Visions von 4FIVE (Insert Close (Ren/Kyōko)) ================================================================================ Kapitel 2: Changes ------------------ . . Mit nichts mehr als einer Reisetasche um die Schultern gehängt, stieg Kyōko aus der Passagiermaschine, die soeben am Tōkyō Kokusai Kūkō gelandet war. Sie hatte nicht viele ihrer spärlichen Habseligkeiten mitgenommen; oder zurückgebracht. Die meisten Stücke ihrer Kleidung waren abgetragen und durch neue ersetzt worden, das wenige Make-Up, das sie besaß, wog neben den neuen Zeitschriften, die sie sich am Flughafen in Okinawa gekauft hatte, kaum etwas und ihr Fotoapparat war während einer schwülen Nacht nach einem ausgearteten Essen mit ihren Schauspielkollegen infolge eines Mondscheinspaziergangs in der Bucht von Kaiba zu Bruch gegangen—eines eher unorthodoxen Spaziergangs, nichtsdestoweniger blieb er real kaputt. Kyōko atmete die vertraute Heimatluft ein. Tōkyō hatte ihr gefehlt. Mehr als nur gefehlt, sie hatte es schmerzlich vermisst. Über anderthalb Jahre auf einer Insel gefangen zu sein, die als Paradies bekannt war, mochte für jedermann wie ein Traum anmuten, für Schauspieler bedeutete es neunzehn Monate lang unermüdlichen Einsatz, um jede Szene des Millarden Yen Projektes perfekt umzusetzen. Man hatte große Erwartungen an das TV Drama, welches als eines der teuersten und aufwendigsten in die japanische Filmgeschichte eingehen sollte. So lautete zumindest die Parole des Produzenten, der jeder wohlhabenden Menschenseele, die der japanischen oder englischen Sprache mächtig war, wertvolle Investitionen aus der Tasche gesaugt hatte, um das teure Projekt zu finanzieren. Kyōkos Gehalt—das Gehalt aller Schauspieler—war lächerlich gering im Vergleich zu den monetären Mitteln, die man für die zeitintensiven Kulissen und Kostüme aufgewendet hatte. Die Honorare der beiden Hauptdarsteller, bekannte Gesichter der glamourösen Filmbranche, waren die einzigen, die einigermaßen in die korrekte Richtung gezahlt wurden. Alle anderen Entlohnungen tendierten gegen eine indirekt proportionale Relation, die Kyōko völlig egal war. Sie war eine von drei Rückblendenprotagonisten, was ihrem Status als Schauspielerin Ruhm und Gloria brachte. Alleine die Anzahl der Staffelfolgen, die sich im Gegensatz zu Niedrigbudgetproduktionen auf fast zwanzig Stück beliefen, würde ihre Frequenz auf nationalen Bildschirmen in persönlich bislang unerreichte Sphären steigern. Dieser Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen, ebenso wie die Vorfreude, die wahre Freude mit einer Person teilen zu können, die sich mehr für sie freuen würde als sie sich für sich selbst freuen konnte—was ihr kaum möglich erschien bei all der Freude. Ihre redundanten Gedanken beiseiteschiebend, betrat sie mit suchendem Blick die hohe Halle, in die alle Passagiere angekommener Inlandslinienflüge nach der Gepäckabholung gelotst wurden. Sie folgte blind dem Strom, bis er sich nach vorne hin auffächerte, wo die wartenden Familienmitglieder, Freunde oder Abholer mit Schildern bewaffnet warteten. Kyōko bekam die herzzerreißenden Wiedersehensszenen nur am Rande mit. Eine ihrer Kolleginnen fiel ihrem Ehemann weinend in die Arme und ließ sich anschließend ihren Koffer abnehmen. Von der anderen Seite trat ihr Serienehemann an sie heran, berührte zum Abschied ihre Schulter und ging in die Richtung seiner Schwester, die mitsamt den vermeintlichen Großeltern hinter der samtroten Absperrung die Hand hob. "Wir sehen uns morgen, ja?", rief er nach hinten weg, wo Kyōko abwesend nickte. Ihre Aufmerksamkeit galt den wartenden Japanern, aus deren Masse einer ganz besonders hervorstechen sollte. Himmel, dieser Mann war einen Meter neunzig groß—wie konnte man ihn übersehen? Die Möglichkeit, Tsuruga Ren habe sein Versprechen gebrochen, war keine annehmbare Option. Doch nicht Tsuruga-san. Nicht der notorische Perfektionist, der er war. Prüfend zog sie ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack, schaltete es ein und überprüfte den Postausgang ihrer Textnachrichten. Da stand es: das Datum ihrer Ankunft, fein säuberlich von ihrem Ticket abgetippt, gleich neben der Uhrzeit und der Nummer ihres Fluges. Sie hatte sich nicht vertan, aber er vielleicht? Irritiert durchforstete sie ihren Posteingang nach neuen Nachrichten, doch sie wurde nicht fündig. Er hatte bis jetzt nicht geantwortet. Keine Zusage. Das bedeutete aber auch keine Absage. Tsuruga Ren würde sie nicht unangemeldet versetzen. Er hatte ihr versprochen, sie bei ihrer Rückkehr abzuholen. Es war neunzehn Monate her, aber war es deswegen weniger geschehen als an dem Tag, an dem sie ihr letztes Regionalgespräch geführt hatten? Die letzten Monate hinweg hatten sie einander immer wieder angerufen; sie hatte immer wieder Hilfe gebraucht oder sich selbst ein Problem geschaffen, nur um seine vertraute Stimme zu hören, die ihr ein Gefühl von Heimat gab. Nun war er nicht da und es ärgerte und verletzte sie. Ihr letztes Gespräch war zwei Monate her, doch das gab ihm nicht das Recht, sie hier stehen zu lassen wie einen begossenen Pudel. "Kyōko-san!" Die junge Schauspielerin sah verwundert auf. Ihr brauner Blick traf strahlendblaue Augen, die unnatürlich schön im Gesicht der adrett gekleideten Japanerin aussahen. Ihr Haar war zu einem lockeren Knoten nach hinten gebunden, um den Blick auf ihr glattes Gesicht freizuhalten. Ihre Füße wurden von teuren Schuhen ummantelt, deren Kaufpreis gewiss Kyōkos gesamtes Honorar überstieg. Sie waren mindestens so wertvoll wie das Etuikleid und der dezente Weißgoldschmuck, den die schlanke Frau trug. Auf dem Schild, das ihre geraden Finger hochhielten, stand Kyōkos Name. Unverkennbar. Darunter prangte das Logo von LME. Dieser Mistkerl hatte jemanden vorgeschickt! "Gute Tag, Kyōko-san", grüßte die Frau, die höchstens Ende zwanzig sein konnte, nachdem Kyōko mit skeptischen Schritten bei ihr angekommen war. Ihre geschwungenen, rotbemalten Lippen lieferten sich einen Aufmerksamkeitskampf mit ihren hellen Augen als sie mit freundlicher, aber strammer Stimme sprach. "Mein Name ist Uehara Ayase. Ich bin Ihre Terminkoordinatorin und Managerin während der Promotion. Sie können mich gerne beim Vornamen nennen, denn wir werden die nächsten zwei Monate sehr eng zusammenarbeiten. Ich darf sie zwecks Ihres Künstlernamens bei diesem nennen, oder