz, auf der er die Menschen, die ihm drohten, zu nahe zu kommen, hielt. Und das war trotz seines jungen Alters schon erstaunlich ausgeprägt, sodass ihn jeder, der ihn kennenlernte für älter hielt, als er tatsächlich war. Sie hatten Sommerferien und das war gut so, denn Malik mochte die Schule nicht, aber auch schlecht, weil er klug war und wusste, denn das hatte ihm sein Vater beigebracht, wenn man nicht zur Schule ging, konnte man nichts werden und diesen ganzen weißen Arschlöchern, die glaubten, sie seien etwas Besseres, nur das bestätigen, wofür sie sie hassten. Maliks Vater selbst hatte Archäologie studiert, aber das war hier unten nichts wert und so hatte er eine Anstellung bei einem Farmer gefunden, der vorurteilsfrei war, und er verdiente genug, um die Familie zu ernähren. Malik war es unbegreiflich, warum sein Vater soweit unter seinem Wert arbeitete, aber seltsamerweise schien ihm genau die harte körperliche Ertüchtigung zu helfen, mit seiner Trauer fertig zu werden. Seiner Mutter nicht. Sie machte den Haushalt, doch zu ihr vermochte nichts mehr durchzudringen, sie lebte, doch sie lebte nicht bei ihnen. Malik wiederum verarbeitete den Schmerz des Nichtbeachtetwerdens und der Liebe, die ihm fehlte, indem er Unsinn anstellte, aber meistens, ohne andere mit hinein zu ziehen, denn wie bereits erwähnt hatte er niemanden, der sich mit ihm abgeben wollten. Und wenn dann nur die Schläger, die genauso arm waren, um wegzufahren und sich ihre Langeweile damit vertrieben, auf Kinder wie Malik loszugehen. Malik war ihnen bisher immer entwischt und einen Feigling hatten sie ihn deshalb genannt, aber es war ihm egal, er mochte die Genugtuung, wenn er ihnen immer und immer wieder entkam, das gab ihm ein Gefühl von Überlegenheit. Und das mochte er. Heute hatte er einen Umzugswagen gesehen. Zu dem Haus hin, das nur zwei weitere von dem ihren entfernt war und Malik war das aufgefallen, denn sonst gab es in Labours Lost nichts zu sehen. Während er, auf der Veranda sitzend, einen Ball auf- und ab werfend, beobachtete, wie der Umzugswagen verschwand und wenig später ein Buick in die Richtung des, nun nicht mehr leerstehenden Hauses, einbog, fiel sein Blick auf eine Gestalt, die da auf der Ladefläche saß und trübselig in die Ferne starrte. Er stand auf, um dem Wagen hinterher zu sehen und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Der Junge war kein Amerikaner, das sah man sofort. Ein Asiate? Er hatte noch nie einen Asiaten gesehen, also zumindest nicht in echt, sondern höchstens in den Nachrichten über die Vietcongs, deshalb war er neugierig. Die fast weiße Haut würde wohl schon bald von einem Sonnenbrand geziert werden, das stand fest. Das schwarze Haar stand ihm etwas wuschelig, wohl vom Fahrtwind, vom Kopf ab und wirkte gleichzeitig irgendwie seidig. Mehr konnte Malik nicht mehr erkennen, weil das Auto nun um die Ecke bog – der Junge hatte ihn wohl eben genauso neugierig angesehen, wie er ihn. Dann rief seine Mutter zum Essen und eine Weile dachte er nicht mehr an den Jungen. Etwa zwei Wochen später sollten sich ihre Wege wieder kreuzen. Und die Umstände waren sonderbar. Malik hatte von seiner Mutter etwas Geld bekommen, weil die ihn nicht im Haus haben wollte, damit er los ging und sich irgendetwas kaufte. Er beschwerte sich nicht darüber einfach so vor die Tür gekehrt worden zu sein – immerhin, wann bekam man schon mal fünf Dollar geschenkt, mit denen man machen konnte, wozu man Lust hatte. Also lief er gemächlich zum Supermarkt, um sich eine Cola und Süßigkeiten zu kaufen. Den Rest würde er sich dann aufheben. Wobei Supermarkt ein wenig beschönigend war – der Laden erinnerte mehr an einen etwas größeren Kiosk, wo man gerade das Nötigste bekam, was man brauchte – für extravagantere Sachen fuhr man einmal im Monat in die nächst größere Stadt und kaufte auf Vorrat – zumindest hielten es die meisten Erwachsenen so, die ein Auto hatten. Die armen Schweine, die über keinen fahrbaren Untersatz verfügten, ließen sich entweder mitnehmen oder mussten die Strecke mit dem Bus zurücklegen. Malik war erst einmal dort gewesen – ein Kinobesuch mit seinem Vater – einer der seltenen Augenblicke, in denen der Mann Zeit für seinen Sohn aufgebracht hatte. Malik versuchte, ihm keinen Vorwurf zu machen, immerhin arbeitete er sehr hart, um ihn und seine Mutter durchzubringen. Der einzige Vorwurf, den er seinen Eltern machte, war der, überhaupt hier her gezogen zu sein. Malik lief durch die Straßen in Richtung des alten Spielplatzes, wessen Bezeichnung ebenso unverdient war, denn das einzige, woraus dieser Spielplatz noch bestand, waren ein paar alte Reifen, welche wohl einmal zum Schaukeln gedacht, aber mittlerweile ziemlich zerlöchert waren, ein kaputtes Klettergerüst, zwei rostige Schaukeln, eine ebenso rostige Rutsche und ein Holzturm, in welchem die Halbstarken der Stadt sich manchmal versteckten um Haschisch zu rauchen. Da hatte sich Malik noch nicht so recht hin getraut, nicht weil er nicht neugierig auf das Hasch gewesen wäre, sondern weil dieses Türmchen immer von denselben Jungs besetzt war und die waren für ihre Gewaltbereitschaft berühmt und berüchtigt. Bei den anderen Jungs gefürchtet und von den Mädchen umschwärmt und irgendwie reizte es Malik doch, einmal mit ihnen zu ziehen, auch wenn er das natürlich nie zugegeben hätte. Da hätte ihn sein Vater wohl verdroschen und Malik hätte es ihm noch nichtmal verübeln können. An den Spielplatz schloss gleich im Abstand von wenigen Metern ein inoffizieller Schrottplatz an. Mit ziemlicher Sicherheit konnte sich kein einziger Bewohner der Stadt daran erinnern, wann er entstanden war, er war einfach immer schon da gewesen. Kinder wie Malik trieben sich gerne hier herum, denn es war groß, es war unübersichtlich und man hatte gute Versteckmöglichkeiten und darüber hinaus hatte Malik hier schon das ein oder andere interessante Ding gefunden, wie beispielsweise ein kaputtes Saxophon, ein angesengtes Fotoalbum, das deutsche Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg beim Exerzieren zeigte und einmal sogar irgendeinen Orden (warum jemand so etwas wegwarf, war dem Elfjähigen schleierhaft) und in den Autos die hier ebenso standen, konnte man herrlich spielen und sich verstecken. Malik wollte später mal genug verdienen um sich ein Auto kaufen zu können. Ja, das wäre schön. Als Malik den Spielplatz hinter sich gelassen hatte und immer mal wieder an seiner Cola nippend über den Schrottplatz spazierte, hörte er irgendwann ein Geräusch. Er blieb stehen und lauschte. Johlen und hämisches Gelächter. Nun auf der Hut schlich er sich näher. Das war der Vorteil hier – man wurde nicht unbedingt sofort gesehen, wenn man nicht gesehen werden wollte. Schließlich versteckte er sich hinter einem Auto und schon allein von den Stimmen her, konnte er einen der Jungen zweifelsohne erkennen. Keith Bandit, eine Klasse über ihm, ein Junge der mit 14 schon fast 1,80 m groß war und deshalb von allen immer für älter gehalten wurde, als er tatsächlich war. Als er vorsichtig um die Ecke spähte, erkannte er, dass er mit seiner Vermutung bezüglich Keith recht behalten hatte – einer der anderen Jungs war Zeus Byrnes, 17 Jahre alt und bestimmt schon dreimal in der Schule sitzen geblieben, ein Junge vor dem alle anderen Kinder Angst hatten, denn er hatte dieses Etwas. Dieses eine Etwas, das nur Typen wie er hatten und von dem niemand genau sagen konnte, was es war, ob es die Augen waren, in denen das Böse lag und der Hass und die unausgesprochene Drohung alles zu vernichten, was sich ihm in den Weg stellte oder die für sein alter stämmige, kleine Statur, oder dass er sich von keinem Erwachsenen etwas sagen ließ und schon mit 14 sein erstes Mädchen gehabt hatte. Dieses Etwas, von dem andere Halbstarke seines Schlages angezogen und verleitet wurden, ihm hörig zu sein, egal, ob das, was er verlangte gut war, oder schlecht. Natürlich war auch Malik nicht von einem Zusammentreffen verschont geblieben – zwar war dieses glücklicherweise nur verbal erfolgt, aber das hatte Malik schon gereicht. Er hatte ihn als Neger beschimpft und die anderen Kinder dazu gebracht, über ihn zu lachen. Malik hatte das nicht ganz so sehr zugesetzt, wie Zeus Byrnes wohl gehofft hatte, denn er wusste, dass sie nur lachten, weil sie Angst vor ihm hatten. Es hieß, er habe sogar mal einer Lehrerin eine reingehauen – und dafür einen ganzen Sommer Nachsitzen kassiert. Er war nicht sonderlich scharf auf eine Begegnung mit Byrnes außerhalb der Schule und schutzverheißenden Autoritäten, aber was er in dem Moment sah, dort aus seinem sicheren Versteck, trieb ihm augenblicklich die Wut hoch. Sie hatten ein Kind umringt, einen ziemlich schmächtigen Jungen, der in ihrer Mitte stand, zu Boden blickte, offenbar starr vor Angst und nur noch eine Unterhose anhatte, und zitterte – vielleicht weinte er sogar, das konnte Malik auf die Distanz nicht erkennen. Seine Hände klammerten sich um die Colaflasche. Kurz darauf stellte er sie ab. Er musste irgendwas tun. Malik machte sich keine Illusionen, dass er körperlich nicht gegen diese drei Jungs ankam – selbst wenn er ihre Größe oder Statur gehabt hätte, waren sie immer noch in der Überzahl. Warum verdammt nochmal war nie ein Erwachsener in der Nähe, wenn es wirklich mal darauf ankam? Aber auf Erwachsene konnte man sich nicht verlassen, das war ja keine Neuheit. Jedes andere Kind hätte sich jetzt, noch unentdeckt, klammheimlich auf den Rückweg gemacht und dieses andere Kind sich selbst überlassen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, denn Furcht vor den berüchtigtsten Jungs der Stadt zu haben, war keine Schande, die hatte jeder. Aber Malik reichte es in dem Moment, in dem Zeus den Jungen gegen den schmächtigen Oberkörper schubste, sodass dieser hintenüber hinfiel und in einer halb ausgetrockneten Matschpfütze landete. Es war eine Sache, wenn zwei sich prügelten, aber so etwas? Welcher Mensch nahm sich das Recht, sich derart über einen anderen hinaus zu schwingen? Er ballte die Fäuste unwillkürlich. Oh, wie sehr wünschte er sich in diesem Moment die Waffe seines Dads, die dieser zuhause in seinem Schrank aufbewahrte. Einfach nur um ihnen Angst zu machen. Aber die hatte er nun nicht. Suchend blickte er sich um - zwischen dem ganzen Schrott, der hier lag, musste sich doch etwas Nützliches befinden. Und er würde fündig – hob schließlich ein ziemlich rostiges und scharfkantiges Eisenrohr auf – das lag gut und schwer in der Hand. Dann atmete er einmal tief durch und trat vor, konnte damit gerade noch verhindern, dass der Junge gezwungen wurde, Schlamm zu fressen. „Hey, ihr Arschlöcher, Drei gegen Einen, ist das nicht ein Bisschen feige?“ Seine Stimme klang mutiger, als er sich fühlte, denn tatsächlich rutschte ihm das Herz ziemlich in die Hose, als sich nun vier Augenpaare auf ihn richteten und er wünschte sich, dass seine Stimme nicht mehr so knabenhaft klang. Ihm entging nicht, wie Zeus‘ Augen gefährlich flackerten und ahnte schon, was in diesem vorgehen musste. Er dachte wohl in einer unglaublich schnellen Abfolge darüber nach, woher er Malik kannte, als es ihm dann einfiel, ob dieser dreiste Pimpf wohl alleine war und schließlich, ob er mit der Eisenstange eine ernsthafte Bedrohung darstellte. Zu Maliks Bedauern schien er zu dem Schluss zu kommen, dass Malik keine ernsthafte Bedrohung war, das sagte ihm das Grinsen, das diesem über das Gesicht zuckte. „Na, sieh mal an, wen haben wir denn hier…“, dann setzte er sich langsam in Bewegung, unter den Cowboystiefeln ein rhythmisches Knirschen und Malik schwante, in was für eine unüberlegte Situation er sich begeben hatte. Er durfte keine Angst zeigen. Bloß keine Angst zeigen. Da unten lag ein Junge auf dem Boden, der ihn jetzt sicherlich als seinen Retter ansah, alleine wegen ihm. Er schluckte rau und reckte das Kinn, als Zeus vor ihn trat, während Keith und der andere weiter unten ein Auge auf ihr Opfer hatten. Zeus war nur minimal größer als er selbst, aber vielleicht war es gerade die Augenhöhe, die Malik unwohl war. Diese Augen waren gefährlich. „Wenn das nicht der kleine Nigger aus der Schule ist“, zischte er leise, doch mehr amüsiert als erbost. „Ich dachte, ich hätte dir schonmal gesagt, was ich von dir halte.“ Malik ging nicht auf die Beleidigung ein, er wandte auch den Blick nicht ab, wich nicht zurück, obwohl Zeus nichtmal einen ganzen Schritt von ihm entfernt war. „Und was willst du mit dem Ding da?“ Der Kopf des jungen Mannes vor ihm ruckte in Richtung der Eisenstange, die Malik inzwischen so fest umklammert hielt, dass seine Hand wehtat. „Damit wolltest du doch nicht etwa auf uns losgehen?“ Die fliederfarbenen Augen verengten sich. Doch, genau das hatte er gewollt. „Was hat dieser Junge euch überhaupt getan, Byrnes?“, erwiderte Malik ohne auf die Provokation einzugehen. Ein Schubs gegen die Brust, Malik taumelte zwei Schritte zurück, dann spuckte Zeus aus, ehe er knurrte: „Ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, Mann, aber ich habe noch sowas wie Vaterlandsstolz – mein Dad ist da drüben im Vietcong und hält uns die Schlitzies vom Leib – wer sind wir denn, dass wir dieses Gesocks schon hier rein marschieren lassen – die haben hier nichts verloren, das solltest du eigentlich wissen, wenn du dich schon als Amerikaner bezeichnest!“ Da tat Malik etwas, was ihn sogar selbst später noch verblüffen sollte, und wahrscheinlich war es die Tatsache, dass weder Zeus noch er selbst damit gerechnet hatten, dass dieser nicht mehr ausweichen konnte, doch in den Arm mit der Waffe kam plötzlich Leben und mit einem Schrei holte Malik aus. Und er traf. Auf der vollen Breitseite – einzig und allein Maliks schwachen Armen war es zu verdanken, dass Zeus lediglich taumelte und benommen zu Boden ging, dabei eine hässliche Platzwunde davon trug, jedoch nicht schlimmer zu Schaden kam, denn das hätte Malik, so wenig er diesen Jungen leiden konnte, sich wohl niemals verziehen. „IM KRIEG STERBEN MENSCHEN!“, schrie er dabei und ein kurzer Schmerz erinnerte ihn an Rishid, der auch unschuldig gestorben war. Im selben Moment jedoch, da er diesen Schlag gegen Zeus ausgeführt hatte, war er losgelaufen und er sah, wie Keith und der junge Mann, dessen Namen er nicht kannte, eiligst auf ihn zu kamen, um ihm die Hölle heiß zu machen und Malik sah es kommen, er sah die Schmerzen kommen, die ihm nun gewiss waren und er versuchte noch auszuweichen, doch Keith war schneller, er packte ihn, hielt ihn mit beiden Armen um den Oberkörper im Schraubstock und Malik brüllte dem Jungen zu, der noch immer erstarrt auf dem Boden saß: „LAUF ENDLICH WEG!!!“, da wurde er auch schon durch einen Boxhieb in den Magen zum Schweigen gebracht und er konnte nicht mehr sehen, ob der Junge auch wirklich weglief, da er zu sehr damit beschäftigt war, wieder zu Atem zu kommen. Und dann wie aus dem Nichts stand Zeus vor ihm, das Gesicht blutverschmiert und darin las man reine Mordlust. „Du verdammter kleiner Pisser“, grollte er, „Ich hätte dich verschont.“ Er knackte mit den Fingerknöcheln. Dann sah er etwas Silbernes auf sich zu rasen. Dann wurde es schwarz. Als Malik wieder zu sich kam, glühte die Sonne bereits feuerrot am Himmel. Ihm taten seine Rippen weh und seine linke Gesichtshälfte fühlte sich irgendwie taub an. Ihm war schwindlig und mit einem Stöhnen legte er sich den Arm über die Augen, um sie vor dem Sonnenlicht zu schützen. „Sie sind weg“, ertönte plötzlich eine Stimme rechts neben ihm und Malik öffnete die Augen überrascht wieder – es war der schwarzhaarige Junge. Mit einem Stöhnen und den Schwindel unterdrückend richtete Malik sich auf. „Warum bist du nicht abgehauen?“, wollte er wissen. „Bin ich“, sagte der Junge zögerlich, „Aber jemanden, der einem geholfen hat, im Stich zu lassen, ist unehrenhaft, sagt mein Vater.“ Der Junge saß mit angewinkelten Beinen und nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet auf dem Boden und malte mit einem Stöckchen kleine Kreise in den staubtrockenen Sand. Er hatte aus der Nase geblutet und kurz über der Augenbraue war ein feiner Riss. „Wie heißt du eigentlich?“, wollte Malik wissen, während er vorsichtig seine linke Gesichtshälfte betastete. Beim Sprechen tat es etwas weh. „Ryuji. Und du?“ „Malik. Bist du wirklich aus Vietnam?“, wollte er dann neugierig wissen. Ryuji schüttelte den Kopf. „Der Typ ist ein Idiot“, antwortete er finster, „Ich bin Japaner und in Amerika geboren.“ „Uncle Sam wird überbewertet“, meinte Malik und brachte ein Grinsen zustande, „Ich bin Ägypter und werd als ‚Nigger‘ beschimpft – was erwartet man von diesen Gorillas?!“ Ryuji brachte ein Lächeln zustande. Und an diesem Tag fand Malik den ersten Freund, seit er damals von zuhause weggegangen war und das fühlte sich gut an. ~*~ Der Kopfschmerz war zu einem dumpfen Pochen abgeschwächt. Die Nacht zu heiß zum Schlafen. Das Fenster offen, die Zikaden zirpten laut. Malik starrte ins Dunkel seines Zimmers. Irgendwas war damals passiert in diesem Sommer. Aber Malik erinnerte sich nicht. Er erinnerte sich daran, dass er mit Ryuji Otogi Freundschaft geschlossen hatte. Er erinnerte sich daran, dass er im selben Sommer auch Mai Valentine kennengelernt hatte. Daran, dass sie zusammen herum gehangen hatten, sehr oft sogar und er erinnerte sich daran, dass sie beide auf Mai abgefahren waren. Ganze zwei Jahre hatte dieses Trio eine wundervolle Zeit gehabt. Doch mit Ablauf dieser zwei Jahre und das beinahe auf den Tag genau, da waren sie plötzlich nur noch zu zweit gewesen. Er erinnerte sich nicht daran, wie Ryuji Otogi gestorben war. He's got a rolled cigarette, hanging out his mouth, he's a cowboy kid Yeah, he found a six shooter gun In his dad's closet, it was box of fun things, and I don't even know what But he's coming for you, yeah, he's coming for you, wait 'Pumped up kicks', Foster the People Kapitel 4: ghostriders in the sky --------------------------------- „Shit!