Einsteins Goldfisch oder: Vom Kamel, das durch ein Nadelöhr ging von Ixtli ================================================================================ Mit mäßiger Geschwindigkeit oder: Eigentlich ist er ganz umgänglich ------------------------------------------------------------------- "Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, dass Sie so schnell hier anfangen können." Die Worte, denen man unmissverständlich anhören konnte, dass die Erleichterung dahinter echt war, wurden von einer ebenso eindeutigen Geste begleitet. "So mitten im Jahr und in der Woche ist es nicht unbedingt üblich, sofort Ersatz zu finden." Amüsiert registrierte Julius die schmale Hand mit den bunten – wahrscheinlich selbst kreierten – Ringen, die sich zur Unterstreichung des Gesagten auf seinen Arm gelegt hatte. "Ich freue mich nicht weniger, hier arbeiten zu dürfen." Julius hoffte, nicht unabsichtlich allzu übertrieben zu klingen. Er war froh, diese Stelle bekommen zu haben. Der Lohn war dabei zuerst einmal nebensächlich gewesen, als er wie jeden Tag seine Mailbox abgehört und darauf die Nachricht gefunden hatte, die für ihn ein vorläufiges Ende seines momentanen In- und Gehaltlosen Daseins bedeutete. Er musste sich allerdings auch eingestehen, sich schon ein klein wenig geschämt zu haben, als er noch in der selben Minute zurückgerufen und die Stelle angenommen hatte. Doch die unverhohlene Freude der kleinen quirligen Frau, die ihn in Empfang genommen und sich als Leiterin der Wohngruppe entpuppt hatte, ließ den Moment, in dem seine Selbstzweifel wieder Überhand nehmen wollten, sich in Nichts auflösen. "Wissen Sie, Robert ist ein alter Studienkollege von mir, und er hat Sie mir sofort empfohlen", redete sie munter drauflos und führte Julius dabei durch den hellen, mit selbstgemalten Bildern und Fotos der Bewohner des Hauses dekorierten Flur. "Ich werde ewig in seiner Schuld stehen", fügte sie hinzu. Ihre Augen hinter der randlosen Brille weiteten sich etwas. Noch so ein Zeichen, dass es ihr ernst war, vermutete Julius. "War es denn ein plötzlicher Notfall?", hakte er vorsichtig nach. "Und ob!" Ihre Hand, die nicht auf Julius' Arm lag, machte eine energische Wischbewegung durch die Luft. "Normalerweise sind wir hier zu dritt, aber meine Kollegin ist in den kommenden zwei Wochen unabkömmlich, und der, für den Sie einspringen, musste kurzfristig – weg." Julius entging das kurze Stirnrunzeln der Frau nicht, auch wenn es so schnell wieder verschwunden war, wie es aufgetaucht war. Er beschloss, das offensichtlich heikle Thema vorerst ruhen zu lassen. "Und nächstes Wochenende habe ich selbst einen unaufschiebbaren Termin, was ja kein Problem wäre, wenn dieser – dieser Vorfall nicht dazwischen gekommen wäre... Aber", sie musste kurz Luft holen, "kommen wir zu etwas anderem." Sie blieb kurz stehen und betrachtete sich Julius, der, warum auch immer, ungewollt den Vergleich mit seinem Vorgänger fürchtete. "Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns duzen?" Die Frage überraschte Julius, der eigentlich eher mit einem eindringlichen Ratschlag oder einer Warnung in Bezug auf die Arbeit hier gerechnet hatte. "Nein, natürlich nicht." "Gut", ein herzliches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus. "Ich bin Nina." Julius nahm die ihm dargebotene Hand und drückte sie kurz. "Julius", stellte er sich vor. "Herzlich Willkommen im Team, Julius." Ninas Worte klangen so feierlich, dass Julius beinahe aufgelacht hätte. "Die Kinder nennen uns übrigens auch beim Vornamen." Sie ergriff wieder