bevorzugen Sie Mogami-san?" Erschlagen von einem derartigen Ausmaß geschäftlicher Höflichkeit nickte Kyōko, was Ayase als Zustimmung zu der von ihr bevorzugten Variante wertete. Sie legte das Pappschild in das Innere eines schwarzen Ordners, auf dem sowohl der bekannte Schriftzug von Koigawa als auch erneut das Emblem von LME gedruckt war. Kyōko ahnte, was es zu bedeuten hatte. Ayase zeigte kein Erbarmen. Ohne weitere Worte gab sie rasches Schritttempo vor, mit dem sie binnen weniger Minuten den Parkplatz des Flughafens erreicht hatten, auf dem bereits eine schwarze Kleinlimousine samt Fahrer bereitstand, die eindeutig von der Agentur zur Verfügung gestellt worden waren. Sie saßen kaum in dem beigefarben gepolsterten Wagen, da klappte Ayase den unheilvollen Ordner auf und hakte eine Liste ab. Das Marketingteam der Produktionsfirma hatte bereits angedeutet, dass die ersten Monate in Tōkyō anstrengend werden würden. "Kann ich zuerst nach Hause fahren und duschen?", fragte Kyōko ohne Hoffnung. Die Strapazen des Fluges und die Enttäuschung und Wut über Rens Fernbleiben klebten unangenehm auf ihr. "Das kann ich nicht erlauben. Wir haben in den nächsten acht Wochen einen strengen Terminkalender. LME hat mich Ihnen als temporäre Verstärkung zugeteilt, um sicherzustellen, dass Sie Ihren hübschen Kopf für die bevorstehenden Interviews und Reportagen frei haben, anstatt sich mit der Organisation ihres Tagesablaufes beschäftigen zu müssen. Ich werde gut für Sie sorgen, seien Sie also bitte beruhigt." Beruhigt war Kyōko keineswegs. Sie wusste um die Funktion von Managern; sobald ein Schauspieler, Sänger oder Model ein bestimmtes Level erreicht hatte, war ein Manager aus genannten Gründen unentbehrlich. Es war unmöglich, alle geschäftlichen Termine selbst zu organisieren. In weiterer Folge war es umso schwieriger, sie mit privaten Vorhaben abzustimmen. Sie kannte Yashiro Yukihito, der inzwischen ein enger Freund seines Klienten war. Ayase sah weniger nachgiebig aus, zumal Kyōko weniger diszipliniert war als Ren. Uehara Ayase würde für die nächsten sechsundfünfzig Tage ihr Orakel sein, das ihr befehlen würde, wann sie wo zu sein, was sie wann zu essen und wie sie was zu tun hatte. Sie hatte großen Respekt vor dem stressigen Job von Managern, allerdings änderte es wenig an der Tatsache, dass es ihr bereits jetzt schon auf die Nerven ging, bevormundet zu werden. Was rein objektiv nicht der Fall war, aber wann hatte Mogami Kyōko sich schon jemals um Validität ihrer Gedanken geschert? In zwei Monaten würde Koigawas erste Folge der in einem großen Spektakel erstausgestrahlt werden. Bis dahin gab es vielerlei Werbung zu machen, wobei Kyōko nicht die einzige war, die als wichtige Darstellerin eine lange Reihe verschiedenster Promotionsaufgaben hatte. Wann war sie zu einem Werbemäuschen geworden, anstatt zu einer Schauspielerin? Die Furore um diese Serie war seit neunzehn Monaten ihr Lebensinhalt. Am Ende würden es einundzwanzig sein, nach denen der Dreh der restlichen zweiten Staffel in Tōkyō fortgesetzt werden würde. Plus der dritten Staffel musste sie ihrer groben Hochrechnung zufolge noch weitere zehn bis zwölf Monate ihre Rolle spielen. Was nicht schlecht war, nur eben lange. "Um sieben Uhr müssen wir im Sumida Palais sein, um die ersten Probeaufnahmen für die Fotostrecke nächste Woche zu machen", erklärte Ayase, die blauen Augen durch eine professionell wirkende, elegante Lesebrille auf die Agenda niedergeschlagen. "Laut meinen Informationen ist lediglich eine Kostümprobe veranschlagt, um etwaige Änderungen rechtzeitig vornehmen zu können." "Okay", stimmte Kyōko zu, als hätte sie die Wahl gehabt. Sie war bloß ein kleiner Teil dieser Kette, längst nicht mehr das schwächste Glied und darum zählte man auf sie. Es war ein neues Gefühl, als Profi gesehen zu werden. Man hatte ihr nicht lange zugesprochen, hatte nicht mit ihr für Interviews geprobt oder sie zur Seite genommen, um sie auf die kommenden Wochen vorzubereiten. Man hatte sie nicht gelobt und das war etwas, das sie mit Stolz erfüllte. Die Produktionsfirma erwartete eine einwandfreie Leistung von ihr. Schauspielerisch und öffentlich. So weit war sie gekommen. Viel weiter als sie es sich ausmalen hätte können. Wie eifrig war sie vor drei Jahren gewesen, Shō von seinem hohen Ross zu stürzen. Und wie arbiträr dieses Vorhaben inzwischen geworden war. Es war nicht mehr wichtig, weil sie längst keine Schauspielerin mehr war, die sich an ihrem Kindheitsfreund rächen wollte, sondern weil es zu ihrem Traum geworden war. Dies war nicht länger ein Spiel, bei dem sie auf die Nase fallen konnte. Es war bitterer Ernst, auf dessen Drahtseil sie sich keine Fehltritte erlauben durfte. Denn wenn sie fiel, würde halb Japan ihren Absturz sehen. So weit war sie gekommen. Und es war noch längst nicht das Ende. Das war der Grund, wieso Kyōko trotz Müdigkeit und Hunger die stundenlange Prozedur über sich ergehen ließ, in der man ihr ein Outfit nach dem anderen anzog, die abzuändernden Stellen markierte, sie in das nächste Kleidungsstück steckte und währenddessen an ihren Haaren und ihrem Gesicht werkelte, um das Make-Up auf ihren Teint abzustimmen. Man wollte die Fotostrecke, die in einigen Tagen für ein Hochglanzmagazin geschossen werden sollte, so reibungslos als möglich durchführen. Es lag in Kyōkos Interesse, den Ablauf glatt zu halten, weswegen sie sich zusammenriss, ihren schmerzenden Rücken ignorierte und schlussendlich auf dem Sitz des Autos zusammensank. Für die nächsten zwei Wochen wurde diese geräumige Limousine Kyōkos einziger Rückzugsort. Sie schlief, aß, wohnte und lernte darin, während sie sich darin von einem Termin zum nächsten kutschieren ließ. An ihrer Seite jede Sekunde lang Ayase, die kein Gezeter, Gemecker, Trödeln oder Bummeln duldete. Sie mochte gut in ihrem Job sein—Gerüchten zufolge eine der besten Agentinnen, die LME zu bieten hatte—aber sie war eine Sklaventreiberin. Vielleicht das eine wegen dem anderen. Bloß in welche Richtung verblieb zumindest in Kyōkos Augen unklar. Uehara Ayase war alles, was man beneiden konnte. Ehrgeizig, erfolgreich, schön, klug und standhaft. Sie verteidigte ihren Schützling wo es nur ging, wehrte Attacken von Terminänderungen, unrechtmäßigen Fragen und Verzögerungen erfolgreich ab und obwohl sie Kyōko von einer Veranstaltung zur