“ Jeder Mensch der Welt hätte das Gute im Schlimmen gesehen und wäre glücklich darüber gewesen, wenn ihm die Maschine in einer Stadt abgesoffen wäre, anstelle mitten auf dem Highway, wo sich im Umkreis von 300 Meilen eine einzige Tankstelle befand. Doch nicht Mariku. Denn Mariku kannte diese Stadt, in der er nun gestrandet war, er kannte sie gut genug um zu wissen, dass er hier nicht auch nur einen einzigen Menschen antreffen würde. Denn hier lebte niemand. Schon seit zehn Jahren nicht mehr und ab etwa diesem Zeitpunkt war die kleine Stadt namens God City wie auf mysteriöse Weise von jeder Landkarte der Welt verschwunden. Niemand wusste, dass es sie einmal gegeben hatte. Nur jene, die einst hier gelebt hatten und die gab es nicht mehr. Keinen einzigen von ihnen. Dafür hatte jemand gesorgt. Der Wind wehte und wirbelte stark den Staub auf, so stark, dass Mariku seine Sonnenbrille aus einer Manteltasche fischte, sie aufsetzte und zusätzlich ein Halstuch um Mund und Nase band. Das hielt kein Mensch aus. Und er auch nicht. Ein kurzer Blick zum Himmel, dann in die Ferne aus der Richtung, aus der er gekommen war. Ein Sandsturm nahte und sicherlich war es besser, hier zu sein, aus auf dem Highway, der mittlerweile sicherlich schon nicht mehr zu erkennen war. Mariku schob seine Maschine schließlich und endlich, denn eine Wahl hatte er vorerst ja ohnehin nicht, über die Hauptstraße, die einmal mitten durch die kleine Stadt führte. Er war auf dem Weg hierher gewesen. War schon ziemlich lange her und in Angesicht der Tatsache, dass er allein Schuld am Verschwinden der Menschen hier trug, war es höchst erstaunlich, denn die meisten Menschen liefen vor ihrer Vergangenheit davon, doch nicht Mariku, nicht Sundance. Den sie so genannt hatten, weil niemand die Kugeln fliegen sah, wenn er schoss, ein Blitzen in der Sonne und in seinen Augen und das brachte immer den Tod. Ohja, er hatte sich einen Namen gemacht. Und niemand holte ihn ein. Niemand konnte ihn zur Strecke bringen. Schwächlinge. Sie hatten alle Angst vor ihm. Sie hatten ihn schon immer gefürchtet, den lonesome Cowboy. Mariku schmunzelte kurz. Es dauerte nicht lange, ehe er sein Ziel erreichte. Das Haus, komplett aus Holzdielen errichtet mit seiner Werkstatt lag noch genauso da, wie er es verlassen hatte. Dort stellte er sein Motorrad unter. Wie es aussah, saß er nun eine ganze Weile hier fest. Aber das war nicht schlimm. Er würde sich umsehen, ob er irgendwo Ersatzteile fand, Lebensmittel gab es hier sicherlich auch zur Genüge, denn die Menschen, die hier gelebt hatten, hatten ihren Besitz, ebenso, wie ihre Lebensmittel gehortet, damit sie die Stadt so selten wie möglich verlassen mussten, denn sie hatten hier keine Fremden gemocht und auch nichts, was anders war, als sie. ~*~ Mariku wurde geboren ohne Mutter und wurde gezeugt ohne Samen, es war die Dunkelheit, die ihn hervorbrachte und Mariku kannte nichts als seine große Schwester Isis, die ihn an die Hand nahm und mit ihm in die Wüste hinausging. Er war acht Jahre alt, sie 12. Sie war immer stark und stolz und so erwachsen, aber sie sagte ihm nie, wo er herkam und sie sagte es ihm nie, weil er aus den Schatten gekommen war. Marikus frühste Erinnerung war diese Zeit in der Wüste. Dort hatte sein Leben begonnen und vielleicht würde es dort auch irgendwann einmal enden. Die Füße des Jungen schmerzten, aber er beschwerte sich nicht, er jammerte nicht und schrie nicht, wie andere Kinder in seinem Alter, denn er war kein Kind mehr, seit ihn die Schatten ausgespien hatten. Er warf einen Blick auf seine Schwester: Sie trug ein weißes Kleid, das an vielen Stellen abgenutzt war und Bikerstiefel, die ihr zu groß waren, aber besser, als die Sandalen, in denen sie sich durch die dünnen Sohlen die Füße verbrannt hatte, und ein Kopftuch, wie die Muslimas es trugen, aber sie trug es nicht, weil sie gläubig war, sondern damit die Sonne nicht so erbarmungslos auf ihren Kopf knallte. Der Körper war ausgemergelt, dort wo sich knospend weibliche Rundungen abgezeichnet hatten, standen die Knochen hervor und trotzdem war seine große Schwester das schönste Mädchen, das Mariku jemals gesehen hatte. Er wollte sie beschützen, so wie sie ihn beschützte, komme, was da wolle, das nahm er sich fest vor. Seine Hand lag fest in ihrer und das war die Kraft die sie sich gegenseitig gaben, denn außer einander hatten sie nichts mehr. Der Ort, von dem sie gekommen waren, war dunkel und schemenhaft und wahrscheinlich nicht einmal real. „Isis…“, wisperte der Junge plötzlich und blieb stehen. Die Schwester hob müde den Kopf, „Was ist denn? Wir müssen weiter, dann erreichen wir vielleicht bald eine Stadt…“ „Hör doch – da ist ein Auto!“ Sie lauschte. Und tatsächlich. Motoren, ganz in der Ferne. Sie lief mit Mariku etwas an den Straßenrand, sie stellten sich so hin, dass sie gesehen werden mussten, wenn ein Auto vorbeikam. Tatsächlich kam bald ein Wagen in Sicht – ein teurer Wagen, wie Mariku, der sich in kleinjungenhafter Begeisterung schon immer für Autos und Motorräder interessiert hatte, mit Freude erkannte. Es war ein Caddilac Fleetwood, Mariku hatte das Auto mal in einem Buch gesehen und sich immer sehnsüchtig gewünscht, mal in so einem mitzufahren. Der Wagen zog an ihnen vorbei, wirbelte so viel Staub auf, dass sie beide heftig husten mussten, während die wenigen Kleider, die die mageren Kinder am Leib trugen im Zug des schnell fahrenden Autos flatterten. „Warum hat der nicht angehalten?!“, protestierte Mariku, „der hat uns ja wohl genau gesehen, dieser Arsch!“ „Mariku, du sollst nicht fluchen“, mahnte seine Schwester, aber auch sie konnte die Enttäuschung und vor allem die Müdigkeit nicht aus ihrer Stimme bannen. Die Sonne stand als glutroter Ball am Himmel und sie hatten immer noch keine Stadt erreicht. Mariku war schwindelig, doch er schwieg still, wie lange waren sie nun schon unterwegs? Er hatte kein Zeitgefühl, doch als Kind war das Zeitgefühl ohnehin anders. Wann waren sie aufgebrochen? Woher nahmen sie den Mut, weiterzugehen, sie waren doch nur Kinder, allein und verloren in der Welt und vielleicht fraß sie bald die Wüste. Als Mariku versuchte die Zähne zusammen zu beißen, um kein Wimmern über seine Lippen dringen zu lassen, schmeckte er Sand und bald spürte er Wind auf seiner Haut und Sandkörner, die hart, wie winzig kleine Geschosse in seine Gesicht prasselten und schon bald waren sie von Sand umgeben und Isis zog ihn krampfhaft an sich, damit sie sich im Sand nicht verloren, denn schon bald hatten sie keine Sicht mehr. Mariku rannen die Tränen die Wangen herab, weil die Augen so vom Sand der Welt brannten, dem harten, heißen Sand, der sie bald verschluckte. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren und bald hörte er die Stimme seiner Schwester nicht mehr. Und plötzlich war sie weg, plötzlich hatte der Sand sie verschlungen. Er wollte den Mund aufmachen um nach ihr zu schreien, doch er verschluckte sich am Sand und dann war da keine Luft mehr, nur Sand und der Junge brach ohnmächtig zusammen. Als Mariku wieder erwachte, war da kein Retter, der sich über ihn beugte, er war weder in einem kühlen Raum, noch waren da Menschen, die sich um ihn sorgten, nein. Sein Gesicht brannte von der Sonne und wahrscheinlich hatte er trotz seiner dunklen Haut einen Sonnenbrand im Gesicht und grässliche Kopfschmerzen stachen ihn. Oh, war es nicht noch Sonnenuntergang gewesen? Wie mochte es dann sein, dass die Sonne wieder hoch am Himmel stand? Marikus Kehle war wie ausgedörrt und wenn er schluckte, fühlte es sich so an, als würde er Glasscherben herunterschlucken. Ein unglaublicher Hass auf die Person im Caddy überkam ihn und er schwor sich, dass er diesen Typen finden und ihn fertig machen würde. Wo war seine Schwester? Sie lag neben ihm, zusammengekauert, ihr Gesicht war zur Hälfte mit Sand bedeckt, das Kopftuch hatte der Wind ihr hinfort gerissen und ihr schwarzes Haar, das sonst immer geglänzt hatte, wie das feuchte Gefieder eines Kolkraben, war matt und strähnig und voller Sand und Schmutz. „Isis…“ Die Stimme des Jungen klang heiser. Er rüttelte an ihrer Schulter. „Isis …“ Sie rührte sich nicht und einen Moment bekam er Angst. Sie brauchten Hilfe. Ganz dringend Hilfe. Doch woher, wo … Als Mariku aufblickte, sah er in der flirrenden Hitze eine Stadt. Er düsteres Lächeln, das seine kindlichen Züge grässlich entstellte, und seine von der Hitze spröden Lippen springen ließ, machte sich auf dem Gesicht des Knaben breit. Da war eine Stadt, im Flirren der Mittagshitze, Häuser, schwach erkennbar zwar, doch für zwei gestrandete Kinder in der Wüste war es die göttlichste Erscheinung, die sich ihnen hätte offenbaren können und wie hätten sie auch ahnen können, was diese Stadt für sie wirklich bedeuten sollte.. Marikus Glieder zitterten und sein Kopf stach von der Hitze, er hatte einen Sonnenstich erlitten, aber seine Schwester neben ihm atmete flach und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihre Lippen bebten und er wusste, er musste sie retten, weil sie ihn bisher immer gerettet hatte und weil er jetzt ein großer Junge sein musste. Er schnaufte, als er den Körper seiner Schwester stemmte, ihre Arme über seine Schultern zog und dann die Hände unter ihre Kniekehlen schob. Sie war so ausgemergelt und dünn und deshalb schaffte er es, sie zu tragen, auch wenn es ihm jede Kraft abverlangte, die in seinem eigenen schwachen Körper zurück geblieben war. Nur langsam kam er voran, langsam, doch die Stadt verschwand nicht, sie war keine Fata Morgana und da fühlte er auch wieder die Straße unter seinen Füßen und die Hitze durch die Sohlen seiner durchgelaufenen Turnschuhe. Er würde es schaffen. Die Konturen der Stadt wurden klarer. Das Zittern und das Feuer in seinen Gliedern hingegen unerträglich. Nicht so kurz vor dem Ziel. War seine Schwester schon tot? Trug er hier seine tote Schwester auf dem Rücken, ohne es zu merken? Tränen bahnten sich ihren Weg über seine Wangen, Tränen des Zorns. Zorn darüber, dass er so schwach und so klein war, Zorn darüber, dass er es nicht schaffte, sie beide zu retten. Zorn darüber, dass ihm schließlich die Knie einknickten. Der Körper seiner Schwester glitt von seinem Rücken, aber sie verletzte sich nicht allzu sehr beim Fall auf die Straße, da die Straße voller Sand war, und weil Mariku mit ihr fiel. Mariku blieb auf dem Rücken liegen und starrte in die Sonne, die immer heller wurde und seine Augen fraß, doch er schloss sie nicht, auch dann nicht, als schwarze Flecken in seinem Gesichtsfeld tanzten, dann schloss er sie doch, weil sich eine erlösende Ohnmacht ankündigte und als er schon die Augen geschlossen hatte, drang ein Geräusch an sein Ohr. Das Knattern eines Motors. Es kam näher und er maß dem keine Bedeutung bei, doch dann erstarb der Motor ganz in ihrer Nähe und Mariku hörte, wie eine Autotür klappte, dann schwere, angestrengte Schritte auf dem Boden. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht und Mariku öffnete die Augen mühsam, seine Sicht war verschwommen. Ein Mann blickte auf ihn herab, er trug Schwarz, seine Kleidung war zerschlissen, und ein Monokel baumelte an einer Schnur von seiner Brusttasche, daran erinnerte sich Mariku auch später noch, weil die Sonne sich darin verfing und ihn einen kurzen Moment blendete. Dann beugte sich der Mann herab, die Augen lagen dabei im Schatten des zerschlissenen schwarzen Cowboyhutes, den er trug, und fasste Mariku mit einer knorrigen und aderdurchsetzten Hand ins Gesicht. Er wollte diese Hand instinktiv abwehren, doch er hatte keine Kraft mehr dafür, so drehte er nur das Gesicht zur Seite. „Keine Angst …“, sprach der Mann und man hörte das Alter aus seiner Stimme. „Ihr seid jetzt in Sicherheit….“ Damit hob der Mann ihn mühelos hoch und brachte ihn zu seinem Auto – Mariku schloss die Augen, als er in dessen Armen lag, von denen trotz ihrer Knöchernheit noch eine befremdliche Stärke ausging. Mariku spürte bald darauf das heiße Leder des Rücksitzes und beobachtete durch halb geschlossene Augen, wie der Mann noch einmal zurück ging, um Isis zu holen und dann schloss er abermals die Augen, weil er glaubte, dass jetzt alles gut würde. Als Mariku wieder erwachte, lag er in einem Bett in einem leicht abgedunkelten Raum, jemand beugte sich über ihn, aber diesmal war es nicht der Mann, der sie aus der Wüste geholt hatte. Der Mann kontrollierte gerade seinen Puls, das Gesicht erhellte sich ein wenig, als er sah, dass Mariku zu sich kam. „Er wird wieder. Die Kinder sind beide unterernährt und waren wohl eine zeitlang auf sich allein gestellt. Du solltest morgen mit dem Herrn Major sprechen, was mit ihnen geschehen soll – wahrscheinlich wird er sie nicht hier haben wollen, aber wenn jemand für sie bürgt …“ Der Satz, nicht an ihn gerichtet, sondern an eine andere Person, die wohl noch im Raum war, blieb unvollendet und wurde nur mit einem zustimmenden Nicken bedacht. Der Mann, offensichtlich ein Arzt, stand auf und lächelte Mariku schwach zu, dann packte er seine Utensilien zusammen und verabschiedete sich. Marikus fiebrige Augen lagen nun auf dem anderen Mann, welcher zurück geblieben war und unter dessen Obdach sie nun offensichtlich waren. Moment – Isis, sie- Beim Gedanken an seine Schwester schoss sein Oberkörper in die Höhe, doch der Mann legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Brust, um ihn wieder zurück zu drücken. „Ruhig, junger Mann, du hattest einen heftigen Sonnenstich und warst vollkommen dehydriert – du musst dich ausruhen. Deiner Schwester geht es den Umständen entsprechend, sie schläft im Nebenzimmer.“ Irgendetwas in der Stimme des Mannes beruhigte Mariku, sie war melodisch und tief und klang nach Geborgenheit. Er schloss die Augen und schlief. ~*~ Mariku hatte den alten Saloon der Stadt betreten. Hier hatte man früher ausgelassene Feste gefeiert, es hatte ordentliche Prügeleien gegeben, nach welchen der Gewinner großzügig eine Runde für alle ausgegeben hatte und dann hatte man sich die Arme um die Schultern gelegt und brüderlich miteinander gesoffen. Ein schmales Lächeln flackerte über Marikus Lippen, als er daran dachte, wie er sich das erste Mal betrunken hatte und was für einen Aufstand das gegeben hatte. Nun war der Saloon heruntergekommen und verlassen, das Mobiliar teilweise zerstört, Tische und Stühle lagen seitlich oder waren leicht gekippt. Sogar Aschenbecher standen noch auf den Tischen verteilt, mit schmierigem Inhalt, dem Rest, der nicht vom Wind, der durch die Fugen brauste, weggeweht worden war. In der Ecke stand ein altes Klavier, mit höchster Wahrscheinlichkeit hatte es sich so verzogen, dass es keinen einzigen klaren Ton mehr hervorzubringen vermochte. „Yippie yi yaaay, Yippie yi yoooh … ghostriders in … the sky…”, summte er abwesend, während er in Richtung des Tresens ging, die Stiefel knirschten auf dem abgebröckelten Putz und dem Dreck und den Scherben auf dem Boden. Geisterhaft war es hier. Geisterhaft, weil hier, mit Ausnahme des Drecks alles so aussah, als hätten hier bis vor kurzem noch Menschen getrunken, musiziert und gefeiert. Welch eine groteskes Pedant zu jenem Saloon, in welchem er vor nicht allzu vielen Tagen gewesen war, in dem die Menschen sich das Spiel auf einem schwarzweiß Fernseher angesehen hatten, in dem gelacht und gefeiert wurde, in dem es toughe Bardamen und echte Kerle gab und außerdem engelsschöne Knaben, die einen auch nach einer vergangenen Nacht noch verfolgten und das war sonderbar, denn normalerweise folgten ihm nur die Schatten aus der Vergangenheit, die Schatten der Menschen, die nicht mehr waren und die er auf dem Gewissen hatte. Aber Ryou, dieser Junge, den er in jener Nacht besessen hatte, er verjagte die Schatten, weil er so hell war, er verjagte sie solange, wie er an ihn dachte, dabei wusste er, dass er das nicht durfte. Sein Herz war kalt und tot und doch hatte dieser Junge es für eine Nacht in lohende Flammen geworfen, hatte ihn für eine Nacht spüren lassen, dass da irgendwo noch leben in diesem toten, kalten Körper war. Die Augen verengend knurrte er und trat hinter die Theke. Auf einem Regal standen noch fein säuberlich, wenn auch das Glas schmierig war vom Staub, verschiedenste Flaschen, insbesondere verschiedenste Whisky-Sorten und Mariku lief das Wasser im Mund zusammen, wenn er daran dachte, dass der Whisky mit den Jahren zu einer wahren Köstlichkeit gereift sein musste. Er holte zwei Flaschen vom Regal und eines der Gläser, wobei er sich an dem Schmutz darin nicht störte. Das erste Glas trank er in einem Sturz, bei dem zweiten ließ er sich Zeit, ließ den herben Geschmack in seinem Mund und die Flüssigkeit langsam seine Kehle herab rinnen. Der Alkohol brannte, aber er war gut. Wieder dachte er an diesen Ryou. Er hatte es genossen, ihn zu ficken, mehr als genossen. Wobei es viel mehr, als das bloße, geile Ficken gewesen war, es war … er vermochte es nicht zu sagen. Was er nun wohl trieb, oder mit wem? Marikus Blick verdüsterte sich. Als ob es ihm nicht egal sein könnte. Schlampen, wie Ryou, die sofort die Beine breit machten, wenn man mit dem Finger schnipste, hatte er zuhauf gehabt und keiner von ihnen hatte ein Gesicht oder einen Namen in seinem Gedächtnis hinterlassen. Aber Ryou … Ryou war da, war präsent. Lockte ihn mit seinem Wahnsinnskörper und mit seiner Hingabe und vielleicht war er sogar gewillt ihm eine perverse, kranke Art der Liebe entgegenzubringen, obwohl Mariku nur zerstören konnte und diesen Jungen sicher auch zerstören würde, wie er alles andere in seinem Leben zerstört hatte. Aber vielleicht war es ja diesmal anders. Vielleicht war Ryou … war Ryou wie er? Nein, es war gut, dass er ihn zurück gelassen hatte. Er wusste, dass man ihn verfolgte. Diese Stadt hier, die fand niemand, wenn sie nicht gefunden werden wollte, deshalb konnte er hier eine Weile unbehelligt verweilen. Nur der Gedanke, dass Ryou, den er nur eine Nacht gekannt hatte, sich zukünftig andere ins Bett holen würde, zukünftig anderen so hingebungsvoll zu Willen sein könnte, der Gedanke brachte ihn zur Weißglut. Wütend knallte er das Glas wieder auf den Tresen. „Nachschenken, wird’s bald!