Visions von 4FIVE (Insert Close (Ren/Kyōko)) ================================================================================ Kapitel 1: Initial ------------------ © You were like a power of nature, Telepathic beautiful creature, Understanding all of my weakness, Patient love you'll know when you reach it. - ɣ - P R O L O G Es war einer dieser Tage. Dieser Tage, an denen man aufstand und alles beschissen war. Zu behaupten, Tsuruga Ren und Mogami Kyōko seien emotional komplett Zurückgebliebene, wäre eine schiere Untertreibung gewesen. Während er lockere Beziehungen zur Ablenkung pflegte, war sie dabei, die steile Karriereleiter empor zu klettern, um es ihren beiden größten Konkurrenten heimzuzahlen. Wieso sie sich an diesem Sänger, diesem Shō wer-auch-immer, rächen wollte, war offensichtlich. Wieso sie es allerdings—wenn auch auf andere Art—auf Ren abgesehen hatte, wusste er, Yashiro Yukihito, das eigentliche Opfer dieser Farce, beim besten Willen nicht. Diesen beiden emotional Gestörten dabei zuzusehen, wie sie heillos verloren umeinander herum tanzten, war für den Anfang eine köstliche Unterhaltung gewesen, inzwischen ärgerte ihn die melancholische Sturheit, mit der sein Schützling sich weigerte, Verantwortung zu übernehmen. Genau das war es nämlich: Tsuruga Ren, dieser lethargische Phlegmatiker, hatte nicht den Mut, Verantwortung für seine Gefühle zu tragen. Dass er damit zu einem kleinen Teil rechthatte, wollte Yukihito gar nicht abstreiten. Nichts läge ihm ferner als seinem Freund Wahrheiten abzusprechen, allerdings machte diese schlaue Erkenntnis nur einen verschwindend geringen Bruchteil der Realität aus. Ren hatte Angst zu versagen. Dass diese Angst berechtigt war, empfand Yukihito als unbegründet, ließ diese Zweifel aber ungesagt verhallen. Im Grunde handelte Ren laut logischer Überlegungen korrekt. Rein menschlich gesehen war er ein Idiot. Besagter Idiot schloss die eben gedrehte Szene mit einem wütenden Gesichtsausdruck seines Charakters ab und wanderte zu seinem Mobiltelefon, das aufgeregt auf einem der Stühle vibrierte. Yukihito unterdrückte wissendes Lachen, das ihm im Hals stecken blieb als Ren abhob. Er hatte gewusst, dass es nur Kyōko sein konnte. Wer sonst war so unverschämt, den vielbeschäftigten Schauspieler während der Dreharbeiten anzurufen? Bei wem sonst hätte er den Anruf entgegengenommen? Yukihito durchsetzte das Set und trat an Ren heran, um lauschen zu können. Da Ren wusste, dass sein Manager wusste, dass Ren um seine Gefühle zu seiner jungen Schauspielkollegin wusste, war es nicht nötig, heimlich zuzuhören, als der hochgewachsene Japaner nickte. "Das freut mich für dich", hörte er ihn sagen. Die Freude konnte nur ehrlich gemeint sein, allerdings klang sie nicht danach. Kyōkos sich überschlagende Stimme drang aufgeregt aus dem kleinen Mobilfunkgerät. Was sie sagte, konnte Yukihito nicht verstehen, aber es schien Neuigkeiten zu geben, die sie in Ekstase versetzt hatten. "Ja", sprach Ren weiter, nachdem ihre Erzählung geendet hatte. "Ich verstehe. Alles Gute dafür. Sollte es Probleme geben, kannst du mich jederzeit anrufen." Kyōko erwiderte etwas, das sich wie eine Ablehnung anhörte. "Ich werde immer Zeit für eine vielversprechende Kollegin finden. Die Rolle hört sich sehr vielschichtig an. Ich hoffe, du hast dort gute Koakteure, die mit dir üben können, falls du dir unsicher sein solltest." Sie wurde leiser, was es für Yukihito noch schwieriger machte, ihren Tonfall zu erkennen. Aus reiner Intuition heraus vermutete er, dass sie Ren dankte, ehe sie ihm abschließend eine Frage stellte. "Das werde ich. Sobald du das Ankunftsdatum weißt, sag mir Bescheid. Ich würde mich freuen, Haruko-sama." Yukihito runzelte die Stirn. Er wartete ungeduldig, bis Ren aufgelegt und sein Telefon in der Tasche seiner Leinenjacke verstaut hatte. Erst nach einer Minute, in der er seine Neugierde auf ein Minimum zurückgeschraubt hatte, wagte er nachzufragen. "Haruko-sama?" "Mogami-san", korrigierte Ren nonchalant. Seine Augen straften seinen lockeren Tonfall Lüge. "Sie wurde für eine wichtige Nebenrolle in einem Fernsehdrama namens Koigawa engagiert, nachdem die eigentliche Besetzung ein besseres Angebot für einen Kinofilm erhalten hat. Die Dreharbeiten beginnen in einer Woche." "Bis dahin sind wir niemals hier fertig, um ihr zuvor persönlich Glück zu wünschen", rechnete Yukihito fieberhaft. "Das wäre auch irrelevant. Das Set befindet sich nicht in Tōkyō." "Sondern?" Ren seufzte verhalten. "Okinawa. Die gesamte erste Staffel und Teile der zweiten werden dort gedreht." "Die gesamte—" Yukihito stutzte. Er war zu lange in diesem Geschäft, um nicht zu wissen, wie lange man für die Produktion eines guten Dramas brauchte, geschweige denn, wenn Teile weiterer Staffeln dort gedreht werden sollten. "Wie lange wird sie dort sein?", fragte er sicherheitshalber für den Fall, dass er fantasierte. Wie war das möglich? War dies kein Märchen, in dem am Ende alles gut würde? Wie sollten Ren und Kyōko sich finden, wenn sie zweitausend Kilometer voneinander entfernt waren? "Anderthalb, vielleicht zwei Jahre", besiegelte Ren diese aberwitzige Entwicklung. Yukihito schüttelte den Kopf. Es war eine viel zu lange Zeit, um Prognosen machen zu können. 'Aus dem Augen, aus dem Sinn' war keine allgemeingültige Regelung für tiefe Empfindungen, doch Ren und Kyōko führten keine Beziehung. Es war unvorstellbar, dass ein junges Mädchen vierundzwanzig Monate lang unter einer Kohorte schöner Schauspieler, die fernab der Heimat zu einer Familie werden würden, an einem vagen Gefühl für jemanden festhielt, der am anderen Ende Japans sein eigenes Leben führte. Ren wusste das und mit diesem Wissen würde auch er weitermachen. "Ist alles in Ordnung, Ren?" "Ja." Tsuruga Ren hatte noch nie überzeugend lügen können. Kapitel 2: Changes ------------------ . . Mit nichts mehr als einer Reisetasche um die Schultern gehängt, stieg Kyōko aus der Passagiermaschine, die soeben am Tōkyō Kokusai Kūkō gelandet war. Sie hatte nicht viele ihrer spärlichen Habseligkeiten mitgenommen; oder zurückgebracht. Die meisten Stücke ihrer Kleidung waren abgetragen und durch neue ersetzt worden, das wenige Make-Up, das sie besaß, wog neben den neuen Zeitschriften, die sie sich am Flughafen in Okinawa gekauft hatte, kaum etwas und ihr Fotoapparat war während einer schwülen Nacht nach einem ausgearteten Essen mit ihren Schauspielkollegen infolge eines Mondscheinspaziergangs in der Bucht von Kaiba zu Bruch gegangen—eines eher unorthodoxen Spaziergangs, nichtsdestoweniger blieb er real kaputt. Kyōko atmete die vertraute Heimatluft ein. Tōkyō hatte ihr gefehlt. Mehr als nur gefehlt, sie hatte es schmerzlich vermisst. Über anderthalb Jahre auf einer Insel gefangen zu sein, die als Paradies bekannt war, mochte für jedermann wie ein Traum anmuten, für Schauspieler bedeutete es neunzehn Monate lang unermüdlichen Einsatz, um jede Szene des Millarden Yen Projektes perfekt umzusetzen. Man hatte große Erwartungen an das TV Drama, welches als eines der teuersten und aufwendigsten in die japanische Filmgeschichte eingehen sollte. So lautete zumindest die Parole des Produzenten, der jeder wohlhabenden Menschenseele, die der japanischen oder englischen Sprache mächtig war, wertvolle Investitionen aus der Tasche gesaugt hatte, um das teure Projekt zu finanzieren. Kyōkos Gehalt—das Gehalt aller Schauspieler—war lächerlich gering im Vergleich zu den monetären Mitteln, die man für die zeitintensiven Kulissen und Kostüme aufgewendet hatte. Die Honorare der beiden Hauptdarsteller, bekannte Gesichter der glamourösen Filmbranche, waren die einzigen, die einigermaßen in die korrekte Richtung gezahlt wurden. Alle anderen Entlohnungen tendierten gegen eine indirekt proportionale Relation, die Kyōko völlig egal war. Sie war eine von drei Rückblendenprotagonisten, was ihrem Status als Schauspielerin Ruhm und Gloria brachte. Alleine die Anzahl der Staffelfolgen, die sich im Gegensatz zu Niedrigbudgetproduktionen auf fast zwanzig Stück beliefen, würde ihre Frequenz auf nationalen Bildschirmen in persönlich bislang unerreichte Sphären steigern. Dieser Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen, ebenso wie die Vorfreude, die wahre Freude mit einer Person teilen zu können, die sich mehr für sie freuen würde als sie sich für sich selbst freuen konnte—was ihr kaum möglich erschien bei all der Freude. Ihre redundanten Gedanken beiseiteschiebend, betrat sie mit suchendem Blick die hohe Halle, in die alle Passagiere angekommener Inlandslinienflüge nach der Gepäckabholung gelotst wurden. Sie folgte blind dem Strom, bis er sich nach vorne hin auffächerte, wo die wartenden Familienmitglieder, Freunde oder Abholer mit Schildern bewaffnet warteten. Kyōko bekam die herzzerreißenden Wiedersehensszenen nur am Rande mit. Eine ihrer Kolleginnen fiel ihrem Ehemann weinend in die Arme und ließ sich anschließend ihren Koffer abnehmen. Von der anderen Seite trat ihr Serienehemann an sie heran, berührte zum Abschied ihre Schulter und ging in die Richtung seiner Schwester, die mitsamt den vermeintlichen Großeltern hinter der samtroten Absperrung die Hand hob. "Wir sehen uns morgen, ja?", rief er nach hinten weg, wo Kyōko abwesend nickte. Ihre Aufmerksamkeit galt den wartenden Japanern, aus deren Masse einer ganz besonders hervorstechen sollte. Himmel, dieser Mann war einen Meter neunzig groß—wie konnte man ihn übersehen? Die Möglichkeit, Tsuruga Ren habe sein Versprechen gebrochen, war keine annehmbare Option. Doch nicht Tsuruga-san. Nicht der notorische Perfektionist, der er war. Prüfend zog sie ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack, schaltete es ein und überprüfte den Postausgang ihrer Textnachrichten. Da stand es: das Datum ihrer Ankunft, fein säuberlich von ihrem Ticket abgetippt, gleich neben der Uhrzeit und der Nummer ihres Fluges. Sie hatte sich nicht vertan, aber er vielleicht? Irritiert durchforstete sie ihren Posteingang nach neuen Nachrichten, doch sie wurde nicht fündig. Er hatte bis jetzt nicht geantwortet. Keine Zusage. Das bedeutete aber auch keine Absage. Tsuruga Ren würde sie nicht unangemeldet versetzen. Er hatte ihr versprochen, sie bei ihrer Rückkehr abzuholen. Es war neunzehn Monate her, aber war es deswegen weniger geschehen als an dem Tag, an dem sie ihr letztes Regionalgespräch geführt hatten? Die letzten Monate hinweg hatten sie einander immer wieder angerufen; sie hatte immer wieder Hilfe gebraucht oder sich selbst ein Problem geschaffen, nur um seine vertraute Stimme zu hören, die ihr ein Gefühl von Heimat gab. Nun war er nicht da und es ärgerte und verletzte sie. Ihr letztes Gespräch war zwei Monate her, doch das gab ihm nicht das Recht, sie hier stehen zu lassen wie einen begossenen Pudel. "Kyōko-san!" Die junge Schauspielerin sah verwundert auf. Ihr brauner Blick traf strahlendblaue Augen, die unnatürlich schön im Gesicht der adrett gekleideten Japanerin aussahen. Ihr Haar war zu einem lockeren Knoten nach hinten gebunden, um den Blick auf ihr glattes Gesicht freizuhalten. Ihre Füße wurden von teuren Schuhen ummantelt, deren Kaufpreis gewiss Kyōkos gesamtes Honorar überstieg. Sie waren mindestens so wertvoll wie das Etuikleid und der dezente Weißgoldschmuck, den die schlanke Frau trug. Auf dem Schild, das ihre geraden Finger hochhielten, stand Kyōkos Name. Unverkennbar. Darunter prangte das Logo von LME. Dieser Mistkerl hatte jemanden vorgeschickt! "Gute Tag, Kyōko-san", grüßte die Frau, die höchstens Ende zwanzig sein konnte, nachdem Kyōko mit skeptischen Schritten bei ihr angekommen war. Ihre geschwungenen, rotbemalten Lippen lieferten sich einen Aufmerksamkeitskampf mit ihren hellen Augen als sie mit freundlicher, aber strammer Stimme sprach. "Mein Name ist Uehara Ayase. Ich bin Ihre Terminkoordinatorin und Managerin während der Promotion. Sie können mich gerne beim Vornamen nennen, denn wir werden die nächsten zwei Monate sehr eng zusammenarbeiten. Ich darf sie zwecks Ihres Künstlernamens bei diesem nennen, oder bevorzugen Sie Mogami-san?" Erschlagen von einem derartigen Ausmaß geschäftlicher Höflichkeit nickte Kyōko, was Ayase als Zustimmung zu der von ihr bevorzugten Variante wertete. Sie legte das Pappschild in das Innere eines schwarzen Ordners, auf dem sowohl der bekannte Schriftzug von Koigawa als auch erneut das Emblem von LME gedruckt war. Kyōko ahnte, was es zu bedeuten hatte. Ayase zeigte kein Erbarmen. Ohne weitere Worte gab sie rasches Schritttempo vor, mit dem sie binnen weniger Minuten den Parkplatz des Flughafens erreicht hatten, auf dem bereits eine schwarze Kleinlimousine samt Fahrer bereitstand, die eindeutig von der Agentur zur Verfügung gestellt worden waren. Sie saßen kaum in dem beigefarben gepolsterten Wagen, da klappte Ayase den unheilvollen Ordner auf und hakte eine Liste ab. Das Marketingteam der Produktionsfirma hatte bereits angedeutet, dass die ersten Monate in Tōkyō anstrengend werden würden. "Kann ich zuerst nach Hause fahren und duschen?", fragte Kyōko ohne Hoffnung. Die Strapazen des Fluges und die Enttäuschung und Wut über Rens Fernbleiben klebten unangenehm auf ihr. "Das kann ich nicht erlauben. Wir haben in den nächsten acht Wochen einen strengen