nächsten zerrte, konnte diese nicht umhin, tiefste Dankbarkeit für den unermüdlichen Einsatz ihrer Managerin zu empfinden. Ayase ersparte ihr viele Unannehmlichkeiten, schubste sie immer in die richtige Richtung und lenkte sie so gut sie konnte in Bahnen, die sie alleine weiter entlang laufen konnte. Es war Ayase zu verdanken, dass Kyōko am Ende der ersten zwei Wochen heillos erschöpft in ihr heimischen Bett über dem Darumaya fiel und einen erholsamen Schlaf schlief, anstatt elendig zu sterben. - Es war der nächste Morgen, ein Aprilsonntag, an dem ihr erster und letzter freier Tag datiert und Kyōko froh war, die letzten Wochen in von Uhrzeiten beherrschtem Stress verlebt zu haben. Es hatte ihr die Muße abgenommen, über Rens unhöfliche Versetzung nachzudenken. Heute schlief sie bis in den frühen Vormittag hinein, putzte sich die Zähne, warf sich bequeme Freizeitkleidung über und verließ das Haus, ehe sie ins Grübeln darüber verfallen konnte. Gestern Abend, ehe sie todmüde die Augen geschlossen hatte, hatte sie Kanae eine Textnachricht geschickt. Seit ihrer Ankunft in Tōkyō hatte sie keine Zeit gehabt, ihre engste Freundin zu treffen, geschweige denn mit ihr zu telefonieren. Alles, was sie bislang in Tōkyō gesehen hatte, waren Reporter, Kameras, Scheinwerfer, Kostümbildner und Ayase gewesen. "Sie ist immer da, Moko!", rief Kyōko und saugte an dem Strohhalm, der in ihrem Eiskaffee steckte. Es war ein schöner, sonniger Sonntagmittag, an dem sich die beiden Schauspielerinnen in den Außenbereich eines Straßencafés gesetzt hatten, in dem die 'Fremde' jedes kleinste Detail über die vergangenen neunzehn Monate ausbreiten hatte müssen, bis sie schlussendlich beim heutigen Datum angelangt war. "Ich möchte dich nicht verunsichert, Kyōko", entgegnete Kanae ihr schulterzuckend, "aber das ist ihr Job. Dafür wird sie bezahlt. Sei lieber froh, dass du sie hast. Du Schussel würdest jeden zweiten Termin vergessen, deine Unterlagen verschlampen und wenn du schon einmal wüsstest, wann du wohin musst, kämest du auf jeden Fall zu spät." "Aufbauend wie immer", grummelte Kyōko in ihren Eiskaffee. Das Koffein würde einige Zeit brauchen, um sie aus ihrer erschöpften Lethargie wachzurütteln. Bis dahin musste sie weiterhin vortäuschen, nicht am Ende ihrer Kräfte zu sein. Am besten mit einem leicht verdaulichem Thema. "Habe ich dir schon von Sayuri-san erzählt?" Ihre schwarzhaarige Freundin nickte und nahm einen großzügigen Schluck ihres Milchshakes. "Zweimal sogar. Erzähl mir lieber mehr vom Drehbuch. Sie schreiben in allen Klatschblättern und Fernsehzeitungen darüber, aber die Handlung wird nie konkreter als diese paar Zeilen, die sie uns seit Monaten vorwerfen. Es wird ein ziemlicher Trubel um dieses Projekt gemacht. Um was wird es sich drehen?" "Du weißt, dass ich darüber nicht sprechen darf." Kyōko seufzte. Sie hatte sogar versprechen müssen, Außenstehenden nichts zu verraten. Dieser ganze Aufwand für eine Serie war einfach nur surreal exorbitant. Dies war Japan, nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen Milliarden von U.S. Dollar auf die Produktion einer lapidaren Serie verschwendet wurden. "Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du heute Abend mit mir auf diese Gala gehst, verrate ich dir ein wenig von meiner Arbeit. Wenn dabei einige wichtige Details fallen, kann ich schwerlich etwas dafür, nicht wahr?" Kanae zog skeptisch ihre Augenbrauen über die glatte Stirn empor. "Gala?" Zur Antwort stieß ihre Freundin raues Raunen aus. "Sie nennen es so, weil man Abendgarderobe tragen muss. Es ist eine Veranstaltung in einem gemieteten Saal im Stadtzentrum, bei der den Geldgebern die gesamte Crew vorgestellt wird. Es werden im Übrigen auch einige Standbilder interessanter Szenen und Aufnahmen von den Dreharbeiten hinter den Kulissen gezeigt. Eine Menge wichtiger Leute sind eingeladen. Investoren, Finanziers, Funktionäre der Produktionsfirma, Vertreter der Kreditanstalt, die Manager und Agenten der Schauspieler sowie ausgewählte Mitglieder jener Agenturen, die die Hauptdarsteller gestellt haben." Kanaes Zögern bemerkend lächelte sie unschuldig. "Außerdem gibt es gratis Häppchen." "Deal. Und jetzt erzähl!" Kyōko seufzte erleichtert. Sie hatte sich bereits Horrorvision darüber ausgemalt, welchen armen Menschen sie aus Verzweiflung sonst noch anbetteln hätte können, sie zu dieser langweiligen Veranstaltung zu begleiten. Es war nicht so, dass sie teure Abende ablehnte, ganz im Gegenteil, jedoch war sie von schnöden Konversationen betuchter Männer nicht sonderlich angetan. Den Preis, den sie dafür zahlen musste, zahlte sie gerne. Es brannte ihr unter den Nägeln, von ihren Erlebnissen auf Okinawa zu erzählen. "Sie ließen uns schuften", meinte sie und bestellte eine weitere Runde Kaltgetränke für ihren Tisch. "Anfangs war es sehr hektisch, weil viel schiefgegangen war. Das bereits aufgebaute Set war doch noch nicht komplett aufgebaut, weswegen wir den Drehplan bereits am ersten Tag überwerfen mussten. Niemand war auf eine alternative Szene vorbereitet, weswegen wir während der Busfahrt zum nächsten Drehort versuchten, unseren Text zu lernen. Sayuri-san und ich mussten eine siebenminütige Konversation binnen einer halben Stunde verinnerlichen. Ich hatte Angst, den Text zu vergessen, aber ehe unser Part kam, musste Ishida-sans Monolog abgedreht werden. Er tat mir so leid, als der Regisseur ihn anschrie, weil er zu wenig Leidenschaft an den Tag legte." Kyōko rollte mit den Augen. "Der Regisseur ist ein Exzentriker, wie er im Buche steht. Ich hoffe, dass es Okinawas Luft und der Zeitdruck waren, weil unsere Unterkünfte nur für achtzehn Monate zu leistbaren Konditionen gemietet waren, und dass es hier in Tōkyō besser wird." "War es so schlimm?" Sie lachte. "Es war die Hölle! Aber eine sehr schöne Hölle. Schlaf war—ist—Mangelware. Wir mussten versuchen, mit den Launen des Regisseurs und des Produzenten klarzukommen. Sayuri-san hat un meistens von den Attacken abgeschirmt, aber sollten diese beiden Choleriker nicht irgendwann an Bluthochdruck erkranken, fresse ich einen Besen. Wirklich, ich dachte ich sei laut!" "Jaja", winkte Kanae ungeduldig ab, "komm' zum Punk! Um was geht es in dem Drama? Spann mich nicht auf die Folter, du hast es versprochen!" "Jaja", wiederholte Kyōko feixend. "Die gesamte Serie ist in zwei Teile