Julius' Arm und bugsierte ihn weiter durch den Flur, bis sie vor einer Tür standen, hinter der Lachen und Stimmengewirr zu hören war, das auf der Stelle verstummte und gebanntem Schweigen wich, als die Tür geöffnet wurde. Fünfzehn mehr oder weniger neugierige Augenpaare sahen ihnen entgegen. "Das ist Julius", stellte Nina ihn den Kindern vor, deren Alter von der fünften Klasse bis hin zur Oberstufe reichten und die ihn mit aufrichtigem Interesse musterten. Er hatte genau einen einzigen ersten Satz, der darüber entscheiden würde, wie ihm die Kinder zukünftig gegenübertraten, und auch wenn Julius sich in diesem Moment wie ein lebendiges Vorführobjekt eines wissenschaftlichen Vortrags fühlte, musste er wohl das richtige gesagt haben, denn kaum hatte er seinen Satz beendet, ging auch schon ein Lächeln reihum von einem Gesicht zum anderen. Eine halbe Stunde später hatte Julius diese erste Prüfung erfolgreich bestanden. Sogar mit Auszeichnung, dachte er nicht ohne Stolz, während sich das gemütliche Wohnzimmer leerte und die Kinder begannen, den Rest des Abends auf ihre Weise zu verbringen. Der letzte, der das Wohnzimmer verließ, war, soweit Julius das anhand von dessen Größe und Aussehen schätzte, der Älteste der Gruppe. Normalerweise hatte Julius ein gutes Namensgedächtnis, aber bei dem Jungen, der sich an ihm vorbei aus dem Zimmer stehlen wollte, fiel ihm weder ein Name noch sonst ein geäußerter Satz ein. Es war, als tauche er in diesem Augenblick erst wieder an der Oberfläche auf. "Wie war dein Name gleich nochmal?", sprach Julius den Jungen freundlich an. "Ich glaube, ich habe ihn eben nicht verstanden." "Ich hatte mich überhaupt nicht vorgestellt", war die prompte Antwort, mit der Julius wegen des vorangegangenen Desinteresses so nicht gerechnet hatte. "Max!", tadelte Nina den Jungen, der die Augen verdrehte. Max also. Julius verbiss sich das Grinsen. "Gibt es sonst noch was?" Max sah Julius ungeduldig an. "Ich müsste noch was für morgen erledigen..." "Nein, ich schätze, wir sehen uns dann zum Frühstück wieder, oder?" Max dachte kurz über eine Antwort nach, seufzte dann aber nur kaum hörbar und ließ Julius kommentarlos stehen. "Lässt sich wahrscheinlich nicht vermeiden", war das, was Julius noch zu verstehen meinte, während Max den Flur entlang trottete. Nina öffnete gerade den Mund, um den Jungen erneut zu tadeln, ließ es aber nach einem Blick in Julius' amüsiertes Gesicht. "Eigentlich ist er ganz umgänglich", entschuldigte sich Nina peinlich berührt. "Ist ja kein Beinbruch", beruhigte Julius seine Kollegin, auf deren Stirn ein paar hektische rote Flecken erschienen waren. Nina atmete erleichtert aus. "Wie wäre es mit einem Kaffee oder Tee? Dabei lässt sich alles viel besser besprechen." "Gerne", erwiderte Julius und folgte Nina in die dem Wohnzimmer schräg gegenüberliegende Küche. Lauschend hob Max den Kopf. Die Schritte gingen an seinem Zimmer vorbei. Er hörte Nina leise etwas sagen und dann die ebenso leise Stimme dieses Julius, oder wie auch immer er sich genannt hatte. Und jetzt zog er in das Zimmer, das gerade erst leer geräumt worden war. Eine Tür wurde geschlossen und dann hörte er wieder Schritte, die vor seiner Tür entlang über den Flur gingen. Dieses Mal in die andere Richtung, wieder hinunter in den Wohnbereich. Jedenfalls schien er sich gut mit Nina zu verstehen, anders als Clemens, der sich jedem gegenüber irgendwie arrogant benommen hatte. Hatte er sich damals eigentlich vorgestellt? Max gab sich die Antwort selbst. Er schüttelte den Kopf. Leise seufzend wandte