Terminkalender. LME hat mich Ihnen als temporäre Verstärkung zugeteilt, um sicherzustellen, dass Sie Ihren hübschen Kopf für die bevorstehenden Interviews und Reportagen frei haben, anstatt sich mit der Organisation ihres Tagesablaufes beschäftigen zu müssen. Ich werde gut für Sie sorgen, seien Sie also bitte beruhigt." Beruhigt war Kyōko keineswegs. Sie wusste um die Funktion von Managern; sobald ein Schauspieler, Sänger oder Model ein bestimmtes Level erreicht hatte, war ein Manager aus genannten Gründen unentbehrlich. Es war unmöglich, alle geschäftlichen Termine selbst zu organisieren. In weiterer Folge war es umso schwieriger, sie mit privaten Vorhaben abzustimmen. Sie kannte Yashiro Yukihito, der inzwischen ein enger Freund seines Klienten war. Ayase sah weniger nachgiebig aus, zumal Kyōko weniger diszipliniert war als Ren. Uehara Ayase würde für die nächsten sechsundfünfzig Tage ihr Orakel sein, das ihr befehlen würde, wann sie wo zu sein, was sie wann zu essen und wie sie was zu tun hatte. Sie hatte großen Respekt vor dem stressigen Job von Managern, allerdings änderte es wenig an der Tatsache, dass es ihr bereits jetzt schon auf die Nerven ging, bevormundet zu werden. Was rein objektiv nicht der Fall war, aber wann hatte Mogami Kyōko sich schon jemals um Validität ihrer Gedanken geschert? In zwei Monaten würde Koigawas erste Folge der in einem großen Spektakel erstausgestrahlt werden. Bis dahin gab es vielerlei Werbung zu machen, wobei Kyōko nicht die einzige war, die als wichtige Darstellerin eine lange Reihe verschiedenster Promotionsaufgaben hatte. Wann war sie zu einem Werbemäuschen geworden, anstatt zu einer Schauspielerin? Die Furore um diese Serie war seit neunzehn Monaten ihr Lebensinhalt. Am Ende würden es einundzwanzig sein, nach denen der Dreh der restlichen zweiten Staffel in Tōkyō fortgesetzt werden würde. Plus der dritten Staffel musste sie ihrer groben Hochrechnung zufolge noch weitere zehn bis zwölf Monate ihre Rolle spielen. Was nicht schlecht war, nur eben lange. "Um sieben Uhr müssen wir im Sumida Palais sein, um die ersten Probeaufnahmen für die Fotostrecke nächste Woche zu machen", erklärte Ayase, die blauen Augen durch eine professionell wirkende, elegante Lesebrille auf die Agenda niedergeschlagen. "Laut meinen Informationen ist lediglich eine Kostümprobe veranschlagt, um etwaige Änderungen rechtzeitig vornehmen zu können." "Okay", stimmte Kyōko zu, als hätte sie die Wahl gehabt. Sie war bloß ein kleiner Teil dieser Kette, längst nicht mehr das schwächste Glied und darum zählte man auf sie. Es war ein neues Gefühl, als Profi gesehen zu werden. Man hatte ihr nicht lange zugesprochen, hatte nicht mit ihr für Interviews geprobt oder sie zur Seite genommen, um sie auf die kommenden Wochen vorzubereiten. Man hatte sie nicht gelobt und das war etwas, das sie mit Stolz erfüllte. Die Produktionsfirma erwartete eine einwandfreie Leistung von ihr. Schauspielerisch und öffentlich. So weit war sie gekommen. Viel weiter als sie es sich ausmalen hätte können. Wie eifrig war sie vor drei Jahren gewesen, Shō von seinem hohen Ross zu stürzen. Und wie arbiträr dieses Vorhaben inzwischen geworden war. Es war nicht mehr wichtig, weil sie längst keine Schauspielerin mehr war, die sich an ihrem Kindheitsfreund rächen wollte, sondern weil es zu ihrem Traum geworden war. Dies war nicht länger ein Spiel, bei dem sie auf die Nase fallen konnte. Es war bitterer Ernst, auf dessen Drahtseil sie sich keine Fehltritte erlauben durfte. Denn wenn sie fiel, würde halb Japan ihren Absturz sehen. So weit war sie gekommen. Und es war noch längst nicht das Ende. Das war der Grund, wieso Kyōko trotz Müdigkeit und Hunger die stundenlange Prozedur über sich ergehen ließ, in der man ihr ein Outfit nach dem anderen anzog, die abzuändernden Stellen markierte, sie in das nächste Kleidungsstück steckte und währenddessen an ihren Haaren und ihrem Gesicht werkelte, um das Make-Up auf ihren Teint abzustimmen. Man wollte die Fotostrecke, die in einigen Tagen für ein Hochglanzmagazin geschossen werden sollte, so reibungslos als möglich durchführen. Es lag in Kyōkos Interesse, den Ablauf glatt zu halten, weswegen sie sich zusammenriss, ihren schmerzenden Rücken ignorierte und schlussendlich auf dem Sitz des Autos zusammensank. Für die nächsten zwei Wochen wurde diese geräumige Limousine Kyōkos einziger Rückzugsort. Sie schlief, aß, wohnte und lernte darin, während sie sich darin von einem Termin zum nächsten kutschieren ließ. An ihrer Seite jede Sekunde lang Ayase, die kein Gezeter, Gemecker, Trödeln oder Bummeln duldete. Sie mochte gut in ihrem Job sein—Gerüchten zufolge eine der besten Agentinnen, die LME zu bieten hatte—aber sie war eine Sklaventreiberin. Vielleicht das eine wegen dem anderen. Bloß in welche Richtung verblieb zumindest in Kyōkos Augen unklar. Uehara Ayase war alles, was man beneiden konnte. Ehrgeizig, erfolgreich, schön, klug und standhaft. Sie verteidigte ihren Schützling wo es nur ging, wehrte Attacken von Terminänderungen, unrechtmäßigen Fragen und Verzögerungen erfolgreich ab und obwohl sie Kyōko von einer Veranstaltung zur nächsten zerrte, konnte diese nicht umhin, tiefste Dankbarkeit für den unermüdlichen Einsatz ihrer Managerin zu empfinden. Ayase ersparte ihr viele Unannehmlichkeiten, schubste sie immer in die richtige Richtung und lenkte sie so gut sie konnte in Bahnen, die sie alleine weiter entlang laufen konnte. Es war Ayase zu verdanken, dass Kyōko am Ende der ersten zwei Wochen heillos erschöpft in ihr heimischen Bett über dem Darumaya fiel und einen erholsamen Schlaf schlief, anstatt elendig zu sterben. - Es war der nächste Morgen, ein Aprilsonntag, an dem ihr erster und letzter freier Tag datiert und Kyōko froh war, die letzten Wochen in von Uhrzeiten beherrschtem Stress verlebt zu haben. Es hatte ihr die Muße abgenommen, über Rens unhöfliche Versetzung nachzudenken. Heute schlief sie bis in den frühen Vormittag hinein, putzte sich die Zähne, warf sich bequeme Freizeitkleidung über und verließ das Haus, ehe sie ins Grübeln darüber verfallen konnte. Gestern Abend, ehe sie todmüde die Augen geschlossen hatte, hatte sie Kanae eine Textnachricht geschickt. Seit ihrer Ankunft in Tōkyō hatte sie keine Zeit gehabt, ihre engste Freundin zu treffen, geschweige denn mit ihr zu telefonieren. Alles, was sie bislang in Tōkyō gesehen hatte, waren Reporter, Kameras, Scheinwerfer, Kostümbildner und Ayase gewesen. "Sie ist immer da, Moko!", rief Kyōko und saugte an dem Strohhalm, der in ihrem Eiskaffee steckte. Es war ein schöner, sonniger Sonntagmittag, an dem sich die beiden Schauspielerinnen in den Außenbereich eines Straßencafés gesetzt hatten, in dem die 'Fremde' jedes kleinste Detail über die vergangenen neunzehn Monate ausbreiten hatte müssen, bis sie schlussendlich beim heutigen Datum angelangt war. "Ich möchte dich nicht verunsichert, Kyōko", entgegnete Kanae ihr schulterzuckend, "aber das ist ihr Job. Dafür wird sie bezahlt. Sei lieber froh, dass du sie hast. Du Schussel würdest jeden zweiten Termin vergessen, deine Unterlagen verschlampen und wenn du schon einmal wüsstest, wann du wohin musst, kämest du auf jeden Fall zu spät." "Aufbauend wie immer", grummelte Kyōko in ihren Eiskaffee. Das Koffein würde einige Zeit brauchen, um sie aus ihrer erschöpften Lethargie wachzurütteln. Bis dahin musste sie weiterhin vortäuschen, nicht am Ende ihrer Kräfte zu sein. Am besten mit einem leicht verdaulichem Thema. "Habe ich dir schon von Sayuri-san erzählt?" Ihre schwarzhaarige Freundin nickte und nahm einen großzügigen Schluck ihres Milchshakes. "Zweimal sogar. Erzähl mir lieber mehr vom Drehbuch. Sie schreiben in allen Klatschblättern und Fernsehzeitungen darüber, aber die Handlung wird nie konkreter als diese paar Zeilen, die sie uns seit Monaten vorwerfen. Es wird ein ziemlicher Trubel um dieses Projekt gemacht. Um was wird es sich drehen?" "Du weißt, dass ich darüber nicht sprechen darf." Kyōko seufzte. Sie hatte sogar versprechen müssen, Außenstehenden nichts zu verraten. Dieser ganze Aufwand für eine Serie war einfach nur surreal exorbitant. Dies war Japan, nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen Milliarden von U.S. Dollar auf die Produktion einer lapidaren Serie verschwendet wurden. "Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du heute Abend mit mir auf diese Gala gehst, verrate ich dir ein wenig von meiner Arbeit. Wenn dabei einige wichtige Details fallen, kann ich schwerlich etwas dafür, nicht wahr?" Kanae zog skeptisch ihre Augenbrauen über die glatte Stirn empor. "Gala?" Zur Antwort stieß ihre Freundin raues Raunen aus. "Sie nennen es so, weil man Abendgarderobe tragen muss. Es ist eine Veranstaltung in einem gemieteten Saal im Stadtzentrum, bei der den Geldgebern die gesamte Crew vorgestellt wird. Es werden im Übrigen auch einige Standbilder interessanter Szenen und Aufnahmen von den Dreharbeiten hinter den Kulissen gezeigt. Eine Menge wichtiger Leute sind eingeladen. Investoren, Finanziers, Funktionäre der Produktionsfirma, Vertreter der Kreditanstalt, die Manager und Agenten der Schauspieler sowie ausgewählte Mitglieder jener Agenturen, die die Hauptdarsteller gestellt haben." Kanaes Zögern bemerkend lächelte sie unschuldig. "Außerdem gibt es gratis Häppchen." "Deal. Und jetzt erzähl!" Kyōko seufzte erleichtert. Sie hatte sich bereits Horrorvision darüber ausgemalt, welchen armen Menschen sie aus Verzweiflung sonst noch anbetteln hätte können, sie zu dieser langweiligen Veranstaltung zu begleiten. Es war nicht so, dass sie teure Abende ablehnte, ganz im Gegenteil, jedoch war sie von schnöden Konversationen betuchter Männer nicht sonderlich angetan. Den Preis, den sie dafür zahlen musste, zahlte sie gerne. Es brannte ihr unter den Nägeln, von ihren Erlebnissen auf Okinawa zu erzählen. "Sie ließen uns schuften", meinte sie und bestellte eine weitere Runde Kaltgetränke für ihren Tisch. "Anfangs war es sehr hektisch, weil viel schiefgegangen war. Das bereits aufgebaute Set war doch noch nicht komplett aufgebaut, weswegen wir den Drehplan bereits am ersten Tag überwerfen mussten. Niemand war auf eine alternative Szene vorbereitet, weswegen wir während der Busfahrt zum nächsten Drehort versuchten, unseren Text zu lernen. Sayuri-san und ich mussten eine siebenminütige Konversation binnen einer halben Stunde verinnerlichen. Ich hatte Angst, den Text zu vergessen, aber ehe unser Part kam, musste Ishida-sans Monolog abgedreht werden. Er tat mir so leid, als der Regisseur ihn anschrie, weil er zu wenig Leidenschaft an den Tag legte." Kyōko rollte mit den Augen. "Der Regisseur ist ein Exzentriker, wie er im Buche steht. Ich hoffe, dass es Okinawas Luft und der Zeitdruck waren, weil unsere Unterkünfte nur für achtzehn Monate zu leistbaren Konditionen gemietet waren, und dass es hier in Tōkyō besser wird." "War es so schlimm?" Sie lachte. "Es war die Hölle! Aber eine sehr schöne Hölle. Schlaf war—ist—Mangelware. Wir mussten versuchen, mit den Launen des Regisseurs und des Produzenten klarzukommen. Sayuri-san hat un meistens von den Attacken abgeschirmt, aber sollten diese beiden Choleriker nicht irgendwann an Bluthochdruck erkranken, fresse ich einen Besen. Wirklich, ich dachte ich sei laut!" "Jaja", winkte Kanae ungeduldig ab, "komm' zum Punk! Um was geht es in dem Drama? Spann mich nicht auf die Folter, du hast es versprochen!" "Jaja", wiederholte Kyōko feixend. "Die gesamte Serie ist in zwei Teile gegliedert, nämlich der Handlungsgegenwart und der Vergangenheit. Jede Folge beginnt mit einem fünfminütigem Flashback, das in den späten Sechzigern spielt, erzählt also parallel zwei Geschichten. In der Gegenwart geht es um eine junge Frau namens Nanri Himiko, die aufgrund persönlicher Probleme große Schwierigkeiten mit ihrem Biologiestudium hat. Zu Anfang der ersten Staffel sucht sie auf Rat ihrer Kommilitonen eine Studienberatung auf, wird jedoch an eine psychologische Mitarbeiterin der Universität verwiesen. Sie zögert gut fünf Folgen lang, in denen der Zuschauer einen Einblick in ihre privaten Krisen bekommt. Himiko wird von ihren Eltern stark unter Druck gesetzt, muss sich mit ihrer hochintelligenten und schönen Cousine vergleichen, zudem betrügt ihr Freund sie mit einer ihrer Kommilitoninnen. Sie hat allerdings keine Möglichkeit, sich von ihm zu trennen, da sie sich alleine kein Appartement in Tōkyō leisten kann, ihre Eltern jedoch in Ōsaka leben, und diese wiederum die Trennung von ihrem Musterschwiegersohn nicht dulden würden." Kanae pfiff durch geschlossene Zähne. "Die Drehbuchautoren haben sich ganz schön was einfallen lassen. Aber was hat das mit Geschehnissen aus den Sechzigern zu tun?" Kyōko hob die Hand, um ihre Freundin zu Geduld anzuhalten. Vorsichtig senkte sie ihre Stimme. "Soweit ich es verstanden habe, sollen sich die Zuschauer genau das fragen. Die einleitenden Rückblenden sind dazu da, eine Geschichte von Anfang an aufzurollen. Diese Geschichte ist der Himikos sehr ähnlich, bloß beinhaltet sie andere gesellschaftliche Aspekte. Scheidung wurde sehr viel weniger akzeptiert als heute, Frauen kämpften noch um die Emanzipation. Meine Rolle ist die der Haruko. Sie ist Protagonistin der Rückblende und