“, keifte er einen unsichtbaren Barmann an, welcher mit Marikus Hand die Flasche hob und die Flüssigkeit in das Glas beförderte. Ja, der Alkohol war gut. Der Alkohol betäubte diese merkwürdigen Gedanken, die ihn an seine Menschlichkeit, an seine Sterblichkeit erinnerten. ~*~ Der Mann, der ihnen das Leben gerettet hatte, hieß John Lilyman, doch in der kleinen Stadt nannte man ihn nur den Undertaker, weil der Beruf dieses Mannes, den er sich einst selbst gewählt hatte in Provinznestern schon seit Jahrhunderten respekteinflößend auf die Menschen wirkte. Sie sagten immer, wenn der Undertaker auftauchte, dann musste einer sterben, sie sagten, er hatte einen siebten Sinn für den Tod. Und allein deshalb, weil man sich nicht getraute, etwas gegen John Lilyman zu sagen, nicht einmal der Herr Major, der in dieser Stadt neben dem Sheriff das Sagen hatte, und dafür bekannt war, keine Fremden in dieser Stadt zu dulden. So durften die beiden Kinder bleiben, in der Obhut des Undertakers, der in Wahrheit ein sehr fürsorglicher und auch sehr einsamer Mensch war und die beiden Kinder wuchsen im ans Herz, wie seine eigenen. Sie wurden ein Teil dieser Stadt, wenn es auch nach Jahren immer noch verhaltene Anfeindungen und Misstrauen gab. Vor allem gesäht durch einen Mann – den Reverend dieser Stadt, der in der Ankunft dieser Kinder zu Beginn etwas Teuflisches gesehen hatte. Isis hatte bald Freundinnen gefunden, Mariku blieb ein Einzelgänger. Er verbrachte viel Zeit mit Lilyman, welcher ihn in seine Arbeit einwies, glücklich, vielleicht einen Nachfolger gefunden zu haben, denn hier riss sich niemand um solch einen Job und schließlich musste ja irgendjemand die Toten begraben. „Onkel John, wo bringst du die Toten eigentlich hin?“, fragte Mariku eines Tages rundheraus, während er beobachtete, wie John einen Sarg zusammen zimmerte. Ohne in seiner Tätigkeit inne zu halten, antwortete er mit seiner Altmännerstimme: „Das weißt du doch, auf den Friedhof, weit außerhalb der Stadt.“ „Aber warum ist der so weit weg?“ „Nun, das weiß ich nicht, mein Junge. Ich glaube, die Leute haben Angst, dass ihre Sünden sie einholen, wenn sie daran erinnert werden.“ „Ihre Sünden?“, fragte Mariku und besah sich gedankenverloren den unfertigen Sarg. John schwieg, wählte seine Worte mit Bedacht. „Die Menschen sind nun leider Menschen. Nicht jeder Tod ist natürlich. Sieh den Mann, der seine Frau totprügelt, oder der Würdenträger, der betrunken ein Kind überfährt. Oder die Witwe, deren Mann sich eine Kugel in den Kopf geschossen hat, weil er glaubte, seine Familie nicht mehr ernähren zu können, sonst hätte sich die Frau nun keinen anderen gesucht. Die Frau, die im Suff ihr Neugeborenes in der Wanne ertränkt hat.“ Er sprach sehr ruhig und ohne Abscheu und Urteile in der Stimme, Mariku hing ihm an den Lippen. „Die Menschen glauben seit Jahrhunderten, dass jemand sterben muss, wenn der Totengräber auftaucht. Dabei zerstören sie sich selbst und ich sammele nur die Gefallenen ein, deren keiner mehr gedenkt.“ Bedauern lag in der Stimme. Er machte eine Pause, um den Deckel auf den Sarg zu legen und ihn anzupassen. Mariku ging ihm dabei zur Hand, indem er ihm Werkzeug reichte oder Bretter festhielt. Er musste plötzlich an jenen Tag in der Wüste denken, als der Caddy an ihnen vorbeigefahren war, dabei noch beschleunigt und somit ihren Tod in Kauf genommen hatte. „Menschen sind böse“, sagte er dann aus einem Impuls heraus und Lilyman, den es eigentlich hätte erschrecken müssen, dass ein Kind von 12 Jahren solcherart kakophonische Worte benutzte, nickte. „Du bist sehr klug, Mariku. Vor den Menschen musst du dich hüten und am besten lässt du nur die wenigsten in dein Herz. Aber pass auf, dass du daran nicht kalt wirst, du bist noch jung. Und eines Tages vielleicht wirst du diese Stadt verlassen.“ „Das werde ich niemals tun!“, sagte Mariku, ohne zu wissen, was er da sagte. Er würde seinen Ziehvater niemals im Stich lassen, nie. John lächelte nachsichtig. „Wir werden sehen, was die Zeit hervorbringt.“ Mariku war 13 als er sich das erste Mal richtigen Ärger einhandelte. Zumindest diese Art von Ärger, der über Dummejungen-Kindereien hinausging. Man konnte nicht sagen, ob es das nahende Teenageralter war, das die Rebellion mit sich brachte, oder ob es einfach seinem wahren Wesen entsprach. Wahrscheinlich Letzteres. Mariku schlich sich eines Abends weg, weil er seine Schwester ihm erzählt hatte, dass sie heute Abend im Saloon sang – sie hatte eine wunderschöne Stimme und der Pianist war ein junger Mann, der offenbar ihr Interesse geweckt hatte, sie verstanden sich gut und hatten mit dem Saloonbesitzer gesprochen, damit sie einen Abend auftreten konnte. Das durfte Mariku sich nicht entgehen lassen und das nicht aus dem einzigen Grund, dass er seine Schwester singen hören wollte, sondern vielmehr mochte er es nicht besonders, wie die Männer ihr hinterher schauten, denn mit ihren 17 Jahren war sie gerade erblüht und es war nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Jungen und die jungen Männer um sie rissen. Mariku hasste es. John hatte seine Erlaubnis gegeben, da Isis selten um etwas bat und wenn sie es tat, fiel es ihm sehr schwer, es ihr abzuschlagen. John arbeitete an diesem Abend noch in seiner Werkstatt und Mariku wartete ab, bis er die gedämpften Geräusche hörte, dann schnappte er sich seine Jacke und ging. Er lief zu Fuß zum Saloon – er wollte nicht unbedingt auffallen und schon gar nicht wollte er, dass Isis merkte, dass er ihr hinterher schlich, denn das hatte sie noch nie gemocht, vor allem nicht, weil Mariku es ganz zufällig immer geschafft hatte, jede Verabredung in irgendeiner Form zu sabotieren. Er knurrte leise. Wenn es nach ihm ging, brauchte Isis überhaupt keine Männer. Und wenn dann nur, wenn er den Kerl genehmigte und das würde so schnell nicht passieren. Während er lief, förderte er aus der Innentasche seiner Jacke eine Zigarette hervor – die hatte er, wenn auch mit leicht schlechtem Gewissen, John stibitzt. Die Zigaretten schmeckten ihm nicht einmal, aber das Rauchen war für ihn ein Symbol der Erwachsenenwelt und ganz abgesehen davon, fühlte er sich ziemlich cool dabei. Die Stadt war nicht sonderlich groß, deshalb konnte man alles bequem zu Fuß erreichen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Mariku kam auf seinem Weg an der Kirche der Stadt vorbei und er wusste nicht, wieso, aber irgendetwas bewegte ihn dazu, seine Schritte zu verlangsamen. Das Gebäude bestand noch aus Gründerzeiten und war längst marode, was nicht der einzige Grund war, weswegen Mariku erst einmal einen Fuß in ihr Inneres gesetzt hatte. Etwas Gespenstisches ging von ihr aus, er wusste es nicht zu benennen, aber als er kleiner gewesen war, da hatte John ihn und seine Schwester mitgenommen aus Pflichtbewusstsein und weil der Reverend, der ein guter Freund des Herrn Majors war, es nicht gerne sah, wenn man dem wöchentlichen Gottesdienst fernblieb, selbst wenn John selbst sich nur sporadisch dort sehen ließ, gerade oft genug, um keinen Unmut zu erwecken, dabei war ihm der Herrgott gelinde egal. In den Gesichtern der Toten, hatte er einmal gesagt, da konnte man so Vieles mehr sehen, als das was in der Kirche gepredigt wurde, man sah ein ganzes Leben, man sah die Erlösung und man sah, dass jeder gleich war, dass jeder, egal, wie oft er in der Kirche gewesen oder sein Abendgebet aufgesagt hatte, schließlich und endlich in einem von John Lilymans Särgen seine Ruhe fand. Und danach kam nur die finstere Erde. Isis mied es prinzipiell den Raum zu betreten, in dem ihr Ziehvater die Toten vorbereitete, denn die Einbalsamierung gehörte ebenso dazu, wie das Zimmern der Särge, aber Mariku war bei diesem Vorgang schon öfter dabei gewesen und es erfüllte ihn jedesmal mit einer gewissen Ehrfurcht, aber auch einer unerklärlichen Neugier. Zurück zu der Zeit, in welcher er gezwungenermaßen diesem Gottesdienst beigewohnt hatte. Er hatte es gehasst, hatte kaum eine Sekunde still sitzen können und der Reverend war ihm vom ersten Moment an unsympathisch gewesen, denn er hatte diese Augen. Die Augen böser Männer und mit diesen Augen hatte er ihn und Isis angesehen, hatte ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass im Himmel kein Platz für sie war, Bastarde ohne Mutter und ohne Vater und wenn er vielleicht für das Mädchen, das er auch immer auf eine ganz andere Weise ansah, die Mariku zu jenem Zeitpunkt noch nicht bewusst war, noch Seelenrettung sah, so wünschte er den Jungen mit dem Blick, in dem der Teufel saß zur Hölle. Er hasste ihn, und das wusste Mariku, er hasste ihn ohne jeden Grund. Mariku war damals vor aller Augen einfach in der Predigt des Reverends aufgestanden, mit hochmütiger Miene, die erstaunlich war für einen Achtjährigen, und war seitdem nie wieder dort gewesen. Nicht einmal zu den heiligen Festen, nicht zu Weihnachten und nicht zu Ostern, wozu Isis zumindest sich noch bewegen ließ, welche sehr um den Frieden mit den anderen Städtern bemüht war und ungerne negativ auffallen mochte. Isis war ein gutes Mädchen. Hinter den Fenstern der Kirche war es dunkel. Unangenehm dunkel. Es war ein böses Dunkel. Ohne es zu merken, war Mariku stehen geblieben. In der kleinen Priesterwohnung, die auf demselben Gelände anschloss, brannte Licht. Wahrscheinlich, so dachte Mariku abfällig, brütet der über seiner Bibel und überlegt sich eine neue Methode, die Städter davon zu überzeugen, dass Feste feiern Sünde sei, wenn am nächsten Tag der Gottesdienst wartete. Spinner. Mariku hatte nichts für ihn übrig. Wenn es einen Gott gab, dann hätte er Isis und ihn nicht in die Wüste hinaus geschickt, dann hätte er den Mann oder die Frau im Caddy mit einem Blitz erschlagen. In dem Moment, in dem Mariku sich in Bewegung setzte, um weiter zu gehen, prallte er zurück und bekam den Schreck seines Lebens. Der Reverend stand vor ihm. Groß und starr von imposanter Gestalt, das adlerartige, kantige Gesicht zeigte keinerlei Regung und doch spürte Mariku die Abneigung, die von ihm ausging. Stand da, sie starrten sich an, das Gesicht des Mannes war unglaublich zerfurcht und er hatte graues, dünnes Haar, trug sein Amtsgewand, das Schwarze mit dem weißen Kragen wie eine Königsrobe. „Wohin des Weges, junger Freund?“ Kleine Augen, die zu flüchtig über sein Gesicht glitten um stechend zu sein und doch waren sie es. Mariku straffte die Gestalt, ärgerte sich darüber, dass er sich so erschreckt hatte. „Ich gehe in den Saloon, meine Schwester singt heute Abend da“, antwortete er steif und wich dem Blick des Mannes nicht aus. „Lassen sie dort schon Kinder hinein?“, sagte der Reverend mehr zu sich selbst, als zu Mariku. „Weiß John, dass du dich herumtreibst?“ Mariku schnaubte. „Klar. Außerdem bin ich ja wohl alt genug, Mann!“ Und er log ohne rot zu werden. Der Reverend zuckte nicht einmal mit der Augenbraue, jetzt erkannte Mariku die Bibel, die er in einer Hand an seiner Seite hielt. „Ein Knabe in deinem Alter sollte sich auf die Konfirmation vorbereiten.“ Wovon bitte sprach dieser Mensch? Und warum klang er so tadelnd dabei. „Deinesgleichen wurde immerhin nicht als Selbstverständlichkeit hier aufgenommen.“ Mariku presste die Lippen zusammen. Der Kerl fing an ihn zu nerven und wegen ihm kam er noch zu spät. Außerdem fühlte er sich in der Gegenwart des Reverends zunehmend unwohl. Im nächsten Moment spürte Mariku eine Hand, die sich auf seine Stirn legte, einen Daumen, der ein Kreuz darauf malte. „Wende dich der Kirche zu, ehe sie dich verstößt“, wisperte er und eine Drohung war deutlich herauszuhören. „Du und deine junge, schöne Schwester aus dem Volk der Heiden und Götzenanbeter … glaube mir, Mariku, ich weiß, woher du stammst.“ Die Worte schlugen mit der Härte eines Kanonenschusses auf ihn nieder und er, der ansonsten immer schlagfertig war, nie um einen frechen Kommentar verlegen, fand keine Worte, denn der Reverend hatte etwas Bedeutendes gesagt, etwas, dessen Existenz Mariku verdrängt hatte, nämlich, dass er irgendwo her stammen musste, dass er nicht einfach von der Wüste geboren wurde, wie Isis ihm immer eingeredet hatte, wenn auch im Scherz als er noch kleiner gewesen war, doch jetzt in einer Situation, in der es unmöglicher nicht hätte sein können, wurde er an all das erinnert, an all das, was er nicht wusste. Marikus Augen brannten und er bemerkte, dass er eine ganze Weile nicht geblinzelt hatte und als er es tat, war der Reverend weg und ein leichter Wind strich durch seine Kleider. Sich unbehaglich fühlend, machte Mariku sich daran, seinen Weg fortzusetzen, aber plötzlich war ihm gar nicht mehr danach, in den Saloon zu gehen, Isis würde ihn schon nicht brauchen, sie konnte sich die Männer schon vom Leib halten, alleine mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Selbstsicherheit, genau das wusste auch John, sonst hätte er ihr sicherlich niemals erlaubt, alleine dorthin zu gehen. Kein Licht, keine Menschen. Die Worte hatten ihn aufgewühlt, sie machten ihn wütend, weil sie ihn verwirrten und ängstigten und er hasste es, Angst zu haben, denn das bedeutete Schwäche und schwach konnte man in so einer Welt nicht sein. „Kirche“, knurrte er, „So ein Dreck“, dabei spuckte er aus. ~*~ Mariku grinste. „Gott, hab ich mir damals in die Hosen geschissen, du alter Dreckskerl“, sagte er laut, während er sich bereits das vierte Glas Whisky eingoss. Der Reverend beobachtete ihn dabei mit strengen, toten Augen. Aber er konnte nichts tun. Er saß da und Mariku war hier und am Leben und er nicht und er trank diesen verteufelt guten Whisky. „Mit den Mistgabeln haben sie uns gejagt“, summte er, dann nahm er ein zweites Glas und goss es voll und schob es der Imagination zu. „Komm, Reverend, trink mit mir, auf die lustige alte Zeit.“ Er kicherte. Du kommst in die Hölle, sagte der Reverend schlicht, während er beobachtete, wie Mariku das Glas nahm, es herunterstürzte und schließlich auch das zweite Glas nahm und sich den Inhalt zur Hälfte einverleibte. „Bin ich da nicht schon längst, mon ami?“ Der Blick wurde leicht glasig, nachdenklich wurde der Rest des Alkohols im Glase geschwenkt. Du bist an den Ort der Ursünde zurückgekehrt, sagte der Reverend. Mariku knurrte. „Willst du mit deiner Gottesscheiße nichtmal jemand anderen nerven?“ Der Reverend sagte nichts. Natürlich nicht. Mariku war der Einzige, der ihn sehen konnte. Das war der Fluch, der ihn bis ins eigene Grab begleiten würde. Mal waren sie da, mal nicht. Mal nahmen sie ihm sogar die Einsamkeit, die er sich nicht eingestehen wollte, auch wenn es erstaunlich war, dass sich keiner von ihnen hatte blicken lassen, seit er … seit er bei Ryou gelegen hatte. Ob seine Haut wohl schon heilte, ob man schon erste Vernarbungen sehen konnte? Mariku wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war seit Labours Lost, es kam ihm vor, wie in einem anderen Leben, und wohl war es auch das. Vielleicht sollte er zurückkehren und sich den Jungen holen? Aber, wenn er ihn dann hätte, was dann? Sicherlich würde er ihn auch in den Tod stürzen, früher oder später starben alle, die mit ihm in Berührung kamen, deshalb trug er auch den Tod im Namen und er wusste selbst nicht mehr, wer ihm diesen Namen gegeben hatte, er war einfach da gewesen. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass der Reverend eine Frau gehabt hatte, die 15 Jahre jünger gewesen war, als er und einen Sohn aus erster Ehe, wo er gleichzeitig predigte, dass jede Fleischeslust Sünde war und nur dazu gedacht, gottgefällig Nachkommen zu schaffen und der Spaß an der Geschichte war, dass gerade der Sohn dieses Reverends homosexuell war und das keiner zu merken schien. Keiner bis auf Mariku, dem er sich offenbarte. ~*~ Mariku war nun doch im Saloon gewesen. Hatte seine Schwester singen gehört und hatte eine kleine, aber harmlose Prügelei mit einem Kerl angefangen, der ihr hinterherstieg, hatte sich ein, zwei Bier erschlichen, ehe er Isis mahnendem Blick gefügig wurde und schließlich den Heimweg antrat. Denselben Weg, den er gekommen war. Als er abermals die Residenz der Pfarrersfamilie passierte, waren die Fenster dunkel. Mariku war unbewusst auf die andere Straßenseite gewichen, doch jetzt blieb er stehen. Die seltsame Begegnung, die er beinahe schon wieder vergessen hatte, drang ihm wieder in den Sinn. Seine Augen verengten sich, als er erst jetzt die Worte realisierte, die der Mann wenige Stunden zuvor zu ihm gesprochen hatte. Ein plötzlicher Hass überkam ihn. Ein plötzlicher, ureigener, all die Jahre unterdrückter Hass. Mariku knurrte leise. Dieser überhebliche, selbstgerechte … Die böse Stimme in seinem Kopf sagte ihm plötzlich, dass er es diesem Mann heimzahlen sollte. Und sein Verstand sagte ihm, dass diese Stimme Recht hatte. Aber was sollte er tun? Eine Scheibe einschlagen? Wenig einfallsreich. Mariku überquerte langsam die Straße. Da stand ein Wagen, der Besitz des Pfarrers und seiner Frau. Er kam ihm bekannt vor. Sehr bekannt. Natürlich. Der Caddy von damals. Wieso hatte er das nicht längst bemerkt? Langsam umrundete Mariku das Gefährt. Überlegte sich dann, ob ein Schweizer Taschenmesser ausreichte, um einen Reifen zu zerschneiden. Er hatte es erst zu seinem letzten Geburtstag von John bekommen und trug es ständig bei sich. Ohne Zweifel war es völlig scharf. Wie verlogen. Wie falsch. Der Reverend predigte Wasser und trank Wein. Abscheu. Die Menschen hörten auf das, was er sagte. Sie hörten ebenso auf das was der Herr Major ihnen sagte. Hörig wie die Schweine in ‚Animal Farm‘. Und Mariku lebte mitten unter ihnen. Mitten unter ihren einfältigen, gefälligkeitssüchtigen Geistern. Auf der linken Seite des Wagens war er auf die Knie gesunken, ohne es bewusst getan zu haben. Starrte auf die Klinge seines Taschenmessers. Er wusste, dass Autoreifen dick waren, wusste, dass er wohl viel Kraft brauchen würde. Aber Kraft hatte Mariku genug. Er hatte schon oft harte Arbeit geleistet, wenn auch nicht immer freiwillig. Wenn er doch nur eine Pistole hätte. Seine Augen leuchteten einen Moment entrückt. Eine Pistole, das wäre schon was. Lilyman hatte eine. Und ein Schrotgewehr besaß hier sowieso jeder zweite. Mariku rammte das Messer in die Reifen. Es drang nur knapp zu einem Viertel ein, durchdrang damit nichtmal die äußerste Schicht. Marikus Blick verdüsterte sich, er hatte gezögert, hatte nur halbherzig zugestochen. Er riss das Messer wieder heraus. Jetzt nahm er es in beide Hände. Dann wandte er mehr Kraft auf, holte mehr Schwung und versenkte es diesmal nun zumindest schon zur Hälfte, wobei der Widerstand ihm einen dumpfen Schmerz in der Handfläche bescherte. Er wurde wütend. „Jetzt geh endlich, du Scheißteil“, fluchte er und begann mit dem Messer auf den Reifen einzuhacken, und tatsächlich – plötzlich war ein Zischen zu hören. Ein triumphales Lächeln machte sich auf Marikus Gesicht breit. Einen hatte er geschafft. Ob Menschenhaut wohl auch diesen Widerstand hatte, ob sie sich wohl leichter durchdringen ließ? Dieser Gedanke, so plötzlich er auch da war, so wenig erschreckte er ihn. Wenn er von der Seite stach, gab die Gummierung schneller nach. Die Luft entwich. Wie es wohl aussah, wenn Blut aus einer Wunde sprudelte? Gab das auch ein Geräusch? Gab das Macht, gab … Mariku schwitzte vor Anstrengung, als er sich an den letzten Reifen machte. Dann stand er auf und sah sich in aller Seelenruhe an, wie die Luft ganz langsam aus den vier Reifen wich. Am Messer waren Schlierspuren, hoffentlich war es nicht stumpf geworden, immerhin war ein Schweizer Taschenmesser nicht dazu gedacht, Autoreifen zu zerschneiden. Mariku zog hoch und spuckte aus, dass er dabei das Auto traf war unbeabsichtigt, aber gab ihm Genugtuung. Dieser Mann war sein Feind. Er war die Schlechtigkeit der Welt. Er musste ihn bekämpfen. Mariku lachte. Leise. Aber voller Triumph. Dann trat er plötzlich gegen die Seite des Autos, was ein blechernes Geräusch erzeugte. „Arschloch“, spie er dabei aus und dann sah er den großen Stein dort liegen, er nahm ihn sich, musste ihn mit zwei Händen hochheben, weil er vor grausamer Erregung zitterte. „Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre“, drang plötzlich eine leise Stimme an sein Ohr. Mariku erstarrte in der Bewegung, in der er den Stein erhoben hatte. Ein Junge stand in drei Metern Abstand zu ihm, blass war er und seine Augen waren kühl und musterten ihn auf eine Weise, auf die ihn noch nie ein anderer Junge gemustert hatte. Wo zur Hölle war der hergekommen? „Und wer will mich daran hindern – du?