gegliedert, nämlich der Handlungsgegenwart und der Vergangenheit. Jede Folge beginnt mit einem fünfminütigem Flashback, das in den späten Sechzigern spielt, erzählt also parallel zwei Geschichten. In der Gegenwart geht es um eine junge Frau namens Nanri Himiko, die aufgrund persönlicher Probleme große Schwierigkeiten mit ihrem Biologiestudium hat. Zu Anfang der ersten Staffel sucht sie auf Rat ihrer Kommilitonen eine Studienberatung auf, wird jedoch an eine psychologische Mitarbeiterin der Universität verwiesen. Sie zögert gut fünf Folgen lang, in denen der Zuschauer einen Einblick in ihre privaten Krisen bekommt. Himiko wird von ihren Eltern stark unter Druck gesetzt, muss sich mit ihrer hochintelligenten und schönen Cousine vergleichen, zudem betrügt ihr Freund sie mit einer ihrer Kommilitoninnen. Sie hat allerdings keine Möglichkeit, sich von ihm zu trennen, da sie sich alleine kein Appartement in Tōkyō leisten kann, ihre Eltern jedoch in Ōsaka leben, und diese wiederum die Trennung von ihrem Musterschwiegersohn nicht dulden würden." Kanae pfiff durch geschlossene Zähne. "Die Drehbuchautoren haben sich ganz schön was einfallen lassen. Aber was hat das mit Geschehnissen aus den Sechzigern zu tun?" Kyōko hob die Hand, um ihre Freundin zu Geduld anzuhalten. Vorsichtig senkte sie ihre Stimme. "Soweit ich es verstanden habe, sollen sich die Zuschauer genau das fragen. Die einleitenden Rückblenden sind dazu da, eine Geschichte von Anfang an aufzurollen. Diese Geschichte ist der Himikos sehr ähnlich, bloß beinhaltet sie andere gesellschaftliche Aspekte. Scheidung wurde sehr viel weniger akzeptiert als heute, Frauen kämpften noch um die Emanzipation. Meine Rolle ist die der Haruko. Sie ist Protagonistin der Rückblende und Himikos zeitverzerrtes Abbild. Sie ist ebenfalls Studentin, bereits verheiratet, wird jedoch von ihrem Mann betrogen und von ihrer Familie aufgrund eines Zusammenbruchs, wegen dem sie einige wichtige Prüfungen versäumt, diskreditiert. Haruko trifft im Laufe der Rückblenden eine falsche Entscheidung nach der anderen, sodass der Zuschauer weiß, wie Himiko es nicht machen sollte. Sie bleibt bei ihrem Mann, nimmt heimlich eine Abtreibung vor und hat selbst Affären, die später entdeckt werden, woraufhin man sie aus der Familie ausschließt." "Wow, noch mehr Drama", lobte Kanae beeindruckt. "Es muss schwer gewesen sein, diese Verzweiflung zu spielen." Sie nickte, zuckte dann jedoch die Schultern. Wann immer sie nicht verzweifelt genug für Haruko gewesen war, hatte sie an ihre Freunde zuhause gedacht, an das Gefühl der Sehnsucht, das Vermissen allen Vertrautens. Manchmal hatte sie Ren zu unsäglichen Zeiten angerufen, bloß um seine Stimme auf der Tonbandansage zu hören und zu wissen, dass diese automatisch abgespielten Zeilen keinen Trost für sie übrig hatten. Diesen Umstand verschwieg sie, bloß um sich nicht fragen zu müssen, wieso sie Ren angerufen hatte anstatt jemand anderes, den sie ebenfalls vermisste. "Der Start war holprig, aber je weiter die Geschichte voranschritt, desto mehr konnte ich Harukos Schmerz nachfühlen. Ich habe ihn so gut als möglich interpretiert." "Und dann? Wie hängen diese beiden Geschichte zusammen?" Kyōko lachte. "Harukos Leben spielt auf Okinawa, Himikos hingegen in Tōkyō. Himiko entscheidet sich schließlich in der sechsten Folge, die psychologische Beratungsstelle aufzusuchen, die man ihr nahegelegt hat. Die Beraterin, bei der sie landet, ist eine sechzigjährige Psychologin, die Takarada Haruko heißt." "Nein!", rief Kanae begeistert aus. Sie klatsche überrascht in die Hände. "Langsam kann ich verstehen, weswegen ein derartiger Rummel darum gemacht wird. Die Idee ist Gold wert." "Die Gegenwarts-Haruko erkennt Himikos Dilemma sofort und lädt sie zu einer spontanen Reise nach Okinawa ein, wo sie einst lebte. Himiko ist derart perplex, dass sie zusagen, ihre Ferien auf der Insel zu verbringen. Zusammen fliegen sie also nach Okinawa, wo Himiko nach und nach den Mut findet, ihre Souveränität gegenüber ihrer Familie zu behaupten und ihre eigenen Meinungen und Werte angemessen zu vertreten. Auf Okinawa wird sie mithilfe Harukos Erzählungen, die Hand in Hand mit den Rückblenden innerhalb der Folgen gehen, zu einer starken Persönlichkeit." Kanae nickte zufrieden, nippte an ihrem neuen Milchshake und seufzte wohlig. "Ein wunderschönes Ende." "Das ist Staffel eins." Kyōko zwinkerte ihr verschwörerisch zu. "Die Rückblenden für Staffel zwei sind bereits abgedreht. Harukos Probleme reichen sehr viel weiter als man zuerst vermutet. Ihre Affären beispielsweise kommen erst in weiterer Folge vor. Aber auch Himiko wird vor neue Herausforderungen gestellt. Am Ende der ersten Staffel trifft sie während ihres individuellen Lernprozesses auf einen jungen Mann, der Gefühle der Sehnsucht in ihr weckt. Sie weigert sich, sich zu verlieben und reist mit Haruko nach Tōkyō zurück. In der zweiten Staffel muss sie ihre neugewonnene Stärke beweisen. Auf Okinawa, weit weg von ihrer Realität, fühlte sie sich, als könne sie alles bewältigen, doch zuhause fällt sie zurück in alte Gewohnheiten. Sobald die Promotionszeit vorbei ist, wird hier in Tōkyō weitergedreht. Mit etwas Glück bin ich wieder dabei." "Tatsächlich? Wie kommt das?" Kanae winkte die Kellnerin herbei, um die vier Getränke zu bezahlen. "Zur Feier deines Erfolgs", schmunzelte sie aufmunternd. "Wenn du meine Frage beantwortest versteht sich." "Schon gut, du musst mich nicht erpressen, Moko." Sie streckte sich ausgiebig und saugte mit hingebungsvoller Genauigkeit den letzten Tropfen Eiskaffee aus dem hohen Glas, ehe sie sich dazu bereiterklärte, der Aufforderung ihrer Schauspielkollegin Folge zu leisten. "Wie gesagt, Harukos Probleme sind sehr vielschichtig. Die Drehbuchautoren überlegen, sie innerhalb der Rückblende nach Tōkyō gehen zu lassen, um sie als Gegensatz zu Himikos Rückkehr, mit der diese sich ihre Probleme stellt, vor den Missständen ihres Lebens weglaufen zu lassen." "Der Regisseur war wohl sehr begeistert von dir." Kyōko verzog den Mund. "Wohl eher von Sae-san. Sie spielt Himiko unglaublich gut und Takahashi-san stellt die Gegenwarts-Haruko so wunderbar, dass man beschlossen hat, die Beziehung der beiden zu vertiefen. Die Produktionsfirma glaubt, dass diese zwischenmenschliche Bindung im Zeitalter von romantischen Dramen sehr gut ankommen