Himikos zeitverzerrtes Abbild. Sie ist ebenfalls Studentin, bereits verheiratet, wird jedoch von ihrem Mann betrogen und von ihrer Familie aufgrund eines Zusammenbruchs, wegen dem sie einige wichtige Prüfungen versäumt, diskreditiert. Haruko trifft im Laufe der Rückblenden eine falsche Entscheidung nach der anderen, sodass der Zuschauer weiß, wie Himiko es nicht machen sollte. Sie bleibt bei ihrem Mann, nimmt heimlich eine Abtreibung vor und hat selbst Affären, die später entdeckt werden, woraufhin man sie aus der Familie ausschließt." "Wow, noch mehr Drama", lobte Kanae beeindruckt. "Es muss schwer gewesen sein, diese Verzweiflung zu spielen." Sie nickte, zuckte dann jedoch die Schultern. Wann immer sie nicht verzweifelt genug für Haruko gewesen war, hatte sie an ihre Freunde zuhause gedacht, an das Gefühl der Sehnsucht, das Vermissen allen Vertrautens. Manchmal hatte sie Ren zu unsäglichen Zeiten angerufen, bloß um seine Stimme auf der Tonbandansage zu hören und zu wissen, dass diese automatisch abgespielten Zeilen keinen Trost für sie übrig hatten. Diesen Umstand verschwieg sie, bloß um sich nicht fragen zu müssen, wieso sie Ren angerufen hatte anstatt jemand anderes, den sie ebenfalls vermisste. "Der Start war holprig, aber je weiter die Geschichte voranschritt, desto mehr konnte ich Harukos Schmerz nachfühlen. Ich habe ihn so gut als möglich interpretiert." "Und dann? Wie hängen diese beiden Geschichte zusammen?" Kyōko lachte. "Harukos Leben spielt auf Okinawa, Himikos hingegen in Tōkyō. Himiko entscheidet sich schließlich in der sechsten Folge, die psychologische Beratungsstelle aufzusuchen, die man ihr nahegelegt hat. Die Beraterin, bei der sie landet, ist eine sechzigjährige Psychologin, die Takarada Haruko heißt." "Nein!", rief Kanae begeistert aus. Sie klatsche überrascht in die Hände. "Langsam kann ich verstehen, weswegen ein derartiger Rummel darum gemacht wird. Die Idee ist Gold wert." "Die Gegenwarts-Haruko erkennt Himikos Dilemma sofort und lädt sie zu einer spontanen Reise nach Okinawa ein, wo sie einst lebte. Himiko ist derart perplex, dass sie zusagen, ihre Ferien auf der Insel zu verbringen. Zusammen fliegen sie also nach Okinawa, wo Himiko nach und nach den Mut findet, ihre Souveränität gegenüber ihrer Familie zu behaupten und ihre eigenen Meinungen und Werte angemessen zu vertreten. Auf Okinawa wird sie mithilfe Harukos Erzählungen, die Hand in Hand mit den Rückblenden innerhalb der Folgen gehen, zu einer starken Persönlichkeit." Kanae nickte zufrieden, nippte an ihrem neuen Milchshake und seufzte wohlig. "Ein wunderschönes Ende." "Das ist Staffel eins." Kyōko zwinkerte ihr verschwörerisch zu. "Die Rückblenden für Staffel zwei sind bereits abgedreht. Harukos Probleme reichen sehr viel weiter als man zuerst vermutet. Ihre Affären beispielsweise kommen erst in weiterer Folge vor. Aber auch Himiko wird vor neue Herausforderungen gestellt. Am Ende der ersten Staffel trifft sie während ihres individuellen Lernprozesses auf einen jungen Mann, der Gefühle der Sehnsucht in ihr weckt. Sie weigert sich, sich zu verlieben und reist mit Haruko nach Tōkyō zurück. In der zweiten Staffel muss sie ihre neugewonnene Stärke beweisen. Auf Okinawa, weit weg von ihrer Realität, fühlte sie sich, als könne sie alles bewältigen, doch zuhause fällt sie zurück in alte Gewohnheiten. Sobald die Promotionszeit vorbei ist, wird hier in Tōkyō weitergedreht. Mit etwas Glück bin ich wieder dabei." "Tatsächlich? Wie kommt das?" Kanae winkte die Kellnerin herbei, um die vier Getränke zu bezahlen. "Zur Feier deines Erfolgs", schmunzelte sie aufmunternd. "Wenn du meine Frage beantwortest versteht sich." "Schon gut, du musst mich nicht erpressen, Moko." Sie streckte sich ausgiebig und saugte mit hingebungsvoller Genauigkeit den letzten Tropfen Eiskaffee aus dem hohen Glas, ehe sie sich dazu bereiterklärte, der Aufforderung ihrer Schauspielkollegin Folge zu leisten. "Wie gesagt, Harukos Probleme sind sehr vielschichtig. Die Drehbuchautoren überlegen, sie innerhalb der Rückblende nach Tōkyō gehen zu lassen, um sie als Gegensatz zu Himikos Rückkehr, mit der diese sich ihre Probleme stellt, vor den Missständen ihres Lebens weglaufen zu lassen." "Der Regisseur war wohl sehr begeistert von dir." Kyōko verzog den Mund. "Wohl eher von Sae-san. Sie spielt Himiko unglaublich gut und Takahashi-san stellt die Gegenwarts-Haruko so wunderbar, dass man beschlossen hat, die Beziehung der beiden zu vertiefen. Die Produktionsfirma glaubt, dass diese zwischenmenschliche Bindung im Zeitalter von romantischen Dramen sehr gut ankommen wird. Eben weil keine Romantik im Vordergrund steht, sondern sehr viel philosophischere Themen wie Selbstfindung, Werttreue, Freundschaft und so weiter. Sie wollen die Thematik tiefgründiger gestalten, sobald sie ihre Zuschauer gefangen haben." "Wie kapitalistisch." Sie hatte recht und doch kam Kyōko nicht umhin zu gestehen, dass die Handlung ein Meisterwerk war. Die Verflechtung zweier Zeiten, verschmolzen zu einem grundlegenden Dilemma. Sie hatte die letzten zwei Jahre damit zugebracht, an Koigawa zu denken. Auf Okinawa hatte es kein anderes Thema gegeben—wie auch? Die Abende, an denen sie mit ihren Schauspielkolleginnen Bars besucht oder die Städte erkundet hatte, waren geprägt gewesen von ihren Rollen. Sie hatten interpretiert, definiert, diskutiert und analysiert. So waren sie zu abgestimmten Schauspielern geworden, in sich stimmig. In jeder freien Minute hatten sie ihre Dialoge geprobt, sie hatten sogar eine ganze Woche lang aus Spaß an der Freude und zur Evaluierung ihrer Charakterkonzepte auch außerhalb des Sets durchgehend ihre zugewiesenen Protagonisten gemimt, hatten Rollen getauscht und abgeändert, bloß um perfekt zu werden. Kyōko gab es nicht gerne zu, weil ein guter Schauspieler sich abseits der Bühne bewusst von seiner Rolle abgrenzen können musste, aber sie war Haruko in den letzten Monaten näher gewesen als sich selbst. "Sag mal, Moko, wie geht es Tsuruga-san?" Überrascht von dieser extremen Wendung hielt Kanae in ihrer lockeren Plauderei, die Kyōko nicht mitbekommen hatte, inne. Sie legte überlegend den Kopf schief und einen Finger an die Lippen. "Ich pflege keinen sehr engen Kontakt zu ihm, weißt du? Ehrlich gesagt habe ich ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Er ist kaum in der Agentur, weil er—lass mich nachdenken—ich glaube drei oder vier neue Rollen hat. Nun ja, für dich neu. Zwei davon sind sicherlich schon über ein Jahr alt. Ich bin mir nicht sicher, wann die Dramen ausgestrahlt werden." Zustimmend nickte sie. "Ja, Tsuruga-san ist immer sehr beschäftigt. Ich hoffe, er isst anständig." "Hmm …" Die beiden jungen Frauen verfielen in nachdenkliches Schweigen, das nicht unterschiedlicher hätte sein können. Kanae versuchte zu verstehen, was in Kyōkos Kopf vorging, während diese wiederum darum bemüht war, sich ihre Sorge und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte ihr versprochen, ihr Bescheid zu sagen, sobald die erste Folge des Dramas, wegen dem er sie nicht hatte verabschieden können, im Fernsehen ausgestrahlt würde. Bis vor vierzehn Tagen hatte sie nicht daran gezweifelt, irgendwann einen Anruf mit genau dieser Information zu bekommen. Tsuruga Ren brach keine Versprechen. Normalerweise. Kyōko schüttelte den Kopf. Ren hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit einer kleinen Schauspielerin herumzuschlagen, die ihm ein wertvolles Ohr abkauen würde. Er war der beliebteste und berühmteste junge Akteur Japans, kein alter Schulfreund aus unbeschwerten Jahren. Dank Shō hatte sie gelernt, dass selbst diese Freundschaften manchmal nichts taugten. Wie egoistisch war sie überhaupt, seine Zeit zu beanspruchen? Von ihm einen unangemessenen Gefallen zu verlangen? Sie hatten ein Geschwisterpaar gespielt, aber sie waren nicht verwandt. Sie hatten Feinde gespielt, aber sie waren Kollegen. Er war ihr Lehrer, ihr Mentor, ihre Vertrauensperson, wann immer es um Fachliches ging. Wie konnte sie da auch noch sein privates Engagement fordern? Er war Tsuruga Ren. Sie war Kyōko. Einfach nur Kyōko. Sie durfte nicht selbstsüchtig sein. Viel wichtiger als ihre enttäuschten Hoffnungen war seine Gesundheit, sein Wohlergehen, sein Erfolg. Wenn er statt sie abzuholen in einem Restaurant seinen Hunger gestillt hatte, stimmte sie das mehr als nur versöhnlich. - Kotonami Kanae sah zauberhaft aus in dem schwarzen Kleid, das sie für besondere Anlässe aufgehoben hatte. Der elegante Schmuck passte hervorragend in das stilvolle Ambiente des Bankettsaals im dreiundzwanzigsten Stockwerk eines gläsernen Wolkenkratzers, von dessen Fensterfront aus man einen perfekten Blick auf das ruhige Meer im Mondlicht hatte. Es war eine magische Nacht, in der Kyōko zum ersten Mal zu träumen wagte. Man hatte sie in ein senfgelbes Satinkleid mit seitlicher Raffung gesteckt, weit weniger mädchenhaft als sie es sich gewünscht hatte. Haruko war eine aparte Frau aus gutem Hause, die Kitsch und Tand verschmähte. Die Kostümbildnerin, die sie seit Beginn der Dreharbeiten stilsicher eingekleidet hatte, hatte auch diesmal eine elegante Seite nach außen gekehrt, die wenig zu Kyōkos wahrem Charakter passte, allerdings hervorragend mit dem harmonierte, was ihre Darstellung verkörpern sollte. Um die kratzende Perücke loszuwerden, hatte sie ihre Haare wachsen lassen; die nun über schulterlangen Strähne waren zu einem Seitendutt gebunden worden, in dem eine funkelnde, aber dezente Haarnadel steckte. Im ganzen Saal gab es nur einen Menschen, der adretter gekleidet war und dieser war Sayuri, die in einem Traum von Karmesinrot gehüllt alle Blicke auf sich zog. Es leitete Kyōko an, sich Illusionen hinzugeben, die nicht in allzu weiter Ferne lagen. Vielleicht. Wie auch in den letzten neunzehn Monaten war sie gefangen in ihrer Rolle, doch heute wollte sie sich nicht daran stören. Viel lieber genoss sie das gediegene Flair schillernden Prunkes, vereint mit prickelndem Sekt und winzigen Häppchen. "Für welchen Anlass hast du dieses Kleid eigentlich aufgehoben, Moko?", fragte sie, bloß um irgendetwas zu sagen, nachdem die ersten Minuten des stummen Staunens vorüber waren. Kanae bewegte sich zielsicher auf einen freien Platz an der Wand neben einem samtbespannten Zweisitzsofa, das sie jedoch unbenutzt ließ. Ihr forschender Blick galt, ebenso wie Kyōkos, den bereits anwesenden Gästen, die in Anzug und mit Zigarren klischeehaft reich aussahen. Kahlköpfig und alt war am meisten vertreten, aber auch moderne Herren mittleren Alters mischten in den vereinzelten Konversationen mit frischen Ideen mit, sofern ihre ausladenden Gestikulationen ein passender Indikator dafür waren. "Das einjährige Jubiläum mit meinem Freund." "Ach?" Kyōko runzelte die Stirn, verengte gleichzeitig jedoch auch ihre Augenlider. "Und das wirfst du einfach mal so in den Raum, obwohl wir immer wieder telefoniert hatten?" "Ich wollte es dir gerne persönlich sagen, aber du sahst heute Mittag gestresst und kaputt aus. Außerdem wollte ich lieber etwas von den Koigawa erfahren. Dass ich einen Freund habe, weiß ich ja bereits." Kyōko ließ geschlagen den Kopf hängen und stieß einen brüskierten Laut aus. "Aber ich nicht! Wie kannst du mir das verheimlichen, Moko? Wie heißt er, wie sieht er aus, kenne ich ihn, wo wohnt er, was macht er, spann' ich nicht auf die Folter!" "Tsuruga-san", sagte Kanae trocken, einen Finger hebend. Für einen Moment setzte Kyōkos Herzschlag aus. Es gab tausend Möglichkeiten zu reagieren—schreien, fluchen, umfallen, ohnmächtig werden, zittern, weinen, lachen, seufzen, raunen, sterben waren nur die akkuratesten davon—doch keine dieser Optionen schien für dieses Ambiente passend zu sein. Sie wählte eine andere Alternative, schluckte ihre maßlose Verwunderung hinunter und suchte einen ruhigen, gelassenen Tonfall. "Du bist mit Tsuruga-san zusammen?" "Hä?" Kanae hob beide Augenbrauen zu einem skeptischen Gesichtsausdruck. "Ich gebe gerne zu, dass mir deine wirren, sprunghaften Gedankengänge immer schon verschlossen blieben, aber wie du darauf kommst, würde ich gerne wissen. Mein Freund heißt Shin'ichi. Jedenfalls steht dort drüben Tsuruga-san." Sie stieß ihre hellhaarige Kameradin in die Richtung des am Fenster stehenden Mannes, der in einem weißen Anzug aus der dunklen Masse hervorstach wie eine Alabastastatue. Gemeißelt wie in Stein, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Er schien sich im Gegensatz zu allem Anderen nicht verändert zu haben. Der Stich in Kyōkos Herzen strafte diese Wahrheit Lüge. Natürlich hatte er sich verändert. Er hatte ein Versprechen gebrochen. Ihr Tsuruga hätte einen solch fatalen Fehler niemals begangen. Er hatte sie versetzt und vor sich selbst blamiert. Wie sollte sie ihm gegenübertreten, ohne in Tränen auszubrechen—oder ohne ihn mit mordlüsternen Blicken zu erstechen? Die Antwort gab er ihr sofort, indem er sie bemerkte und Kyōkos Herz einen Satz machte. Nach all der Zeit, all ihrem Erfolg, empfand sie immer noch Ehrfurcht vor diesem großen Schauspieler, der nach wie vor ihr Mentor war; es immer sein würde. Es gab Dinge, die sich nicht verändern konnten, durften, würden. So sehr konnte sie sich nicht täuschen. Ebenso wenig wie sie es