Erinnerungsverwehen von Jaelaki ([Wie kalt ist die Hölle?]) ================================================================================ Kapitel 1: Ein letztes Mal zuerst --------------------------------- Worte die einst geflossen sind nun Schall und Rauch. Erkenntnis der Vergänglichkeit. © Karin Thießen (*1958) – Call all your friends And tell them I'm never coming back Cause this is the end. Ihr Atem war eisig. Groß und grün starrten ihm ihre Augen entgegen, als er seine Lippen den ihrigen näherte, den Hauch ihres Lebens seine blasse Haut entlang streifen spürte. Betäubt beugte er sich über ihre schlanke Gestalt, die sich in dem ausladenden Himmelbett zu verlieren drohte, gehüllt in ein wallendes Kleid. Weiße Locken umrahmten ihr bleiches Gesicht. Dunkelheit umsäumte sie. Er spürte sie. Die Finsternis. Das berauschende Gefühl nahender Erfüllung, vage Befriedigung. Die Gier, die durch seine Adern pulsierte. Wie einen eiskalten Atemstoß, spürte er Sebastians Präsenz hinter sich und seinen rubinroten Blick, der ihn zu durchdringen schien. „Ciel“, hauchte sie, „ich habe eine letzte Bitte.“ Pretend that you want it Don't react The damage is done. Falten zogen sich über ihre feinen Gesichtszüge. So viel Zeit. Er sah noch das kleine, blond gelockte Mädchen vor sich, das ihn vertrauensselig geliebt hatte. Schüttelte die Erinnerung ab, wie Regentropfen im Haar. Jetzt war sie eine alte Frau – so fremd. So vertraut. „Um was möchtest du bitten?“, fragte er ungerührt. „Ich habe eine Enkelin. Ihre Eltern sind – bei einem Überfall getötet worden. Vor langer Zeit. Sie ist allein. Sie – schläft in ihrem Bett.“ Ciel erstarrte augenblicklich, strauchelte einige Schritte zurück, weg von ihrem Bett, in dem sie lag. Dann fing er sich wieder. Seine Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt. Schritte zurück und wieder zu ihr. Verabscheuungswürdig blickte er zu ihr hinunter. Wie sie da lag, als fürchtete sie sich nicht vor ihm. Wie sie ihn offen anblickte, als verbünde sie etwas. Mehr als ein Vertrag und ihre schillernde Seele, die ihm endlich zustand. „Beschütze sie, Ciel.“ Ihre Worte drangen in sein Bewusstsein, wie Glassplitter, auf denen man mit nackten Füßen getanzt hatte. „Das ist nicht meine Aufgabe“, erwiderte er kühl, stieß sich zurück, fort von ihr, „du hast mir nichts mehr zu bieten. Deine Seele ist bereits mein.“ Sebastian warf ihm einen dunklen Blick zu, er spürte sein diabolisches Amüsement. Eiskalte Berechnung. Ironie. Ciel erwiderte seinen vielsagenden Blick mit herablassender Miene. Elisabeth erwiderte seinen ignoranten Gesichtsausdruck gutmütig. „Ich bitte dich nicht als Dämonen, Ciel. Sondern als Menschen.“ The police are coming too slow now I would have died I would have loved you all my life. Sein emotionsloses Lächeln wirkte abstrus, wie eine Maske, die er sich auf seine Lippen setzte. „Elisabeth. Ich bin kein Mensch mehr. Schon lange nicht mehr. Es gibt mich nicht mehr, so wie du mich in Erinnerungen wach hieltest. Ich bin nur noch ein Schatten.“ Sie blickte ihn stumm an, ein trauriges Lächeln hatte sich auf ihre dünnen, zerknitterten Lippen gelegt. „Du hast recht. Du bist kein Mensch mehr.“ Sie wirkte unangebracht aufgeräumt. „Dann bitte ich dich als meinen ehemaligen Verlobten, meinen Begleiter, als meinen Freund.