wird. Eben weil keine Romantik im Vordergrund steht, sondern sehr viel philosophischere Themen wie Selbstfindung, Werttreue, Freundschaft und so weiter. Sie wollen die Thematik tiefgründiger gestalten, sobald sie ihre Zuschauer gefangen haben." "Wie kapitalistisch." Sie hatte recht und doch kam Kyōko nicht umhin zu gestehen, dass die Handlung ein Meisterwerk war. Die Verflechtung zweier Zeiten, verschmolzen zu einem grundlegenden Dilemma. Sie hatte die letzten zwei Jahre damit zugebracht, an Koigawa zu denken. Auf Okinawa hatte es kein anderes Thema gegeben—wie auch? Die Abende, an denen sie mit ihren Schauspielkolleginnen Bars besucht oder die Städte erkundet hatte, waren geprägt gewesen von ihren Rollen. Sie hatten interpretiert, definiert, diskutiert und analysiert. So waren sie zu abgestimmten Schauspielern geworden, in sich stimmig. In jeder freien Minute hatten sie ihre Dialoge geprobt, sie hatten sogar eine ganze Woche lang aus Spaß an der Freude und zur Evaluierung ihrer Charakterkonzepte auch außerhalb des Sets durchgehend ihre zugewiesenen Protagonisten gemimt, hatten Rollen getauscht und abgeändert, bloß um perfekt zu werden. Kyōko gab es nicht gerne zu, weil ein guter Schauspieler sich abseits der Bühne bewusst von seiner Rolle abgrenzen können musste, aber sie war Haruko in den letzten Monaten näher gewesen als sich selbst. "Sag mal, Moko, wie geht es Tsuruga-san?" Überrascht von dieser extremen Wendung hielt Kanae in ihrer lockeren Plauderei, die Kyōko nicht mitbekommen hatte, inne. Sie legte überlegend den Kopf schief und einen Finger an die Lippen. "Ich pflege keinen sehr engen Kontakt zu ihm, weißt du? Ehrlich gesagt habe ich ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Er ist kaum in der Agentur, weil er—lass mich nachdenken—ich glaube drei oder vier neue Rollen hat. Nun ja, für dich neu. Zwei davon sind sicherlich schon über ein Jahr alt. Ich bin mir nicht sicher, wann die Dramen ausgestrahlt werden." Zustimmend nickte sie. "Ja, Tsuruga-san ist immer sehr beschäftigt. Ich hoffe, er isst anständig." "Hmm …" Die beiden jungen Frauen verfielen in nachdenkliches Schweigen, das nicht unterschiedlicher hätte sein können. Kanae versuchte zu verstehen, was in Kyōkos Kopf vorging, während diese wiederum darum bemüht war, sich ihre Sorge und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte ihr versprochen, ihr Bescheid zu sagen, sobald die erste Folge des Dramas, wegen dem er sie nicht hatte verabschieden können, im Fernsehen ausgestrahlt würde. Bis vor vierzehn Tagen hatte sie nicht daran gezweifelt, irgendwann einen Anruf mit genau dieser Information zu bekommen. Tsuruga Ren brach keine Versprechen. Normalerweise. Kyōko schüttelte den Kopf. Ren hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit einer kleinen Schauspielerin herumzuschlagen, die ihm ein wertvolles Ohr abkauen würde. Er war der beliebteste und berühmteste junge Akteur Japans, kein alter Schulfreund aus unbeschwerten Jahren. Dank Shō hatte sie gelernt, dass selbst diese Freundschaften manchmal nichts taugten. Wie egoistisch war sie überhaupt, seine Zeit zu beanspruchen? Von ihm einen unangemessenen Gefallen zu verlangen? Sie hatten ein Geschwisterpaar gespielt, aber sie waren nicht verwandt. Sie hatten Feinde gespielt, aber sie waren Kollegen. Er war ihr Lehrer, ihr Mentor, ihre Vertrauensperson, wann immer es um Fachliches ging. Wie konnte sie da auch noch sein privates Engagement fordern? Er war Tsuruga Ren. Sie war Kyōko. Einfach nur Kyōko. Sie durfte nicht selbstsüchtig sein. Viel wichtiger als ihre enttäuschten Hoffnungen war seine Gesundheit, sein Wohlergehen, sein Erfolg. Wenn er statt sie abzuholen in einem Restaurant seinen Hunger gestillt hatte, stimmte sie das mehr als nur versöhnlich. - Kotonami Kanae sah zauberhaft aus in dem schwarzen Kleid, das sie für besondere Anlässe aufgehoben hatte. Der elegante Schmuck passte hervorragend in das stilvolle Ambiente des Bankettsaals im dreiundzwanzigsten Stockwerk eines gläsernen Wolkenkratzers, von dessen Fensterfront aus man einen perfekten Blick auf das ruhige Meer im Mondlicht hatte. Es war eine magische Nacht, in der Kyōko zum ersten Mal zu träumen wagte. Man hatte sie in ein senfgelbes Satinkleid mit seitlicher Raffung gesteckt, weit weniger mädchenhaft als sie es sich gewünscht hatte. Haruko war eine aparte Frau aus gutem Hause, die Kitsch und Tand verschmähte. Die Kostümbildnerin, die sie seit Beginn der Dreharbeiten stilsicher eingekleidet hatte, hatte auch diesmal eine elegante Seite nach außen gekehrt, die wenig zu Kyōkos wahrem Charakter passte, allerdings hervorragend mit dem harmonierte, was ihre Darstellung verkörpern sollte. Um die kratzende Perücke loszuwerden, hatte sie ihre Haare wachsen lassen; die nun über schulterlangen Strähne waren zu einem Seitendutt gebunden worden, in dem eine funkelnde, aber dezente Haarnadel steckte. Im ganzen Saal gab es nur einen Menschen, der adretter gekleidet war und dieser war Sayuri, die in einem Traum von Karmesinrot gehüllt alle Blicke auf sich zog. Es leitete Kyōko an, sich Illusionen hinzugeben, die nicht in allzu weiter Ferne lagen. Vielleicht. Wie auch in den letzten neunzehn Monaten war sie gefangen in ihrer Rolle, doch heute wollte sie sich nicht daran stören. Viel lieber genoss sie das gediegene Flair schillernden Prunkes, vereint mit prickelndem Sekt und winzigen Häppchen. "Für welchen Anlass hast du dieses Kleid eigentlich aufgehoben, Moko?", fragte sie, bloß um irgendetwas zu sagen, nachdem die ersten Minuten des stummen Staunens vorüber waren. Kanae bewegte sich zielsicher auf einen freien Platz an der Wand neben einem samtbespannten Zweisitzsofa, das sie jedoch unbenutzt ließ. Ihr forschender Blick galt, ebenso wie Kyōkos, den bereits anwesenden Gästen, die in Anzug und mit Zigarren klischeehaft reich aussahen. Kahlköpfig und alt war am meisten vertreten, aber auch moderne Herren mittleren Alters mischten in den vereinzelten Konversationen mit frischen Ideen mit, sofern ihre ausladenden Gestikulationen ein passender Indikator dafür waren. "Das einjährige Jubiläum mit meinem Freund." "Ach?" Kyōko runzelte die Stirn, verengte gleichzeitig jedoch auch ihre Augenlider. "Und das wirfst du einfach mal so in den Raum, obwohl wir immer wieder telefoniert hatten?" "Ich wollte es dir gerne persönlich