fertigbrächte, ihn zurückzuweisen. Ihn, mit seinem seichten Lächeln, das ehrlicher war als all das hohle Geschwätz des Abends. Wie lange sie dagestanden und einander angesehen hatten, wusste sie am Ende nicht mehr zu sagen. Vielleicht eine Minute, vermutlich weniger. Rens Lächeln war in seinem beherrschten Gesicht schnell zu einer ernsten Miene verblasst, glatt und nicht zu interpretieren. Ob er sich freute, sie zu sehen, ob er sie mit den langen Haaren und dem geschminkten Gesicht überhaupt erkannte, war nicht abzulesen. Es war Kanae, die schließlich ungeduldig wurde und ihre zu Stein erstarrte Freundin am Handgelenk packte, mit ihr den Saal durchsetzte, sie vor Ren an die Fensterfront stellte und sich zu den kostenlosen Petit Four neben den Minischrimps verabschiedete, ehe der Schauspieler sie begrüßen konnte. Kyōko hatte keine Wahl, als in Rens Augen zu sehen, die sanftmütig und verzeihend auf sie herabblickten. Was zum Teufel sollte er ihr verzeihen? Es war dieser Standardblick, mit dem er sie stets bedacht hatte, wann immer er sich schuldig fühlte, weil er sich als überlegen sah. Zu recht, aber auch wieder nicht. Tsuruga Ren war ein zweischneidiges Schwert, selbst nachdem sie ihre anfänglichen Schwierigkeiten der Feindseligkeit und Missinterpretation ambivalent-verstrickter Charaktereigenschaften überwunden hatten. Es war fast vier Jahre her, seit sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Eine unendlich lange Zeit, so fühlte es sich für Kyōko zumindest an. Rens gütiger Ausdruck hielt an, bis sie ihr Missfallen vor ihrer Impulsivität nicht länger verstecken konnte. "Du siehst aus wie ein Albinopinguin", murmelte sie mit undamenhaft vor der Brust verschränkten Armen. Ihre kleine Tasche schlug dabei gegen ihren Magen, der vor Hunger anfing zu knurren. "Isst du ordentlich?", erkundigte er sich, als hätte sie ihn eben nicht beleidigt. Tsk. Dieser eingebildete Gutmensch hatte den Nerv, ihre schlechte Laune rigoros zu ignorieren. "Kann schon sein. Ayase-san achtet auf meine Ernährung." Seufzend gab Kyōko ihre abwehrende Haltung auf und sah ihr Gegenüber zum ersten Mal seit zwanzig Monaten wieder richtig an. Direkt, durchdringend, echt. Ihr Ärger auf ihn und auf sich selbst war verraucht, oder zumindest in dem Moment aufgeschoben, in dem Rens Magen einen Kanon mit dem ihren einstimmte. "Isst du den ordentlich?", fragte sie zur Ablenkung. "Yashiro hat ein Auge darauf", gab Ren nonchalant lachend zu, "allerdings muss ich gestehen, dass seine Bemühungen oft genug scheitern. Es war in letzer Zeit ziemlich stressig. Du siehst dünn aus." "Ja", versuchte Kyōko abzuwehren. Anstatt legeren Lachens kam jedoch unsicheres Kichern aus ihrem geschminkten Mund, mit dem sie sich nicht traute, auch nur einen Happen zu essen. Die Angst, etwas der teuren Kosmetik zu verschmieren, war omnipräsent in ihren paranoiden Gedanken. "Ich versuche gut zu essen, allerdings habe ich das Kochen auf Ōsaka wohl verlernt, wenn ich ehrlich bin. Das Buffetessen am Set war so ausgezeichnet, dass ich mir nicht die Mühe machen musste, selbst zu kochen, wenn ich jemals Zeit dafür gehabt hätte. Hier in Tōkyō schleift mich Ayase-san von einem Termin zum nächsten, da bleibt ebenfalls wenig Zeit, auf gesunde Ernährung zu achten." Sie legte ihre manikürten Hände übereinander, um eine leichte Verbeugung anzudeuten. "Ich hatte damals kein Recht, über deine Essgewohnheiten zu urteilen, weil ich nicht wusste, wie schwierig es ist, in einem stressigen Alltag—" "Es ist in Ordnung", unterbrach er sie sanft wie immer. Kyōkos Augen begannen erleichtert zu leuchten. Scheinbar gab es doch Dinge, die sich nicht verändern konnten. "Nein, es ist sogar mehr als das, Mogami-san. Es ist gut, jemanden an seiner Seite zu haben, der dich dazu zwingt, dich selbst nicht zu sehr zu vernachlässigen." Sie nickte. Früher hätte sie sich lautstark damit gebrüstet, über seine Selbstbestimmung gesiegt zu haben, heute nahm sie dieses Faktum zustimmend an. Früher hätte sie auch über ihn gerichtet, weil er sich über seine Grenzen trieb, an den Rand seiner Möglichkeiten, seine eigene Gesundheit hinter alles andere stellend, um dem Druck gerecht zu werden, der auf ihm lastet. Heute war sie genauso. Kyōko war derart weit gekommen, dass sie nachempfinden konnte, welche Dilemmata eine Mediengröße wie Tsuruga Ren durchstehen musste. So weit hatte sie es gebracht. So hoch stand sie. Ach ja, richtig, diese Gala war unter anderem ihretwegen gegeben worden. "Wieso bist du hier, Tsuruga-san?", fragte sie scheinbar aus dem Blauen heraus, denn Ren war sichtlich überrascht von der krassen Kehrtwende. "Nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen"—obwohl er sich mit keinem Wort für sein Fernbleiben gerechtfertigt, schon gar nicht entschuldigt hatte—"aber ist diese Party nicht nur für Investoren? Oder hat LME dich als Vertreter geschickt?" "Nicht direkt …", gab Ren zu. "Ich wollte dir gerne persönlich zu deinem Erfolg gratulieren. Wir haben beide sehr zeitintensive Projekte, da bleibt kaum Gelegenheit, direkt miteinander zu sprechen, daher wollte ich zumindest diese Chance ergreifen, dir alles Gute für die Zukunft zu wünschen, Kyōko." Kyōko stieß einen leisen Laut der Verwunderung aus. Er hatte sie beim Vornamen genannt? Aber das war nicht das Hervorstehendste, das sie fragend die Augen weiten ließ. Seine Wortwahl klang wie ein Abschied. "Tsuruga-san—" "Ren-kun!" Woher sie kam, konnte Kyōko nicht sagen. Fakt war jedoch, dass Uehara Ayases strahlende Präsenz einen Pflock der Entrüstung durch ihr Herz trieb. Sie sah wunderschön aus in dem hautengen Paillettenkleid, das sich um ihren schmalen, hochgewachsenen Körper schlängelte, wie nur eine Frau von Welt ihn haben konnte. Wie sehr Kyōko ihre plötzliche Konkurrentin hasse, konnte sie nicht verbalisieren, weil ihr dazu schlicht das nötige Vokabular fehlte. Es war unangebracht, sich Empfindungen anmerken zu lassen, darum reagierte Kyōko passiv und zurückhaltend, als Ayase ihren Schützling begrüßte während sie sich bei Ren einhakte. "Wie ich sehe, hast du meinen reizenden Begleiter bereits getroffen, Kyōko-san. Jahrelang habe ich versucht, mich mit Yashiro um die Stelle von Ren-kuns Manager zu streiten, aber letzten Endes konnte ich ihn doch nur dazu überreden, mein Begleiter zu werden, anstatt ein berufliches Verhältnis zu beginnen. Wie bedauerlich, aber ich will nicht klagen. Ein Glück, dass es die Damenwahl gibt." Kyōko versuchte einen bösartigen Unterton aus der Stimme ihrer Managerin zu erkennen, musste sich jedoch angesichts dieser erschlagenden Offenheit zu einer Niederlage bekennen. Ayase schien offenkundig enttäuscht darüber, dass Yukihito sie in ihrem eigenen Rennen ausgebotet hatte. Nicht minder erfreut war sie im Gegensatz dazu über ihren Teilsieg und ihr privates Verhältnis zu dem Mann, dem sie lieber auf geschäftlicher Ebene näher gekommen wäre, was Eifersucht in der jüngeren Frau schüren hätte müssen. Kyōko hätte eine solche gewiss auch empfunden, hätte sie nicht neidlos anerkennen müssen, dass Ayase an Rens Seite aussah, als gehöre sie dorthin. Sie sahen schön aus, schöner als alle weltliche Ästhetik zusammen. Was auch immer Ayases Pläne mit ihrem Begleiter waren—falls sie Pläne mit ihm hatte und sich nicht nur mit ihm als Accessoire schmücken wollte, weil es einen guten Eindruck machte—sie waren sofort nichtig, als sie einen wichtigen Mann in einer Ecke stehen sah, abgetrennt von der schützende Herde. "Komm", befahl sie, legte eine Hand an Kyōkos Rücken und führte sie in die Richtung des Schnurrbartträgers, "wir stellen dich Tsuchiya-san vor, ehe Aihara und die Aasgeier ihn sich schnappen können. Ren-kun, würdest du uns inzwischen Sekt besorgen?" Dass Ayase damit sich und ihn meinte, war Kyōko spätestens zu dem Zeitpunkt klar, als ihre Managerin sich aus dem Gespräch mit Tsuchiya zurückzog. Sie hatte einige einleitende Worte von sich gegeben, die ihr Soll glänzend erfüllt hatten, war sogar noch einige Minuten geblieben, um ihrem Schützling den Einstieg in die Konversation zu erleichtern, hatte sich dann jedoch verabschiedet. Aus den Augenwinkeln hatte Kyōko beobachtet, wie sie zu Ren gegangen war, mit ihm angestoßen und gekichert hatte wie ein Schulmädchen, was so gar nicht dem Bild der starken, unabhängigen Frau Ende zwanzig entsprach, das sie bislang vermittelt hatte. Es dauerte, bis Kyōko sich loseisen konnte. Irgendwann fand sie sich an einem Tisch mit Kanae und Maria wieder, die ihren Großvater zu dem Empfang begleitet hatte. "Es ist nach Mitternacht", bemerkte Kanae umsichtig, als sie Kyōkos knurrenden Magen zum wiederholten Mal bemerkte. "Die meisten Gäste sind gegangen oder betrunken. Niemanden wird es stören, wenn dein Lippenstift verschmiert." "Ich habe keinen Hunger …" Kyōko schüttelte sachte den Kopf, um ihre Frisur nicht zu zerstören. Eine Strähne löste sich dennoch aus dem eleganten Flechtwerk auf ihrem Kopf. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sie verspürte, während sie sich Marias neueste Geschichten über ihren Vater anhörte, der sie vor zwei Monaten besucht hatte. Es hatte nichts mit der freudestrahlenden Erzählung des jungen Mädchens zu tun, das als Gast ihres Großvaters auf die Veranstaltung mitgekommen war. Sogar nachdem dieses gegen halb ein Uhr morgens von Takarada Lory nahezu gewaltsam aus dem Festsaal gezerrt worden war, da ein Kind um diese Uhrzeit längst im Bett liegen musste, verschwand dieses flaue Empfinden nicht. Es war, als wären ihre Sinne abgestumpft. Als wäre Kyōko ganz weit weg von allem, was hier war. Es war später als spät, als Kanae aufgab. Sie war müde und als Gast einer Nebendarstellerin hätte sie gar nicht so lange bleiben müssen. Sie hatte es ihrer Freundin zuliebe getan, deren stummes Dilemma nicht spurlos an ihr vorbeigegangen war. Dass es um Ren ging, sah ein Blinder mit Krückstock. Bloß Kyōko nicht. Besagter Schauspieler war noch eifrig dabei, Hände zu schütteln und sich in einem positiven Licht darzustellen—an seine Seite Ayase—als Kanae ihre Freundin endlich dazu überreden konnte, nach Hause zu gehen. "Du kannst bei mir schlafen", bot sie ihr an. "Alleine ist ein Taxi ziemlich teuer, ich wohne näher und außerdem wecken wir bei mir niemanden auf. Mit dem Kleid willst du doch nicht mit deinem Fahrrad ins Darumaya zurückfahren, oder?" Kyōko schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht! Nach allem ist es nur geliehen. Ich könnte es mir nicht leisten, Schäden daran zurückzuzahlen. Ayase-san nannte eine Zahl als Kaufpreis, die ich ehrlich gesagt noch nie auf einem Preisschild gesehen habe. Vielleicht war es aber auch ihr vollständiges Geburtsdatum." "Mach dich nicht verrückt, du bist doch jetzt berühmt. Bald wirst du in Geld schwimmen und mehr Geld für Make-Up ausgeben als andere Menschen Miete zahlen!" Die hellhaarige Schauspielerin konnte ihr Lachen über diesen Gedanken nicht verbergen. Es war das erste Mal seit ihrem Gespräch mit Ren, dass sie ein freundliches Gesicht machte, das nicht durchzogen von Melancholie war. Überraschenderweise hielt es sich bis zur Abendtoilette, nach der die beiden jungen Frauen sich auf Mokos Ausziehcouch fallen gelassen und den Fernseher eingeschaltet hatten. Kyōko hatte die Zeit damit zugebracht, Kanae nach ihrem neuen Freund auszufragen, der gar nicht so neu war. Es schien eine komplizierte Beziehung zu sein, über die sie jedes noch so kleine Detail wissen wollte, was letztere nicht nachvollziehen konnte. Wieso war es wichtig, wo sie ihr erstes Date gehabt oder sich zum ersten Mal geküsst hatten? Kyōkos Neugierde ehrte sie, und obwohl sie es oberflächlich als nerventötend empfand, unnachgiebig ausgefragt zu werden, kam sie nicht umhin, es verhalten zu genießen. Es war etwa drei Uhr, als Kanae realisierte, wie sehr sie ihre einzige wahre Freundin vermisst hatte. "Weißt du, Kyōko, anfangs war ich ziemlich froh, dass ich dich Nervensäge endlich los bin, aber alleine war es in der Love Me Section richtiggehend langweilig. Es ist wirklich peinlich, alleine in dieser pinkfarbenen Uniform des Horrors herumzulaufen … noch dazu, wenn man es bei einem Mitglied nicht als Uniform bezeichnen dürfte. Alles blieb an mir hängen, ernsthaft, das war vielleicht anstrengend. Zum Glück konnte ich diese Rolle in der Komödie ergattern, sonst wäre ich noch verrückt geworden. Ich bin wirklich froh, dass du wieder da bi—Kyōko?" Sie winkte mit ihrer Handfläche vor Kyōkos Gesicht, deren Augen starr auf den Fernsehbildschirm gerichtet waren, ohne die Geste wahrzunehmen, mit der Kanae sich um Aufmerksamkeit bemühte. "Hörst du mir zu?" "Was ist das?", fragte Kyōko fernab des aktuellen Konversationsthemas, nach wie vor ungläubig auf das Bild starrend, das sich vor ihr zeichnete. Ein junger Mann machte einer Frau eben einen Heiratsantrag, den diese bestimmt, aber weinend ablehnte. "The Only Ones." Kanae zuckte die Schultern und warf ihr eine Programmzeitschrift zu. Sie fing sie ungeschickt auf und betrachtete das aussagelose Cover. "Seite zwölf bis sechzehn", informierte Kanae weiter, blätterte von der Seite das Heft auf und tippte mit dem Finger auf die Überschrift in Sonnengelb. "Der Typ dort ist eigentlich der Bruder ihres Verlobten, hatte jedoch vor Jahren eine Affäre mit ihr, als er noch verheiratet war. Letzte Folge gab es das große Geständnis. Es wird spekuliert, ob sie schwanger ist. Der Verlobte der Frau wird übrigens gespielt von—" "Tsuruga-san." Es war kaum mehr als heiseres Hauchen, das Kyōkos Lippen verließ. Dennoch klar vernehmlich. "Ja. Woher weißt du das?" Sie schüttelte fassungslos den Kopf, den Blick wie gelähmt weiterhin auf die gestellte dramaturgische Szene gebannt. "Tsuruga-san erzählte mir vor meiner Abreise von dieser Rolle. Am Schluss wird er seine Verlobte freigeben, da das Kind von seinem Bruder ist." "Aha", machte Kanae, die keine Zeit hatte, sich über dieses unverschämte, handlungstechnische Vorgreifen zu brüskieren. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich eine Sache zu fragen: "Wieso schockiert dich das? Tsuruga-san hatte bereits öfters Antagonistenrollen." Kyōko nickte fahrig. "Ich weiß. Es ist nur … ich wollte mir die Serie unbedingt ansehen oder zumindest aufnehmen, weil mir seine Rolle so gut gefiel. Er versprach mir vor meinem Abflug am Telefon, mir bescheid zu geben, sobald das Drama im Fernsehen läuft. Bei welcher Folge sind sie?" "Fast am Ende. Sie wird seit drei Monaten ausgestrahlt." "Drei Monate also …" Erneut dieser blasse, verschwindende Ton, den Kanae auf den Tod nicht leiden konnte. "Er wollte mich vom Flughafen abholen, kam aber nicht. Er wollte mich wegen der Serie anrufen, tat es aber nicht. Trotzdem begrüßte er mich auf der Gala, als sei nichts verändert zwischen uns. Aber irgendwie … ist nichts wie vorher." Kanae blinzelte ungläubig. Das war es also? "Was hast du dir vorgestellt, Kyōko? Du warst fast zwei Jahre weg. Natürlich verändert sich alles, Menschen wie Umstände. Sieh dir nur an, wie groß Maria geworden ist; in wie vielen Fernsehserien ich mittlerweile mitwirken durfte; und wie sehr du dich verändert hast. Du merkst es vielleicht nicht, aber auch du bist nicht stillgestanden—wie auch? Wir alle werden älter, reifer, weil das der Lauf der Zeit ist. Erwartest du von Tsuruga-san, stillzustehen, während du dich zu einer erwachsenen, erfolgreichen Frau entwickelst?" "Nein … aber …" "Nichts aber!" Sie klatschte entschieden in die Hände. "Wenn das der Grund ist, wieso du so schlecht drauf bist, hast vor allem du dich verändert. Hast du vergessen, wieso du in die Love Me Section verbannt wurdest? Seit wann interessiert dich eine männliche Meinung?" "D-Das ist … weil … weil … er ist doch ein älterer Kollege!", japste Kyōko glücklich über diese grandiose Ausrede. "Natürlich interessiert mich seine Meinung, immerhin kann ich viel von ihm lernen!" Kanae war weniger überzeugt, seufzte dann jedoch. "Ich lasse fünf gerade sein, weil es spät ist. Trotz allem finde ich, dass du es bist, die sich am meisten verändert hat. Alleine deine Konsequenz und dein Durchhaltevermögen haben sich deutlich verbessert. Von den zwei Kilo, die du zugenommen hast, schweige ich lieber—" Das nächste, das sie spürte, war ein Kissen in ihrem Gesicht und ein Mädchen, das sich auf sie stürzte. Hilfesuchend langte sie nach einem weiteren Kissen, mit dem sie sich erbittert wehrte, bis ein Federregen das Zimmer in Weiß hüllte. Es war das Ende zweier sehr unperfekter Wochen voller Veränderungen. Kyōkos Rückkehr war geprägt davon gewesen. Von liebsamen und unliebsamen gleichermaßen. Doch Kanae hatte es geschafft, ihr Mut zu machen. Sie würde diese Veränderungen nicht nur akzeptieren, sondern richten. Und sie würde morgen damit beginnen. . . Kapitel 3: Fixings ------------------ . . Irgendwo in Russland gab es einen Trinkspruch. Za schast'ye. Auf das Glück. Mogami Kyōko hatte schon viel erdulden müssen in ihrem Leben. Aufgewachsen ohne Vater, vernachlässigt von der Mutter, ausgenutzt von ihrer ersten Liebe. Sie hatte vor Jahren aufgegeben, das Glück zu suchen. Nach Shōs Missbrauch ihrer emotionalen Empfindlichkeit hatte sie nicht zu hoffen gewagt, jemals wieder etwas zu empfinden, das auch nur mit annähernd an eine Chance grenzender Wahrscheinlichkeit etwas anderes als Hass gegen jenen verhassten Todfeind war. Dann war Tsuruga Ren gekommen, hatte sich heimlich in ihr verkorkstes Leben geschlichen und ihr das seinige, viel verkorkstere, offengelegt. Und doch … Corn, Shō, Ren, einerlei. Alle drei hatten sie im Stich gelassen. Es machte sie wütend. So wütend, dass sie am liebsten auf Kanaes Schlafsofa liegen geblieben wäre, anstatt zur Agentur zu fahren. Kyōko hatte nicht übel Lust, etwas zu Kleinholz zu zerhacken. Gestern Nacht war sie müde gewesen, enttäuscht ob ihrer zerbrochenen Hoffnungen. Heute Morgen, ausgeruht und fit, war das hervorstechendste Gefühl, das sich in ihrer Brust ausbreitete, Wut. Wut auf Ren, Wut auf Ayase, Wut darauf, dass sie Kyōko war und keine erfolgreiche Managerin mit lächerlich langen Beinen. Tsk. Aus Protest und zur Strafe für ihre Feindseligkeit lehnte sie die Limousine, die sie hätte rufen können, ab, um stattdessen ihren Frust auf dem alten Fahrrad abzustrampeln, das sie unbemerkt vom Hinterhof des Daruyamas holte. Die Strecke zu LME war in Rekordzeit zurückgelegt, sodass sie keuchend vor dem Hintereingang auf die Knie sank, schwach gegen die Eisentüre pochend, die ein erbarmungsvoller Mitarbeiter ihr beim Reingehen offenhielt, bis sie sich durch den Türrahmen geschleppt hatte. "Alles in Ordnung? Du siehst aus, als könntest du eine Pause vertragen." "Dabei hat mein Tag noch nicht einmal begonnen", raunte sie kläglich vom Boden aus. Spitze Lederschuhe kamen in ihr Sichtfeld, dicht gefolgt von einer Hand. Das beigefarbene Sakko ließ sie die Stirn runzeln. Vor Erschöpfung hatte sie gar nicht gemerkt, wessen Stimme sie angesprochen hatte. Sie nahm Yukihitos Hilfe dankend ab, ließ sich aufziehen und taumelte haltsuchend gegen die Wand des stillen Ganges. Vor dem Glas der Trenntüre zum Arbeitsbereich lief bereits eine Riege hektischer Sekretärinnen, Agenten und Schauspieler herum. Kyōko wollte bei dem Gedanken, zwei weitere Höllenwochen durchstehen zu müssen, anfangen zu heulen. "Geht es dir wirklich gut?", erkundigte sich Yukihito. "Ja. Sagen Sie Ayase-san nicht, dass Sie mich zerstört vorgefunden haben, Yashiro-san!" Sie senkte ihre Stimme verschwörerisch. Mit finsterem Blick wisperte sie: "Diese Frau ist eine Sklaventreiberin. Wenn sie herausfindet, dass mir der Stress zusetzt, macht sie mir die Hölle heiß!" Yukihito nickte unter Stirnrunzeln. "Ayase-san kann tatsächlich sehr herrisch auftreten. Sie hat ihre Klienten gut im Griff, wie man hört. Es ist einer jener Gründe, wieso Ren sie damals ablehnte." Kyōko war sich der Tiefdruckwelle, die sie ausschickte, gar nicht bewusst. Ihr Gegenüber wich einen Schritt von ihr zurück, um unschuldig lächelnd die Arme zu heben, als sie düster die Stimme erhob. "Falsches Thema, Yashiro-san." "Was hat er jetzt schon wieder gemacht?" Sie seufzte ergeben. "Nichts." Für Yukihito war dieser Gemeinplatz Antwort genug. Wer Ren kannte, wusste, dass 'Nichts' das einzige war, das man Ren vorwerfen konnte. Kyōko teilte diesen Gedanken ausnahmslos, was ihr nur wenig Trost spendete. "Du warst schon lange nicht mehr bei LME, Kyōko-chan. Wir haben dich sehr vermisst, weißt du?" "Hm?" Sie legte den Kopf schief. Dass sie jemand vermisst haben könnte, hatte sie sich zwar gewünscht, daran geglaubt aber noch lange nicht. Außer Kanae hatte sie keine richtigen Freunde und ihre Bekannten in der Agentur hatten gewiss Wichtigeres zu tun gehabt als ihr nachzutrauern. "Ja, es ist lange her. Es tut mir leid, dass ich nicht früher kommen konnte. Obwohl ich schon zwei Wochen in Tōkyō bin, ist es heute mein erster Schritt in die Agentur seit meiner Ankunft. Irgendwie verrückt." "Ach ja", tat Yukihito, als wäre es ihm gerade erst eingefallen. "Herzlichen Glückwunsch zu deiner Rolle. Ich habe jede Information darüber gesammelt, um dich vielleicht irgendwo auf einer Werbetafel zu sehen." "Die junge Haruko ist zwar wichtig, aber keine Hauptperson, also werden Sie vergeblich gesucht haben. Anfang nächster Woche wird in den Fernsehzeitschriften eine Fotostrecke über ein paar Nebendarsteller gebracht. Dann haben Sie bessere Chancen, mich zu finden. Wer weiß, was noch so alles auf Ayase-sans Terminplan für mich steht." Bei diesem Gedanken schauderte sie unweigerlich. "Diese Frau … einfach beängstigend." Yukihito tätschelte ihr mitleidig die Schulter, anschließend zog er seinen eigenen Kalender aus der altbekannten Aktentasche, die bereits einige rissige Stellen aufwies. "Wir frühstücken in zehn Minuten mit Takarada-san, möchtest du uns Gesellschaft leisten? Nichts Geschäftliches, bloß Energietanken vor einem Arbeitstag. Wir könnten ein wenig frischen Charme gut gebrauchen." "Mit 'wir' meinen Sie Tsuruga-san?" Nachdem die anfänglichen Differenzen zwischen Kyōko und Ren überwunden gewesen waren, hätte Yukihito nicht gedacht, jemals eine derartige neue Feindseligkeit zu verspüren. Diesmal schien sie fester zu wurzeln, beinahe persönlich, und von der jungen Schauspielerin auszugehen, anstatt eine bloße Schutzreaktion auf Rens einstmalige offenkundige Abneigung zu sein. Die sengende, schwarze Hitze, die ihm entgegenschlug, war Antwort genug. Ohne sie weiter zu drängen, gab er den Weg für den Geist namens Kyōko frei, der ausgelaugt und irgendwie beängstigend leblos durch den Flur Richtung Aufzug schwebte. - "Was bitte hast du mit Kyōko-chan angestellt?" Yukihito stemmte die Arme auf die Platte des Kantinentisches, auf dem Ren genüsslich seinen Tee trank. Sein fragender bis böser Blick ließ seinen Schützling die Augenbrauen hochziehen, seine Tasse absetzen und sich zurücklehnen, um die neutrale Distanz zwischen ihren Gesichtern wieder herzustellen. "Gar nichts." Zwei Seelen, eine Antwort, dachte Yukihito grimmig. "Sehr schön. Wie ich sehe, erkennst du das Problem." "Von welchem Problem sprichst du, Yashiro?" Vorwurfsvoll warf er die Arme in die Luft, ehe er Ren gegenüber Platz nahm, um ihm seinen Tee wegzunehmen und weiterhin fragend anzusehen. "Du hast echt von gar nichts einen Plan, oder? Ich verstehe dich nicht. Sie ist neunzehn, sie hat vor drei Wochen die Schule abgeschlossen, ihr ward zwei Jahre lang voneinander getrennt und trotzdem preschen mir immer noch hochkochende Emotionen ins Gesicht, wenn ich deinen Namen vor ihr erwähne. Ich frage dich: was willst du noch?" Ren wusste darauf offensichtlich keine Antwort. Er verfiel in nachdenkliches Schweigen, das mehr erklärte als jede Erklärung, die er hätte herunterbeten können. Sein Manager kannte den stoischen jungen Mann lange genug, um zu wissen, dass Rens Zaudern nicht von ungefähr kam. "War es dir jemals ernst mit ihr?", wollte Yukihito wissen, bloß um sicherzugehen, dass er nichts Falsches interpretierte. Rens neuerliches Schweigen sprach Bände. Seine Augen verrieten den Rest. Seufzend fuhr Yukihito mit seiner Anamnese fort. "Hast du Angst, sie könnte sich verändert haben?" "Nein." Womit er eine von zig Möglichkeiten schon einmal ausgeschlossen hatte. "Befürchtest du, sie könne deine Gefühle nicht erwidern?" Ren seufzte gequält. "Das ist es auch nicht." Zwei Möglichkeiten von zig. Dieses Gespräch konnte Stunden dauern. Oder aber nur wenige Minuten. "Hast du Angst, sie könne nach all der Zeit dieselben Gefühle für dich haben wie du für sie?" Der Schauspieler ihm gegenüber sah überrascht auf. Dieser Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. "Ja, ich habe in den letzten Monaten versucht, mich von ihr zu distanzieren", gab er zögerlich zu. Die Schuldgefühle waren ihm anzusehen. "Damit wollte ich überprüfen, ob …" "Egal was du überprüfen wolltest", unterbrach Yukihito ihn tadelnd, "hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht, dass es sie—gesetzt dem Fall, dass sie dasselbe für dich empfinden könnte wie du für sie, was die einzige Gegebenheit ist, in der diese Distanzierung Sinn macht—verletzen könnte, wenn du dich zurückziehst? Ren, du bist nicht nur ihr Kollege. Du bist ihr Mentor, ihr Vertrauter, ihr Ratgeber und ihr Freund. Sie verlässt sich darauf, dass du ihr in allen Lebenslagen hilfst, was vermessen sein mag, aber dafür nicht weniger wichtig für sie. Du warst immer für sie da. Was denkst du, wird sie annehmen, wenn du dich für sie grundlos aus dieser Dyade zurückziehst? Es geht nicht um dich oder sie, es geht um euch." Ren nickte verstanden, doch Yukihito hatte nicht das Gefühl, als sei er zu seinem Klienten durchgedrungen. Er hatte von dem Date gehört, zu dem Ayase ihn überredet hatte. Tsuruga Ren machte sich als Schmuckstück an ihrer Hand wahrlich fantastisch, weswegen er ihr nicht vorwerfen konnte, seinen Schützling dafür eingespannt zu haben, einen guten Eindruck bei den Anwesenden zu hinterlassen. Man munkelte seit geraumer Zeit, dass die ehrgeizige Karrierefrau mit ihrem Posten als Teilzeitmanagerin bei LME nicht die letzte Sprosse der Karriereleiter erreicht haben wollte. Es war ein offenes Geheimnis, wie wenig konform ihre eigene Arbeitsmethodik mit den Werten der Agentur übereinstimmte. "Kyōko-chan war auch auf dieser Gala?", vermutete Yukihito. Auf Rens Nicken hin zischte er sarkastisch. "Das erklärt ihre Woge der Antipathie, die sie umkreiste, als ich sie eben traf. Ich werde nicht länger auf dem Thema herumreiten, aber für dich ist die Sache noch lange nicht gegessen. Bitte, bring das in Ordnung. Wenn du es schon nicht aus egoistischen Gründen tust, ziehe zumindest die Möglichkeit in Betracht, dass du Kyōko-chan damit glücklich machen könntest." Ren hatte nicht vor zu antworten, selbst wenn Takarada Lory nicht gerade eben die Kantine in der aufwendigen Montur eines altrömischen Prätors betreten hätte. Neben ihm tanzte eine engagierte Schauspielerin, die in ihrer weißen Stola eine Muse oder Göttin darstellen sollte. Das Gespräch über sein verkorkstes Liebesleben war beendet, ebenso die Diskussion, die einzig und alleine Yukihito bestritten hatte. Sein Manager mochte ein paar Punkte haben, die Ren nicht einfach beiseiteschieben konnte. Wenn Kyōko seine spontane Reserviertheit tatsächlich verletzt hatte, musste er diesen Missstand korrigieren. Die Frage war: wie sollte er einem Mädchen reinen Wein einschenken, das nicht einmal alt genug für Alkohol war? Er hatte gedacht, diese Frage würde sich mit fortschreitendem Alter legen. Nun war sie alt genug, um Auto zu fahren, eine eigene Wohnung zu haben, ohne die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten Verträge abzuschließen und ihre eigenen Entscheidungen mit jeder Konsequenz zu tragen. Da war es wieder, dieses Zögern. Etwas hielt ihn zurück. Er konnte es nicht benennen, selbst wenn er es die ganze Zeit versuchte, während er lustlos sein karges Essen in sich hineinschob. Die Gespräche von Yukihito und Lory verhallten am Rande seiner Wahrnehmung zu undefinierbarem Rauschen, dem gegenüber er halbherzig so tat, als höre er zu. Am Ende war er immer noch nicht schlauer. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: jede Bande mit Kyōko—dem Mädchen, das er aufrichtig liebte—kappen, oder es darauf ankommen lassen, ihr seine Gefühle zu gestehen. Nun, beide Möglichkeiten muteten ihm nicht als durchführbar an. Er stand zwischen allen Stühlen. Wieder einmal. - "Seit wann trinkst du Kaffee, oneesan?", fragte Maria, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte eine der obersten Tasten. Weshalb die Konstrukteure des Getränkeautomaten die bei Kindern beliebten Heißgetränke wie Kakao und Tee mit Zucker ganz oben in der Auswahlliste platziert hatten, war Kyōko ein Räsel, das niemals gelöst werden würde. Sie half dem Mädchen unaufgefordert eine gesüßte Heiße Schokolade auszuwählen und nahm eine tiefen Schluck von ihrem Kaffee. Schwarz mit Zucker. "Seit der Luxus von Schlaf in ungreifbare Ferne gerückt ist", brummte Kyōko erschlagen vom heutigen Tag. "Wenn du dich zwischen der perfekten Umsetzung des Drehbuchs und einer Extrastunde Schlaf entscheiden musst, wählst du als ambitionierte Schauspielerin lieber das Drehbuch. Die Visagisten können die Augenränder überschminken, sogar den müden Teint, wenn es nötig ist, aber nur Koffein kann dir helfen, dich wach zu fühlen." "Koffein ist ungesund, sagt Ren-sama." "Ren-sama, hm?", wiederholte Kyōko. Sie wollte ihre Stimmung nicht umschlagen lassen. Vor allem nicht vor Maria, die am allerwenigsten etwas für die Lage konnte, in der sie sich befand. Es wäre unfair ihr gegenüber. "Was machst du hier, Maria-chan? Wartest du auf deinen Großvater?" Maria nickte unter strahlendem Lächeln. "Wir wollen später zum Angeln fahren. Das heißt er wird angeln, ich werde zusehen und aufpassen, dass er keine Fische tötet." "Ja", machte die Ältere. So ähnlich fühlte sie sich auch. Wie ein Fisch, der um seine letzten friedlichen Stunden kämpfte, obwohl er längst am Haken hing. Maria betrieb Schadensbegrenzung, was sie zu ihrem eigentlichen Vorhaben zurückführte. "Hast du Arbeit hier?", erkundigte sich das Mädchen. Sie kehrte von ihren Gedanken zurück in die Realität, in der sie den Kopf schüttelte. "Meine Managerin wird mich in einer Stunde von hier abholen, um mich zu einem Zeitungsinterview zu fahren. Vor der großen Premiere gibt es viel für Koigawa zu tun. Ich bin nur hier, um ein paar Dinge zu klären." "Aha …" Es war offensichtlich, dass Maria mehr dahinter vermutet als die Nonchalance, die Kyōko zu spielen versucht hatte. So etwas schimpfte sich Schauspielerin! Gestern Nacht hatte sie beschlossen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Dass sie genau das nicht tun würde, erkannte sie spätestens als ein Arm scheinbar aus dem Nichts hervorschnellte, sich gegen die Wand lehnte, an der sie stand, und sie damit zur Hälfte einkesselte. "Maria-chan, Mogami-san." Die Begrüßung war nicht minder gestellt herzlich als Kyōko erwartet—befürchtet—hatte. Was auch immer er im Schilde führte, sie hatte nicht den Mut, sich Tsuruga Ren nach all den Geschehnissen unvorbereitet zu stellen. Ohne durchblicken zu lassen, dass ihr das Herz in die Hose gerutscht war, wand sie sich aus seiner bedrohlich wirkenden Umzäunung, um schnellstmöglich mit Panik in den Augen das Weite zu suchen. Was machte sie sich vor? Sie hatte nicht das Recht, Ren Vorwürfe zu machen, schon gar nicht, nachdem sie ihn verlassen hatte— Verlassen? Kyōko schüttelte in dem leeren Konferenzraum, in den sie sich geflüchtet hatte, den Kopf. Achtlos kippte sie das koffeinhaltiges Heißgetränk ihren Rachen hinab, den sie sich dabei schmerzlich verbrannte, um mit Wut über sich selbst im Bauch den Pappbecher zu zerknüllen, ehe sie ihn feinsäuberlich in den dafür vorgesehenen Trennbehälter warf und sich auf einem Stuhl niederließ. Niemand hatte hier irgendjemanden verlassen, ebenso wenig wie jemand anderer besagten Niemand versetzt hatte. Ren war nicht dazu verpflichtet, sich um sie zu kümmern—dafür hatte sie die allmächtige Ayase. Kyōko war der vertraute Umgang der beiden nicht verborgen geblieben. Sie war nicht stolz darauf, gelauscht zu haben, während Maria auf der Gala von ihren Erlebnissen mit ihrem Vater erzählt hatte. Dafür wusste sie nun, dass sich das Pronomen 'wir' in Ayases Anekdoten eindeutig zu oft auf Ren und sie bezogen hatte. Ob es mehr als Mundpropaganda war, die Ayase betrieben hatte? Die meisten Anekdoten bezogen sich auf Rens anfängliche Karriere, von der Kyōko vergleichsweise wenig wusste. "Diese …", fauchte Kyōko leise, doch ihr fiel keine passende Bezeichnung ein. Was mochte Ren von ihr denken, nachdem sie überstürzt aus seinem Gruß geflohen war? Hatte sie bei ihrem Abgang überhaupt eine glaubwürdige Ausrede erfunden oder zumindest auf Wiedersehen gesagt? Sie konnte sich nicht erinnern. So entschlossen sie vor dem Einschlafen auch gewesen sein mochte, die Dinge in Ordnung zu bringen, so schmerzlich war sie sich nun ihrer Schwäche bewusst: sie konnte nicht gegen Ren ankommen. Sie hatte nicht das Recht, von ihm zu fordern. Darum erhob sie sich, um sich ihrem Schicksal zu fügen. Ayase hatte eben eine Textnachricht auf ihr Handy geschickt. In zehn Minuten auf dem Parkplatz. Sei pünktlich. Wenn es sonst nichts gab, auf das Kyōko heute stolz sein konnte, dann wollte sie sich wenigstens nicht nachsagen lassen, unzuverlässig zu sein. Ayase würde schon noch merken, dass sie ihr—wenn schon nicht in Bezug auf Männer—wenigstens in Professionalität um nichts nachstand. - Heute war Samstag. Genau eine Woche nach ihrer Flucht und exakt sieben Tage vor der großen Vorprämiere. Am Sonntag in einer Woche würde die erste Folge des Dramas auf allen willigen heimischen Fernsehern laufen. Zur Hauptsendezeit auf einem bekannten japanischen Nationalsender. National. Das höchste, das Kyōko jemals erreicht hatte. Man hatte ihr in den letzten Tagen alles abverlangt, um die Vorarbeit für den kommenden Samstag guten Gewissens abschließen zu können. Vor der offiziellen Erstausstrahlung würde es ein großinszeniertes Vorprämierenprogramm für ausgewählte Investoren, Förderer, Kritiker und Journalisten geben. Letztere sollten in weiterer Folge großzügig die Werbetrommel rühren. Es war notwendig, um das Interesse ein letztes Mal vor dem großen Knall auf ihr Maximum zu treiben. Spätestens Montagmorgen musste die großflächig angelegte Dokumentation in der Spezialausgabe einer populären Wochenzeitschrift fertig sein, dafür benötigten die Reporter aussagekräftige Schnappschüsse. Diese wollte man ihnen in der Vorprämiere liefern. In weiterer Folge sollte aus den Zusatzszenen, die gezeigt würden, Bonusmaterial für etwaige social network Plattformen und Videoportale konstruiert werden, das den finalen Einschlag möglichst hoch halten sollte, um die erste Begeisterung noch für sich auszunutzen. Darum war sie hier. Hauptattraktion dieser genialen Idee war Kyōko. Sie war nicht selbstverliebt genug, um zu behaupten, dass sie der einzig wichtige Teil davon war, die wichtigste Rolle darin ließ sie sich jedoch nicht absprechen. Die ersten Minuten der ersten Folge der ersten Staffel sollten live auf einer Bühne vor den Augen der geladenen Gäste gespielt werden. Sinn der Aktion war, zu überraschen. Ehe die große Leinwand die erste Szene der Gegenwartshandlung zeigte, würde Kyōko mitsamt ihrem Toshiro, ihrem Fernsehehemann, jene Szene vorführen, mit der das Drama eröffnet wurde. Es war eine intensive Rückblendenszene, in der Haruko ihren Ehemann anflehte, seine Geliebte zu verlassen, um endlich der Mann zu sein, den sie geheiratet hatte. Weil sie ihn liebte. Seine vernichtende Antwort war der Ausschlag für alle Missstände in ihrem Leben, die in den weiteren Folgen behandelt würden. Darum war diese Aufführung wichtig. Kyōko atmete schwer aus. Sie war kein Mensch von Selbstzweifel, weil sie ihre Möglichkeiten kannte wie ihre Grenzen. Wenn sie es sich nicht zugetraut hätte, hätte sie protestiert. Man erwartete von ihr einen perfekten Auftritt, fehlerfrei, denn es würde kein Retake möglich sein. In Okinawa hatte sie kaum Retakes gebraucht, maximal vier oder fünf, wenn sie sich recht entsann. Andererseits waren es vier oder fünf auf insgesamt drei Szenen gewesen. Eine davon war jene, die sie nun spielen sollte. Sie hatte drei Anläufe gebraucht, um ihren Sklaventreiber von Regisseur zufriedenzustellen. Drei. Das waren zwei zu viel. Aus diesem Grund stand sie mit dem dünnen Drehbuch bewaffnet vor Kanaes Tür, die von dieser schlaftrunken geöffnet wurde. "Was willst du?" Kyōko hielt ihr das Drehbuch unter die Nase. "Üben." Es dauerte nicht lange und Kanae hatte den Ernst der Lage verstanden. Trotzdem sie noch halb unter den Schlafenden weilte und zuweilen Fragmente ihres Traumes mit der Realität zu verwechseln schien, war sie am Ende von Kyōkos Bittstellung zumindest so wach, dass sie das Drehbuch überflog, was sie die Stirn in Falten legen ließ. Sie enthielt sich jeden Kommentars, das ihre Freundin nur unnötig auf die Palme gebracht hätte. Sie würde noch früh genug herausfinden, dass diese Konstellation nicht funktionieren konnte, selbst wenn Kanae es gewollt hätte. Sie tranken schweigend frisch Tee, den Kyōko ohne zu fragen aufgesetzt hatte, während Kanae sich in ihre Rolle dachte. Durch ihre Schale der Konzentration schien kein Umgebungslaut zu dringen, selbst nicht das laute Pfeifen des Teekessels, den Kyōko auf ein Stövchen zwischen sie beide stellte. Unaufgefordert goss sie ein. Dann wartete sie. Es dauerte keine halbe Stunde, da schlug die Schwarzhaarige das Drehbuch zu, trank ihren inzwischen lauwarm gewordenen Tee in zwei kräftigen Zügen aus und schlug das zusammengeheftete Papier auf die Tischplatte. "Du bist verrückt." Kyōko legte den Kopf schief. "Wieso, Moko?" "Das kann ich unmöglich mit dir spielen!" "Du bist die beste Schauspielerin, die ich kenne! Wenn es jemand schafft, dann du!" "Eben", betonte Kanae vehement. "Ich bin die beste Schauspielerin, die du kennst. Dein Gegenpart ist eine männliche Rolle mit starken negativen Emotionen dir gegenüber. Ich kann sie nicht mit der richtigen Authentizität rüberbringen. Stell dir vor, du gewöhnst dich an meine feminine Spielweise. So wirst du nur über das Schauspiel deines männlichen Kollegen stolpern. Ich werde nicht zulassen, dass du dir eine riesengroße Chance verbaust, bloß weil du zu stur bist—" "Bitte", beharrte Kyōko flehentlich. Sie faltete ihre Hände vor den leuchtenden Hundeaugen, in denen sich stumme Tränen der Verzweiflung sammelten. "Bitte, bitte, bitte, bitte—" "Fein! Aber schieb' mir nicht die Schuld in die Schuhe, wenn du auf die Nase fällst." Sie stand auf, band ihre Haare im Nacken zusammen und warf einen Blazer über, der ihre Taille und Brüste kaschierte, ehe sie im Bad verschwand. Was immer sie darin tat, es dauerte nicht lange. Kyōko hätte am liebsten losgelacht, als sie den mit Schminke aufgemalten Bart bemerkte, den Kanae sich behelfsmäßig unter die Nase geschmiert hatte, wäre diese Geste nicht rüde und unfreundlich gewesen. Sie war die letzte, die sich über den Einsatz ihrer talentierten Kollegin lustig machen wollte, war es doch sie, die davor scheute, jemanden um Hilfe zu bitten, der ihr wirklich helfen konnte. Kanae war nichtsdestoweniger auf professioneller Basis eine annehmbare Alternative, auf menschlicher Ebene die beste Ausweichmöglichkeit. Dann begannen sie den ersten Dialog. Dass es eine Schnapsidee gewesen war, auf eine Frau zu zählen, wenn die Interaktionsrolle ein Mann war, der einem—trotzdem man aus aufrichtiger Liebe alles für ihn getan hatte—die Hölle auf Erden bereitete, wurde ihnen beiden spätestens klar, als sie den dreißigsten gescheiterten Versuch beklagen konnten. Sie hatten alles