“ Sie lächelte ihn an, fing seinen starren, ausdruckslosen Blick auf. Das rote Leuchten glimmte in ihnen wie verglühende Kohle. „Denn das wirst du immer bleiben. Egal, was passiert. Und ich werde dich immer lieben, Ciel. Egal, wie sehr es schmerzt.“ „Du liebst nur eine Erinnerung, die keinen Bestand mehr hat in der Gegenwart“, flüsterte Ciel rücksichtslos und lachte hohl auf, beugte sich über ihren altersschwachen Körper, griff ihr grob in die Locken, zerrte an ihnen und zwang sie, ihm in die dämonisch glühenden Augen zu sehen. Augen, in denen sich nur Dunkelheit, Leere, Zukunftslosigkeit widerspiegelte. „Und du hast keine Ahnung von wahren Schmerzen, Elisabeth.“ You're losing your memory now You're losing your memory now. Er spürte, wie er ihre weiche Seele aus dem Körper trieb, wie heiße Fackeln, die ihre Haut verkohlten, brennende Dolche, die ihre edle Blässe verstümmelten, bis nichts außer Asche mehr übrig blieb. Sie schrie stumm. Ihre Augen schmerzvoll geweitet, ihr Körper unter ihm aufgebäumt. Alles stand in Flammen, flackernd, verzehrend. Er spürte, wie sich ihre Erinnerung zu einem eiskalten Nebel verflüchtigte, feine Nebelschwaden, bunt schillernd, flüsterten von einer Vergangenheit, von Lachen erfüllt, Träumen, Hoffnungen, Wünschen, von Tränen benetzt, Enttäuschungen, Verrat, Resignation – Liebe. Er sog alles auf, es breitete sich in seinem untoten Körper aus, die Augen geschlossen, spürte ihnen nach, den verlorenen Gefühlen. Für den vergänglichen Augenblick fühlte er sich lebendig. Melancholie überschwemmte ihn wie eine Welle salzigen Meerwassers. Dann öffnete er langsam seine Augen und blickte direkt in Sebastians rubinrot glühende. Ein diabolisches Lächeln hing in dessen Lippen, als er sich ihm näherte, wie ein Raubtier kurz vor dem tödlichen Akt der Jagd, dann spürte er seinen Zeigefinger den Nacken entlang fahren. „Lass uns endlich gehen, Sebastian“, befahl Ciel barsch und entwand sich aus Sebastians erdrückender Nähe, während sein Blick auf dem irdischen Überrest der alten Frau ruhte, „es gibt hier nichts mehr, für das es sich lohnt zu bleiben.“ Dann drehte er sich resolut um und mit einem dunklen Blick zu Sebastian war er schließlich lautlos in den Schatten der Nacht verschwunden. You're losing your memory now You're losing your memory ... now. Sebastian erschien direkt hinter ihm. Er spürte seine einnehmende Präsenz. Der Wind rauschte in den dunklen Baumkronen. Der Mond schien bleich auf den Weg, an dessen Ende sich das stolze Anwesen wie ein Schatten erhob. Er beobachtete es, wie eine verwischende Erinnerung. „Allmählich verblasst es“, sprach Ciel ungerührt, „all die Erinnerungen meines – Lebens. Alle Gefühle – verwehen.“ Sebastians tiefschwarze Augen blickten in den dunklen Nachthimmel. „Ich weiß“, antwortete er leise. „Was wird an Stelle dessen treten?“, fragte Ciel, sein Gesicht gezeichnet von offener Gleichgültigkeit. „Ich weiß, dass Ihr das wisst, my Lord“, erwiderte Sebastian leise. Where have you gone, The beach is so cold in winter here And where have I gone, I wake in Montauk with you near. Seine Gleichgültigkeit war eine Maske. Wie alles, das er trug. Ein Trugbild. Er selbst. Ein dunkler Lufthauch, eine düstere Vorahnung. Alles, was ihm je etwas bedeutet hatte, war vergangen. Gehorsam. Treue. Rache. Alles, was anderen je etwas bedeutet hatte. Nicht einmal Freundschaft oder Liebe. Nichts, das Bestand hatte. Die Dunkelheit war egoistisch. Die Hölle kein Ort, sondern ein Zustand. Leere, die ihn überflutete, ihn einhüllte in eine dunkle Welt. Nur die flimmernden Seelen der Menschen erlösten ihn für winzige Augenblicke in einer endlosen Ewigkeit. Doch die Seelen schmeckten fade. Wie graue Brühe. Dann sah er sie. Ihr sorgloses Lächeln und ihren aufmerksamen Blick. Er erinnerte sich vage. Glaubte, sie zu kennen. Vor langer Zeit. Dabei war sie noch ganz jung. „Habt Ihr Euch verirrt, mein Herr?