“, erwiderte Mariku schließlich spöttisch, seine Fassung wiederfindend. Der Junge lächelte. „Ich nicht, aber die Alarmanlage mit Sicherheit.“ „Tse und wenn schon. Ich bin weg, bevor hier irgendeiner was merkt.“ „Ich habe dich gesehen.“ Mariku grinste spöttisch. „Willst du Pimpf mir etwa drohen?“ Der Junge kam näher und abermals fühlte sich Mariku auf eine merkwürdig anregende Art und Weise gemustert. „Vielleicht. Vielleicht können wir auch einen Deal machen. Du kannst die Scheibe einschlagen und ich könnte so tun, als hätte ich dich heute Abend nicht gesehen. Wenn …“ „Wenn was?“ Er sagte es ihm. Und er nannte ihm seinen Namen. Noah. ~*~ Mariku war herabgesunken, lehnte halb auf der Theke, einen Arm flach angewinkelt, auf den er seitlich den Kopf gestützt hatte, mit glasigen Augen starrte er dabei auf das leere Whiskyglas, mit welchem die andere freie Hand ruhelos spielte. Auf dem Platz neben ihm, auf dem zuvor noch der Reverend gesessen hatte, sah er einen Jungen sitzen. Der Junge sah ihn an und doch irgendwie durch ihn hindurch. Sie hatten sich als Kinder ein wenig lieb gehabt. Noah 13, Mariku 14, kein Alter für körperliche Liebe. Eigentlich. Noah allerdings war schon viel reifer gewesen, als andere in seinem Alter es gewesen waren. Er hatte gesagt, er würde ihn nicht verraten, wenn er Mariku einen runterholen durfte. Und Mariku hatte ihn in dem Glauben gelassen, er würde sich erpressen lassen, weil er neugierig war und es sich nicht eingestehen wollte. Oh, was für schmutzige Kinder waren sie gewesen. Mariku grinste süffisant. „Schlampe“, sagte er dann. Noah verzog den Blick nicht. Die ernsten kühlen Augen richteten sich nun direkt auf ihn. Du stehst auf solche, wie mich. Warum sonst denkst du die ganze Zeit an Ryou? Mariku erschauerte, als er den Namen hörte. Dann schleuderte er in einem Anfall von Zorn das Whiskyglas in Noahs Richtung. Das Glas zerbrach, die letzten Tropfen Flüssigkeit, die sich darin befunden hatten, spritzten auf die schmutzige Oberfläche der Theke. Marikus Lippen umspielte ein zynisches Lächeln, als er daran dachte, wie dieser Knabe in diesem lächerlich jungen Alter ihn in sein Bett geholt hatte, wie er die dunkle Seite in Mariku endgültig entfesselt hatte, das Tier in ihm, es war Sünde gewesen, das erste Mal hatten sie sich nur angefasst, waren nicht weiter gegangen, doch Mariku hatte es nach mehr gelüstet, nach Fleisch, nach Lust, nach der dunklen Seite des Erwachsenseins, die er langsam mehr und mehr zu begreifen begann. ~*~ „Wenn er die Messe liest, haben wir Zeit“, flüsterte Noah und Mariku war hingerissen von der Kälte in seinen Augen und er liebte es, in diesen morbiden Abgrund vorzustoßen, jedesmal aufs Neue, tiefer dorthin zu dringen, wo vor ihm noch nie jemand gewesen war und der Nervenkitzel, dass sie erwischt werden konnten. Und manchmal da legten sie es sogar darauf an, das gab ihnen beiden einen Kick. Sie waren beide keine Kinder mehr und doch waren sie es, gefangen in einer Gesellschaft, die es nicht schaffte, sie in Normen zu pressen. Noah hasste seinen Vater aus tiefstem Herzen, hasste ihn, weil er ihn gezeugt hatte, dieser Mann, der nichts und niemanden liebte, als seinen Heiland und Mariku faszinierte es, wie ein Kind seine Eltern hassen konnte, hatte er doch selbst keine gehabt und die anderen Kinder, die er kannte, waren geborgen in ihren Familien und ekelhaft glücklich, so glücklich, wie Kinder wie er und Noah es niemals sein würden, das machte sie zu Verbündeten. Noah war der erste, der ihm je den Schwanz lutschte und von dem Moment an hatte Mariku gewusst, dass er dort unten niemals wieder jemanden sehen wollte, der anders war als er, zart und verdorben und ein Engel auf den ersten Blick, ein Monster auf den zweiten. Ein Monster, ganz wie er. „Hallelujah“, flüsterte er grinsend ironisch, während er die Hand in blassgrünes Haar vergraben den Blick gen Decke richtete, wo er den Jesus am Kreuz traf. „Vater unser im Himmel … dein Sohn lutscht mir den Pimmel …“ Er lachte lauthals und das Lachen klang wie das eines Dämonen, der Zug in seinen Lenden beflügelte ihn und er schloss genießend die Augen, genoss in dem Wissen, wie viel mehr der Reverend ihn doch hassen würde, wenn er sie beide hier sah, wer weiß, vielleicht würde er ihn dann sogar töten wollen, doch Mariku nahm es in Kauf, nahm die Herausforderung an, er hatte sie schon angenommen, als er letztens ein Gespräch belauscht hatte, das gewiss nicht für seine Ohren bestimmt war. Der Reverend war bei Lilyman gewesen, sie hatten in der Werkstatt miteinander gesprochen, Mariku hatte an der Rückseite gestanden und sie belauscht. Du hättest diese Kinder niemals bei dir aufnehmen dürfen, John, hatte der Reverend gesagt und John hatte nicht geantwortet, hatte mit seiner Arbeit fortgefahren, das sagte Mariku das energische Hämmern, das Zimmern, aber dadurch ließ der Kirchenmann sich nicht verjagen. Er hatte gesagt, das Mädchen, John, das Mädchen verdreht jedem Mann hier den Kopf, das ist Hexenwerk. Kein Mädchen wird von allen Männern gemocht, doch sie schon, und der Junge, John. Hast du ihm jemals in die Augen gesehen? In diesen Augen sitzt der Teufel, es sind Kinder des Satans! Mach dich nicht lächerlich, Leonard, war die dumpfe Antwort des Undertakers gewesen. Wir leben im Zwanzigsten Jahrhundert. Es sind Kinder, wie christlich wäre es gewesen, sie in der Wüste sich selbst zu überlassen. Und wie teuflisch, sie jetzt fortzujagen. Dann hatte das Hämmern aufgehört und eine Weile Stille und Mariku hatte sein eigenes schlagendes Herz verflucht, die Hände hatten sich in das Holz der Wandfassade gekrallt. Ein Knall war zu hören gewesen. Verdammt, John, du musst Verantwortung übernehmen! Die Menschen reden, du wirst ins Verderben rennen, wenn du sie weiter bei dir behältst! Sie sind aufgebracht. Sie sind aufgebracht, weil du sie aufbringst, hatte John die Stimme erhoben um kurz darauf etwas gedämpft hinzuzufügen, sodass Mariku Mühe hatte, die Worte zu verstehen. Diese Stadt geht ohnehin vor die Hunde. Das ist der Lauf der Zeit. Und gewiss nicht die Schuld von zwei Kindern. Bete zu Gott, dass du deine Worte niemals bereuen musst. Dann war der Reverend gegangen, aber in diesem Moment hatte Mariku Angst verspürt. Und Hass auf diesen Mann, weil er dieses Gefühl in ihm auslöste. Da hatte er sich das erste Mal gefragt, wie er es hatte übersehen können. Dass die Menschen dieser Stadt sie nicht wollten. Hatte John sie so sehr abgeschirmt, so sehr beschützt? Mariku hatte begonnen, die Menschen als das zu sehen, was sie waren. Wenn sie lächelten, lächelten sie nicht wirklich, ihre Gesichter verzerrten sich aus einem Lächeln heraus in gruselige Fratzen, scharfe, schiefe Zähne wuchsen aus ihren Mündern und die Augen wurden schwarz und tränten Pech und Teer und wenn sie atmeten stießen sie schwarzen, stinkenden Rauch aus und dann waren ihre Stimmen verzerrt und blechern, das war das wahre Wesen der Menschen und der Reverend war der schlimmste von ihnen. „Haah…“, ein langgezogener heiserer Schrei drang ihm von den Lippen, als er in Noahs Mund zum Ende kam. Der Junge sah auf mit glühenden, hungernden Augen, dann kam er hinauf, kroch auf Marikus Schoß und sie küssten sich hart, so hart, dass ihre Kiefer schmerzten und Mariku schmeckte sich selbst durch Noahs Mund und beinahe hätten sie es miteinander noch getrieben, wäre in dem Moment nicht das eingetreten, das sie beide insgeheim herbeigesehnt hatten. „Was in Gottes Namen!“ Die Tür des Zimmers war aufgeschwungen, so sehr, dass Holz barst und splitterte und es gab für den Reverend, gekommen um mit seinem Sohn zu beten, weil dieser offensichtlich krank dem Gottesdienst hatte fernbleiben müssen, keinen Zweifel an den Tatsachen dieser Situation. Er glotzte ungläubig, seine Augen spien Hass, traten dabei fast aus den Höhlen und Mariku spürte das Beben, das durch Noahs Körper ging und fragte sich für einen Moment, warum ein Knabe seinen Vater fürchten musste, doch er selbst war ganz ruhig, er erwiderte den Blick, wich ihm nicht aus, nicht wie das letzte Mal damals im Dunkeln auf der Straße. „Monster!“ Der Reverend griff nach dem Kruzifix, das er um den Hals trug, seine Hände zitterten vor Wut, „Lass ab von meinem Sohn, reiße einen anderen in die Tiefe!“ Marikus Augen waren emotionslos. Er stand auf, Noah war längst von ihm weggerückt und sah zitternd und bebend zu dem Mann auf, den er mehr fürchtete als liebte, doch auch in seinen Augen stand der Hass, denn er wähnte sich sicher, mit Mariku, der nun hier war und Mariku wusste das. Doch war es ihm egal, ob er ihn nun beschützte, wenn er diesem Mann entgegentrat, denn darauf kam es ihm nicht an. Das Gespräch des Reverends und Lilyman, welches er belauscht hatte, war ihm zu gegenwärtig. „Wie hast du mich gerade genannt?“, knurrte Mariku leise. Der Reverend kam auf ihn zu, fasste ihn am Revers, schneller, als Mariku schauen konnte, stieß ihn zur Seite, dass er taumelte und sich die Seite an einer Kommode prellte, an der er Halt fand, und zu Marikus Erstaunen, wandte er sich tatsächlich nun seinem Sohn zu. „Noah, ich hoffe, du weißt, was du für eine Sünde begangen hast. Du sollst nicht bei einem Mann liegen, wie bei einem Weib. Doch deine Strafe soll milde ausfallen, denn ich weiß, dass dieses Kind des Teufels deine Gedanken vergiftet hat.“ Er holte aus und schlug Noah mit dem schweren Holzkreuz ins Gesicht, ein krasses Paradoxon zu den Worten, die er gesprochen hatte, doch der Junge schrie nicht auf, nur der Hass in seinen Augen glimmte mehr auf als zuvor und Mariku wusste, dass dieser Junge, den er für so schmächtig und wenig wehrhaft gehalten hatte, sich in seiner Art mehr wehrte, mehr aufbegehrte, als er es für möglich gehalten hatte. Auf seine Weise. Das Holzkreuz traf abermals und der Befehl „Geh in die Kammer“, drang von seinen Lippen und Mariku wusste plötzlich, dass es nicht nur eine Bestrafung war, sondern ein Vorwand, weil Noah nicht mit ansehen sollte, was der Reverend nun mit Mariku anstellte. Doch Noah machte ihm einen Strich durch die Rechnung, denn er sagte laut und deutlich „Nein“ und dieses Nein war so bedeutungsschwanger in der Kinderstimme, in der es gesprochen wurde. „Ich dulde keinen Widerspruch.“ Noah machte den Mund auf um etwas zu sagen, brachte es dann nicht über sich, eine Träne des Zornes über seine eigene Angst blitzte im Augenwinkel auf, doch er bewegte sich nicht, während der Kratzer, den das Holzkreuz auf seiner Wange hinterlassen hatte, einen blutigen Fluss gen Erde schickte. Mariku hatte sich in der Zeit wieder aufgerappelt und kam nun langsam näher. „Lass ihn“, sagte er ruhig und erstaunlich drohend für einen Jungen seines Alters. Dann sah Mariku etwas aufblitzen. Einen Revolver. Einen sehr alten Revolver, doch sicherlich voll funktionstüchtig. Er sah sich der Mündung direkt konfrontiert. „Rühr dich nicht von der Stelle“, befahl der Reverend ruhig und Mariku hörte, wie Noah hinter ihnen erschrocken aufkeuchte. „Du willst ein Gottesmann sein?“, sagte Mariku leise und das Gesicht des Reverends wurde zu einer Fratze und plötzlich wusste er, dass er diesen Mann töten musste. Er musste ihn töten, weil es seine Natur war und vielleicht hatte der Reverend gar nicht so Unrecht damit, wenn er sagte, dass er ein Monster war, ein Dämon. Dämonen wurden in der Finsternis geboren und plötzlich sah Mariku die Schatten um sie herum fließen, doch er war der Einzige, der sie wahr nehmen konnte und die Schatten nahmen ihm den letzten Funken Angst, der noch in seinem Körper gewesen war, plötzlich kannte er seine Bestimmung. „Ich handle im Sinne des Herrn“, sagte der Reverend leise, „Ich habe John gesagt, dass es ein Fehler war, euch hier aufzunehmen. Er wollte nicht auf mich hören. Und jetzt brichst du ihm das Herz, weil ich dich töten muss, wenn ich verhindern will, dass die Dämonen diese Stadt fressen und bei Gott, das werde ich, ich werde sündigen für die Erlösung dieser Menschen.“ Es klickte. Mariku war ruhig. Doch dann geschah etwas, das niemand erwartet hätte. Mariku senkte den Blick. „Ich bereue“, sagte er, „Bitte töte mich nicht, ich bereue.“ Der Reverend zögerte. Sah das Kind vor sich stehen, das eigentlich kein Kind mehr war, in dessen Augen das Glimmen so plötzlich verloschen war, wie es gekommen war. Dieser Moment des Zögerns veränderte alles. Noah stürzte sich mit einem Schrei auf seinen Vater, hängte sich mit allem Gewicht an dessen Arm, sodass dieser herumgerissen wurde und der plötzliche Zug löste einen Schuss aus, der in die Holzdielen einschlug. Der Reverend schüttelte Noah mit solch einer Kraft von sich ab, dass dieser hintenüber kippte und sich den Kopf so hart auf dem Boden anschlug, dass er ohnmächtig liegen blieb, doch Mariku hatte diesen Moment genutzt und hatte sich gegen den Mann geworfen, welcher nun das Gleichgewicht verlor und die Waffe hochriss, doch nicht schnell genug, denn Mariku schlug ihm mit einer erstaunlichen Kraft die Faust ins Gesicht, ein Zahn brach heraus, ein Schwall Blut folgte und ein weiterer Schlag, wonach Mariku versuchte, an die Waffe zu gelangen, doch der Reverend hatte sich bald wieder gefasst und nahezu mühelos stieß er Mariku von sich herunter, umfasste seine Kehle mit beiden Händen, da die Waffe in gefährlicher Ferne lag und spie aus: „pater noster in caelis…!“, dabei drückte er zu und Marikus Fingernägel gruben sich in seine Handgelenke, tief, so tief, dass sie die Haut durchstießen und mit den Beinen versuchte er, nach ihm zu treten, doch das Gewicht auf ihm war zu drücken. Niemals, schrie eine Stimme in ihm. Niemals darf es so zu Ende gehen, Mariku keuchte und sah schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen, doch dann kam ein letzter Schub Kraft in seinen Körper, so stark, dass er sich befreien konnte, indem er sich mit einem Ruck in die Höhe warf, mit dem Kopf das Kinn des Mannes traf, welcher daraufhin taumelte und Mariku nutzte die Gelegenheit aufzuspringen. Dann sah er die Waffe dort liegen. Siegessicher blitzte es in seinen Augen, er würde dem ein Ende bereiten, er würde diesen Mann erschießen und würde sie beide vor ihm retten, es war so einfach eine Pistole zu bedienen, so einfach den Abzug zu drücken, John war oft mit ihm in die Prärie gefahren und hatte ihn Schießübungen auf verrostete Blechbüchsen machen lassen. Der Reverend war eine Zehntelsekunde schneller als er. Die Wucht des Schusses war so enorm, dass Mariku nicht spürte, wo in seinem Körper er traf. Er hörte nur Noahs entsetzten Schrei hallen, irgendwie weit entfernt, während dieser Schmerz sich in seinem Körper ausbreitete und er fiel, fiel so schrecklich langsam, riss dabei die Augen auf und ein Schwall Blut begehrte in seiner Kehle auf, den metallenen Geschmack im Mund schlug er schließlich auf die harten Holzdielen. Starrte an die Decke. Sah den Reverend über ihm stehen, welcher sich das Blut vom Mundwinkel wischte, sah ihn da stehen, sah die Mündung der Waffe direkt auf sein Gesicht gerichtet. Und dann rahmte Dunkelheit sein Blickfeld ein. Und die Schatten betteten ihn zur Ruhe. ~*~ Mariku sah den Reverend vor sich stehen, mit erhobener Waffe. Der Schmerz war dumpf, nicht ganz derselbe von damals. Mit vom Alkohol schwer gewordenen Bewegungen sah er an sich herab und presste schließlich die Hand gegen die linke Schulter, fühlte warmes Blut. Das Bild des Reverends verblasste. Mariku stand auf, wankte. Spürte den Schmerz nicht. Wankte, aber mehr vom Alkohol als vom akuten Blutverlust. Er war allein. Der Mann hatte auf ihn geschossen. Wie mochte das sein? Ließ den Revolver aus der eigenen Hand fallen. „John …“, murmelte Mariku ohne jeden Zusammenhang. Er … musste nachhause. Und so stieß er wenig später die Flügeltüren des alten Saloons auf und trat hinaus in die Dämmerung. Sie warteten doch auf ihn. Und die Schatten begleiteten ihn auf seinem Weg. Das hatten sie schon immer getan. As the riders loped on by him he heard one call his name If you want to save your soul from Hell a-riding on our range Then cowboy change your ways today or with us you will ride Trying to catch the Devil's herd, across these endless skies 'Ghostriders in the sky' Johnny Cash Kapitel 5: redemption day ------------------------- Ihm gellten noch die Schreie seiner Schwester in den Ohren, als sie sie fortzogen. Genauso wie das Knallen der Autotüren, hinter denen sie für immer verschwand. Das Quietschen der Reifen, als sie davonfuhren und ihr ängstlicher Schrei. Mariku wusste, was sie mit ihr machen würden. Das, was sie mit allen Frauen machten, die bösen Männer. Und Der Reverend hatte dabei zugesehen. Sie hatte so gern gesungen. Und nun. Die Stimme. Ein Schrei. Sie hatte versucht, sich zu wehren. Sie war stark. Doch die bösen Männer waren stärker. John hatte immer gesagt, sie sollten ihnen aus dem Weg gehen. Mariku hatte nicht auf ihn gehört. Hätte er doch nur auf ihn gehört. Sie lag ängstlich und weinend im Staub. Da war John in den Kreis der geifernden Meute hingetreten. „Habt ihr denn alle den Verstand verloren?