unternommen, den Dialog glaubhaft erscheinen zu lassen. Kyōko hatte sich an die Zeit mit Shō erinnert: Fehlanzeige. Es ging um zwei Erwachsene, die viel mehr Verantwortung verband als jene blauäugigen Teenager, die Kyōko und Shō damals gewesen waren. Selbst zu tun, als sei Kanae ihre lesbische Geliebte half nicht weiter. Eine Frau reagierte anders als ein Mann. Schwul, hetero, bi spielte keine Rolle. Sogar die Szene, in der Kanae eine Geschlechtsumwandlung vorgetäuscht hatte, tröstete nicht über den traurigen Fakt hinweg, dass es nicht funktionierte. "Geben wir auf", bat Kyōko. Draußen war die Abenddämmerung angebrochen, die goldrotes Licht durch das Appartementfenster im mittleren Stock des Wohnhauses nahe des Zentrums warf. "Wir können es morgen noch einmal probieren, ja?" "Auf keinen Fall!" Die Dunkelhaarige kreuzte die Arme vor der Brust. "Ich habe mein Date mit Shin'ichi-kun abgesagt, meine Termine gecancelt, mir einen verfluchten Bart aufgemalt, bloß damit du verstehst, dass es sinnlos ist, dir von mir helfen zu lassen! Ich bitte dich, Kyōko, mit all meiner verbleibenden Kraft, spring' über deinen Schatten, wieso auch immer du ihn haben magst, geh' zu Tsuruga-san und bitte ihn, diese Szene mit dir durchzuspielen! Er ist erfahrener, er ist empathischer, vor allem aber ist er männlicher als ich! Wenn es sein muss, rutsche auf Knien, winsle um Vergebung für alles, weswegen ihr böse aufeinander seid, oder mach' ihm von mir aus die Hölle heiß, erpresse ihn, bestich ihn, egal was, nur schaff endlich deinen feigen Hintern aus meiner Wohnung und hol die Hilfe von dem einzigen Menschen auf dieser Welt, der dir bei deinem Problem helfen kann! Bitte!" Kanaes Bitte war weniger ein Vorschlag als ein Flehen, auf das Kyōko im ersten Moment nichts zu erwidern wusste. Sie hatte sich davor gedrückt, Rens Hilfe zu suchen, eben weil zwischen ihnen etwas nicht stimmte. Sie wollte sich nicht aufdrängen. Doch Kanae blieb hart. Mit eiserner Faust warf sie ihre unwillkommene Besucherin hochkant vor die Tür—zu deren eigenem Besten, wie sie auch noch Jahre später beteuerte. Die Verbannte wusste sich nicht zu helfen, außer ihren schmerzenden Hintern zu reiben und enttäuscht von Dannen zu ziehen. Wo war ihr Mut? Ihr Eifer? Sie war Ren seit einer Woche aus dem Weg gegangen. Mehr oder minder, was eine denkbar schlechte Ausrede war. Hätte sie nicht sowieso keine freie Minute gehabt, hätte sie genau diese darauf verwendet, besagtem Schauspieltalent auszuweichen. Nach ihrem ruhmlosen Abgang von neulich waren sie einander nicht mehr begegnet. Auch Ayase ließ nicht durchblicken, sich weiter mit ihrem Aushängeschild getroffen zu haben, und wenn, dann überhörte Kyōko es instinktiv. Mit diesen frustrierenden Gedanken schlenderte sie durch den später werdenden Abend, jedes Mal zusammenzuckend, wenn ein Auto hinter ihr ertönte, das auch nur entfernt nach Rens Protzermodell klang. Ihr erstes Problem dabei war, dass sie sich mit Autos nicht auskannte, weswegen sich jedes Auto anhörte wie Rens. Ihr zweites war der Funken Hoffnung, dass er tatsächlich vorbeifahren könnte, für den sie sich aus drei Gründen hasste. Erstens sollte es ihr egal sein, ob Ren jemals wieder mit ihr sprechen wollte oder nicht. Immerhin war er es gewesen, der sie im Stich gelassen hatte. Zweitens war diese Meinung egoistisch und verwerflich und repetitiv wiederkehrend, sodass sie sich selbst bereits damit auf die Nerven fiel. Drittens war es wider den häufigen Gelegenheiten in der Vergangenheit, in der es oft geschehen war, dass Tsuruga Ren sie vom Gehsteig aufgelesen hatte, unwahrscheinlich, ihn hier um diese Uhrzeit anzutr— Hinter ihr wurde ein Auto langsamer. Kyōko drehte sich aus Prinzip nicht um, selbst als der Wagen im Schritttempo an ihr vorbeirollte. Die Ampel sprang auf Grün und der gelbe Zweisitzer gab Gas. Wieder nichts. Die aufkeimende Hoffnung wurde von einer Gewissheit überschattet, die wie ein Echo in ihren Ohre widerhallte, als sie in den dämmerigen Abendhimmel sah, der über ihrem Kopf bedächtig die Farbe von Mitternachtsblau annahm. Im Showgeschäft ging es nicht um persönliche Gefühle untereinander. Professionelle Schauspieler mussten selbst mit ihrem privaten Todfeind die engste Freundschaft spielen, wenn das Drehbuch es erforderte. Zwischenmenschliche Beziehungen waren irrelevant. Wichtig war, weiterzukommen. Wenn Kyōko ehrlich zu sich selbst war, hatte Kanae recht. Auf stur schalten brachte nichts, wenn sie dadurch ihre Karriere gefährdete. Die Frage war: schaffte sie es, sachlich zu bleiben, um Profit aus Rens Talent zu schlagen? Die Antwort lag auf der Hand. Natürlich konnte sie es. Sie war inzwischen ein Profi, oder nicht? Nun musste sie Ren nur mehr dazu bringen, es genauso zu sehen. - Tsuruga Ren hasste einkaufen. Darum hatte er selten etwas zu Essen zu Hause. Supermärkte boten einfach zu viel Auswahl für jemanden, der keine Ahnung hatte, wie man kochte. Das reichliche Neonlicht ließ die übriggeblieben Salatköpfe seltsam bläulich erscheinen während die Fertiggerichte einen ebenso unseriösen Eindruck auf seine müden Augen hinterließen. Yashiros Standpauke hätte mehr Wirkung zeigen sollen als ihn bloß zum Nachdenken anzuregen. Er hatte gehofft, durch diese Mahnung zu einer Entscheidung zu kommen, wie er mit Kyōko weiterverfahren würde. Stattdessen hatte er sich die lieben langen Tage den Kopf über Dinge zerbrochen, die er schon wusste: es musste eine Entscheidung her. Das war nur leider leichter gesagt als getan, wenn man der unspontanste, verkorksteste, unflexibelste Mensch der Welt war. Dass er bereits eine Woche lang darüber brütete, dass er sich entscheiden musste, sprach schon alles aus, was man wissen musste. Die ganze Situation war mit einem Wort verfahren. Irgendwo, weiß Gott wann, hatte er die falsche Abzweigung genommen. Welchem Schild auch immer er blind vertraut hatte, das heimtückische Biest hatte ihn in eine Sackgasse gelotst. Eine so enge Sackgasse, dass er nicht einmal aussteigen konnte. Ren seufzte tief und verließ den Laden, ohne etwas zu kaufen. Heute würde ein weiterer Abend ohne feste Nahrung werden, welch Neuigkeit. Ayase hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit angeboten, vorbeizukommen, um ihm ein Abendessen zu zaubern, allerdings war dieses Angebot selbstsüchtig gewesen, um sich vor den zuhörenden Ohren gezielter Investoren beliebt zu machen. Sie hatte dieses Angebot schnell auf die gesamte Belegschaft jener Agentur ausgeweitet, welche die Hauptdarsteller gestellt hatte. Ren zischte amüsiert und sarkastisch. Dabei konnte Utada Ayase nicht einmal kochen. Der Gedanke, jemand könne auf ihren heuchlerischen Vorschlag bestehen, erhellte seine düsteren Gedanken, in denen er sich selbst geißelte für die Dummheit, mit der er sich bravurös in seine Misslage manövriert hatte. Gratulation, du Held, rühmte er sich selbst mit einer großen Portion Ironie. Du hast es mal wieder geschafft. Wenig begeistert von seiner Ausbeute—einkaufstechnisch wie entscheidungsbetreffend—lenkte er seinen Wagen auf den Parkplatz seines Appartementblocks. Minutenlang blieb er im Inneren des Fahrzeuges sitzen, die Hände um das schwarze Lenkrad gekrampf, in seiner Nase der Geruch eines Duftbäumchens, an dessen Kauf er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Vermutlich hatte Ayase es aufgehängt, als er sie auf dem Weg zur Gala abgeholt hatte. Er konnte sich vage entsinnen, dass sie sich über den schalen Geruch der Polstermöbel beschwert hatte, der ihrem Kleid die Pfirsichnote raubte. Ob sie allerdings tatsächlich so sehr vorausplanend war, dass sie auf Gutdünken ein Erfrischungsgimmick zu einer Abendveranstaltung mitnahm, blieb fraglich. Der Abend war letzten Endes eine Katastrophe geworden. Statt sich mit ihm zu unterhalten, hatte sie ihn als Accessoire missbraucht, was an und für sich kein Problem für ihn dargestellt hätte, hätte er nicht in der Retrospektive bemerkt, wie sein Blick immer wieder auf Kyōko gefallen war, die gute Miene zum bösen Spiel vorgeschützt hatte. Sie hatte schön ausgesehen in dem senfgelben Kleid, das mehr ihrer Weiblichkeit betont hatte, als ihm rückblickend lieb war. Nicht, dass Tsuruga Ren sich einen einzigen auch nur doppeldeutigen Gedanken erlaubt hatte. Er hatte nur mit Besorgnis festgestellt, dass sie sich ihrer neuen, durch Reife erworbenen Ausstrahlung gar nicht richtig bewusst zu sein gewesen schien. Ihre Freundin, Kotonami Kanae, wenn er den Namen korrekt in Erinnerung behalten hatte, hatte mit bewundernswerter Hingabe versucht, Kyōko abzuschirmen, wobei ihm immer noch nicht klar war, ob vor den Blicken der anwesenden männlichen Gesellschaft im Allgemeinen oder vor ihm selbst im Speziellen. Nach einer viertel Stunde gab er auf, stieg aus dem Wagen und schlug die Tür zu, deren sanftes Klicken, als sie ins Schloss fiel, die laue Sommernachtsluft für einen Augenblick durchbrach. Dann war wieder alles still. In Gedanken versunken überquerte er den Privatparkplatz der Mieter, hin zu dem eleganten Vordach über dem beleuchteten Eingang. Soweit er wusste—und er wusste es, weil er vor geraumer Zeit wegen einer Funktionsstörung des Sensors über die Treppe gestürzt war—hatten sämtliche Lampen um das Eintrittsareal moderne Bewegungsmelder. Tückische Dinger, wenn sie nicht funktionierten. Unbewusst wusste er, dass die Lampen keiner Reparatur bedurften, noch ehe er die Gestalt sah, die auf einer der zwei Bänke vor der Glasschiebetür saß, die die Lobby vom Hof trennte. Die junge Frau saß mit hängenden Schultern und nebeneinandergestellten Beinen da, verloren auf ihre ineinandergelegten Hände starrend, als suche sie in ihren Handflächen nach der Lösung auf das Rätsel der Welt. Sie war so mit etwas ihm unbekannten beschäftigt, dass sie nicht einmal bemerkte, wie er vor ihr stehenblieb und auf sie herabsah. "Mogami-san?", sagte er leise. Um sie nicht aus gewaltsam aus ihrer Trance zu reißen, kniete er sich vor sie, um von unten in ihr gesenktes Gesicht sehen zu können. Vergebens suchte er ihren Blick, dann berührte er sie an der Schulter. "Alles in Ordnung?" Die unangemeldete Besucherin hatte augenscheinlich nicht damit gerechnet, dass der unfreiwillige Gastgeber sie von ihrem Posten vor den Pforten der Hochburg abholte, doch sie überspielte ihren Schock gekonnt mit einem fahrigen Lächeln, dem eine wegwerfende Geste folgte. "Tsuruga-san!", rief sie freudig, doch er konnte sehen, dass diese Freude gespielt war. Etwas beschäftigte sie. Er wollte sie nicht dazu drängen, es ihm zu verraten. "Hast du auf mich gewartet?" Kyōko strich sich ertappt über ihr schulterlanges Haar, das sie elegant mit einer glitzernden Brosche auf der einen Seite hinter ihr Ohr gesteckt hatte. Es fiel ihm bloß auf, weil dadurch ein Ohrring sichtbar war, dessen Farbe und Form nahezu perfekt zu dem Stein passten, den er ihr vor über zwei Jahren geschenkt hatte. Sie trug ihn nicht, was ihn unweigerlich zu einer Vermutung führte, die ihm unlieb war: war dies für sie einfach nicht die passende Gelegenheit, sein Geschenk anzulegen, oder bedeutete das Nicht-Tragen der Kette ein Statement? Da war es wieder: er machte sich Gedanken, während er seine Umwelt ausblendete. Kyōko hatte ihm geantwortet, ohne dass er zugehört hatte. "Entschuldige, ich war in Gedanken, Mogami-san. Was hast du gesagt?" "Ach, nicht so wichtig", winkte sie ab. "Ich bin selbst schuld. Hätte ich eher geklingelt, hätte ich hier keine zwei Stunden sitzen müssen, bis du über mich stolperst. Bist du im Begriff zu gehen? Ich möchte dich nicht aufhalten …" "Nein", berichtigte er schnell. Zu schnell. Bedächtiger schüttelte er den Kopf, stand auf und nickte in Richtung Eingang. "Eigentlich komme ich gerade von einer recht erfolglosen abendlichen Shoppingtour zurück. Möchtest du mit hoch kommen?" Kyōko wurde blass um die Nase, doch er hielt ihr falsches Lächeln aufrecht. Metaphorische Schweißtropfen rannen ihr Gesicht hinab, während sie im Inneren um eine Antwort rang. Nach einiger Bedenkzeit gab sie sich geschlagen. "Ja. Danke." Sie fuhren nebeneinander schweigend mit dem Aufzug nach oben. Rens Wohnung war aufgeräumt wie immer; nicht unbedingt für rare Gelegenheiten, in denen er Besuch hatte, wenn er denn mal zuhause war, sondern weil er so selten den Schutz seiner eigenen vier Wände genoss, dass er während seiner kurzen Aufenthalte hier kaum Unordnung schaffen konnte. Kyōko schien beeindruckt von seinem Organisationstalent, wie auch die anderen Male, die sie hier gewesen war. "Es hat sich nicht viel verändert", bemerkte sie. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf das funktionstüchtige Modell einer goldenen Pendeluhr. "Das ist neu, aber sonst sieht es aus wie immer." Ren nahm ihr ihre leichte Sommerjacke ab, um sie ordentlich auf den Mantelständer zu hängen. Sie ließ es bereitwillig geschehen, was bedeutete, dass sie nicht vorhatte, gleich wieder zu gehen. "Mein Vater hat sie mir geschenkt. Eine Art Versöhnungsangebot." "Hat es geholfen?", hakte sie nach. "Nicht unbedingt. Wir sind zwei erwachsene Männer. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr leben wir unsere eigenen Leben, völlig unabhängig voneinander. Ich sehe nicht viele Nischen in meinem Leben, in die das seine sich einpassen könnte. Umgekehrt gilt wohl dasselbe." "Hm …" Kyōko murmelte nachdenklich einige Silben, die er nicht verstehen konnte, wohl aber auch kaum für seine Ohren bestimmt gewesen waren. "Eltern", schloss sie. "Meine Mutter kündigte sich für meine letzte Woche auf Okinawa bei mir an. Sie sagte, sie wolle sehen, mit was ihre Tochter ihr Geld verdient." Ihr trauriges Lächeln ließ die Enttäuschung durchscheinen, die sie erlebt hatte. "Sie ist nicht gekommen?" Andächtig strich sie über das Ziffernblatt der Uhr, ehe sie leicht den Kopf neigte. "Es hätte mich mehr überrascht, hätte sie ihr Versprechen gehalten." Damit beendete Kyōko das Thema, stellte ihre Tasche neben dem Wohnzimmertisch ab und ging zielstrebig auf die moderne Küchenzeile zu. "Ich darf doch?", fragte sie auf die Milchglasvitrine deutend. Ohne eine Antwort abzuwarten nahm sie eine Wasserkaraffe aus dem Schrank und füllte sie mit dem niedrigsten Wasserdruck, der möglich war. Ob sie Zeit schinden oder etwaige Nervosität kaschieren wollte, konnte Ren nicht beurteilen. Dafür fiel ihm das Drehbuch auf, dessen Oberkante aus der Handtasche ragte. Er zog es wider seiner guten Manieren hinaus, um es durchzublättern. "Tsuruga-san", begann sie erneut, ließ jedoch nicht vom Wasserhahn ab, "ich bin eigentlich hier, um dich um etwas zu bitten." "Wie kannst du es wagen?", blaffte er sie plötzlich von hinten an. Sein Ton barg all die Entrüstung, derer er fähig war. Kyōko drehte sich mit vor Schreck geweiteten Augen um, wobei sie die Karaffe beinahe fallen ließ. Im letzten Moment schien sie die Zeile wiederzuerkennen. "Mich vor unserer Familie dermaßen zu brüskieren!", fuhr er fort, dann wurde seine Stimme freundlicher. "Geht es darum?" Er hielt das Drehbuch empor. Kyōko hätte niemals zugegeben, sich erschrocken zu haben. Es war auch nicht nötig. Ihre leicht zitternde Hand verriet das Abflachen des ersten Schocks. Sie nickte. "Die Vorpremiere soll mit der ersten Szene beginnen, live gespielt wie in einem Theaterstück. Es ist ein sehr … emotionsgeladener Dialog. Moko und ich versuchten ihn so gut als möglich zu interpretieren, leider ist es zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren sehr schwer, derartige Emotionen glaubwürdig darzustellen. Darum dachte ich …" "Ich verstehe", unterbrach er sie. Er senkte sein Augenmerk zurück auf das Drehbuch. Vier Seiten geballter Emotionalität. "Um was geht es genau in dieser Szene? Haruko scheint ihren Mann vor seinen Eltern und Schwiegereltern in große Verlegenheit gebracht zu haben. Wieso?" Kyōko war erleichtert über seine nonverbale Zusage und trat an den Tisch, um sich ihm gegenüber niederzulassen. "Sie hat ihn vor aller Augen damit konfrontiert, eine Affäre zu haben. In dieser Szene streitet er es weder ab, noch bestreitet er seine Gefühle für die andere Frau. Allerdings war es in den Sechzigern noch sehr unüblich, sich scheiden zu lassen, vor allem im konservativen Okinawa, daher verlangt er von ihr, seine Liaison wortlos zu billigen. Haruko allerdings liebt ihren Ehemann, was dieser wiederum weder schätzt noch würdigt. Am Schluss muss ich zusammenbrechen und weinen. Vor allem bei diesem Teil habe ich große Probleme. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wegen eines Mannes, der mich so schäbig behandelt, schluchzend auf die Knie zu fallen." Ren versuchte sich die Szene vorzustellen, in der die Frau vor ihm an gebrochenem Herzen litt. Er konnte es nicht. Sie war so stark, so verschlossen, aus gutem Grund, wie er wusste. Sie war anders als die Mädchen, die er kannte. Vielleicht naiver und verträumter, aber nicht um ihrer Traumvision willen, sondern weil sie sich damit versuchte aus ihrer harten Realität zu flüchten, in der sie ausgenutzt, verschmäht und weggeworfen worden war. Dies war der Knackpunkt. Damals hätte sie weinend zusammenbrechen können, doch ihr kämpferisches Wesen hatte den Weg der Rache gewählt. Kein Motiv, von dem er nach drei Jahren auch nur einen Funken besser dachte. Trotz alledem unterschied sich dieser Charakterzug von Haruko, die an den Scherben ihrer Liebe langsam selbst zerbrechen würde. Zumindest hatte er das bei der Gala gehört. Er wusste nur zu gut, wie es war, etwas zu spielen, das dem Grundwesen des Schauspielers schreiend widersprach. "Möchtest du den ersten Part überspringen und gleich mit den letzten Dialogen beginnen?", schlug er schließlich vor. "Es wäre am Ende gewiss leichter für dich, den Zusammenbruch anschließend an die Vorgeschichte zu spielen, wenn du ihn schon zuvor beherrschst." Zustimmend nickte Kyōko. "Okay. Wo fangen wir an?" Er reichte ihr das Drehbuch. "Wähle die Stelle, die dir als erste Schwierigkeiten bereitet, dann beginne mit dem Satz zwei Absätze darüber, um dich einzuspielen. Bist du bereits in deiner Rolle?" Ren konnte sehen, wie sich der Ausdruck in ihren hellen Augen blitzschnell veränderte. Sie war ein Profi geworden, keine Frage. Die Zeiten, in denen sie Minuten brauchte, um sich in ihren Charakter einzufügen, gehörten der Vergangenheit an. Er kam nicht umhin, ein wenig stolz zu sein. "Bereit?", fragte sie fast herausfordernd. "Wann immer du es bist." Konzentrierte Stille legte sich acht Herzschläge lang über was offene Wohnzimmer. Kyōko brauchte nicht lange, um Harukos emotionale Aufgewühltheit zu verinnerlichen. Sie entlehnte dafür ihre eigene Verwirrung. Wie war es möglich, dass Ren nicht böse auf sie war? Wieso hatte er ihr angeboten, mit nach oben zu kommen? Er hatte bedingungslos seine Hilfe angeboten, wo er sich doch in den letzten Monaten alle Mühe gemacht hatte, ihr zu zeigen, wie unwichtig sie ihm doch war! All diese unbeantworteten Fragen machten es leicht, die Zerrissenheit ihrer Rolle darzustellen. Sie spürte, wie sich ihr Körper anspannte, die Schultern zurücknahm, wie die stolze, intelligente Haruko es immer tat, wenn harte Zeiten aufkamen. "Yasuo-kun …", wimmerte sie, die angespannten Schultern unter der schweren Last der Wahrheit bebend. "Sag, dass du mich liebst. Ich bitte dich. Wenn es das letzte Mal gewesen sein mag, sag es mir, damit ich mir sicher sein kann, mit dieser Ehe die richtige Entscheidung getroffen zu haben." "Diese Ehe", entgegnete Ren. Wie er sie anstarrte, gnadenlos und verachtungsvoll, bedrohlich und voller Hass. Es jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Toshiro war ein wunderbarer Schauspieler, aber er hatte ihr niemals eine solche Gänsehaut beschert. "Diese Ehe", fuhr Ren fort, ganz in seiner Rolle des Yasuo, "ist eine Farce. Eine Lüge, die sich deine und meine Eltern ausdachten, um die Fusion ihrer Firmen abzusichern. Ich wollte niemals jemanden wie dich heiraten, Haruko. Jemanden, der so schwach und unbedeutend ist, aber trotzdem so viel auf sich hält." Kyōko versuchte ihre Antwort zu formulieren, doch aus ihren bewegten Lippen kam kein Laut. Druck legte sich auf ihren Brustkorb und machte ihr das Atmen schwer. Sie kniete sich keuchend auf den Boden, schwer nach Luft ringend. Sofort war Ren bei ihr, seine Hand strich beruhigend über ihren Rücken. "Bist du okay?" "Ja", versetzte sie, enttäuscht von sich selbst. "Ich hatte nur vergessen, wie intensiv du deine Rollen spielst. Ich muss mich erst daran gewöhnen, einen so starken Gegenpart zu haben." Dass dies nur die halbe Wahrheit war, wussten beide. Bloß war Kyōko sich nicht sicher, ob Ren mit seiner Vermutung richtig lag. Ob er die Wahrheit kannte, nicht nur die Lüge bemerkte? Ihn diese Worte sagen zu hören … sie hätte es sich weniger drastisch vorgestellt. Wann immer ihr Serienehemann sie gedemütigt hatte—in späteren Szenen sehr viel schlimmer als im Prolog—hatte sie nicht diesen Schmerz empfunden, der sich wie ein Messer durch ihr Herz rammte. Immer und immer wieder, Silbe für Silbe. "Machen wir weiter." Kyōko rappelte sich auf, nahm ihre Position wieder ein und schlug sich leicht gegen die Wangen, um ihren Fokus zu finden. Sie durchforstete das Drehbuch, das sie mental abgespeichert hatte. Der nächste Satz kam ihr unter Rens erbarmungslosem Blick erheblich schwerer von den Lippen als der erste. "Das bedeutet nicht, dass du tun kannst, was du willst. Arrangiert oder nicht, das Gebot der Ehe gilt in jeder Form davon. Ich werde mich nicht ausnutzen lassen!" "Was willst du dagegen tun, Liebes?", höhnte Ren. Er trat einen Schritt näher an sie heran, wie ihm Drehbuch notiert. "Drohe mir nicht, wenn du nicht mit den Konsequenzen leben willst. Ich kann mit deinem Hass umgehen, aber kannst du auch den meinen ertragen?" Kyōko wich zurück, was ebenfalls im Drehbuch stand. Bloß, dass sie daran gar nicht gedacht hatte. "Hör auf! Bitte, Yasuo-kun, hör auf!", kreischte sie wie vom Blitz getroffen. Sie barg ihr Gesicht in ihre Handfläche, bloß um es voller Tränen nach oben zu reißen. Dann war das Drehbuch zu Ende, doch anstatt zusammenzusinken und Yasuo zu entlassen, warf sie sich gegen Ren, packte ihn am Kragen und brüllte in sein Hemd. "Das ist alles nicht fair!" Ren war überfordert. Hatte er diesen letzten Part des Drehbuchs überlesen? Er spürte ihre Nägel seine Haut durch die Leinen des Oberteils zerkratzen, fühlte ihre Tränen, die durch den Stoff sickerten, doch er war zu perplex, um zu reagieren. Kyōko indes hämmerte mit kraftlosen Fäusten gegen seine Brust. Irgendwo tief in ihr waren ihre Emotionen übergekocht. Jene Emotionen, die sie sich versucht hatte auszureden. Jahrelang hatte sie sie versteckt, verschlossen gehalten in ihrem tiefsten Inneren, gelächelt für das Schauspiel ihres Lebens, das sie und Ren veranstalteten, seit sie sich kannten. "Wie kannst du tun, als sei nichts? Wie kannst du es wagen, mir zu helfen? Einfach so?", kreischte sie weiter, die Fäuste endlich stillhaltend, um sich erneut in den Hemdkragen zu krallen, an dem sie zog und schob, um ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen. Ren schwieg immer noch erstarrt. "Ich hatte eine Rede vorbereitet! Eine ellenlange Entschuldigung, weil ich schlecht über dich dachte, bloß um hinterher wieder schlecht über dich zu denken, weil du sie mit deinem falschen Lächeln angenommen hättest, obwohl du wüsstest, wie hinterlistig sie wäre! Wieso nimmst du mir den Triumph, dir überlegen zu sein, lädst mich zu dir ein, als habe sich in den letzten zwei Jahren nichts verändert? Wieso zum Teufel hilfst du mir, als seien wir beste Freunde?! Freunde versetzten einander nicht, rufen auch von sich aus an und leben nicht in den Tag hinein, als wäre das alles völlig egal!" Kyōko ergab sich den bitteren Tränen aus Wut und Verzweiflung. Es war nicht dieser Abend, der sie ausrasten ließ, es waren die letzten Wochen. Mit rauer, brüchiger, belegter Stimme fuhr sie fort, ihrer Frustration Luft zu machen. "Du solltest derjenige sein, der sich entschuldigt! Du riefst mich auf Okinawa nie zurück, hast zum Schluss nicht einmal mehr auf meine Nachrichten geantwortet! Du brachst dein Versprechen, mich vom Flughafen abzuholen, und dann tauchst du auch noch mit einer Frau auf, der ich niemals das Wasser reichen kann. Wofür das alles, Ren?" Es war ein eigenartiges Gefühl, ihn beim Vornamen zu nennen. Kyōko hatte es gar nicht erst bemerkt, ebenso wenig die Arme, die sich um ihren Rücken gelegt hatten. Sie drückten sie enger an ihren zugehörigen Körper, dessen Anspannung allmählich nachließ. "Bekomme ich heute auch nur eine einzige Antwort?", schniefte sie bemüht, ihre Fassung wiederzuerlangen. Es misslang nach allen Regeln der Kunst. "Was ist, wenn ich keine passende Antwort auf deine Fragen habe?" Ein Schlag ins Gesicht hätte weniger wehgetan, doch sie versuchte tapfer zu bleiben. Vielleicht war diese Umarmung nichts mehr als eine Entschuldigung. Es war genau dieser Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie sich nicht aufgeführt hatte wie eine Geisteskranke, weil sie drohte, einen geschätzten Freund entgleiten zu lassen. Die ganze Zeit über hatte sie sich dagegen gewehrt, anzuerkennen, dass sie nicht im Inbegriff war, einen Mentor und Kollegen zu verlieren, sondern denjenigen, dem sie ihr Herz geöffnet hatte. Es war der denkbar ungünstigste Moment, um zu realisieren, dass sie in Tsuruga Ren verliebt war. "Ist das ein Abschied?", wisperte sie. Die Abfuhr schmerzte als hätte er sie durch ein Fenster geworfen. Splitter für Splitter. Plötzlich drückte Ren sie fester an sich. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, sein Atem streifte ihren Nacken als er mit einer Hand an ihren Scheitel glitt, um ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. "Es ist kein Abschied. Es ist meine eigentümlich Art dir zu sagen, dass ich sehr oft nicht weiß, warum ich absichtlich Dinge tue, die mich unglücklich machen." Sie weitete in seiner Umarmung ihre Augen, die leuchten mussten wie die Sonne selbst. "Ich weiß nicht, seit wann ich dich liebe, aber fest steht, dass ich es tue. Und es immer werde, wenn du mich lässt. Kyōko." An seiner Schulter nickte Kyōko. Ren musste ihren Herzschlag spüren, der aufgeregt in ungesunde Geschwindigkeiten anstieg. Ihr Herz machte mit jeder Silbe einen Sprung. Das war also das Gefühl, von jemandem aufrichtig geliebt zu werden. "Ich denke", schmunzelte sie selig, "meine Zeiten bei der Love Me Section sind nun offiziell vorbei." .:: E N D E ::. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)