“ Remember the day Cause this is what dreams should always be. Ihre Augen. Ein dunkles Grün. Ihre Locken. Strahlendes Blond. „Lady Dorothy! Ihr sollt doch nicht mit Fremden sprechen. Wer –“ Ihre Amme eilte herbei, der Kies knirschte unter ihren Sohlen, und blickte ihn misstrauisch an. „Mein Herr?“, fragte sie spitz und er hob seinen Zeigefinger in einer diskreten Begrüßung an die Krempe des schwarzen Zylinders, den er trug. Mild rauschte der Wind durch die Gartenanlage, hinter der sich das prächtige Bauwerk erhob. Die Bäume waren straff geschnitten, Blüten streckten ihre Köpfe aus frischer Erde. „Ich bin – ein vergessener Begleiter und Freund“, erwiderte Ciel höflich. Die Ironie seines Lächelns schwang in seinen Mundwinkeln mit. Die Amme deutete eine rasche Verbeugung an. „Ihr Name, wenn ich fragen darf?“ Er schüttelte langsam den Kopf, seine glühenden Augen bohrten sich in ihre. „Belanglos.“ Er wandte sich an das Mädchen, das ihn aufmerksam musterte. „Nicht, Dorothy?“, sprach er sie an. Ihr Name fühlte sich vertraut auf seinen Lippen an, er kostete es aus. Sie lachte ehrlich und frei. Glockenhell. Wie ein Engel. Die Amme fiel aus ihrer Starre heraus, nickte hastig und eilte voraus zum prächtigen Haus. Ciel schritt bedächtig hinterher, sein Blick schweifte zum blauen Himmel, der strahlenden Frühlingssonne. Er spürte ihre Wärme nicht. Selbst die Erinnerung an sie verblasste. „Es ist vielleicht komisch. Aber. Ich mag Euch irgendwie“, flüsterte Dorothy ihm verschwörerisch zu und lächelte. Ein dunkles Glühen wühlte in seinen Augen. Er deutete eine würdevolle Verbeugung an und das Mädchen strahlte. I just want to stay I just want to keep this dream in me. „Oh. My Lord“, raunte eine dunkle Gestalt plötzlich durch die Finsternis des Schlafzimmers gespielt seufzend. Auch ohne sich zu ihm umzudrehen, wusste Ciel um Sebastians ironisches Lächeln und das dunkle, boshafte Amüsement in seinen rot funkelnden Augen. „Was machst du hier?“, fragte er grob und wandte keinen Moment seinen Blick ab von dem friedlich schlafenden Mädchen im Himmelbett. Die blonden Locken kräuselten sich in ihrem Nacken. Eine Puppe lag in ihren dünnen Ärmchen. „Dasselbe könnte ich Euch fragen, Ciel“, erwiderte Sebastian süffisant, „wobei. Eigentlich ist es offensichtlich. Ihr verliert Euch in vagen Erinnerungen. Oder wollt Ihr es dem Zufall überschreiben, dass Ihr die Urenkelin der –“ „Verschwinde, Sebastian“, grollte Ciel und blickte ihn an, seine Mimik ruhig, doch in seinen Augen tobte ein Sturm. „Yes, my Lord“, hauchte Sebastian scharrend, deutete eine spöttische Verbeugung an und war mit dem nächsten Lufthauch verschwunden. You're losing your memory now. Wunderschön sah sie aus. Mit den dicken, blonden Locken und dem weißen Schleier. Das Kleid wallte in weiten Bögen um ihren schlanken Körper. Sie strahlte. Er beobachtete sie aus einer dunklen Ecke der Kirche heraus. Etwas rührte sich in ihm, aber er hatte bereits vergessen, wie Menschen Gefühle benannten und so blieb nichts als ein unangenehmes Knirschen irgendwo in seinem Magen. „Wollt Ihr ihr nicht gratulieren?