“, erscholl seine wütende Stimme über den gesamten Platz. Die Menschen starrten schweigend, beschämt und doch wütend. Die unsichtbare Wut die um sich griff, wenn ein Mann wie der Reverend den Funken des Misstrauens in den Menschen zu einem lohenden, kalten Hass werden ließ. Der Reverend stand nur da und ein unscheinbares Lächeln um spielte die faltigen Mundwinkel. Es regnete, der dunkle Himmel war wie ein Schlund In Johns Augen glühte der Zorn, als er sich der Meute entgegenstellte. Isis sah zu ihm auf und Mariku wollte sich losreißen, doch er wurde festgehalten, mit eiserner Gewalt von des Reverends Hunden. Er konnte nur mit schreckensgeweiteten Augen zusehen. „John“, sagte der Bürgermeister und tupfte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von den Schläfen. „John, gib auf, ich bitte dich. Mach es nicht noch schlimmer.“ Der Mann schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. I've wept for those who suffer long But how I weep for those who've gone In rooms of grief and questioned wrong But keep on killing Mariku ging ruhig an den Waffenschrank des Sheriffs. Der Mann lag in seinem eigenen Blut. Mariku hatte ihn totgeschlagen. Pistolen. Nutzlos. Gewehre. Nicht effizient genug. Ein Maschinengewehr. Das war mehr nach seinem Geschmack. Sicherlich war es eine Privatanschaffung des Sheriffs. Um Marikus Lippen legte sich ein dunkellächelnder Zug. Er würde sie alle in die Hölle schicken. Alle. Denn hier gab es keinen mehr, um den es schade gewesen wäre. Schafft die Hexe fort! Sie packten Isis und zerrten sie fort. John wollte protestieren, doch die Männer des Reverends hielten ihn zurück, einer von ihnen boxte ihm so heftig in den Magen, dass er stöhnend zusammensank. „JOHN!“, schrie Mariku, der dabei zusah, wie alles, was er gekannt hatte, vor seinen Augen in sich zusammen fiel. Seine Schwester … Sein Ziehvater … Sie traten auf den alten Mann ein. Mein Vater Mein Vater Mein Vater. „Er hat euch doch nichts getan, ihr gottverdammten Hurensöhne!!!“, abermals versuchte er sich loszureißen, doch er hatte keine Chance. „Ruhe!“, herrschte der Reverend plötzlich in seine Richtung, „Du hast hier lange genug für Unfrieden gesorgt, Dämonenbrut!“ Die Menschen um sie herum verharrten wie treue Soldaten auf ihre Befehle wartend. Treue Untertanen des Kreuzes. Warum hassen sie uns so sehr? Der Reverend schlug die Bibel auf, die er immer bei sich trug. Doch als seine Stimme laut und unheilvoll erscholl, da las er nicht, sprach aus dem Gedächtnis und holte dabei einen Revolver hervor, der zwischen den Seiten geruht hatte. „Der Pfad der Gerechten ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Und da steht weiter, ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe!“ Das Klicken, als er den Revolver entsicherte war laut in der Stille, die von Hunderten von Menschen verursacht wurde. John sah auf und sein Blick traf den Marikus. Mariku würde ihn niemals vergessen, diesen Blick. Klar und fest, flehend und gleichsam beschwichtigend. In Marikus Kehle bildete sich ein Kloß, seine Atmung ging schneller, unruhiger und er sah es kommen. Der Reverend trat auf John zu und John, der sich wankend erhob, sah dem Mann entgegen. Kein Flehen, kein Bitten entrang sich seiner Kehle. Beinahe lag Bedauern auf seinen Zügen. „John, du lässt mir keine Wahl“, sagte der Reverend. „Herr, vergib ihnen…“, sagte John dann leise und bekreuzigte sich, „denn sie wissen nicht, was sie tun…“, ein ironisches Lächeln umzuckte dabei seine Mundwinkel. Und dann folgte der Schuss. Und in Marikus Welt gab es nur noch die Dämonen. Die Menschen, all die Menschen … sie waren nicht mehr da. Nur das Blut, das spritzte, ein Raunen der Höllenbrut. Und keine Träne rann über Marikus Wangen. Er starrte nur glasig, während John fiel, ganz langsam fiel mit aufgerissenen Augen, die sich im letzten Moment noch einmal zu dem Sohn umwandten, dem geliebten Sohn, dessen Vater er eine viel zu kurze Zeit hatte sein dürfen. Er war tot, noch bevor sein Körper die staubige Erde berührte, doch im letzten Moment lag der Anflug eines traurigen Lächelns auf seinen Lippen. It's in the soul to feel such things But weak to watch without speaking Oh, what mercy sadness brings If God be willing Das Maschinengewehr fühlte sich schwer und kalt an in seiner Hand. Er hatte es nicht eilig. Er würde sie alle niederstrecken. Und danach würde er selbst gehen. Die letzte Kugel für ihn selbst. Sie hatten gedacht, ihn eingesperrt zu haben. Mariku wusste nicht mehr, wie er es aus der Zelle geschafft hatte. Der diensthabende Polizist hatte sich nichts dabei gedacht in seine Zelle zu kommen, immerhin saß da nur ein apathischer, gebrochener Junge. Doch kaum war er nah genug an ihm dran gewesen, hatte Mariku ihn gepackt mit einer unmenschlichen urgewaltigen Kraft und hatte ihn gegen die eisernen Gitterstäbe geschlagen, bis die Schädelknochen abgesplittert waren. Mariku fand außerdem Handgranaten, warum zum Teufel die Obrigkeit in so einem Kaff so etwas brauchte. Natürlich eignete er sich auch die an. Es waren fünf Stück. Vermutlich ging das auf die Kappe des Herrn Majors. Vielleicht würde er dessen Haus mit einer davon in die Luft jagen. Ja … das klang gut, das würde ihm gefallen. Er ging zum Haus des Reverends. Und wer ihm zu dieser Stunde noch über den Weg lief, den erschoss er. Der Umgang mit der Waffe lag ihm wohl im Blut, auch wenn sie eisern war und unkontrollierbar – genau wie er selbst. Vermutlich passten sie deshalb so gut. Und er traf jedes seiner Ziele. Es war ihm egal, wen er erschoss, sie waren für ihn alle zu einer einzigen dämonischen Masse geworden, die es zu beseitigen galt. Unstillbarer Rachedurst schwelte in ihm. Wie sie an ihren Tischen saßen und Gott für ihr Abendmahl dankten. Das letzte Abendmahl. Mariku lachte, ein irrer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Eine Familie kam ihm entgegen, den Vater erkannte er wieder, er hatte nach John getreten. Mariku nahm eine der Handgranaten. Er hatte schon immer ausprobieren wollen, wie so ein Ding funktionierte, er hatte immer wieder Erzählungen gehört, wie es im Krieg war. Fliegende Leichenteile und brennende Körper, ja, das wäre sicherlich angemessen. Wie weit ihre Explosionskraft wohl reichte? Er wählte aufs Geratewohl ein Haus aus, das auf seinem Weg lag. Das Städtchen hier war ja recht überschaubar. Die Vorstellung verlockend, dass sie alle tot waren bevor der Morgen anbrach. Mariku zog den Sicherheitsring aus der Granate – es ging spielend einfach, dann warf er es mit voller Kraft in Richtung eines Hauses, das Glas des Fensters splitterte und bald darauf riss es ihn von den Füßen und er schlitterte in den Staub der Straße. Er spürte die Schürfwunden nicht und auch nicht die Verletzung an der Schläfe. Er lachte, als er die orangeroten Flammen sah, als er sah, was für ein Loch eine einzige kleine Granate in eine ganze Häuserreihe reißen konnte, er lachte aus vollem Hals. Fire rages in the streets And swallows everything it meets It's just an image often seen on television „Da habt ihr eure Hölle“, säuselte er, während er sich wieder hochrappelte. Vier waren noch übrig und sein Maschinengewehr. Menschen kamen angelaufen, um zu sehen, zu helfen, um neugierig zu sein, Mariku streckte sie mit seinen Kugeln nieder, noch ehe sie ihn erkannt hatten. Sie blieben erschrocken stehen, als sie Mariku sahen. Die Mutter trug einen Säugling, der kleine Sohn presste sich an die Hosenbeine des Vaters. „Lasset die Kindlein zu mir kommen….“, sagte Mariku und legte ruhig die Waffe an, was die Frau dazu brachte, aufzuschreien und mit dem Kind im Arm zu fliehen, „und wehret ihnen nicht“, der Kugelhagel setzte ein, er mähte zuerst den Vater nieder, der ihm entgegengestürzt war um ihn zu überwältigen, dann den kleinen Sohn, der starr vor Angst an Ort und Stelle verweilt war und dann traf er die fliehende Mutter, welche hinstürzte, dem Säugling brach bei dem Sturz das Genick. „… denn ihrer ist das Himmelreich…“ Die Schüsse und die Explosionen hatten auch andere Menschen hervorgelockt. Mariku brachte ihnen den Tod. Das Blut gab ihm Befriedigung. Doch sein Durst war nicht gestillt. Lange nicht. Irgendwann hörte er auf zu zählen. Irgendwann war da nur noch das Trommelfeuer der Schüsse und keiner von ihnen hatte mehr ein Gesicht. Und irgendwann hielt er die letzte Granate in der Hand. Und er wusste, wer sie bekommen sollte. Er ging zur Kirche, niemand hielt ihn auf. Das alte Gebäude wurde gnadenlos von der Heftigkeit der Explosion zerfetzt bis auf seine Grundmauern. Mariku sah beinahe andächtig, wie brennende Dachgiebel und sogar hin- und wieder Teile von Altar oder Kirchenbänken brennend zu Boden segelten und wie durch ein Wunder wurde er selbst nicht getroffen, denn er stand viel zu nahe. Die Schreie dämpften sich und wurden zu einem Seufzen, dann zu einem Wispern. Er hatte genug Munition. Es dauerte nicht lange, das leere Hülsenband zu wechseln. Seine Hand war ruhig. There is a train that's heading straight To heaven's gate, to heaven's gate And on the way child and man and woman wait Watch and wait for redemption day Und dann war er beim Haus des Reverends. Ein unscheinbares Licht drang aus dem Inneren hervor. Beinahe friedlich. „REVEREND!!“, brüllte er, „STELL DICH MIR WIE EIN MANN!!!“ Er schoss auf die verschlossene Tür, danach musste er nur noch dagegentreten, um sie aus den Angeln zu heben. „Reverend, wo bist du?“, säuselte er heuchlerisch sanft, „REVEREND!“ Er fand die Frau im Wohnzimmer. Sie hatte versucht, zu den Treppen zu gelangen, zu ihrem Sohn. Mit angststarrem Blick sah sie ihn an. Sie war so jung. Und schön. Seine Schwester war auch so schön gewesen. Inzwischen hatten sie sie wohl weggebracht. „Bitte…“, flüsterte sie und schüttelte ungläubig den Kopf, als sich der Lauf auf sie richtete. „Ihr hattet auch keine Gnade…“ seine Stimme war gedrückt und voller Hass. Das Letzte was die schöne Frau sah, war das verzerrte Gesicht eines Sechzehnjährigen, dem der Zorn Gottes ins Gesicht geschrieben stand. Er schoss auf sie, noch während sie versuchte, ein Kreuz zu schlagen. Ihr Körper fiel dumpf zu Boden. Blut spritzte, er hatte ihr eine Kugel in den Hals gejagt, es traf ihn ihm Gesicht, wie ein Peitschenhieb, der einen Striemen hinterließ. Er zuckte nichtmal. Sah einen Moment dabei zu, wie das rosafarbene Nachthemd sich rot färbte. Und auch der Boden. Das Blut versickerte in den Ritzen zwischen den Holzdielen. Jemand war im Raum. Mariku musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass es Noah war. Schritte kamen näher, Mariku sah wie sich schlanke Fesseln in sein Gesichtsfeld schoben. Nackte Füße, die durch die Blutlache tapsten, ohne dabei auszurutschen und dann trennte ihn nur noch die M 60 von den zarten Armen, die ihm so manche kalte Nacht erwärmt hatten. Er roch den Duft. Er hörte das Flüstern. „Wenn du ihm wehtun willst, darfst du jetzt nicht aufhören…“ Marikus Blick ging ins Leere. Er war plötzlich erregt. Noah küsste ihn und er erwiderte den Druck der Lippen mit anhaltend ausdruckslosen Augen. Noahs Augen. Das letzte Lebewesen, das ihn von dem Monster in sich selbst trennte. Nun wurde es letzten Endes doch entfesselt. Die letzte Menschlichkeit wich. Noahs Körper ruckte, er keuchte leise, Mariku schmeckte sein Blut auf den Lippen. Herzblut. Tod. Die Züge des blassen Jungen entspannten sich, der Blick wurde entrückt. Er hatte ohnehin nie auf dieser Welt sein wollen. „… Wir sehen uns in einem besseren Leben, mein Freund…“ Ein erstickter Schrei drang in Marikus Hirn und er wirbelte herum. Der Reverend stand in der Tür. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen als er dessen gewahr wurde, was hier geschah. „Hallo Reverend“, sagte Mariku freundlich und hob die Waffe um auf ihn zu zielen. „Du elende Höllenbrut hast meine Familie…“ die Stimme war gepresst und fassungslos. „Genau so fühlt sich das an“, sinnierte Mariku, doch er drückte nicht ab. Der Reverend bewegte sich nicht. Die ansonsten so glühenden Augen starrten ihn fassungslos an, die Lippen bebten und Mariku sah die Furcht. Die Furcht um das eigene beschissene wertlose Leben. Und er kicherte. „Wo ist dein Gott jetzt, Reverend?“ Der Reverend sagte nichts. „Hats dir die Sprache verschlagen?“, höhnte Mariku mit Genugtuung. „Los, beweg dich, wir haben noch etwas vor. Wir gehen jetzt deinen Wagenschlüssel und ein paar Eisenketten holen. Und dann spielen wir ein Spiel. Auch wenn es mir vielleicht mehr Freude bereiten wird, als dir. Lass dich überraschen.“ Mit vorgehaltener Waffe ging er hinter dem Reverend her, welcher die Autoschlüssel in einer langsamen Bewegung von einem Schlüsselbrett nahm. Mariku streckte die Hand aus um danach zu greifen. Dann stieß er ihm mit dem Lauf der Waffe gegen die Schulter, damit er sich weiter bewegte. Sie gingen nach draußen. Die Luft war mit Blutgeruch geschwängert und keine Grille zirpte. Der Mond stand hell am Himmel, hin und wieder schoben sich ein paar Wolken davor. Marikus Gesicht wirkte in der Dunkelheit wie eine Teufelsfratze. „Was hast du vor, Ishtar…“, brachte der Reverend gepresst hervor. Mariku trat dem Mann so heftig ins Kreuz, dass er nach vorne in den Staub stolperte und sich einmal leicht überschlug. Jetzt wirkte er gar nicht mehr so furchteinflößend, wie er da kauerte und um sein Leben fürchtete. Come leaders, come you men of great Let us hear you pontificate Your many virtues laid to waste And we aren't listening Mariku legte die Waffe ab. Dann ließ er die Eisenkette gegen den Reverend peitschen, welcher schmerzerfüllt aufschrie, als sie ihn im Gesicht traf. Blut quoll zwischen den Fingern des Mannes hervor. Dann beugte sich Mariku herab und der Reverend schlug ein Kreuz, weil er den Teufel in seinem Gesicht sitzen sah. „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, o Herr…“, wisperte er, woraufhin Mariku ihm mit der Faust ins Gesicht schlug, sodass er nach hinten kippte. Und da sprach Mariku mit bebender, leiser Stimme und es war nicht herauszuhören, ob er es im Hohn, oder im Hass sprach, oder in Traurigkeit: „…Und da sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen und um des Zeugnisses willen, das sie hatten….“ Der Reverend wich zurück auf den Ellenbogen, als er das fünfte Siegel der Offenbarung des Johannes erkannte. Mariku kam ihm mit langsamen Schritten nach. Die Wolken verzogen sich vom Vollmond und der helle, fahle Schein fiel seitlich auf Mariku. Ließ das Blut in seinem Gesicht gespenstisch schimmern. Ein Auge lag im Schatten, doch lange war es schon nicht mehr menschlich. „… und sie schrien mit großer Stimme und sprachen: HERR, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächest unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? …. Und ihnen wurde gegeben einem jeglichen ein weißes Kleid … … und ward zu ihnen gesagt, dass sie ruhten noch eine kleine Zeit, bis, dass vollends dazukämen ihre Mitknechte und Brüder … … die auch sollten noch getötet werden … gleich wie sie…“ Des Reverends Augen waren angststarr geworden. Und da griff er sich plötzlich mit einem schmerzhaften Keuchen an die Brust, bäumte sich mit einem Schrei auf und sank dann zusammen. Die Hand, die sich zum Kruzifix um seinen Hals hatte schleichen wollen, lag erschlafft neben ihm im Staub. „Siehst du“, sagte Mariku bitter, während er sich niederbeugte, um die Eisenketten um die Hände des Mannes zu schlingen. Das andere Ende verknotete er mit dem Auto, „Ich hab die Worte deines so barmherzigen Gottes doch gekannt.“ Dann stieg er in den Wagen und ließ den Motor an. Er schleifte den Leichnam in die Wüste hinaus und da ließ er ihn liegen, zerfetzt, blutig. Bis am nächsten Morgen die Sonne aufging und ihn verfaulen ließ. Bis ihn die Geier fraßen. Dann fuhr er zurück in die Stadt. Sie hatten John einfach nur mit einem Tuch bedeckt. Niemand hatte gewusst, wohin mit dem Toten, denn John Lilyman war der einzige Totengräber. Mariku fiel neben dem Leichnam auf die Knie. Er war so müde. Schrecklich müde. Aber er musste ihn begraben. Er konnte ihn doch nicht hier liegen lassen. Es war so still. Alles war still. Niemand lebte mehr. Und es stank nach Blut und Feuer. Und auch in Mariku war etwas gestorben. Das letzte Gefühl, das letzte Bisschen Menschlichkeit. Er konnte nicht trauern. Der Schmerz war zu schwer, deshalb drängte er ihn vollends aus seinem Bewusstsein. Er hob den Toten hoch und trug ihn zum Auto. Mariku wankte einen Moment, dann ging es wieder. Schließlich bettete er ihn auf der Rückbank und fuhr zu Johns Haus, von dort holte er einen Spaten, er hatte es gar nicht mehr eilig. Eine gefährliche Ruhe hatte ihn beschlichen. Abermals fuhr er hinaus in die Wüste, doch diesmal an einen anderen Ort. An einen Ort, an dem er oft mit John gewesen war. Dorthin, wo sie manchmal Schießübungen gemacht hatten. Ein paar Bäume standen da und ein kleiner See, der hin und wieder bis auf die Hälfte seines Volumens austrocknete. Jetzt lag er still und finster da. Mariku ging zu den Bäumen und begann zu graben. Er grub, bis seine Muskeln vor Schmerzen schrien und ihm der Schweiß in Strömen rann, er grub bis zum Morgengrauen. Dann holte er Johns Leichnam und bettete ihn hinein. Die Erde gab ihm die ewige Ruhe und am liebsten hätte er sich gleich dazu gesellt. Die letzte Kugel war doch nicht mehr übrig gewesen. Er hatte seine Chance verstreichen lassen. No riches in trade for the fate Of every person who died in hate Throw us a bone, you men of great Heiß … es war so heiß … Die Hitze … Er suchte seine Schwester … er konnte sie nicht finden … dann schlug er die Augen auf, fieberglasig und er sah ein Gesicht, ein Gesicht, das nicht hier her gehörte. Ein Gesicht, das sein Sechzehnjähriges Ich nicht kannte… Dann überrollte ihn die Hitze wieder und eine Stimme sprach sanft und liebevoll zu ihm, er spürte etwas Kühles auf seiner Stirn. Doch er konnte die Worte nicht erkennen. Er stieg in den Caddilac und kehrte nie wieder nach Godstown zurück. It's buried in the countryside Exploding in the shells at night It's everywhere a baby cries Die Sonne stand glühend rot am Himmel. Sein Mantel flatterte im trockenen Wüstenwind. Der Blick hinaus in die Weite gerichtet. Er war jetzt ein Mann. Ein Mann ohne Heimat. Ein Mann ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Mariku spürte eine Hand auf seiner Schulter. „John…“ John sagte nichts, doch Mariku hörte ihn in seinem Herzen. Da war Vergebung. Und Liebe für den Sohn, dessen Vater er zu kurz hatte sein dürfen. Doch vor allem war da Vergebung. Erhobenen Hauptes starrte er in die Glut der Sonne, bis ihm die Augen tränten. Doch er schloss sie nicht. Die einzige Möglichkeit, sie weinen zu lassen. Die Hand lag lässig am Pistolenhalfter, die M 60 hatte er längst im See versenkt. Er war ein Gesetzloser. Die Sonne verschwamm und die Wüste auch und die Vergangenheit und die Gegenwart vermischten sich. Die Hitze wurde übermächtig und es wurde schwarz. Freedom, freedom, freedom ~*~ Mariku schlug die Augen auf. Er kannte das Haus. Es war Johns Haus. Er hatte hier gelebt. Doch wer…? Er versuchte sich aufzurichten, unterdrückte ein Stöhnen als er einen Schmerz in seiner Schulter spürte und sank wieder zurück. Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Das Gesicht eines Engels. „Du hast hohes Fieber…“, sagte der Engel und tupfte ihm mit etwas Feuchtem, Kühlem das Gesicht. Weißes Haar umrahmte ein blasses Gesicht, es war geschunden, erkannte er. Ein Auge war zugeschwollen, auf der anderen Wange ein tiefer Kratzer, die Lippe aufgeplatzt. Abermals versuchte Mariku, sich aufzurichten. Ryou hielt ihn diesmal nicht auf. Er sah ihn einfach nur an. Dann wandte er sich ab und griff mit zitternder Hand nach einem Glas mit trübem Wasser. „Was Besseres gibt’s hier nicht, das ist echt der Arsch der … du solltest was Trinken…“ Er wollte ihm ein Glas Wasser reichen, ein erschrockener unterdrückter Aufschrei folgte, als Mariku Ryou das Glas grob aus der Hand schlug, sodass es zu Boden fiel und zerschellte, darauffolgend packte er ihn um das schmale Handgelenk um ihn grob zu sich zu zerren. Keine Worte fielen, als er die fieberspröden Lippen hungrig auf den geschundenen Mund presste und merkte, dass er echt war, dass sie so süß schmeckten, wie er sie in Erinnerung hatte. Das war kein Traum, keine Einbildung, er zog Ryou harsch an sich heran, bestimmend und Ryou schlang die Arme um ihn. „Ich liebe dich…“, flüsterte der Engel. Das Fieber war stärker und auch der Schmerz in seiner Schulter. Wie war das gewesen? Achja … er hatte auf sich selbst geschossen. Zwischen Wahn und Wirklichkeit. Und jetzt war Ryou da. War es doch eine Einbildung? Er konnte nichts mehr auseinander halten. Mariku sank bald zurück in das Fieber und Ryou lag bei ihm, neben ihm, ganz still. Der ausgemergelte Körper war kühl, herrlich kühl in dieser Hölle. ~*~ Es war Ryou schwer gefallen, seinen gewohnten Tagesablauf wieder aufzunehmen. Es war schwer, wenn die Gedanken nur um eine einzige Sache kreisten. Dieser innere Drang, wo anders sein zu müssen, wo auch immer, nur nicht hier. Dort wo ER war. Ryou rann der Schweiß übers Gesicht und er wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Heute war es schlimmer als die Tage zuvor, denn es war unerträglich schwül. Man munkelte sogar, dass sich ein Tornado ankündigte, doch Ryou hatte die Hoffnung, dass die Alarmsirenen sie rechtzeitig warnen würden. Und wenn nicht, dann hätte er zumindest einen Haufen weniger Sorgen, als jetzt. Einen Menschen in der Wüste zu finden, war ein fruchtloses Unterfangen und er hatte nichtmal ein Auto. Malik hatte sich ziemlich Mühe gegeben, ihm den Kerl wieder auszureden und zumindest nach außenhin gab Ryou sich geschlagen, doch innerlich war er ruhelos. Da war eine Eisenfessel um sein Herz, immer dann, wenn er daran dachte. Einst hatte er sich danach gesehnt, zur Ruhe zu kommen. Doch als er Mariku kennengelernt hatte, hatte er gemerkt, dass er das vielleicht gar nicht wollte. Oder, dass es ihm nicht bestimmt war. Malik hatte ein Auto. Ein Auto, das er nicht zwingend brauchte und er würde ihm vergeben … würde er doch, oder? Ryou hatte seine Entscheidung ohnehin schon längst gefällt. Er nahm ein paar Sachen mit, eine kleine Tasche mit den nötigsten Klamotten zum Wechseln. Er zögerte kurz, dann steckte er eine Waffe ein. Sie gehörte Malik – Malik hatte eine Dienstwaffe und zwei private, die er sorgsam unter Verschluss hielt. Ryou wusste, wo er sie aufbewahrte und da Malik ohnehin selten danach sah, würde es wohl eine Weile dauern, ehe er ihr Fehlen bemerkte. Malik hatte gerade Dienst, er würde erst heute Abend heimkommen. Ryou schrieb ihm eine Nachricht. ‚Ich werde eine Weile fort sein. Bitte hass mich nicht dafür, aber ich kann nicht anders. Ich weiß nicht, ob ich zurückkomme, deshalb danke für alles! Du bist der beste Freund, den ich je hatte.‘ Dann nahm er die Autoschlüssel seines Freundes und ging. Ryou sah starr auf die Straße, während er durch Labours Lost fuhr, er sah auch nicht in den Rückspiegel als er der Stadt, in der er fast vier Jahre gelebt hatte, in der er Freunde gefunden hatte, den Rücken kehrte. Und hätte er in den Rückspiegel gesehen, hätte er vielleicht den Wagen bemerkt, der in die Straße einfuhr, von der er gerade abgebogen war. Dann hätte er vielleicht auch bemerkt, wer aus diesem Wagen ausgestiegen war und dann …. Dann wäre er vielleicht geblieben. Es war sein längst verloren geglaubter Bruder, der auf der Suche nach ihm war. ('Redemption day' by Johnny Cash) Kapitel 6: el condor pasa ------------------------- Das Flackern des Fernsehers wurde an die Flurwand geworfen. Zeus schaute sich sein Footballspiel an und Anzu wusste, dass er es hasste, wenn man ihn dabei störte. Sie saß in der Küche, die Sonne ging gerade unter, und warf einen Blick auf die große Uhr. Der Sekundenzeiger bewegte sich gleichmäßig, sie mochte das Geräusch. Es war die einzige Beständigkeit und in Zeiten des Kummers war es der jungen Frau ein Trost. Einen Moment, ja, einen winzigen Moment, vor ein paar Wochen, da hatte sie geglaubt, dass jetzt alles anders würde. Das war gewesen, als Malik Ishtar Zeus festgenommen hatte. Doch Zeus war zurückgekommen, sie konnte sich noch genau an seine Miene erinnern und sie hatte sich schon darauf gefasst gemacht, dass er sie wieder schlug, aus Frust und weil er ihr die Schuld für seine Festnahme gab. Doch nichts war geschehen. Er hatte sie eisigkalt angesehen und sie dann gebeten, ihm ein Bier zu holen. Seitdem hatte er sie nicht wieder angerührt. Und sie hatte angefangen, nachzudenken. Sie sehnte sich nach Liebe. Oft hatte sie an den Polizisten denken müssen. Malik Ishtar gefiel ihr, doch er war unerreichbar für ein Mädchen wie Anzu. Weil er Sicherheit bedeutete und Geborgenheit und wann hatte sich Anzu in ihrem Leben je sicher und geborgen fühlen dürfen? I'd rather be a sparrow than a snail. Yes I would. If I could, I surely would. Nachdenklich rührte sie in einer Tasse Tee herum. Der Tee war längst kalt und bitter geworden, weil sie den Beutel nicht entfernt hatte. Wann hatte sie angefangen, ihre Träume zu vergessen? Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie Tänzerin werden wollen. Und sie hatte dafür geübt, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie hätte es schaffen können, ganz bestimmt. Davon waren damals alle überzeugt gewesen. Ihre Mutter hatte ihre gesamten Ersparnisse für sie hingegeben, damit sie nach Chicago konnte, dort gab es die berühmteste Tanzschule des Landes und Anzu hatte sich damals als Zwanzigjährige auf den Weg gemacht, das Herz voll Hoffnung und Zuversicht und hätte sie nicht an einem schicksalshaften Tag bei einem Busstop die Bekanntschaft von Zeus Byrnes gemacht, der mit ein paar Kumpels auf der Durchreise war, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Zeus hatte von Anfang an eine absolut faszinierende Wirkung auf das Mädchen gehabt, das zuvor noch nicht mit vielen Männern in Berührung gekommen war. Und sie hatte gedacht, naja, wenn ich ein zwei Tage später in Chicago ankomme, dann kann es wohl nicht schaden. Aus diesen ein, zwei Tagen waren inzwischen vier Jahre geworden. Sie hatte den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen, weil sie sich so schämte und es nicht über sich brachte, sie anzulügen. Am Anfang, da war Zeus charmant gewesen, romantisch, er konnte Gitarre spielen und sang ihr Lieder dazu und er fuhr Motorrad. Sie war ihm gefolgt, denn sie war unsterblich verliebt in ihn gewesen, bis hierher in dieses vergessene Nest und fast ein Jahr war es wunderschön gewesen. Dann hatte er begonnen, sich zu verändern, ohne Grund. Er war schnell wütend geworden, hatte begonnen, sie zu schlagen, wenn ihm etwas nicht passte. Doch auch entschuldigte er sich immer wieder bei ihr, er brachte ihr Blumen und führte sie mal zum Essen aus und Anzu hatte immer wieder nachgegeben, weil sie ihn liebte und den Menschen, die man liebte, verzieh man. Aus dem Wohnzimmer erscholl ein Jubelschrei – so wie es sich anhörte, hatte Zeus Lieblingsmannschaft ein Tor geschossen. Die Entschuldigungen waren seltener geworden und irgendwann hatten sie ganz aufgehört und sie hatte es als gegeben hingenommen und hatte sich selbst ergeben. Sie hatte ignoriert, dass sie nicht glücklich war, denn einzugestehen, unglücklich zu sein, wäre einer Niederlage gleichgekommen, dem Eingestehen, dass man versagt hatte und, dass man es ohne fremde Hilfe nicht mehr schaffte. Und dann war Malik gekommen und hatte diese vergessenen Träume in ihr wachgerüttelt. Anzu hatte 100 Dollar. Ein kleines Vermögen, das sie gespart hatte und das sie an einem sicheren Versteck vor Zeus aufbewahrte, denn alles Geld, das sie nachhause brachte, verlangte er für sich. Die schokoladenbraunen Augen, die irgendwann einmal gestrahlt hatten vor Lebensfreude - insgeheim das, was Zeus damals an ihr aufgefallen war – sahen nun ernst und traurig aus. 100 Dollar. Damit konnte man eine Busfahrkarte kaufen. Damit konnte man eine ziemlich weite Strecke fahren. Zeus war immer noch mit seinem Spiel beschäftigt. Anzu stand auf und ging zum Kühlschrank. Sie nahm eine Bierflasche heraus und entfernte die Krone, schließlich ging sie ins Wohnzimmer. Es war gerade Pause zwischen zwei Innings. Sie trat seitlich an ihn heran und hielt die Flasche in sein Gesichtsfeld. Er nahm sie und klopfte ihr liebevoll auf den Hintern. „Bist‘n Engel, Kleines.“ Anzu lächelte bitter. „Ich werde dich verlassen, Zeus“, sagte sie leise. Er sagte nichts. Aber sie wusste, dass er sie gehört hatte. Mit hämmerndem Herzen ging sie in das kleine Schlafzimmer, um eine Tasche zu packen. Sie nahm nicht viel, denn sie hatte nicht viel. Etwas Unterwäsche, wenig Kleidung zum Wechseln. Dann ging sie in die Küche, sah über die Schulter, ob er ihr etwa nachgekommen war, kniete sich dann hin um die untere kleine Platte der Herdverkleidung zu lösen. Sie griff darunter und holte einen Umschlag hervor, in welchem sich die 100 Dollar befanden. Zeus wartete auf sie. Er stand gegen die Tür gelehnt und rauchte eine von seinen selbstgedrehten Zigaretten. Anzu schluckte. Werd nicht schwach, Mädchen. Das ist deine einzige Chance. Sollte es scheitern, würde sie niemals wieder den Mut aufbringen, zu gehen. „Warum, Baby?“ Sie sah ihm in die Augen. „Lass mich vorbei, Zeus“, sagte sie mit fester Stimme, „Ich liebe dich nicht mehr und habe was Besseres verdient, als das.“ Er schnaubte, „Wer hat dir denn die Flausen jetzt schon wieder in den Kopf gesetzt?“ Anzu presste die Lippen aufeinander. „Lass mich vorbei.“ „Nein.“ Dieses einfache schlichte Nein machte sie plötzlich wütend. Sehr wütend. „Ich gehöre dir nicht.“ „Doch, das tust du.“ Zeus hob die Hand und strich ihr über die Wange, die Finger spielten, beinahe zärtlich mit einer Strähne ihres kurzen, braunen Haares. Er hatte ihr damals eine Ohrfeige verpasst, als sie es sich hatte schneiden lassen. „Wo willst du denn überhaupt hin?“ Er blies ihr Zigarettenrauch ins Gesicht. „Du hast nichts und du bist nichts. Sei doch nicht dumm, Baby.“ „Zeus, ich sage es nicht noch einmal. Lass mich vorbei.“ Zu ihrer Überraschung trat er einen Schritt beiseite. Hatte sie wirklich den Mut dazu? Sie sah Zeus ins Gesicht, einen Moment zeichnete sich Dankbarkeit auf dem ihren ab. Zeus‘ Miene war unlesbar. Dann wandte sie sich ab und drückte die Türklinke herunter. Im selben Moment drückte Zeus zu. Fünf Minuten später war Anzu Mazaki tot. Zeus hob sie sanft auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer, wo er sie auf dem Bett niederlegte. Er schloss ihr die Augen. Er deckte sie zu. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer und sah sich das Spiel zu Ende an. ~*~ Der Deckenventilator gab ein regelmäßiges Flapp-Flapp-Flapp von sich. Ansonsten war es ruhig in der Bar. Bakura ließ eine Münze über die Fingerrücken seiner rechten Hand hin- und her gleiten. Sie fielen schon lange nicht mehr herunter. Vor ihm auf dem Tisch stand ein unberührtes Tonic Water. Die Eiswürfel waren schon geschmolzen. Er trank keinen Alkohol. Das konnte er sich nicht erlauben. Er konnte keinen auch nur so winzigen Moment der Unzurechnungsfähigkeit zulassen, wenn er seinen Lebensunterhalt weiter verdienen wollte, ohne selbst einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Bakura hatte geschickte Finger. Diejenigen, die seine Messer zu spüren bekommen hatten, wussten das, auch wenn nicht alle davon berichten konnten. Eigentlich tötete Bakura nur, wenn es nicht anders ging. Er war kein Sadist und er war kein Mörder. Er rauchte nicht und trank nicht und zog keine Lines und rauchte keinen Shit. Aber Bakura The Kid war kein guter Mensch. Alles was er tat, diente nur zwei Zwecken. Über die Runden kommen und seinen Bruder zu finden. Stand man ihm dabei im Weg, bekam man die Konsequenzen zu spüren. Und die fühlten sich an, wie kalter Stahl in den Eingeweiden. 99 Mal, ohne, dass die Münze herunter gefallen war. Als sie wieder beim Zeigefinger anlangte, ließ er sie auf den Daumen kippen und schnipste sie in die Höhe. Sie drehte sich in der Luft und Bakura zählte dabei lautlos, wie oft sie sich drehte. 8 Mal. Dann fing er sie auf und ließ sie in der Tasche verschwinden, griff nach seinem Tonic. Bitter, wie das Leben. Er trank das Glas zur Hälfte leer. Sie hatten einen Tornado voraus gesagt. Aber darum machte er sich keine Sorgen. Er hatte ohnehin nicht vorgehabt, länger als nötig hier zu bleiben. Denn er hatte nun endlich einen Anhaltspunkt. Nur die Durchführung des Planes, welcher sich daraus ergab, bereitete ihm noch Kopfzerbrechen. Bakura legte ein paar Münzen auf den Tisch und stand dann auf, passierte kurz den Luftstrom des Deckenventilators und trat dann hinaus in die stickige Hitze Mexikos, wobei er die Sonnenbrille mit den dunkelbraunen Gläsern, welche bis eben am Hemdaufschlag festgeklemmt gewesen war aufsetzte. Es war schwül. Er hasste dieses Land, und das nicht nur wegen dem Wetter, dieses Land war tot und es war voller Verbrecher. Das einzig Positive waren die Kopfgelder und dennoch wäre er allein ihretwegen niemals hierhergekommen. Es hatte lange gedauert, doch nun hatte er einen Namen. Bakura fuhr einen Wagen, der schon fast grotesk modern in dieser heruntergekommenen Gegend wirkte und er war nicht so naiv zu glauben, dass er damit nicht auffiel und schon gar nicht war er so naiv zu glauben, dass er, nur weil er The Kid war, vor Diebstählen sicher war. Aber er ließ ihn nie weit aus den Augen, es sei denn, die Umstände erforderten es. Unscheinbare Blicke folgten ihm, als er zu seinem Wagen ging. Sand und Kies knirschten unter seinen abgenutzten Stiefeln, deren Farbe wohl mal irgendeine seltsame Mischung aus Schwarz und Aubergine gewesen war. Bakura ließ den Wagen an und sobald er fuhr, betätigte er die Automatik, um das Verdeck hochzufahren. Heutzutage hatten noch nicht viele Autos diese moderne Technik. Er wusste genau, wo er hinwollte. Der Kerl im Gefängnis hatte es ihm gesagt. Al-Sayid war der Name: Es hatte lange gebraucht. Es hatte viele Leben gekostet. Und vielleicht würde es ihn eines Tages sein eigenes kosten. Doch zuerst musste er Ryou finden. Er hatte die Schuld und die Leere in seinem Inneren in kalten Zorn verwandelt. Zorn, den er berechnend zur Waffe werden ließ, das war der gefährliche Zorn. Nicht der heiße Zorn, der einen im Affekt einen Mann erschießen ließ. Ein Kalkül, nach Belieben einsetzbar. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass sie ihm immer noch nachstarrten, bald jedoch wandten sie sich ab. Froh, das Übel namens The Kid los zu sein. Es war heiß. Der Fahrtwind brachte leichte Kühlung. Die Sonne sengte. Er fuhr hinaus aus der Stadt, ließ die halbgare Zivilisation hinter sich. Er begab sich in verbotenes Terrain. Gefährliches Terrain. Dorthin wo die Mafia herrschte. Dorthin ins Herz des Bienenstocks, deren fleißige Helferlein er erst vor wenigen Tagen, oder waren es Wochen?, getötet hatte. Bakura fürchtete sie nicht, er war eine Ein-Mann-Armee. Es war der Glaube an die Unverwundbarkeit, an das Gute seiner Sache. Der Glaube an Gott, die Sünden seines Lebens, die er auszumerzen gedachte. Vom Rückspiegel des Wagens baumelte der Anhänger eines kleinen silbernen Kreuzes. Amane hatte es ihm gegeben, bevor er aufgebrochen war. Damit sie sich nicht wieder aus den Augen verloren. Amane war in guten Händen. Sie war ein gutes Mädchen. Zwei verschollene Geschwister, doch zu zweit waren sie nicht vollkommen. Die Drei, die ewige Zahl, sie würde Bakura die Ruhe wieder geben, nach der er sich so sehr sehnte. Er fuhr zwei Stunden durch die Wüste, nur kahles, verdorrtes Land. Genau hierher würde sich ein Verbrecher zurückziehen, der dem Gesetz entgehen wollte. Der richtige Ort für einen Mann, wie Akefia al-Sayid. Auf al-Sayid stand ein hohes Kopfgeld. Eines der höchsten, die Bakura wohl jemals eingestrichen hatte. Doch da gab es noch eine viel entscheidendere Sache, die ihn dazu verleitete, ein dermaßen hohes Risiko einzugehen. Er hatte herausgefunden, dass al-Sayid mit Ryou in Kontakt gewesen war und das für eine sehr lange Zeit. Und auf eine ganz spezielle Art und Weise. Wenn dieser Mann nicht wusste, wo Ryou war, wusste es keiner. I'd rather be a hammer than a nail. Yes I would. If I only could, I surely would. Das Anwesen wurde bewacht von Männern mit Kopftüchern und Maschinengewehren. Sie richteten ihren Blick auf den Wagen der vorfuhr und den Neuankömmling, welcher ausstieg. Irritierenderweise war der Mann ganz alleine hierhergekommen. Wer war er? Zögernd traten sie einen Schritt auf ihn zu. Das weiße Haar war bezeichnend. Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Irgendwo dudelte aus einem Radio mit schlechter Qualität ‚Ring of fire‘ von Johnny Cash. Bakura blieb ruhig vor den Männern stehen. Einer von ihnen herrschte ihn auf Spanisch an: „Was willst du hier?“ „Ich will mit al-Sayid sprechen“, erwiderte Bakura in perfektem Spanisch und ließ sich dabei von den, auf ihn gerichteten, Gewehrmündungen nicht beeindrucken. Die Männer lachten. „Das wollen viele, Amigo, wer denkst du, dass du bist, dass der Boss Zeit für dich aufbringen könnte?“ Bakura lächelte. Und eine Gänsehaut lief den Männern über den Körper. Im nächsten Moment war einer der beiden tot. Bakura hatte im selben Zug dem anderen das Maschinengewehr aus den Händen getreten und selbiger starrte ihn jetzt entsetzt und mit aufgerissenen Augen an, starrte auf seinen toten Kameraden und auf das Gewehr, dann wieder auf Bakura. „Amigo, du kannst deinem Boss sagen“, flüsterte Bakura, während er ein Taschentuch aus seiner Manteltasche zog um damit die Klinge zu säubern, „Kid will mit ihm sprechen.“ Der Mann erbleichte und stotterte in stark akzentuierten Amerikanisch, „Sir, Verzeihung, Sir, wir, ich… … bitte, wenn wir das gewusst hätten…“ Er brach ab, schüttelte zerstreut den Kopf und bat Bakura in angemessener Arschkriechermanier, ihm zu folgen. Bakura erkannte schnell, wie groß dieses Anwesen war. Und wie viele von Sayids Männern sich hier aufhielten. Blicke folgten ihnen, als sie den Innenhof durchschritten, manche musternd, manche schlicht neugierig auf den Fremdling und manche erkannten Bakura auch und ließen die Hände zu ihren Waffen zucken, doch der Mann, der Bakura führte, warf ihnen einen warnenden Blick zu. The Kid war unantastbar und das wussten sie alle. Schließlich blieb der Mann stehen, wandte sich zu Bakura um und sagte duckmäuserisch, „Sénor, wenn Sie bitte einen Augenblick warten würden?“ Er ging zu einem anderen Mann, der wohl in der Rangfolge etwas höher stand – zumindest sagte Bakura das ein Blick auf die teuren Krokodillederschuhe, die er trug und die Ringe. Im Grunde konnte man davon ausgehen, je teurer die Ringe aussahen, die ein Mafioso trug, desto höher stand er in der Hackordnung. Der Mann warf Bakura während dem Gespräch einen Blick zu, dann verengten sich seine Augen, schließlich wandte er sich mit finsterem Blick ab und ging kurz ins Innere des Anwesens, kam nach ungefähr zehn Minuten wieder. Bakura wartete, geduldig, wie es schien, kein Muskel zuckte und das war es, was dieses Unbehagen in den anderen Männern auslöste. „Sénor“, trat der Mann, der gerade im Haus verschwunden war, wieder an ihn heran mit einem schmierigen Lächeln auf dem Gesicht, „Verzeihen sie José und diesem anderen Vollidioten. Don al-Sayid wird Sie empfangen. Er wartet schon lange auf einen Besuch von Ihnen. Bitte folgen Sie mir.“ Eine Augenbraue Bakuras war bei dem Letzten in die Höhe geschossen, doch er sagte nichts, als er ihm folgte. Er konnte spüren, wie sehr der Mann ihm misstraute. Bakura hatte feine Sinne. Er führte Bakura in das Anwesen hinein, durch eine große Vorhalle. Die Stimme einer Frau drang an sein Ohr, sie sang, doch Die Stimme wurde schwächer, als sie die Vorhalle durchschritten hatten und Bakura, der den Kopf kurz in diese Richtung gedreht hatte, wandte den Blick wieder nach vorne. Sie traten hinaus auf eine Terrasse. „Sénor“, fistelte der Mann, der ihn hier her gebracht hatte, wobei er den Mann ansprach, der auf der weitflächigen hellen Terrasse in einem ausladenden Lehnstuhl saß und ließ die beiden allein. Und da standen sich Akefia al-Sayid und Bakura The Kid gegenüber. „Endlich begegnen wir uns persönlich“, sprach Akefia mit dunkler Stimme. Er rollte das R. Er stand auf, um Bakura die Hand zu reichen, welcher sie ergriff und nicht länger als nötig in der seinen behielt. Akefia machte eine ausladende Geste mit der Hand. „Bitte. Nehmen Sie Platz.“ Bakura ließ sich steif auf einem der Korbstühle gegenüber Akefia nieder, wo er den Eingang zur Terrasse im Blick hatte. „Sie haben einige meiner Leute umgebracht.“ Es war eine schlichte Feststellung. „Natürlich mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Wer sich töten lässt, hat es nicht besser verdient.“ „Wie angenehm, dass wir uns da einig sind“, erwiderte Bakura mit einem kalten Lächeln. Akefia klatschte in die Hände, woraufhin ein Mädchen zu ihnen trat, „Emanuela, Getränke. Kid, was darf es für Sie sein? Wir haben hier einen ausgezeichneten Tequila.“ „Ich trinke nicht.“ Akefia lachte, „Sehr vorbildlich – Emanuela – avanti!“ Das Mädchen ging wieder ins Haus hinein, um die Getränke zu holen. Bakura war nicht entgangen, dass sie ein zugeschwollenes Auge hatte. Akefia wandte sich wieder seinem unerwarteten Gast zu, hob an, etwas zu sagen, hielt dann einen Moment inne. Wieso fiel es ihm erst jetzt auf? An irgendjemanden erinnerte dieser Kid ihn. An jemanden, an den er schon lange nicht mehr gedacht hatte. „Eigenartig“, sinnierte er dann, während er ein Whiskyglas von dem Mädchen annahm, das soeben wieder gekommen war. Bakura stellte sie ein Glas Sprudelwasser mit Zitrone und Eiswürfeln hin, „Mir war beinahe so, als wären wir uns schon einmal begegnet. Was also kann ich für Sie tun?“ „Sie müssen wissen, al-Sayid-“ „-Akefia.“ „Akefia. Dass ich kein Mann vieler Worte bin. Ich bin auf der Suche nach jemandem. Lange schon und seine Spur hat mich zu Ihnen geführt. Was ich Ihnen anzubieten habe, dürfte von Interesse sein. Natürlich nur, wenn ich mit Ihren Informationen etwas anfangen kann.“ Akefia sah Bakura aufmerksam an, während dieser sprach. Wo er ihn so betrachtete, stellte er fest, dass The Kid noch gar nicht so alt zu sein schien, für seinen Ruf irritierend jung. Nicht älter als 26. Was wurde nur aus den Kindern dieser Welt, dachte er innerlich seufzend. „Was wäre es, das Sie mir anbieten?“, fragte Akefia schließlich ruhig, das Glas in seiner Hand leicht schwenkend, sodass die Eiswürfel gegeneinander klirrten. „Ich werde Sie drei Jahre lang in Ruhe lassen. Ich werde keinen von Ihren Leuten aufgreifen oder ausliefern, ich werde keine Nachforschungen stellen und Sie nicht jagen. Das ist eine Menge Zeit.“ Akefia sagte nichts. Es klang verlockend. The Kid war tatsächlich dabei gewesen, zur Bedrohung zu werden. Doch es war nicht Akefias Stil, solche Männer einfach so auszuschalten. Männer wie Kid gab es nicht viele. Es wäre schade um ihn. „Hhm, es klingt verlockend. Doch wer ist es nun, den Sie suchen?“ Zu seiner Verwunderung lächelte Bakura nun und für den winzigen Bruchteil einer Sekunde verschwand der verbissene, dunkle Zug vollständig aus seinem Gesicht und er hatte nun keinen Zweifel mehr. „Sein Name ist Ryou. Nach meinen Informationen war er, als Sie sich damals in New York aufhielten, so etwas, wie Ihr-“, Bakura verzog leicht angewidert das Gesicht, „Betthäschen. Ich gehe mal davon aus, dass sie nachdem sie mein Gesicht vorhin so eingehend studiert haben, bereits erkannt haben, dass er mein Bruder ist. Ich möchte wissen, was aus ihm geworden ist.“ Akefia nickte nachdenklich. „Dieser Deal scheint mir fair zu sein. Allerdings will ich ehrlich zu Ihnen sein.“ Der Mafiaboss beugte sich nach vorne, „Es hat eine Razzia gegeben damals. Ryou wurde soweit ich weiß, von einem Polizisten mitgenommen, wir haben uns aus den Augen verloren. Ärgerlicherweise muss ich zugeben, dass der Kleine mir in gewisser Weise ans Herz gewachsen war, ein lächerliche Vernarrtheit, wenn Sie es so sehen wollen.“ Akefia verzog kurz spöttisch das Gesicht, Bakuras Miene jedoch blieb ausdruckslos. „Ich habe ein paar Männer geschickt, um Nachforschungen anzustellen, allerdings kam Ryou wohl niemals auf der Polizeiwache an. Schlaues Kerlchen, hat sich vermutlich davon gemacht. Danach sind die Spuren jedoch verwischt. Wie es der Zufall jedoch wollte, berichtete mir einer meiner Leute von einem Trucker, der hin- und wieder gewisse … Auslieferungen für uns macht … Dieser Mann hat wohl eines Tages einen Jungen, der ziemlich genau auf die Beschreibung Ihres Jungen zutrifft, mitgenommen. Prahlte damit rum, er habe sich den Schwanz von dem Bürschchen lutschen lassen. Und wie gut er gewesen war, da wusste ich, dass er es gewesen sein muss.“ Ein dreckiges Grinsen schlich sich auf Akefias Gesicht. Im nächsten Moment war Bakura über den halben Tisch gesprungen und hatte Akefia grob am Kragen hochgerissen: „Du gottverdammter Bastard, noch ein solches Wort, das meinen Bruder in den Dreck zieht und ich schneide dir deinen dreckigen Schwanz ab!“ Die Männer, die sich in der Nähe aufgehalten hatten, waren näher getreten, doch Akefia bedeutete ihnen, sich fern zu halten. Er blieb erstaunlich ruhig dafür, dass ihm gerade jemand an die Kehle ging. Er sah Bakura direkt in die Augen. Dann packte er dessen Handgelenke und zog sie von sich fort – sie ließen sich erstaunlich einfach wegzupfen. „Wie dem auch sei“, nahm er den Faden wieder auf. „Der Mann wollte nach New Mexico, hat ihn da an einer Autobahnraststätte rausgeschmissen. Mehr weiß ich nicht.“ Bakura dachte kurz nach. „Aber er lebt?“, hakte er dann nach, Akefia nickte. „Kid“, sagte Akefia, als sie sich die Hände reichten, um ihren Deal zu besiegeln. Bakura sah auf. „Überlegen Sie sich, ob Sie nach dem Ablauf dieser drei Jahre nicht für mich arbeiten wollen. Ich kann Ihnen einen Verdienst bieten, der das, was sie jetzt wohl einbringen, um ein Weites in den Schatten stellt.“ Dann grinste er charmant, „Einen Mann wie Sie habe ich lieber auf meiner Seite, als zum Feind.“ Bakura lächelte, „Nichtmal, wenn die Hölle zufriert, Sénor.“ Der Mafiaboss lächelte nur, „Das habe ich mir bereits gedacht. Falls Sie es sich anders überlegen wissen Sie, wo Sie mich finden. Und übrigens, ein gut gemeinter Tipp!“, rief er ihm hinterher, als Bakura schon dabei war, zu gehen. Er hielt einen Moment inne. „Nehmen Sie sich vor Sundance in Acht. Er soll sich momentan da in der Gegend rumtreiben.“ Bakuras Augen verengten sich. Sudance Death. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen. Vielleicht konnte er dann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Dieser Verbrecher wandelte schon viel zu lange auf Erden. I'd rather be a forest than a street. Yes I would. If I could, I surely would. Bakura ging zu seinem Wagen zurück. Runzelte die Stirn. Eine dunkelhaarige Frau lehnte daran und sah ihm entgegen. Eine verdammt schöne Frau. „Baby, das ist meiner“, raunte er, als er bei seinem Wagen war. Sie beachtete seinen anzüglichen Blick nicht, sondern sah ihm fest entgegen. „Ich wusste, dass Sie kommen würden, Bakura“, sagte sie mit sanfter Stimme und er war einen Moment irritiert, dass sie seinen Namen kannte. „Ich habe von Ihnen geträumt.“ ~*~ Als Malik an diesem Abend nachhause kam, der alles in seinem Leben verändern sollte, bemerkte er Ryous Verschwinden noch nicht. Denn just in diesem Moment wurde er angerufen, noch ehe er seine Kleidung abgelegt hatte. Die aufgeregte Stimme eines Aushilfs-Deputys, erklang an seinem Ohr, welcher ihm irgendwelche zusammenhanglosen Dinge vorfaselte, sodass Malik sich genötigt sah, den Mann zu unterbrechen. „Schnauze jetzt!“, herrschte er ihn an und setzte dann ruhiger nach, „Was genau ist passiert?“ „Die haben eine Mädchenleiche gefunden…“ Malik verengte die Augen und machte sich sofort auf den Weg zum Tatort. Als er in Windeseile aus der Wohnung stürzte, fegte der Luftzug Ryous Nachricht von der Kommode. Er hatte sie erwürgt. Anzus Augen waren aufgerissen, die Zunge aus ihrer Kehle gequollen. Eine stumme Frage lag darauf. Ein stummer Schrei des Schmerzes. Malik erstarrte einen Moment. Anzu. Sie … er stellte seine Gedanken ab. Und arbeitete. Vorbildlich sogar, forderte die Spurensicherung an, denn das fiel nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich. Gab Anweisungen. Doch er wusste auch ohne Spurensicherung, was hier geschehen war. Er wusste, wer es getan hatte. Malik war bar jeder Emotion, als er wenig später Mais Bar betrat. Als sie ihn sah, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie fragte ihn danach, doch Malik antwortete nicht, sondern bestellte nur einen starken Whisky, den er zur Hälfte trank. Er wirkte erstaunlich ruhig. Er bekam Anzus Anblick einfach nicht aus dem Kopf. Er hätte sie retten können. Er hatte doch gewusst, was für ein Schwein Zeus war. Es gab keinen Zweifel, dass er es gewesen war. Er hatte noch sogar seinen Gestank am Tatort wahrnehmen können, seinen Gestank an ihr, als er sich noch nach ihrem Tod an ihr vergangen hatte. „Malik!“, sagte Mai plötzlich laut und schnipste vor seinem Gesicht herum. „Herrgottnochmal, was ist denn los mit dir, deine Miene macht mir Angst!“ Er hob den Blick. Er konnte es ihr nicht sagen. „Ich habe noch etwas zu erledigen…“, murmelte er dann. Und schließlich. „Zeus hat Anzu umgebracht.“ Er verließ den Saloon, sah nicht mehr, wie Mai die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug im Unglauben. Malik fuhr nachhause. Dann zog er sich um. Er hatte gerade beschlossen, dass er einen Menschen töten würde. Sonst würde er sich ewig schuldig fühlen. Denn er hatte die Gewissheit. Die plötzliche Gewissheit, dass Zeus auch für Ryujis Tod damals verantwortlich war. Seine Leiche war nie gefunden worden. Aber irgendwie hatten sie es alle gewusst. Und er hatte es ein zweites Mal zugelassen. Ein zweites Mal, das war unentschuldbar. Als Malik die Waffe aus seinem Waffenschrank nahm, bemerkte er, dass eine fehlte. Aber es war ihm egal. Er wartete, bis die Sonne begann, unterzugehen. Sein Wagen war nicht da. Vielleicht hatte Ryou ihn sich ausgeborgt, das machte er öfter mal. Er ging zu Fuß. Er beeilte sich nicht. Er hatte Zeit. Bitterkeit wuchs in seinem Herzen. Bitterkeit über all das Schlechte in der Welt. Bitterkeit darüber, dass er es schon wieder nicht hatte verhindern können. I'd rather feel the earth beneath my feet, Yes I would. If I only could, I surely would. Er fand Zeus Byrnes auf dem Schrottplatz. Der Mann war betrunken und machte unsichere Schießübungen auf verrostete Blechdosen. Er bemerkte Malik nicht, welcher langsam an ihn heran trat. Er hielt Zeus die Mündung seiner Waffe in den Rücken. Zeus hielt inne. „Scheiße“, dann ließ er seine eigene Waffe fallen. „Mann, ich wollte das nicht…“, krächzte der Mann heiser, denn er wusste, warum Malik gekommen war und dass er es war. Doch Malik war seine falsche Reue egal. Zeus wusste, warum er gekommen war. „Wir ha’m gestritten, Mann. Das war ‘n Unfall. Sie is‘ mein Mädchen, ich wollt sie doch nich‘ kill’n!“ Zeus Stimme zitterte. „Ich konnt‘ sie doch nich‘ geh’n lassen.“ Maliks Stimme war leise und drohend, als er sprach: „Es ist mir egal, warum du es getan hast. Ein Schwein bleibt immer ein Schwein, das hätte ich damals schon wissen sollen. Warum Otogi?“ „W…“ „Sag nicht, du erinnerst dich nicht an ihn. Zierlich, schwarze Haare. Ein Schlitzi, wie du und deine minderbemittelten Freunde es immer gerne ausgedrückt habt.“ „Das war ein…“ „… Unfall, ich weiß.“ Zeus schwieg. Malik spürte, wie er zitterte. Er verspürte keine Skrupel. Dann entsicherte er die Waffe. „Wo habt ihr ihn vergraben?“ Zeus antwortete nicht. Malik drückte ihm die Waffe stärker in den Rücken. „Du weißt es nicht mehr, hm? Wahrscheinlich wart ihr wieder auf einem eurer Trips, hm?“ Der Mann begann zu schluchzen. Malik hatte immer gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe er einknickte. Dass hinter diesem großspurigen Machogehabe in Wahrheit ein elender Feigling stand. „Du weißt, dass du verdient hast, was ich gleich mit dir mache.“ „Bitte, Mann, bring mich nicht um. Ich wird alles gestehen, alles, ich schwörs dir, ich hab das Recht auf ‘n Richter, ich…“ „Einen SCHEIßDRECK HAST DU!!!“, brüllte Malik und trat Zeus so plötzlich in den Rücken, dass dieser vorneüberkippte und schmerzhaft in mitten eines Haufens verrostetem Alteisen landete. Er kroch von Malik weg, leicht benommen und wandte sich um – sah sich zu seiner eigenen Waffe um, doch die hatte Malik soeben an sich genommen. „Dein Recht auf eine Verhandlung hast du in dem Moment verwirkt, als du angefangen hast, zuzudrücken“, sagte Malik ruhig. „Wer bist du, dass du Gott spielst, du Penner?“ „Und wer bist du, dass du es tust?