Wesen des Waldes von Momotaro ================================================================================ Prolog: Spaziergänge -------------------- Anja rannte durch den Wald, den uralten. Den zugewucherten. Den vielfarbigen. Seine Luft machte ihre Kehle rauh, wie Staub. Oder Asche. Wie uralte Luft, die bereits zu oft benutzt worden war, von Tieren und auch von Pflanzen. Trotzdem liebte Anja den Wald. Als ob sie hier aufgewachsen wäre. Als ob all ihre Kindheitserinnerungen hier in den Ästen hingen. Dabei war sich Anja sicher, ihre Kindheit weit entfernt von hier gelebt zu haben. Anja war 32. Anja war Angehörige des Wachdienstes eines riesigen Kaufhauses. Anjas Leben bestand darin, durch lebhaft bevölkerte Gänge zu schlendern und Präsenz zu zeigen. Oder auf Bildschirme zu starren, bis sie abgelöst wurde. Oder Schlösser zu überprüfen und durch dunkle Schaufenster zu spähen. Anjas Leben war aufregend, sicher, ganz wie sie es sich als kleines Kind gewunschen hatte. Trotzdem fühlte sie Stumpfsinn in sich. Nicht so im Wald. Der Wald war vertraut, wenn auch fremd. Alles hier ergab sofort Sinn für Anja, obwohl sie schwören konnte, nichts davon jemals zuvor gesehen zu haben. Welche Pflanze gefährlich war, welche harmlos, was das leise Knacken weit unter ihren Füßen zu bedeuten hatte. Anja wusste alles über diesen Ort. Selbst wohin sie musste, um zu finden, wen sie suchte. Die Herrin des Waldes. Eine uralte Wildkatze, die in einem Baumloch thronte, mindestens zwei Meter über dem moosigen Erdboden. Ihr Gesicht lag knapp hinter dem lichtbeschienenen Eingang des Lochs. Anja wusste aber trotzdem, dass es dort war. Nicht weil die Augen glühten. Nicht wegen einer leisen Bewegung im Schatten. Sondern weil es immer so gewesen war. Anja stellte sich aufrecht vor den Baum mit dem breiten Astloch und rief: „Heda, hier bin ich wieder!“ Als ob die Herrin sie kennen müsste, als ob Anja sie kannte, als ob sie alle alte Bekannte wären. Die Wache trat hinter dem Baumstamm hervor. Zwei Füchse, einer schon etwas in die Jahre gekommen, einer noch etwas zu jung, um bedrohlich zu wirken. Den alten kannte Anja. Martha. Anführerin der Palastwache. Unverwüstliche Verteidigerin ihrer Königin. Kalt, der Grundton ihrer Stimme, stellte sie fest: „Anja.“, und nickte. Anja erwiderte das grüßende Nicken und erkundigte sich: „Ist die alte Dame grad zu beschäftigt mit ihren Flöhen, um mich persönlich willkommen zu heißen?“ Martha sah sie einen Moment lang aus ihren humorlosen Bernsteinaugen an. Dann meinte sie: „Nein.“ Anja sah zu dem jungen Gefährten ihrer alten Erzfeindin. „Und wer ist dieser junge Spund?“ „Simon.“, stellte Martha höflich, wenn auch nicht erfreut vor: „Ein Neffe aus dem zweiten Wurf meiner Schwester Rita.“ Anja betrachtete den jungen Fuchs näher. „Ah ja, die Familienähnlichkeit... Freut mich.“ Sie lächelte dem kleinen Simon zu. Dieser sah unsicher zu seiner Tante und zeigte nur kurz und vermutlich unabsichtlich Sympathie für sein Gegenüber. Martha fragte: „Was willst du hier?“ Anja sah fragend zum Astloch auf. „Das geht nur die Alte da oben was an.“ „Und wie gedenkst du, an diese Alte heranzukommen...“, erkundigte Martha sich: „...wenn nicht über meine Zustimmung?“ Anja dachte nur kurz daran, aggressiv zu werden. Bei Martha hätten Drohgebärden sowieso keinen Effekt, verlorene Liebesmüh. Sie seufzte leise. Ein paar Karten würde sie wohl offenlegen müssen... „Indem ich ihr etwas sag, das sie nicht ignorieren kann.“, meinte Anja an Martha gewandt, und mit dem Kopf in den Nacken geworfen: „Madre Dia.