“, flüsterte Sebastian in sein Ohr. Er spürte seinen heißen Atem auf der Haut und den süffisanten Ton, stechend in seinen Ohren. Doch Ciel antwortete ihm nicht, er starrte stur auf die leuchtende Gestalt am anderen Ende der Kirche, wie sie allein mit einem Lächeln über alle anderen hinweg strahlte. Und umso mehr er versuchte, einen Hauch ihres Glanzes zu kosten, sich für einen schwachen Augenblick darin zu baden, desto mehr verschlang ihn Dunkelheit, Leere, Zukunftslosigkeit. „Hört das irgendwann auf?“, fragte er die schweigende Gestalt neben sich, die sich in den Schatten tummelte, in der Leere badete. Sebastian warf einen vagen Blick in die Richtung des Mädchens, das nunmehr eine Frau war, und schwieg weiter. Ciel folgte dessen Blick und ein Gefühl klammerte sich um seinen Brustkorb, nahm ihn für einen Augenblick den Atem. Als Dorothy den Mann küsste, wandte sich Ciel ab und verschwand wortlos in den Schatten. You're losing your memory now. Ein Schrei schnitt durch die Dunkelheit des Schlosses. Stoisch beobachtete Ciel die schmerzverzerrten Gesichtszüge der Frau aus den Schatten heraus. Ihre blonden Locken lagen verschwitzt in dem Kissen. Eine Hebamme und eine Hausmagd eilten um sie herum, legten ihr feuchte Wickel auf die Stirn, sprachen streng auf sie ein. Doch es hörte nicht auf. „Sie wird sterben“, erkannte Sebastian ungerührt und beobachtete die Szene mit diabolischer Faszination. „Wollt Ihr sie nicht retten?“, fragte er dann mit einem süffisanten Lächeln und warf Ciel einen funkelnden Blick zu. „Niemand kann sie mehr retten“, erwiderte Ciel abweisend und war im Begriff sich abzuwenden, als Sebastians belustigte Stimme ihn in der Bewegung verharren ließ. „Ich meinte ihre Tochter“, flüsterte er dunkel. You're losing your memory now. Er hörte ihr stetiges Flehen, ihr verzweifeltes Kreischen. Ihr Rufen schallte in den Schatten wieder. Ihre Augen wirkten glasig. Sie stand auf der Schwelle zwischen Schatten und Licht, als er vor ihr stand. Die Amme und die Hausmagd ließ er augenblicklich in eine Ohnmacht gleiten. „Ich kenne Euch“, keuchte Dorothy wie im Fiebertaumel, „wie aus einem Traum. Nein, aus meiner Kindheit –“ Ihre Worte gingen in ein undeutliches Murmeln über. Ciels Blick glitt über ihren durchgeschwitzten Körper, den dicken Leib, der sich unter ihrem weißen Hemd abzeichnete, das Blut, das aus ihrem Unterleib tropfte. „Eure Tochter wird sterben“, offenbarte er ihr das Offensichtliche. Sein glühender Blick hielt sie gefangen. Stille Verzweiflung wallte wieder in ihr auf, Tränen vermischten sich mit Schweiß und Blut. „Es sei denn –“ „Was? Ich würde alles tun. Ich würde mein Leben für sie geben“, wimmerte sie und etwas in ihm stach von innen in seine Haut, brennend, heiß, kalt. „Würdet Ihr auch mehr geben als bloß Euer Leben?“, erwiderte Ciel gepresst. Ihre dunkelgrünen Augen blickten direkt in seine, suchten nach etwas. „Wovon sprecht Ihr?“, fragte sie stockend. Er beugte sich über sie, atmete die Hitze ihres verebbenden Lebens ein, strich ihr über die glühenden Schläfen. „Würdet Ihr auch Eure Seele für sie geben?