er sich wieder dem Fragebogen vor sich auf dem Schreibtisch zu. Auf dem Foto war ein unbeschrankter Bahnübergang abgebildet und davor ein Mann in Warnweste mit einer rot-weißen Flagge in der Hand. Wie verhalten Sie sich hier richtig? Gute Frage. Max schob das Ende seines Bleistifts in den Mundwinkel und sah hinüber zu dem beleuchteten Aquarium, in dem ein einsamer Goldfisch zwischen im Wasser wankenden Schwimmpflanzen seine Runden drehte und dabei ab und zu an die Scheibe geschwommen kam, als wolle er draußen nachschauen, wo seine ganzen Kameraden denn nun hin verschwunden waren. Armer Einstein, dachte Max bedauernd. Der letzte Überlebende in seinem 100-Liter-Universum. Noch zwei Wochen und er bekam wieder Gesellschaft. Der würde Augen machen. Genau, wie sie alle heute Abend, als Nina ihnen Julius vorgestellt hatte. Mal sehen, wie sie sich schlagen, die Goldfische – und Julius. Max nahm den Stift aus dem Mund und machte das Kreuzchen bei Mit mäßiger Geschwindigkeit heranfahren und abwarten. Den Kopf voller neuer Gewohnheiten und Gebräuche, die er erst einmal sortieren musste, ehe er sich ans Verarbeiten machen konnte, stand Julius gegen Mitternacht in seinem neuen Zimmer, das außer seinem Koffer, den jemand freundlicherweise heraufgebracht hatte, nur spärlich eingerichtet war und einen unbewohnten Eindruck machte. Julius zog den Reißverschluss des Koffers auf und machte sich daran, seine Habseligkeiten in die vorhandenen Schränke einzusortieren. 6.30 Uhr war Wecken. Um 7.00 Uhr gab es Frühstück, bevor dann um 7.30 Uhr der Bus kam, um die Kinder in die Schule zu bringen. Von 13.30 Uhr bis 14.30 Uhr war es Zeit für das Mittagessen; je nachdem wann die Kinder aus der Schule kamen. Danach blieb eine Stunde Freizeit, ehe die Hausaufgaben erledigt werden mussten. Entweder alleine auf den Zimmern oder im Esszimmer mit einem der Betreuer. War das getan, hatten die Kinder wieder Zeit für sich oder man unternahm gemeinsam etwas. Und an den Wochenenden war alles anders. Julius versuchte, sich an den Ablauf zu erinnern, aber hinter seiner Stirn brannte die Erschöpfung langsam Löcher in sein Gedächtnis und er beschloss, Nina noch einmal nach den Wochenenden zu befragen. Eine Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch stehend saß Nina ihm gegenüber. Ihr Löffel klapperte leise in ihrer Tasse, während sie Julius aufmerksam musterte. "Also", begann sie, "die gute Nachricht ist, dass an den Wochenenden nicht alle Kinder der Gruppe hier sind. Bis auf drei, die immer bleiben, fahren die restlichen an den Wochenenden, in den Ferien und Feiertagen nach Hause, außer sie sind krank oder sonst irgendwie verhindert. Samstags und Sonntags dürfen die Kinder auch etwas länger schlafen. Dann ist das Wecken erst um 8.30 Uhr und Frühstück eine halbe Stunde später." Julius nickte verstehend und versuchte, die Information abzuspeichern. "Danach ist das Haus an der Reihe. Unsere Hauswirtschafterin hat die Wochenenden frei und das heißt, dass die Kinder selbst für alles verantwortlich sind, was sie benutzen. Das Essen wird von uns Erwachsenen zubereitet und die Kinder räumen das Geschirr in die Spülmaschine. Dann haben sie Freizeit, die sie selbst gestalten können oder wir unternehmen alle zusammen etwas. Oh, und was ich gestern vergaß: jeden Tag ist nach dem Abendessen Zimmerkontrolle; bei den Jüngeren gründlicher als bei den Großen, und bei unseren Pappenheimern zweimal pro Tag. Das war's. Vorerst. Und? Immer noch nicht abgeschreckt?" Nina sah ihn gespannt an. "Nein, so schnell nicht", antwortete