“ Etwas bewegte sich in der schattigen Baumhöhle. Etwas grollte, tief aus einer Jahrtausende zählenden Kehle. Etwas kratzte, wie dicke, gelb gewordene Krallen, als die alte Königin sich streckte und dabei herzhaft gähnte. Dann erhob sich ihre Stimme. Rauh, tief, leise und doch durchdringend. „Lass die verrottende Verräterin zu uns kommen.“ Der Weg in den Palast der alten Waldherrin führte durch den gespaltenen Baumstumpf, hinein in den dicken Stamm und dann treppab, treppab, immer der smaragdgrünen Lianenkordel nach. Nun vermisste Anja ihre Katzenaugen. Sicher, sie hatte genug Zeit gehabt, sich an den neuen Körper zu gewöhnen, und seine zahlreichen Vorteile waren ihr angenehm geworden, aber in dieser Umgebung, in der alles auf die wachen, empfindlichen Sinne eines Tiers abgestimmt war, stolperte Anja vorwärts wie ein taubes, blindes Küken. Hilflos. Da halfen ihr auch ihre tollen Daumen nicht weiter, geschweige denn ihr wacher, kreativer Geist. Anja hatte nie zuvor soviel gedacht wie als Mensch. Es war, als ob ihr Kopf plötzlich aufgewacht wäre, und seitdem passierten Dinge nicht einfach. Anjas Hirn suchte von ganz allein nach Sinn, in allem, was es wahrnahm, unablässig. Nichts konnte es ruhen lassen. Es schien wie süchtig nach eigenen Gedanken zu sein, nun, da es von der Genügsamkeit eines Katzenhirns entbunden worden war. So rasten die Gedanken auch in der Dunkelheit des weitläufigen Tunnelpalastes im Wurzelgeflecht des Baums. Sie hätte nicht so unvorbereitet kommen sollen. Sie hätte eine Taschenlampe einpacken sollen. Sie hätte, sie hätte, sie sollte, sie sollte, so tastete sie sich durch die niedrigen, von Wurzeln umwucherten Gänge bis in den etwas weiträumigeren Audienzsaal. In dem sie auch nicht ganz aufrecht stehen konnte, doch wenn sie sich setzte, passten doch alle Körperteile gut in den feuchten, erdigen Raum. Amselgesang näherte sich und so trat der Hofstaat ein. Vorne weg die abgemagerten, verstörten Vögel, die inzwischen wohl bereits viel zu lang kein Sonnenlicht mehr gesehen hatten, die Musikanten des Adels. Dahinter die Beamten für öffentliche und geheime Angelegenheiten, die königliche Leibwache, an ihrer Spitze der Wildkater Thorben, ihr Anführer. Die Leibwache lag in einem ewig währenden Klinsch mit der Palastwache. Jede sah die andere als minderwärtig an. Denn die Palastwache bestand aus Füchsen, die Leibwache aus Katzen. Katzen hielten Füchse für schmutzig und dumm wie Hunde, Füchse hingegen dachten von Katzen, unnutz, faul und abgesehen von ihrem ästhetischen Äußeren zu nichts weiter brauchbar zu sein. Thorben hasste Martha und Martha hasste Thorben. Doch Thorben kannte und hasste auch Anja, also kam Anja hier nur vom Regen in die Traufe. Tatsächlich baute Thorben sich provokativ vor Anja auf und starrte ihr herausfordernd in die Augen. Dazu schnurrte er in seinem pikierten, spöttischen Ton: „Nun, nun, was haben wir denn hier zu suchen?“ Anja starrte unablässig zurück, als sie meinte: „Ein neues Haustier, so eine hübsche kleine Miezekatze wie dich zum Beispiel.“ Thorben schnaubte gelangweilt. Sicher wusste er, dass sich Menschen gern Katzen hielten, aber das betraf ja nur gewöhnliche Hauskatzen, keine stolzen Wildkatzen, jene von seinem Schlag. Hinter seinen Leuten stapfte die uralte, zugewucherte Herrin des Waldes in den Saal. Richtete sich würdevoll auf, trotz ihrer angeschlagenen Bandscheiben, sie war ein riesiges Tier. Auf den Hinterpfoten stehend erreichten ihre spitzen Ohren sicher die Decke. Dieses mächtige Tier würdigte Anja keines ihrer erlauchten Blicke, stattdessen ließ es sich in der dafür vorgefertigten Mulde nieder und schloss überheblich vertrauensvoll die Augen. Anja richtete das Wort an sie. „Eure Hoheit...