“, hauchte er. You're losing your memory … Er schnitt durch ihr Fleisch, der Leib gewölbt, unter dem das ungeborene Geschöpf auf seinen frühen Tod wartete. Doch Ciel würde den Tod auf sie warten lassen. Sein Vertrag war unmissverständlich. Sie schrie unter Schmerzen, wand sich. Mit einem Ruck hielt er es in den Händen. Das Kind, das für ihn Zukunft bedeutete in einer endlosen Ewigkeit. Das Kind, das ihren Tod hieß. Das Kind, für das sie ihre Seele aufgab. Blut tropfte von seinen Fingern, klebte an dem zarten Körper des Neugeborenen, das federleicht in seinen Händen schrie. „Das ist Eure Tochter, Dorothy“, hauchte er, während er das nackte Menschlein auf Dorothys bebende Brust legte, ihr Körper blutüberströmt, ihr menschlicher Körper am Rande des Todes. Er fühlte – versuchte diesen Augenblick zu memorieren und niemals verblassen zu lassen. Ein glückliches Lächeln waberte über ihre Lippen. Innerlich erstickend, ertrinkend, verbrennend wandte er sich hastig um und erweckte mit einer fahrigen Bewegung die Amme und die Hausmagd aus ihrer Ohnmacht. „Sorgt für das Kind“, befahl er ihnen und sie nahmen es, wickelten das Neugeborene in ein weißes Laken mit ausdruckslosen Augen. Mit unleserlicher Mimik wandte er sich wieder Dorothy zu. Sie blickte ihm entgegen, der Faden, der sie am Leben hielt, führte zu ihm. Ihre Augen matt, die Locken zerzaust. „Danke“, hauchte sie. Er wandte seinen Blick ab. Mit unnachgiebigen Stößen, hart und grob, trieb er ihre weiche Seele aus ihrem geschundenen Körper, wie heiße Fackeln, die ihre Haut verkohlten, brennende Dolche, die ihre edle Blässe verstümmelten, bis nichts außer Asche mehr übrig blieb. Sie schrie stumm. Ihre Augen schmerzvoll geweitet, ihr Körper unter ihm aufgebäumt. Alles stand in Flammen, flackern, verzehrend. Er spürte, wie sich ihre Erinnerung zu einem eiskalten Nebel verflüchtigte, feine Nebelschwaden, bunt schillernd, flüsterten von einer Vergangenheit, von Lachen erfüllt, Träumen, Hoffnungen, Wünschen, von Tränen benetzt, Enttäuschungen, Verrat, Resignation – Liebe. Er sog alles auf, es breitete sich in seinem untoten Körper aus, die Augen geschlossen, spürte ihnen nach, den verlorenen Gefühlen. Für den vergänglichen Augenblick fühlte er sich lebendig. Melancholie überschwemmte ihn wie eine eiskalte Welle salzigen Meerwassers. Dann öffnete er langsam seine Augen. „Ihre Seele war faszinierend“, flüsterte Sebastian anerkennend neben ihm. Ein diabolisches Lächeln hing in dessen Lippen, dann spürte Ciel Sebastians Zeigefinger seinen Nacken entlang fahren, seinen warmen Atem und die Lippen, die über seine Haut fuhren. „Lass das, Sebastian“, zischte er ungeduldig, warf ihm einen mahnenden Blick zu und verschwand mit den Schatten. Sebastian schnaubte amüsiert. Wake up, it's time little girl, wake up All the best of what we've done is yet to come. Das Baby schlief friedlich in seiner Wiege. Das Gesicht vom bleichen Mond beschienen, umklammerte es mit seinen kleinen Fingern die seidene Decke. Ciel beobachtete es still. Draußen glitzerten Sterne. Eisiger Wind brachte den ersten Winter mit sich, drückte gegen die Fenster. Plötzlich blinzelte das Baby. Er vergrub sich tiefer in den Schatten. Doch dann blickte es ihn schon an. Mit großen, blauen Augen. Ganz still und aufmerksam. Grübchen vertieften sich in den vollen Wangen, als es unwillkürlich zu lächeln begann. Er schüttelte sanft den Kopf. „Nein, nein. Ich bin der böse Wolf, Maria