sagen, aber du sahst heute Mittag gestresst und kaputt aus. Außerdem wollte ich lieber etwas von den Koigawa erfahren. Dass ich einen Freund habe, weiß ich ja bereits." Kyōko ließ geschlagen den Kopf hängen und stieß einen brüskierten Laut aus. "Aber ich nicht! Wie kannst du mir das verheimlichen, Moko? Wie heißt er, wie sieht er aus, kenne ich ihn, wo wohnt er, was macht er, spann' ich nicht auf die Folter!" "Tsuruga-san", sagte Kanae trocken, einen Finger hebend. Für einen Moment setzte Kyōkos Herzschlag aus. Es gab tausend Möglichkeiten zu reagieren—schreien, fluchen, umfallen, ohnmächtig werden, zittern, weinen, lachen, seufzen, raunen, sterben waren nur die akkuratesten davon—doch keine dieser Optionen schien für dieses Ambiente passend zu sein. Sie wählte eine andere Alternative, schluckte ihre maßlose Verwunderung hinunter und suchte einen ruhigen, gelassenen Tonfall. "Du bist mit Tsuruga-san zusammen?" "Hä?" Kanae hob beide Augenbrauen zu einem skeptischen Gesichtsausdruck. "Ich gebe gerne zu, dass mir deine wirren, sprunghaften Gedankengänge immer schon verschlossen blieben, aber wie du darauf kommst, würde ich gerne wissen. Mein Freund heißt Shin'ichi. Jedenfalls steht dort drüben Tsuruga-san." Sie stieß ihre hellhaarige Kameradin in die Richtung des am Fenster stehenden Mannes, der in einem weißen Anzug aus der dunklen Masse hervorstach wie eine Alabastastatue. Gemeißelt wie in Stein, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Er schien sich im Gegensatz zu allem Anderen nicht verändert zu haben. Der Stich in Kyōkos Herzen strafte diese Wahrheit Lüge. Natürlich hatte er sich verändert. Er hatte ein Versprechen gebrochen. Ihr Tsuruga hätte einen solch fatalen Fehler niemals begangen. Er hatte sie versetzt und vor sich selbst blamiert. Wie sollte sie ihm gegenübertreten, ohne in Tränen auszubrechen—oder ohne ihn mit mordlüsternen Blicken zu erstechen? Die Antwort gab er ihr sofort, indem er sie bemerkte und Kyōkos Herz einen Satz machte. Nach all der Zeit, all ihrem Erfolg, empfand sie immer noch Ehrfurcht vor diesem großen Schauspieler, der nach wie vor ihr Mentor war; es immer sein würde. Es gab Dinge, die sich nicht verändern konnten, durften, würden. So sehr konnte sie sich nicht täuschen. Ebenso wenig wie sie es fertigbrächte, ihn zurückzuweisen. Ihn, mit seinem seichten Lächeln, das ehrlicher war als all das hohle Geschwätz des Abends. Wie lange sie dagestanden und einander angesehen hatten, wusste sie am Ende nicht mehr zu sagen. Vielleicht eine Minute, vermutlich weniger. Rens Lächeln war in seinem beherrschten Gesicht schnell zu einer ernsten Miene verblasst, glatt und nicht zu interpretieren. Ob er sich freute, sie zu sehen, ob er sie mit den langen Haaren und dem geschminkten Gesicht überhaupt erkannte, war nicht abzulesen. Es war Kanae, die schließlich ungeduldig wurde und ihre zu Stein erstarrte Freundin am Handgelenk packte, mit ihr den Saal durchsetzte, sie vor Ren an die Fensterfront stellte und sich zu den kostenlosen Petit Four neben den Minischrimps verabschiedete, ehe der Schauspieler sie begrüßen konnte. Kyōko hatte keine Wahl, als in Rens Augen zu sehen, die sanftmütig und verzeihend auf sie herabblickten. Was zum Teufel sollte er ihr verzeihen? Es war dieser Standardblick, mit dem er sie stets bedacht hatte, wann immer er sich schuldig fühlte, weil er sich als überlegen sah. Zu recht, aber auch wieder nicht. Tsuruga Ren war ein zweischneidiges Schwert, selbst nachdem sie ihre anfänglichen Schwierigkeiten der Feindseligkeit und Missinterpretation ambivalent-verstrickter Charaktereigenschaften überwunden hatten. Es war fast vier Jahre her, seit sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Eine unendlich lange Zeit, so fühlte es sich für Kyōko zumindest an. Rens gütiger Ausdruck hielt an, bis sie ihr Missfallen vor ihrer Impulsivität nicht länger verstecken konnte. "Du siehst aus wie ein Albinopinguin", murmelte sie mit undamenhaft vor der Brust verschränkten Armen. Ihre kleine Tasche schlug dabei gegen ihren Magen, der vor Hunger anfing zu knurren. "Isst du ordentlich?", erkundigte er sich, als hätte sie ihn eben nicht beleidigt. Tsk. Dieser eingebildete Gutmensch hatte den Nerv, ihre schlechte Laune rigoros zu ignorieren. "Kann schon sein. Ayase-san achtet auf meine Ernährung." Seufzend gab Kyōko ihre abwehrende Haltung auf und sah ihr Gegenüber zum ersten Mal seit zwanzig Monaten wieder richtig an. Direkt, durchdringend, echt. Ihr Ärger auf ihn und auf sich selbst war verraucht, oder zumindest in dem Moment aufgeschoben, in dem Rens Magen einen Kanon mit dem ihren einstimmte. "Isst du den ordentlich?", fragte sie zur Ablenkung. "Yashiro hat ein Auge darauf", gab Ren nonchalant lachend zu, "allerdings muss ich gestehen, dass seine Bemühungen oft genug scheitern. Es war in letzer Zeit ziemlich stressig. Du siehst dünn aus." "Ja", versuchte Kyōko abzuwehren. Anstatt legeren Lachens kam jedoch unsicheres Kichern aus ihrem geschminkten Mund, mit dem sie sich nicht traute, auch nur einen Happen zu essen. Die Angst, etwas der teuren Kosmetik zu verschmieren, war omnipräsent in ihren paranoiden Gedanken. "Ich versuche gut zu essen, allerdings habe ich das Kochen auf Ōsaka wohl verlernt, wenn ich ehrlich bin. Das Buffetessen am Set war so ausgezeichnet, dass ich mir nicht die Mühe machen musste, selbst zu kochen, wenn ich jemals Zeit dafür gehabt hätte. Hier in Tōkyō schleift mich Ayase-san von einem Termin zum nächsten, da bleibt ebenfalls wenig Zeit, auf gesunde Ernährung zu achten." Sie legte ihre manikürten Hände übereinander, um eine leichte Verbeugung anzudeuten. "Ich hatte damals kein Recht, über deine Essgewohnheiten zu urteilen, weil ich nicht wusste, wie schwierig es ist, in einem stressigen Alltag—" "Es ist in Ordnung", unterbrach er sie sanft wie immer. Kyōkos Augen begannen erleichtert zu leuchten. Scheinbar gab es doch Dinge, die sich nicht verändern konnten. "Nein, es ist sogar mehr als das, Mogami-san. Es ist gut, jemanden an seiner Seite zu haben, der dich dazu zwingt, dich selbst nicht zu sehr zu vernachlässigen." Sie nickte. Früher hätte sie sich lautstark damit gebrüstet, über seine Selbstbestimmung gesiegt zu haben, heute nahm sie dieses Faktum zustimmend an. Früher hätte sie auch über ihn gerichtet, weil er sich über seine Grenzen trieb, an den Rand