“ Die Worte waren erstaunlich ruhig gekommen im Vergleich dazu, dass der Mann wenige Sekunden zuvor noch um sein Leben gewimmert hatte und Zeus sah ihn nun mit seinen silbergrauen stechenden Augen an. Ihre Blicke trafen sich. Malik sagte nichts. Die Finger seiner linken Hand gruben sich in die Handflächen. Er nahm die linke Hand hoch, um die rechte mit der Waffe zu fixieren. Nur ein Schuss. Ein Schuss, nicht mehr. „Ich bin das Gesetz hier, du Penner“, knurrte er. Dann drückte er ab. Der Schuss ging direkt durch die Stirn. Der Knall ließ vereinzelt Krähen auffliegen, die sich hier auf dem Schrottplatz hin und wieder tummelten. Dann war es sehr still. Malik seufzte, dann setzte er sich auf einen herausgerissenen Autositz und starrte vor sich her. Was war das nur für eine Welt? Warum konnten die bösen Jungs immer so lange böse sein, ehe ihnen jemand das Handwerk legte? Und warum starben fromme Menschen so früh, warum mussten fürsorgliche Menschen mehr leiden als alle anderen. Während es Menschen wie Zeus einfach gab. Malik hatte immer nach dem Gesetz gehandelt. Er hatte selbst nie etwas Unrechtes getan, bis zum heutigen Tag. Und doch fühlte es sich nicht wie Unrecht an. Es fühlte sich gut an. Befriedigend. Malik beugte sich zu Zeus herunter und holte dessen Drehtabak aus seiner Brusttasche. Er zog eine der bereits vorgedrehten Zigaretten aus der Packung und zündete sie mit einem der Streichhölzer an, die ebenfalls in der Packung gewesen waren. Es war seine erste Zigarette nach vielen Jahren. Und er genoss sie, denn sie schmeckte nach Genugtuung und erfüllter Rache. Away, I'd rather sail away Like a swan that's here and gone A man get tied up to the ground He gives the earth It's saddest sound ~*~ Das Auto war ihm schon zweimal stehen geblieben. Beim dritten Mal gab er es auf. Er wartete, bis die Nacht kam und dann schlief er im Auto mit hochgeklappten Verdeck. Es war verdammt kalt Doch die Sterne … Die Sterne waren wunderschön. Ryou lag still auf dem Rücksitz des Wagens und rauchte eine Zigarette und sah dabei hoch in diesen unendlich weiten Sternenhimmel. Man sagte, die Sterne seien über der Wüste am schönsten. Die Nacht fühlte sich klar an. „Schmerzbringerin… Ich sehe schon, meine Stelle unter den Nächten“, murmelte Ryou. Er fühlte wie eine ungeheure Sehnsucht ihn durchströmte, er nahm ihn auf in sich, den Geist der Nacht und der Ferne. Das erste Mal seit sehr langer Zeit dachte er an die Vergangenheit, die er immer verdrängt hatte. Den Bruder, den er verloren, die Mutter die er zurückgelassen hatte. Und seine Schwester… wie hatte sie ausgesehen? Er erinnerte sich nicht mehr. Wie konnte ein Mensch so viel Schmerz empfinden? Warum empfinden wir überhaupt Schmerz, dachte er. Nur, weil wir Menschen sind? Und dabei ist das Leben so kurz. Bakura hatte ihn früher immer beschützt. Wie er jetzt wohl aussah? Auch sein Gesicht verblasste, aber wenn er an ihn dachte, war da immer ein Gefühl von Geborgenheit. An dieses Gefühl erinnerte er sich, aber nicht an das Gesicht. Ob sie sich erkennen würden, wenn sie heute voreinander standen? Ryou war nicht mehr der, der er mal war. Er war nicht mehr naiv, er glaubte nicht mehr an all das Gute in der Welt. Sein Körper war stark in Mitleidenschaft gezogen. Er war dürr und doch zäh. Gleichsam zerbrechlich. Sehnsuchtsvoll wie mutlos. Ryou blies Rauch aus, welcher durch die Kälte der Nacht sichtbar wurde. „Wenn das meine Seele wäre…“, sagte er und war überwältigt von der philosophischen Erkenntnis. Wir sind alle sterblich. Schrecklich sterblich. Und wenn ich morgen sterbe? Was bleibt dann zurück von mir? Nichts, nur ein leerer Körper, eine Hülle aus Fleisch, Knochen und Gedärmen in denen sich bald die weißen Maden tummeln. Er schauerte. Das, was er empfunden hatte, als er bei Mariku gewesen war. Das war so unglaublich gewesen, so intensiv, er hatte sich so lebendig gefühlt. Der Schlaf übermannte ihn und er wachte auf, als die Sonne ihre ersten Strahlen schickte. Sundance … Ryou lächelte. Und in ihm war Gewissheit. It's saddest sound. Kapitel 7: dance, litttle devil ------------------------------- Mai hatte Joey nachhause geschickt und den Saloon geschlossen für den heutigen Abend. Sie konnte es nicht. Nicht, nachdem, was sie kurz zuvor erfahren hatte. Bereits seit einer halben Stunde wischte sie die Theke, inzwischen konnte man sich darin spiegeln. Der Blick der Frau ging ins Leere. Sie hatte Anzu immer wieder ermahnt, sich von Zeus zu trennen. Doch was hatte sie wirklich getan? Was hatte sie getan, als das Mädchen mit einem zugeschwollenen Auge zu spät zur Arbeit kam? Die Stirn gerunzelt, voller Unverständnis darüber, wie ein Mensch zu schwach sein konnte und vor Ärger darüber, dass sie deshalb zu spät zur Arbeit kam. Nun war sie tot. Wenn sie sie weggeholt hätte, wenn sie sich einen Moment Zeit genommen hätte … Mai schluckte die Tränen herunter und wischte noch energischer an jener Stelle der Theke herum. 24, das war doch kein Alter. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm – jemand klopfte an die geschlossenen Saloontüren. Stirnrunzelnd, denn sie hatte das ‚geschlossen‘ Schild ganz sicher hingehängt, griff sie unter die Theke, um einen Colt hervorzuholen, dann trat sie an die Tür heran und spähte hinaus. „Wer ist da?“, fragte sie energisch. „Ich bin‘s, Malik.“ Sie trat zur Seite und öffnete, er trat ein, sie verschloss die Tür wieder hinter sich. Malik wirkte abgekämpft und er war schmutzig. Und er stank nach Rost. Und irgendwie auch nach Blut. Aber irgendwie war das auch ein ziemlich ähnlicher Geruch. Mai bekam eine Gänsehaut, als sie Malik in die Augen sah. Er wirkte verletzlich und gebrochen und ziemlich müde auch. Doch da war noch etwas anderes in seinen Augen. Etwas Wildes. „Krieg ich was zu Trinken?“ Ein wortloses Nicken als Antwort. Mai ging hinter die Theke, er nahm davor Platz. Sie gab ihm den besten Whisky, den sie hatte, die ersten beiden Gläser kippte er wortlos hinunter. Nur das Licht über der Theke brannte. Ansonsten war es dunkel. Dunkel und still. Sie goss zwei weitere Gläser voll, dann kam sie um die Theke herum, um sich auf den Barhocker neben dem Seinen zu setzen. „Ich habe ihn umgebracht.“ Und Mai wusste, wen er meinte, ohne, dass er es sagte. „Ich hab ihn auf dem Schrottplatz verscharrt.“ Mai legte eine Hand auf seinen Arm. Malik unterdrückte ein Schluchzen, dann schlug er abrupt ihre Hand weg, sprang auf und fasste sie bei den Schultern. „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?“ Ein verzerrter Blick suchte den ihren. Und doch war sie ruhig. Weil er das jetzt brauchte. Sie zog ihn an ihre Brust und da weinte er wie ein Kind und sie ließ ihn, strich ihm durchs Haar. Und Malik spürte die Mütterlichkeit, die Weichheit einer Frau, die tröstenden Arme, drückte das Gesicht zwischen ihre üppigen, weichen Brüste. Irgendwann zog sie ihn zu sich hoch und küsste ihn und er küsste sie wider, ihr Oberteil war schnell verschwunden und Malik saugte sich an den rosigen Brustwarzen fest, bis sie steif waren und adrett standen, packte mit den Händen zu und hinterließ Schmutz auf dem schönen Frauenkörper. Er glitt hinab, ging auf die Knie, der Minirock rutschte hoch, als sie die Beine spreizte, ihm den warmen, süßen Geschmack einer Frau zu geben, stützte sich mit den Ellenbogen auf der Theke ab, während er sie leckte, tief und hungrig. Mai legte stöhnend den Kopf in den Nacken, sodass ihr goldblondes, lockiges Haar über die Schultern nach hinten floss und sich adrett und wie hingegossen auf der Theke ausbreitete. Sie genoss sein Tun und spürte seinen inneren Drang und schließlich erlöste sie ihn, indem sie ihn wieder in die Höhe zog. Das Gesicht leicht gerötet, küsste sie ihn, schmeckte ihren eigenen Geschmack, dann rutschte sie von dem Barhocker hinunter und warf ihm einen lockenden Blick zu, während sie hinter die Theke ging. Er folgte ihr, die Gier in den Augen und als er hinter sie kam, schlug er ihr auf den Arsch, was sie erregt aufkeuchen ließ. Malik öffnete lediglich die Hose und schob ihr das Höschen zur Seite, um wenig später in ihre glitschige, heiße Enge vorzustoßen, wobei ihm ein unterdrücktes Stöhnen von den Lippen rollte. Dann begann er, sie zu ficken. Er fickte sie hart und schnell von hinten. Und ohne Liebe. Riss dabei in ihrem blonden langen Engelshaar, hörte ihr Stöhnen und ließ sich schließlich selbst gehen, denn er brauchte das, die Kontrolle, die Genugtuung, das Wissen, dass ihm nichts aus den Händen glitt und das er die Kontrolle nicht verlor. Er hatte Zeus umgebracht, weil er es wollte, nicht weil er die Beherrschung verloren hatte – Malik rann der Schweiß von der Stirn, in seinen Lenden zog es. Es dauerte nicht sehr lange. Doch es war intensiv. Mit einem kehligen lauten Schrei, schoss sein Samen in sie hinein, der Beweis seiner Männlichkeit und ihr Orgasmus, laut-hemmungslos schreiend, sie kam zweimal hintereinander, der Beweis seiner Stärke. Malik sog den Duft ihres Haares ein, einen kurzen Augenblick. Dann zog er sein erschlaffendes Glied aus ihr zurück und schloss nachlässig die Hose. Mai blieb einen Moment keuchend auf die Theke gestützt, ehe sie sich aufrichtete und die Kleider richtete. Mit einem Geschirrtuch wischte sie das auslaufende Sperma fort, griff schließlich nach einer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. „Wie hast du es getan?“, wollte sie wissen. Als Malik aufsah, bemerkte er die Genugtuung in ihren Augen. Irgendwie fühlte er sich jetzt viel besser. Ja, beinahe gut, beinahe so … als hätte er überhaupt nichts Unrechtes getan. Er erzählte es ihr. Byrnes war verborgen unter all dem Schrott, so tief und so sicher, dass keiner ihn jemals wieder finden konnte. Und selbst wenn, so würde man nur eine Kugel finden, aus Zeus Byrnes eigener Waffe abgegeben. Lying on the road waiting to be crushed that is how you used to hunger for my touch Ryous Blick ruhte auf Marikus erschöpften Zügen. Er schlief, doch das Fieber war zurückgegangen. Er selbst war müde. Sehr müde, so viel war passiert, seit er Labours Lost verlassen hatte. Dabei war das nur fünf Tage her. Beinahe hätte er nicht hierher gefunden. Die Sonne schien von draußen herein und zeichnete ein sanftes Muster auf den Holzdielenboden. Er hatte es geschafft, die Kugel aus Marikus Oberkörper herauszubekommen und diese lag nun auf der hölzernen Kommode neben dem Bett. Was war das nur für eine Stadt?, fragte er sich. Seit er hier war, hatte er keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen. Es war alles, wie ausgestorben. Er fühlte sich unwohl hier. Aber Mariku war hier. Das war die Hauptsache. „Ich sterb schon nicht, also zieh nicht so ein Gesicht, Kleiner“, drang plötzlich eine leise Stimme an sein Gehör. Ryou sah auf und lächelte. „Du bist wach, das ist schön. Was machen die Schmerzen?“ „Ich hab keine Schmerzen“, versicherte Mariku, was natürlich gelogen war, und richtete sich langsam auf. Ryou bemerkte, wie er die Augen kurz schmerzhaft verengte, doch in einer Sekunde war es vorbei. Mariku betastete vorsichtig die Verletzung. „Wer hat auf dich geschossen?“ „Das geht dich nichts an“, knurrte Mariku, „Sag mir lieber, wie zum Teufel du hierhergekommen bist. Dieser Ort wurde von jeder Landkarte gestrichen.“ „Ich weiß es nicht. Ich bin einfach losgefahren, weil ich dich finden wollte. Und dann habe ich dich gefunden. Jetzt bin ich hier.“ „Dummer Junge.“ Mariku griff nach dem Whisky, den Ryou wohl zum Desinfizieren genommen hatte (nicht hochprozentig genug, aber etwas anderes hatte er nicht gefunden) und nahm einen tiefen Schluck. Ryou ließ den Blick auf ihm ruhen – auf dem muskulösen Oberkörper verteilt, befanden sich weitere Narben von Schuss- und Stichverletzungen. „Was erhoffst du dir davon?“ Ryou prallte zurück aufgrund der Härte. Was hatte er erwartet? Dank für die Hilfe? Eine zärtliche Geste, irgendein Wort. Er zuckte mit den Schultern. „Das zu finden, was es in Labours Lost ohne dich nicht mehr gibt.“ Ein abfälliges Brummen. „Geh wieder heim, bevor es zu spät ist.“ „Liegt es an dieser Stadt?“ „Was?“ „Hier lebt niemand. Warum also bist du hierhergekommen?“ Mariku streckte langsam die Hand aus und drückte, die Augen kalt, Ryous Wangen zusammen, hielt ihn eisern, sodass er ihn ansehen musste. „Weil ich ein verrückter Massenmörder bin.“ Ein hämisches Grinsen, das bald erlosch, weil Mariku merkte, dass etwas in Ryous Augen fehlte. Die Angst. Er sah keine Angst in diesen Augen, dafür etwas Anderes. Plötzlich zuckte er zurück und Ryou sah ihn nichtmal mehr ausholen, doch die Wucht des Schlages riss ihn von den Füßen. Ryou prellte sich den Ellenbogen auf den harten Holzdielen, keuchte vor Schmerz, weil er sich die Hüfte geprellt hatte und blieb seitlich liegen, hatte Angst, dass Mariku ihn nochmals zu Boden stieß, wenn er aufstand, dass ihn das reizte. Mariku hatte kurz das Gesicht verzogen, da ihm die Brust noch schmerzte, hatte sich jedoch schnell gefangen und ging nun neben Ryou in die Hocke. Er sah ihn an, Hunger befiel ihn. Derselbe Hunger, den er schon einmal verspürt hatte, damals vor einer gefühlten Ewigkeit, als er ihn das erste Mal genommen hatte und als er so da lag, so zerbrechlich und doch mit diesem hingebungsvollen unterwürfigen Blick, in welchem ein Hauch von Feuer mitschwang, spürte er ein Zucken durch seine Lenden gehen. Mit einem Ruck erhob sich Mariku. Nicht wieder. Er würde nicht wieder darauf herein fallen. Diese Engelsaugen, dieser Körper, er hatte sich lange genug deshalb das Hirn zermartert, wenn er ihn jetzt fickte, was er zu gerne getan hätte, dann würde er fallen, dann würde er das spüren, was er vor Ryou nicht mehr geglaubt hatte, zu haben. „Du solltest Angst haben.“ „Ich hab auch Angst.“ „Dann renn mir nicht hinterher. Steig in dein Auto, fahr nachhause und geh zurück in deinen kleinen süßen Saloon, zu deinen kleinen süßen Freunden.“ „Ich hab keine Angst vor dir.“ Ryou stand nun doch langsam auf und sah Mariku direkt an. Dann zog er sich aus. Ganz langsam. „Ich habe Angst vor einem Leben ohne dich.“ Ryou stand nackt vor ihm und Mariku starrte ihn an, diesen schlanken, schönen Jungenkörper, diese Augen, die viel zu tief waren. Seine Kehle wurde trocken und er verspürte Wut in sich. Eine leise, unterschwellige Wut. Er hasste Menschen. Er hasste es, wenn sie ihm zu nahe kamen. Und Ryou war näher, als je einer zuvor. „Ha … hahaha…“ Ein Lachen wand sich Marikus Kehle hoch und er presste kurz die Hand vors Gesicht. „Ryou … Ryou … weißt du eigentlich, was du da redest? Hast du mir vorhin nicht zugehört? Ich bin ein Mörder, hörst du? Ein Mörder!“ Er kam näher auf Ryou zu, Ryou wandte den Blick nicht ab und Mariku packte ihn plötzlich an der Kehle. „Ich hab diese ganze verdammte Stadt ermordet.“ Die Worte waren als leises Knurren gekommen, abrupt schubste er Ryou, sodass dieser mit der Hüfte gegen eine Kommode knallte und mit einem schmerzerfüllten Keuchen zusammensackte. Mariku kam ihm nach. „Macht DAS dir keine Angst?“ Ein Dämon funkelte auf ihn herab. Und Ryou konnte etwas Gehetztes in seinem Blick ausmachen. Etwas ansatzweise Panisches. War es so unfassbar? So unvorstellbar? Ryou atmete flach und kurz darauf beugte Mariku sich herab, um ihn an den Schultern zu packen und hoch zu ziehen, beinahe hätte Ryou wieder den Halt verloren. „Ich glaube, dass nicht ich derjenige bin, der Angst hat“, sagte er dann ruhig und nun war Mariku es, der erschauerte, als die tiefbraunen Augen ihn mit so entschlossenem, festen Blick ansahen und die Finger bohrten sich schmerzhaft in die dürren Arme. „Was du da redest“, spie Mariku aus, „was redest du nur da, du solltest doch langsam mal geschnallt haben, wer ich bin!“ Eine Hand löste sich von Ryous Schulter, im nächsten Moment bohrten sich scharfkantige Nägel in die zarte Wange. „Und hör auf, mich so anzusehen!“ Mit einem Ruck wandte er sich von Ryou ab, weil er plötzlich die Stärke nicht ertragen, die dieser ausstrahlte. Das war nicht richtig. Das war doch nicht richtig, Ryou war stark und er war schwach? Nein! Er war nicht schwach. Plötzlich schrie Mariku auf, auf Aufschrei, der tief aus seiner Seele kam und mit zwei kurzen Sätzen war er bei Ryou, um ihm die Faust ins Gesicht krachen zu lassen. Ein Schlag von ungeahnter Stärke, den Jungen riss es von den Füßen. „Ich bin nicht schwach!!!“ Er trat nach, mit aller Kraft, Ryou sah einen Augenblick Sterne, als sich die Luft aus seinen Lungen presste, doch er wehrte sich nicht, auch nicht als Mariku abermals nachtrat, sodass Ryou, welcher soeben langsam versucht hatte, sich wieder aufzurichten, stürzte, wenige Meter über den Boden rollte und dann auf den Rücken liegen blieb. Mariku kam sofort über ihn, setzte sich auf seinen Brustkorb, sodass das Gewicht seine Atmung auf ein Minimum reduzierte und dann legte er die Hände um Ryous Hals. Marikus Augen waren weit aufgerissen, die Nasenflügel bebten, so aufgebracht atmete er ein- und aus. „Ich habe keine Angst! Ich habe keine Angst, ich habe keine verdammte ANGST!!!“ Er riss ihn am Hals hoch, Ryous Sicht verschwamm, als er ihn mit dem Hinterkopf auf den Holzboden knallen ließ, legte schließlich mit einem gequälten Keuchen die Hände um Marikus Handgelenke. Doch nicht in dem Bestreben, ihn von sich wegzureißen, nein. Die Berührung war eine zärtliche, beschwichtigende und Mariku dröhnte plötzlich der Schädel, seine Haut fühlte sich, als wäre sie mit heiligem Wasser in Berührung gekommen, wie nur – wie konnte er ihn nur so berühren, nachdem, was er ihm antat? Die Hände glitten erschlafft von Ryous Hals, der Blick wurde ausdruckslos, während er keuchend auf den Knien über Ryou verweilte. Alles stürzte auf ihn herein, die Geister der Stadt, der Abgrund, die Sünde, die er sich aufgeladen hatte, die Höllendämonen, sie waren hier, sie drohten, ihn ins Feuer zu reißen, ins schwelende stinkende Höllenfeuer, der Reverend hatte Recht gehabt, er hatte Recht, er … Ryou streckte die geschundenen Arme aus, um Mariku zu sich zu ziehen. Dieser ließ es willenlos geschehen, kraftlos. Ließ es zu, mehr noch, es drängte ihn plötzlich zu ihm hin, so übermächtig, dass er die Arme um den Bauch des Jungen schlang, das Gesicht darin vergrub und die Tränen, die er weinte kamen heiß und wie Säure über seine Wangen gekrochen. Er spürte die Hand in seinen Haaren, in seinem Nacken, beruhigend und wusste, er war gefallen. Er war für Ryou gefallen, Ryou … Ryou musste eine Seele aus Eisen haben. Wie sonst … zerbrach er nicht? Wie sonst mochte es sein, dass Mariku ihn nicht in die Flucht schlug. Dass er keinen Dämon in ihm sah, sondern das, was er irgendwann vor längst vergangener Zeit einmal gewesen war. Ein Mensch. Ryou lehnte erschöpft den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen, während die Hände beruhigend durch Marikus Haar glitten. Ihm drehte sich alles und das Atmen tat weh. Eine Rippe war wohl angeknackst. Aber das machte nichts. Mariku starrte mit glasigem Blick ins Leere. Die Mittagshitze kroch durch die Ritzen des Hauses. Drei Stunden verharrten sie so. Sprachen kein Wort. Waren zusammen hier im Niemandsland. Dann erhob Mariku sich. Wortlos. Zog Ryou hoch, zog ihn zurück zum Bett und schubste ihn darauf. Entledigte sich der Hose, die er noch getragen hatte. Seine Schulter schmerzte, doch das war ihm egal. Er wollte Ryou. So sehr. Kam über den schönen Körper und senkte sich herab, um ihn zu küssen. Und es war nicht nur ein einfacher, lüsterner Kuss. Es war ein Kuss, wie leidenschaftlich, sehnsüchtig, verlangend, verschlingend und gleichsam zärtlich ihn Ryou noch nie erhalten hatte. Und er fiel in angenehme Bodenlosigkeit. Stöhnend und schwitzend in der drögen Hitze des Spätnachmittags versunken. Draußen flirrte die Luft, drinnen stand sie. Und Mariku … Mariku fickte Ryou mit zerstörerischer Leidenschaft. Und jetzt, wusste er, waren sie beide gefallen. Grasping to my flesh like hanging from a rope that is how we used to give each other hope Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)