Elisabeth“, flüsterte er dunkel. Ciel betrachtete das lächelnde Mädchen und verschloss das gierige Verlangen, jemand anderes zu sein, ganz tief in sich. Wake up, it's time little girl, wake up Just remember who I am in the morning. Lachend warf sich das Kind in seinen Arm. Erste Locken wandten sich auf ihrem Kopf. Ihre blauen Augen strahlten ihn an. „Ich wünsche Euch alles Gute zum ersten Geburtstag, Lady Maria Elisabeth“, gratulierte Ciel offiziell und das Mädchen jauchzte, als er ihr ein edel verpacktes Geschenk überreichte. Die Dienstboten beobachteten die Szene mit obligatorischer Zurückhaltung, aber er spürte ihre überschwänglichen Gefühle – Zuneigung, Sympathie, Freude. Ciel hingegen empfand nichts. Er beobachtete das Mädchen, wie es ungeschickt die Verpackung aufriss. Sie gluckste, als sie endlich die Puppe in Händen hielt. Er empfand nichts außer Leere. You're losing your memory now You're losing your memory now. „Sie erinnert mich an jemanden“, flüsterte Ciel, als er das kleine zweijährige Mädchen beobachtete, das mit erstaunlicher Zielstrebigkeit die Welt erkundete. Die Amme wirbelte überfürsorglich um sie herum, während das Mädchen lediglich sorglos lachte, dann riss sie ein wenig Gras aus dem akkurat geschnittenen Rasen und stopfte es sich in den Mund. Ein heller Schrei der Amme ließ Maria Elisabeth verwundert den Kopf drehen. Sebastian lehnte sich an die alte Weide, in deren Schatten sie standen, den Sommertag von hier aus beobachteten wie zwei ungeladene Gäste. Er grinste ironisch angesichts der Szenerie, dann wandte er sich langsam Ciel zu. „Wie lange noch?“, fragte er bloß und sah ihn vielsagend an. „Ich habe dich nicht hierher gebeten – im Gegenteil. Verschwinde“, antwortete Ciel ungeduldig. „Das meinte ich nicht“, meinte Sebastian dunkel, „und das weißt du.“ „Achja?“, erwiderte Ciel argwöhnisch und ignorierte ihn wieder. „Wie lange suchst und verfolgst du noch eine Vergangenheit, die unwiderruflich verloren ist?“, fragte Sebastian direkt und musterte Ciel aufmerksam. Der erstarrte und wandte sich wie in Zeitlupe ihm entgegen. „Das ist –“, er suchte nach Worten, die seine finstere Wut zu verbalisieren vermochten, „lächerlich. Ich verfolge nichts. Ich suche nichts. Verschwinde, Sebastian.“ „Es ist allerdings – das muss ich zugeben – faszinierend, wie du immer und immer wieder dieselben Fehler begehst“, säuselte Sebastian, während er sich knapp verbeugte, ein spöttelndes Lächeln schwebte auf seinen Lippen, dann war er auf der Stelle verschwunden. You're losing your memory now. „Aber –“, schluchzte sie, als er sich über sie beugte und ihre Stirn küsste. Ihre Augen blickten ihn bittend an. „Ihr seid mein stetiger Begleiter gewesen, mein – treuer Freund. Bitte geht nicht!“ Mit einem tosenden Sturm, fegte etwas in ihm die Staubschicht von einer eisern gehüteten Erinnerung, die unter der beginnenden Ewigkeit verblasst war. „My Lady“, erwiderte Ciel dunkel, knapp über ihrem Gesicht, „ich kann nicht –“ „Bitte, Ciel“, widersprach sie, „Beschützt auch sie. So wie Ihr es für mich tatet.“ Er strich ihr durch die wallenden, blonden Locken. Ihre azurblauen Augen erinnerten ihn an den blassen Herbsthimmel und das Meer, das den Himmel spiegelte. Dann nahm er ihr Kinn sanft zwischen seine Finger und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Tränen schwammen in den Augenwinkeln. „Maria Elisabeth“, flüsterte er „nur ein Traum.