“, doch Thorben fiel ihr ruhig ins Wort: „Wag es nicht, das Wort an die hohe Herrin zu richten, du redest mit mir, Abschaub, oder mit niemandem.“ Anja sah wieder auf den etwas fett gewordenen Kater herab und meinte: „Eure Hoheit, ich komme mit beunruhigenden Neuigkeiten. Untertanen der heiligen Madre haben mich besucht und schicken mich mit folgender Botschaft...“ Ein allgemeines Fauchen und Würgen erhob sich im Saal. Katzen grollten: „Madre schickt diese Verräterin! Nun ist sie also schon Laufbursche des Feindes! Sie hätte sich nicht mehr erniedrigen können!“ Die Herrin des Waldes blieb unbewegt. Nicht einmal ein Ohr zuckte. Vielleicht war sie inzwischen tatsächlich eingeschlafen... Schließlich war sie wirklich schon alt. Thorben sorgte für Ordnung. Er rief: „Beruhigt euch, lasst sie zu Ende reden! Der Abschaum hat eine Audienz erhalten, eure Hoheit will hören, was der Abschaum zu sagen hat.“ Die Erwähnung der alten Katze wirkte Wunder. Sofort verstummte die Saalbelegschaft. Thorben warf noch einen strengen Blick in die Runde, bevor er sich erneut Anja zuwandte. „Nun...“ „Madre Dia fordert ihr Eigentum zurück. Sie gibt der alten Waldhexe Zeit bis Neumond, um einen Boten mit dem Besitz zu ihr zu schicken.“ Der Wecker piepte. Piepte. Piepte. Anja schlug ihn achtlos vom Nachtkästchen. Am Boden piepte er unbeeindruckt weiter. Anja rollte griesgrämig aus dem Bett. Fiel zu Boden wie der Wecker. Streckte sich ausgiebig. Gähnte lang. Wälzte sich auf alle viere. Wobei ihr einfiel, dass sie ja keine Katze war. Die Gliedmaßen hatten spürbar nicht die richtigen Abmessungen, um alle gleichzeitig bequem den Boden erreichen zu können. Verwirrt fuhr sie sich über das Gesicht. Warum hatte sie das gedacht? Sie musste etwas wirklich komisches geträumt haben... Anja stand auf. Sie schwankte in die Küche. Überall leere Bierdosen. Hoppla. Resigniert sah Anja sich um. Hatte sie mal wieder die Kontrolle verloren... Sie hatte sich fest vorgenommen, kein Alkohol am Abend. Dann, am Abend, hatte sie sich vorgenommen, nur eine Dose, wirklich. Während die Dose immer leerer geworden war, ist dieses feste Vorhaben immer schwammiger geworden. Anja hatte noch eine Dose geöffnet. Und noch eine Dose. Sie hatte sich vor ihren anständig großen Flachbildschirm gesetzt und die Konsole angeworfen. Dann hatte sie Leute abgeknallt, in irgendeinem Kriegsgebiet... Welche Leute, welches Gebiet war nebensächlich gewesen. Hauptsache schießen, Hauptsache überleben. Eine Krähe war zu ihr gekommen. Anja konnte nicht mehr sagen, ob in real oder auf dem Bildschirm. Oder vielleicht danach, im Traum... Die Krähe hatte zu ihr gesprochen. Danach hatte sie wohin müssen, etwas finden. Oder jemanden. Oder sowas, vielleicht auch anders... Während Anja versuchte, die Erinnerungsbilder zu fassen, zerfaserten sie und verloren sich im undurchsichtigen Nebel, der die letzte Nacht einhüllte. Am Ende war sich Anja nicht einmal mehr sicher, ob überhaupt irgendwas passiert war. Ob sie tatsächlich auf der Konsole gespielt hatte. Nur das Bier war trocken fransige Gewissheit auf ihrer Zunge. Nun denn, keine Müdigkeit vorschützen, ab zur Arbeit. Ein Kaffee. Noch ein Kaffee. Anja stand mitten im Lärm des riesigen Kaufhauses und sah nach oben. Durch eines der vielen Deckenfenster. Saß da ein Vogel? Ein riesiger, schwarzer? Anja glaubte, manchmal seinen Schnabel