seiner Möglichkeiten, seine eigene Gesundheit hinter alles andere stellend, um dem Druck gerecht zu werden, der auf ihm lastet. Heute war sie genauso. Kyōko war derart weit gekommen, dass sie nachempfinden konnte, welche Dilemmata eine Mediengröße wie Tsuruga Ren durchstehen musste. So weit hatte sie es gebracht. So hoch stand sie. Ach ja, richtig, diese Gala war unter anderem ihretwegen gegeben worden. "Wieso bist du hier, Tsuruga-san?", fragte sie scheinbar aus dem Blauen heraus, denn Ren war sichtlich überrascht von der krassen Kehrtwende. "Nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen"—obwohl er sich mit keinem Wort für sein Fernbleiben gerechtfertigt, schon gar nicht entschuldigt hatte—"aber ist diese Party nicht nur für Investoren? Oder hat LME dich als Vertreter geschickt?" "Nicht direkt …", gab Ren zu. "Ich wollte dir gerne persönlich zu deinem Erfolg gratulieren. Wir haben beide sehr zeitintensive Projekte, da bleibt kaum Gelegenheit, direkt miteinander zu sprechen, daher wollte ich zumindest diese Chance ergreifen, dir alles Gute für die Zukunft zu wünschen, Kyōko." Kyōko stieß einen leisen Laut der Verwunderung aus. Er hatte sie beim Vornamen genannt? Aber das war nicht das Hervorstehendste, das sie fragend die Augen weiten ließ. Seine Wortwahl klang wie ein Abschied. "Tsuruga-san—" "Ren-kun!" Woher sie kam, konnte Kyōko nicht sagen. Fakt war jedoch, dass Uehara Ayases strahlende Präsenz einen Pflock der Entrüstung durch ihr Herz trieb. Sie sah wunderschön aus in dem hautengen Paillettenkleid, das sich um ihren schmalen, hochgewachsenen Körper schlängelte, wie nur eine Frau von Welt ihn haben konnte. Wie sehr Kyōko ihre plötzliche Konkurrentin hasse, konnte sie nicht verbalisieren, weil ihr dazu schlicht das nötige Vokabular fehlte. Es war unangebracht, sich Empfindungen anmerken zu lassen, darum reagierte Kyōko passiv und zurückhaltend, als Ayase ihren Schützling begrüßte während sie sich bei Ren einhakte. "Wie ich sehe, hast du meinen reizenden Begleiter bereits getroffen, Kyōko-san. Jahrelang habe ich versucht, mich mit Yashiro um die Stelle von Ren-kuns Manager zu streiten, aber letzten Endes konnte ich ihn doch nur dazu überreden, mein Begleiter zu werden, anstatt ein berufliches Verhältnis zu beginnen. Wie bedauerlich, aber ich will nicht klagen. Ein Glück, dass es die Damenwahl gibt." Kyōko versuchte einen bösartigen Unterton aus der Stimme ihrer Managerin zu erkennen, musste sich jedoch angesichts dieser erschlagenden Offenheit zu einer Niederlage bekennen. Ayase schien offenkundig enttäuscht darüber, dass Yukihito sie in ihrem eigenen Rennen ausgebotet hatte. Nicht minder erfreut war sie im Gegensatz dazu über ihren Teilsieg und ihr privates Verhältnis zu dem Mann, dem sie lieber auf geschäftlicher Ebene näher gekommen wäre, was Eifersucht in der jüngeren Frau schüren hätte müssen. Kyōko hätte eine solche gewiss auch empfunden, hätte sie nicht neidlos anerkennen müssen, dass Ayase an Rens Seite aussah, als gehöre sie dorthin. Sie sahen schön aus, schöner als alle weltliche Ästhetik zusammen. Was auch immer Ayases Pläne mit ihrem Begleiter waren—falls sie Pläne mit ihm hatte und sich nicht nur mit ihm als Accessoire schmücken wollte, weil es einen guten Eindruck machte—sie waren sofort nichtig, als sie einen wichtigen Mann in einer Ecke stehen sah, abgetrennt von der schützende Herde. "Komm", befahl sie, legte eine Hand an Kyōkos Rücken und führte sie in die Richtung des Schnurrbartträgers, "wir stellen dich Tsuchiya-san vor, ehe Aihara und die Aasgeier ihn sich schnappen können. Ren-kun, würdest du uns inzwischen Sekt besorgen?" Dass Ayase damit sich und ihn meinte, war Kyōko spätestens zu dem Zeitpunkt klar, als ihre Managerin sich aus dem Gespräch mit Tsuchiya zurückzog. Sie hatte einige einleitende Worte von sich gegeben, die ihr Soll glänzend erfüllt hatten, war sogar noch einige Minuten geblieben, um ihrem Schützling den Einstieg in die Konversation zu erleichtern, hatte sich dann jedoch verabschiedet. Aus den Augenwinkeln hatte Kyōko beobachtet, wie sie zu Ren gegangen war, mit ihm angestoßen und gekichert hatte wie ein Schulmädchen, was so gar nicht dem Bild der starken, unabhängigen Frau Ende zwanzig entsprach, das sie bislang vermittelt hatte. Es dauerte, bis Kyōko sich loseisen konnte. Irgendwann fand sie sich an einem Tisch mit Kanae und Maria wieder, die ihren Großvater zu dem Empfang begleitet hatte. "Es ist nach Mitternacht", bemerkte Kanae umsichtig, als sie Kyōkos knurrenden Magen zum wiederholten Mal bemerkte. "Die meisten Gäste sind gegangen oder betrunken. Niemanden wird es stören, wenn dein Lippenstift verschmiert." "Ich habe keinen Hunger …" Kyōko schüttelte sachte den Kopf, um ihre Frisur nicht zu zerstören. Eine Strähne löste sich dennoch aus dem eleganten Flechtwerk auf ihrem Kopf. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sie verspürte, während sie sich Marias neueste Geschichten über ihren Vater anhörte, der sie vor zwei Monaten besucht hatte. Es hatte nichts mit der freudestrahlenden Erzählung des jungen Mädchens zu tun, das als Gast ihres Großvaters auf die Veranstaltung mitgekommen war. Sogar nachdem dieses gegen halb ein Uhr morgens von Takarada Lory nahezu gewaltsam aus dem Festsaal gezerrt worden war, da ein Kind um diese Uhrzeit längst im Bett liegen musste, verschwand dieses flaue Empfinden nicht. Es war, als wären ihre Sinne abgestumpft. Als wäre Kyōko ganz weit weg von allem, was hier war. Es war später als spät, als Kanae aufgab. Sie war müde und als Gast einer Nebendarstellerin hätte sie gar nicht so lange bleiben müssen. Sie hatte es ihrer Freundin zuliebe getan, deren stummes Dilemma nicht spurlos an ihr vorbeigegangen war. Dass es um Ren ging, sah ein Blinder mit Krückstock. Bloß Kyōko nicht. Besagter Schauspieler war noch eifrig dabei, Hände zu schütteln und sich in einem positiven Licht darzustellen—an seine Seite Ayase—als Kanae ihre Freundin endlich dazu überreden konnte, nach Hause zu gehen. "Du kannst bei mir schlafen", bot sie ihr an. "Alleine ist ein Taxi ziemlich teuer, ich wohne näher und außerdem wecken wir bei mir niemanden auf. Mit dem Kleid willst du doch nicht mit deinem Fahrrad ins Darumaya zurückfahren, oder?" Kyōko schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht! Nach allem ist es nur geliehen. Ich