“ Seine glühenden Augen verhakten sich mit den ihrigen. Widerspenstig, dann glasig, ausdruckslos erwiderte sie seinen brennenden Blick. Dann beruhigte sich langsam ihr Atem und sie schlief. Er ließ sie los, wandte sich der Wiege entgegen. Das blonde Mädchen schaute ihn mit großen, grünen Augen an. „Lady Theresia“, flüsterte er ihr zu, strich ihr wie nebenbei über das Köpfchen, „lebt wohl. Werdet glücklich und – zieht den Bediensteten bitte keine Rüschenkleidung an, wenn Ihr alt genug seid.“ Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, dann verschwand er lautlos in den Schatten. You're losing your memory … Ihr Grab war überwuchert, er strich das Efeu zur Seite, um ihren Namen zu lesen. Er hatte ihn fast vergessen. So lange. So kurz. Die Ewigkeit ließ sich nicht in Jahre aufteilen oder in Generationen. Es war wie ein Kreis. Nie enden wollend. Der Beginn unersichtlich, das Ende niemals in Sicht. Vage sah er ihren offenen Blick, ihr herzliches Lächeln vor sich. In seiner verschwommenen Erinnerung war sie das junge Mädchen mit den blonden Locken, nicht die alte Frau. „Ich war ein liebloser Verlobter, ein grausamer Begleiter, ein schlechter Freund, Elisabeth“, flüsterte er, „ich kann es nicht einmal mehr bereuen. Nichts bleibt mir.“ Er spürte plötzlich Sebastians Anwesenheit und verstummte, zuckte zurück mit seiner Hand, die noch immer auf dem Grabstein lag. „Wie ich sehe, bist du noch immer mit deiner Vergangenheit –“ „Erinnerst du dich noch an Namen, Sebastian?“, unterbrach Ciel ihn unwirsch, den Blick starr auf das Grab geheftet. „Oder an den Geschmack von Schokolade oder an das Gefühl, frisch gebadet im Bett zu liegen? Daran, wie es war, eine Zukunft zu haben? Träume? Gefühle? Freunde?“ „Du bist heute ungewöhnlich ausschweifend und dramatisch“, erwiderte Sebastian trocken, stand plötzlich direkt hinter ihm, wie ein Schatten. Ciel schnaubte. „Du hast keinen Vertrag mit ihr gemacht?“ Obwohl es wie eine Frage wirken sollte, war es eine Feststellung. Ciel schüttelte langsam den Kopf. „Warum?“ Das feine, sarkastische Lächeln auf Sebastians Lippen war Zeuge, dass er es bereits wusste. You're losing your memory now. „Elisabeth hatte Unrecht“, meinte Ciel, „ich kann nicht beschützen, ich kann nur zerstören.“ „Glaubst du wirklich, es ging ihr um das Lebensglück ihrer Enkelin – oder deren Kinder? Meinst du wirklich es ging ihr um deine – Freundschaft?“, erwiderte Sebastian vielsagend. „Es ist doch lächerlich. Liebe mit einem Menschen. Freundschaft mit einem Dämonen. Vielleicht wollte sie –“ „Schweig, Sebastian. Es ist vorbei.“ Sebastian blickte ihn an. Es war nie vorbei und Ciel wusste das. Er nickte dennoch mit einem feinen, süffisanten Lächeln. Ciel blickte nicht zurück. Zu diesem kleinen blond gelockten Mädchen, das ihn voller Vertrauen anlächelte. Zurück zu dieser Erinnerung, die ihn mit peitschenden Schwingen quälte. Jede Generation erneut. Dieser Gedanke, was hätte sein können. Wie ihre Liebe hätte reifen können, seine Freundschaft. „Lass uns gehen, Sebastian.“ Und die düstere Erkenntnis, das nichts diese Leere jemals füllen würde. Die Erinnerung an Liebe und Freundschaft verblasste. Wie alles andere auch. Die Hölle war kein Ort, sie war Zustand. Sie war nicht heiß. Nicht kalt. Sie war leer. Und einsam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)