Julius zuversichtlich. Er klappte sein imaginäres Notizbuch zu und beendete sein Frühstück. Gepolter aus dem ersten Stock, das sich die Treppe hinunterzog, kündigte eine Meute schulfertiger Kinder an, die den Bus erwischen musste. Nina stand auf und bedeutete Julius, ihr zu folgen. "Das musst du dir live und in Farbe anschauen, sonst glaubst du mir das am Ende nicht." Gleich darauf wusste Julius, was Nina gemeint hatte. Einige der Kinder – nicht unbedingt nur die Jüngsten – standen im Flur und hatten mindesten etwas falsch herum angezogen, schief aufsitzen oder sogar ganz vergessen. Nachdem Nina alle, denen etwas fehlte, wieder auf ihre Zimmer geschickt und denjenigen, die aussahen, als hätten sie sich im Windkanal angezogen, die Jacken gerade gerückt hatte, stürmte die lärmende Meute aus der Haustür hinaus und Richtung Bushaltestelle. Zufrieden strich sich Nina die Haare aus der Stirn. "Jetzt kommt der langweilige, aber erholsamste Teil des Tages. Die Büroarbeit. Danach dürftest du alles so weit wissen und dein erstes Wochenende kann kommen." Julius nickte stumm. Wochenende. Das klang noch so weit weg, wenn wie heute erst Mittwoch war. Wie schnell die Zeit tatsächlich verging, merkte Julius erst, als es plötzlich Samstagmorgen war und sich Nina von ihm verabschiedete. "Schaffst du das wirklich alleine?" "Klar doch." Julius gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen und Nina damit ihre Bedenken vergessen zu lassen. Innerhalb von drei Tagen hatte er gemerkt, dass die Gruppe in der Tat relativ gut zu führen war. Bis auf ein oder zwei Meinungsverschiedenheiten hatte es keine Streitereien gegeben. Und bis jetzt hatten sich scheinbar alle mit seiner Anwesenheit hier abgefunden. Hoffentlich nicht nur so lange, bis Nina aus der Tür ist, dachte Julius. "Meine Nummer hast du ja und die von Frau Wagner von der Hauswirtschaft ist im Telefon unter der 3 gespeichert", sagte Nina gerade und suchte gleichzeitig nach ihrem Schlüsselbund, das gut sichtbar neben ihr auf dem niedrigen Flurschränkchen lag. Julius deute auf die Schlüssel. Flink nahm sie Nina an sich. Dann drehte sie sich ein letztes Mal zu Julius um. "Sollte irgendetwas sein, ruf an, egal, zu welcher Uhrzeit." Der Satz klang zwar nicht wie eine Frage, doch Ninas nach oben gezogene Augenbrauen ließen keinen Zweifel daran, dass sie noch eine Bestätigung haben musste, ehe sie beruhigt aufbrechen konnte. Julius tat ihr den Gefallen. "Dann Hals und Beinbruch." Nina öffnete die Tür. Sie machte einen Schritt nach draußen, wandte sich dann aber doch noch einmal um. "Oder besser nicht", fügte sie zu ihrem vorangegangenen Satz hinzu und zog endgültig die Tür hinter sich zu. Julius blickte auf das Zifferblatt seiner Uhr. Er hatte noch etwa eine halbe Stunde Zeit, bis er wusste, ob seine Befürchtungen wahr werden würden, dass das Chaos ausbrach, sobald er alleine mit den Kindern war. "Wie lange?" Max, der Julius zusah, wie der geduldig einem der Jüngsten dabei half den Geschirrspüler so einzuräumen, so dass mehr als fünf Teller und zwei Töpfe darin Platz fanden, zuckte zusammen, als ihn der Ellenbogen seines Nebenmannes in die Rippen traf. "Was meinst du, wie lange?", wiederholte der seinen Satz. Max hob langsam die Schultern an. "Osterferien, höchstens." Der Junge neben Max schüttelte leicht den Kopf. "Ich gebe ihm bis zu den Sommerferien. Aber vielleicht bleibt er ja auch." "Genau, vielleicht bleibt er ja für immer." Max brachte ein trockenes Lachen zustande. "Abwarten." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)