könnte es mir nicht leisten, Schäden daran zurückzuzahlen. Ayase-san nannte eine Zahl als Kaufpreis, die ich ehrlich gesagt noch nie auf einem Preisschild gesehen habe. Vielleicht war es aber auch ihr vollständiges Geburtsdatum." "Mach dich nicht verrückt, du bist doch jetzt berühmt. Bald wirst du in Geld schwimmen und mehr Geld für Make-Up ausgeben als andere Menschen Miete zahlen!" Die hellhaarige Schauspielerin konnte ihr Lachen über diesen Gedanken nicht verbergen. Es war das erste Mal seit ihrem Gespräch mit Ren, dass sie ein freundliches Gesicht machte, das nicht durchzogen von Melancholie war. Überraschenderweise hielt es sich bis zur Abendtoilette, nach der die beiden jungen Frauen sich auf Mokos Ausziehcouch fallen gelassen und den Fernseher eingeschaltet hatten. Kyōko hatte die Zeit damit zugebracht, Kanae nach ihrem neuen Freund auszufragen, der gar nicht so neu war. Es schien eine komplizierte Beziehung zu sein, über die sie jedes noch so kleine Detail wissen wollte, was letztere nicht nachvollziehen konnte. Wieso war es wichtig, wo sie ihr erstes Date gehabt oder sich zum ersten Mal geküsst hatten? Kyōkos Neugierde ehrte sie, und obwohl sie es oberflächlich als nerventötend empfand, unnachgiebig ausgefragt zu werden, kam sie nicht umhin, es verhalten zu genießen. Es war etwa drei Uhr, als Kanae realisierte, wie sehr sie ihre einzige wahre Freundin vermisst hatte. "Weißt du, Kyōko, anfangs war ich ziemlich froh, dass ich dich Nervensäge endlich los bin, aber alleine war es in der Love Me Section richtiggehend langweilig. Es ist wirklich peinlich, alleine in dieser pinkfarbenen Uniform des Horrors herumzulaufen … noch dazu, wenn man es bei einem Mitglied nicht als Uniform bezeichnen dürfte. Alles blieb an mir hängen, ernsthaft, das war vielleicht anstrengend. Zum Glück konnte ich diese Rolle in der Komödie ergattern, sonst wäre ich noch verrückt geworden. Ich bin wirklich froh, dass du wieder da bi—Kyōko?" Sie winkte mit ihrer Handfläche vor Kyōkos Gesicht, deren Augen starr auf den Fernsehbildschirm gerichtet waren, ohne die Geste wahrzunehmen, mit der Kanae sich um Aufmerksamkeit bemühte. "Hörst du mir zu?" "Was ist das?", fragte Kyōko fernab des aktuellen Konversationsthemas, nach wie vor ungläubig auf das Bild starrend, das sich vor ihr zeichnete. Ein junger Mann machte einer Frau eben einen Heiratsantrag, den diese bestimmt, aber weinend ablehnte. "The Only Ones." Kanae zuckte die Schultern und warf ihr eine Programmzeitschrift zu. Sie fing sie ungeschickt auf und betrachtete das aussagelose Cover. "Seite zwölf bis sechzehn", informierte Kanae weiter, blätterte von der Seite das Heft auf und tippte mit dem Finger auf die Überschrift in Sonnengelb. "Der Typ dort ist eigentlich der Bruder ihres Verlobten, hatte jedoch vor Jahren eine Affäre mit ihr, als er noch verheiratet war. Letzte Folge gab es das große Geständnis. Es wird spekuliert, ob sie schwanger ist. Der Verlobte der Frau wird übrigens gespielt von—" "Tsuruga-san." Es war kaum mehr als heiseres Hauchen, das Kyōkos Lippen verließ. Dennoch klar vernehmlich. "Ja. Woher weißt du das?" Sie schüttelte fassungslos den Kopf, den Blick wie gelähmt weiterhin auf die gestellte dramaturgische Szene gebannt. "Tsuruga-san erzählte mir vor meiner Abreise von dieser Rolle. Am Schluss wird er seine Verlobte freigeben, da das Kind von seinem Bruder ist." "Aha", machte Kanae, die keine Zeit hatte, sich über dieses unverschämte, handlungstechnische Vorgreifen zu brüskieren. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich eine Sache zu fragen: "Wieso schockiert dich das? Tsuruga-san hatte bereits öfters Antagonistenrollen." Kyōko nickte fahrig. "Ich weiß. Es ist nur … ich wollte mir die Serie unbedingt ansehen oder zumindest aufnehmen, weil mir seine Rolle so gut gefiel. Er versprach mir vor meinem Abflug am Telefon, mir bescheid zu geben, sobald das Drama im Fernsehen läuft. Bei welcher Folge sind sie?" "Fast am Ende. Sie wird seit drei Monaten ausgestrahlt." "Drei Monate also …" Erneut dieser blasse, verschwindende Ton, den Kanae auf den Tod nicht leiden konnte. "Er wollte mich vom Flughafen abholen, kam aber nicht. Er wollte mich wegen der Serie anrufen, tat es aber nicht. Trotzdem begrüßte er mich auf der Gala, als sei nichts verändert zwischen uns. Aber irgendwie … ist nichts wie vorher." Kanae blinzelte ungläubig. Das war es also? "Was hast du dir vorgestellt, Kyōko? Du warst fast zwei Jahre weg. Natürlich verändert sich alles, Menschen wie Umstände. Sieh dir nur an, wie groß Maria geworden ist; in wie vielen Fernsehserien ich mittlerweile mitwirken durfte; und wie sehr du dich verändert hast. Du merkst es vielleicht nicht, aber auch du bist nicht stillgestanden—wie auch? Wir alle werden älter, reifer, weil das der Lauf der Zeit ist. Erwartest du von Tsuruga-san, stillzustehen, während du dich zu einer erwachsenen, erfolgreichen Frau entwickelst?" "Nein … aber …" "Nichts aber!" Sie klatschte entschieden in die Hände. "Wenn das der Grund ist, wieso du so schlecht drauf bist, hast vor allem du dich verändert. Hast du vergessen, wieso du in die Love Me Section verbannt wurdest? Seit wann interessiert dich eine männliche Meinung?" "D-Das ist … weil … weil … er ist doch ein älterer Kollege!", japste Kyōko glücklich über diese grandiose Ausrede. "Natürlich interessiert mich seine Meinung, immerhin kann ich viel von ihm lernen!" Kanae war weniger überzeugt, seufzte dann jedoch. "Ich lasse fünf gerade sein, weil es spät ist. Trotz allem finde ich, dass du es bist, die sich am meisten verändert hat. Alleine deine Konsequenz und dein Durchhaltevermögen haben sich deutlich verbessert. Von den zwei Kilo, die du zugenommen hast, schweige ich lieber—" Das nächste, das sie spürte, war ein Kissen in ihrem Gesicht und ein Mädchen, das sich auf sie stürzte. Hilfesuchend langte sie nach einem weiteren Kissen, mit dem sie sich erbittert wehrte, bis ein Federregen das Zimmer in Weiß hüllte. Es war das Ende zweier sehr unperfekter Wochen voller Veränderungen. Kyōkos Rückkehr war geprägt davon gewesen. Von liebsamen und unliebsamen gleichermaßen. Doch Kanae hatte es geschafft, ihr Mut zu machen. Sie würde diese Veränderungen nicht nur akzeptieren, sondern richten. Und sie würde morgen damit beginnen. . . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)