vorbeihuschen zu sehen, wenn er den Kopf drehte. Oder waren das nur flüchtige Schatten eines Entlüftungspropellers, eines Windrades, Wolken? Jemand brüllte. Lauter als der allgemein vorherrschende Lärmpegel. Hervorstechend. Erschrocken schaute Anja in die angenommene Richtung des Rufs. Da stand ein Mann und brüllte. Und brüllte. Einfach so, ohne damit etwas Bestimmtes sagen zu wollen. Er brüllte bloß und hörte nicht mehr auf. Zwischendurch holte er kurz Luft, doch die meiste Zeit über brüllte er. Und brüllte. Anja rannte los. Vor ihm lag ein lebloser Körper. Ein Haufen Kleider mit etwas Mensch darin. Ein Kind. Ein Kind? Es lag da, reglos, mit weit aufgerissenen Augen. Man sah es sofort, konnte nur nicht ganz fest machen, an was. Die stille Bleiche, die matten Augenbälle, der in einem ewigen Schrei erstarrte Mund. Einen Moment lang dachte Anja tatsächlich, hier eine Schaufensterpuppe vor sich liegen zu haben. Doch der Detailreichtum. Der schreiende Mann. Anja nahm ihr Funkgerät und orderte den Notarzt. Sofort. Kind am Boden, nicht ansprechbar. Sie sah nach oben. Nur kurz, sie wusste selbst nicht, warum. Da flog die Krähe, in den Krallen das Kind. Durchsichtig wie ein kristallenes Abbild des Kindes. Doch es bewegte sich. Es sah nach unten. Es erwiderte Anjas Blick. Die Krähe flog durch das geschlossene Fenster und nahm das Kind dorthin mit, immer höher und höher dem Himmel entgegen. Der Mann hatte einen hysterischen Anfall, es brauchte einige Ampullen an Beruhigungsmittel, um ihn zum Schweigen zu bringen. Schließlich saß er da und starrte vor sich hin. Leer. Als ob die Krähe auch ihn geholt hätte. Wenn man ihn ansprach, reagierte er nicht. Einige Tage später erfuhr Anja, dass er auf einer Autobahnbrücke über das Geländer gesprungen war. Woran das Kind tatsächlich gestorben war, hatte auch eine gründliche Untersuchung nicht restlos klären können. Das Herz war stehen geblieben. Aus keinem besonderen Anlass, einfach so, schien es. An jenem Abend ließ Anja die Hände von jeglicher Form von Alkohol. Durch das Erlebte war alles etwas aus den Fugen geraten, etwas aus dem Gleichgewicht, Anja hätte nicht sagen können, welche übereilten Schlüsse ein enthemmtes sie daraus gezogen hätte. Vielleicht hätte es konsequent weitergedacht und seinen Aufenthalt beendet wie der Vater. Nicht, dass Anja noch nie eine Leiche gesehen hätte, doch sonst haben bestimmte Ereignisse zum Tod geführt. Man hatte sie aufzählen können. Man hatte gewusst, was den Menschen unter die erde gebracht hatte. An jenem Tag jedoch... Und wenn es auch so passieren konnte, was hielt einen dann noch? Was? Anja rannte durch den Wald. Sie rannte, so schnell sie nur konnte. Sie keuchte wie eine alte Dampflok, sie schwitzte wie ein Saunagast. Trotzdem rannte sie, weiter, immer weiter. Zum Baum. Doch knapp davor stellte sich ihr ein schlanker, durchtrainierter Fuchs in den Weg. Martha. Und fauchte: „Du schon wieder! Hat dir die Herrin nicht klar genug gesagt, wo du dir deine Madre hinstecken kannst? Der Wald erfüllt keine Forderungen des Nächsten Reichs!“ Anja hatte nicht so schnell abbremsen können. Um nicht über den Fuchs zu stolpern, war sie nach links ausgebrochen, zielsicher gegen den nächsten Baum gekracht und lag nun schnaufend und leise wimmernd, fest die schmerzende Stirn haltend, am weichen Waldboden. Doch als sie genug geschnauft hatte, um wenigstens ansatzweise Luft zum Reden zu haben, stieß sie hervor: „Neue Entwicklungen. Tote. Heute.“ Die Füchsin trat näher. „Unter euch Menschen?“ Sie lachte spöttisch. „Was geht uns das an?“ Anja setzte sich auf wie ein Kaninchen auf Speed. Sie fuhr die Wächterin an: „Dem nächsten Fuchswelpen, den ich find, dreh ich den Hals um, dann weißt du, was es euch angeht!“ Die Füchsin schnaufte abfällig, sie hatte keine Angst vor Anja. Doch Martha war an sich kein herzloses Wesen. Darum dachte sie tatsächlich über Anjas Worte nach. „Also hat es einen Welpen erwischt...“ „Ein Kind, ja.“, bestätigte Anja: „Die alte Krähe hat es sich einfach geholt. Einfach so. Danach ist sie bei mir gewesen. Sie hat mir gesagt, das wird nun jeden Tag passieren, wenn ich die Waldhexe nicht davon überzeugen kann, das gestohlene Gut zurückzugeben. Bis Vollmond. Bis sie kommen und sich so viele Waldwesen wie sie finden können holen. Viele für eine.“ „Das klingt übel.“, räumte die Füchsin ein: „...Aber wie wollen sie hierher kommen? Madres Dienern ist der Zugang zu diesem Ort verwährt. Unmöglich können sie einfach rüberfliegen. Hm...“ „Ich muss mit der Alten reden!“, riss Anja die Füchsin aus ihrer eben erst begonnenen Hirnakrobatik. „Ich denk nicht, dass das helfen wird.“, gab diese zu bedenken. „Na fein, dann geh ich einfach wieder.“ „Gute Entscheidung.“ „War ein Witz, herrje! Bring mich zu ihr, sofort!“ „...Nun gut, versuch dein Glück.“ Die alte Katze war tatsächlich nicht im Geringsten schockiert von den Neuigkeiten. Vielleicht auch schon wieder eingeschlafen... Bei all den Haaren war man sich nur selten sicher, wie es um das Wesen darunter stand. Und Thorben, Leiter der Leibwache, verkündete ihren Entschluss: „Eure Hoheit hat beschlossen, gar nichts zu tun.“ Nach all den Jahrzehnten der Inaktivität war sie darin vermutlich unschlagbar. Voller rachedurstiger Gedanken hangelte sich Anja die smaragdgrün leuchtende Liane entlang an die Erdoberfläche zurück. Dort blinzelte sie in das dumpfe Waldlicht, bis die Augen sich wieder an Licht gewöhnt hatten. Martha saß dort. Gerade aufgerichtet, vor dem dicken Baumstamm, und musterte Anja abwartend. Anja grollte: „Das wird sie bereuen. Ich werde es sie bereuen lassen, die alte Hexe...“ Die Füchsin blinzelte einmal. Danach wandte sie sich wortlos ab und trottete auf ihren Wachposten zurück. Soviel dazu. Der Wecker. Der Fall. Strecken, gähnen, Kaffee brühen. Bierdosen zählen. Nein, diesmal war sie tatsächlich abstinent geblieben. Warum fühlte sie sich trotzdem so verwirrt? Etwas brutaler als nötig rieb sich Anja die Wangen. Brr, aufwachen, aufwachen, klar werden. Zwei Kaffee später stand Anja wieder in dem ihr zugeteilten Gang im Kaufhaus. Ihr Vorgesetzter hatte gemeint, sie solle sich in einem Krisenzentrum melden, demnächst, um das Geschehene besser verarbeiten zu können, doch Anja hatte kurz nach Ende des Gesprächs beschlossen, diese Möglichkeit nicht wahrzunehmen. Äußerlich ruhig schlenderte sie den bevölkerten Weg entlang. An einem Kleidergeschäft vorbei, an einer Trafik vorbei, an einem Bücherladen... Alles war so wie immer. Als ob nie etwas passiert wäre. Doch ihr Herz pumpte wie irre. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Hin und wieder entlud ein einzelner Muskel seine Anspannung, indem er überraschend zuckte. Sie litt an nervösen Zuckungen. Tatsächlich. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, mehr von ihrem Körper beherrscht zu werden als selbst zu herrschen. Anja schüttelte die Arme aus. Nur die Ruhe. Sie sah in den Himmel auf. Ein dunkler Schatten. War er da wirklich gewesen? So wie am vorigen Tag? Oder war es bloß Anjas Überreiztheit, die sie Dinge sehen ließ. Dinge aus ihrem Gedächtnis, die sie lieber nicht mehr sah? Anja schaute noch einmal genauer hin. Nein. Da war nichts. Dann kam Bewegung in die Masse. Der Lärm nahm sprunghaft zu. Aus ungleichen Richtungen wurde eine Richtung, alle drängten von etwas weg. Anja wandte ihren Blick vom Deckenfenster ab und sah gegen den Strom aufgeregter Menschen. Zunächst unbewegt, denn mal ehrlich, sowas konnte doch nicht zweimal passieren. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Noch dazu. In ihrer unmittelbaren Nähe. Zuviele Zufälle, das ging nicht. Doch Anja entdeckte den Vogel. In seinen Klauen eine kristallene, junge Frau. Es ist gegangen. Wer hätte das gedacht... „Niemals!“, beschloss der Abteilungsleiter: „Sowas kann doch nicht schon wieder passiert sein!“ „Vielleicht ein Giftstoff, in der Gebäudesubstanz...“, dachte ein beliebiger Ladenbetreiber an: „...Oder ein Anschlag?“ „Terrorismus.“, nahm ein anderer die Fährte auf: „Irgendein unbekannter Kampfstoff.“ Oder eine Krähe, die Kristalle sammelt, fügte Anja in Gedanken hinzu, obwohl sie selber zugeben musste, dass diese ihre Idee nach der unwahrscheinlichsten klang. Schließlich bemerkte Anjas Vorgesetzter, was auch ihr bereits unangenehm aufgefallen war. „Schon wieder in Ihrem Sektor.“ ...Ja, sie würde sich das mit dem Krisenzentrum wohl nochmal überlegen müssen. Nachdenklich leckte sich Anja die Hand. Bis ihr klar wurde, was sie da tat, und sie erschrocken in Habt-acht-Stellung zuckte. Schon wieder diese Katze! In ihrem Kopf. Woher kam die bloß so plötzlich? Die Krähe kam wie jeden Abend. Sie klopfte ans Fenster. Sie krächzte: „Und noch eine. Und noch eine. Und noch...“ Anja warf einen Schlapfen nach dem Fenster. Der Vogel zog sich überstürzt zurück. Anja holte den Schlapfen zurück und dachte über Bier nach. Die Geschehnisse waren doch Rechtfertigung genug. Oder? Eines konnte sie sich doch genehmigen. Vielleicht auch mehr. Anja war angenehm betrunken und kaum noch bei Sinnen, als es an der Tür kratzte. Weil Alkohol Anja furchtbar aufmerksam und höflich machte, rappelte sie sich von ihrem Sofa auf und trat in den Vorraum. „Ja, bitte?“ Eine fremde Stimme antwortete: „Pizzaservice!“ Welch glücklicher Zufall. Nicht, dass Anja irgendwas bestellt hätte, aber Guster hatte sie, und schon war die Lieferung da. Vielleicht verfügte sie ja über besondere geistige Kräfte, die Wünsche mit purer Gedankenkraft in Erfüllung gehen ließen. Hatte es bisher nur noch nicht gemerkt. Sie öffnete. Niemand stand da. Das Stiegenhaus war leer. Kein Laut von oben, keiner von unten. Keine Spur vom Eigentümer der fremden Stimme. „Ah ja.“, stellte Anja mit Kennerblick fest: „Ich seh, ich werd verrückt.“ Sie schloss die Tür wieder und lamentierte auf dem Weg ins Wohnzimmer zurück vor sich hin: „Das muss ja auch passieren. Nach zwei Toten. Und beide in meinem Sektor, während meiner Dienstzeit. Das heißt doch, etweder ich bin der Terrorist, oder ich werde eben verrückt.“ Sie ließ sich auf das Sofa fallen und meinte: „Dabei ist Wahnsinn in meiner Familie gar nicht üblich.“ Die fremde Stimme erwiderte: „Kommt immer drauf an, welche Familie du meinst. Mütterlicherseits gabs da schon ein paar Grenzfälle, soweit ich gehört habe.“ Anja horchte auf. „Ehrlich?“ Sie dachte sich alle Personen mütterlicherseits durch, von denen sie je gehört hatte. Und fragte nochmal: „Jetzt ehrlich? Echt?“ „Ja, ehrlich echt.“, bestätigte der Fremde: „Um exakt zu sein, eine machthungrige Irre nach der anderen. Ein Wunder, dass du so vernünftig geraten bist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)