Kamigami ga waku waku da yo! von Shizana (One Shot Sammlung Part II) ================================================================================ Wo ist Usamaro? (Secretshipping) -------------------------------- Endlich fertig. Tsukito klappte das Buch zu, welches offen vor ihm auf dem niedrigen Tisch lag. Damit waren die Hausaufgaben für heute erledigt und seine Arbeit vollbracht. Er konnte eine weitere erfolgreich erfüllte Mission auf seinem Konto verbuchen.  „Anii, ich gehe dann los.“ Nur kurz sah Tsukito auf. Er erkannte Takeru, wie er gerade aus seinem Zimmer gekommen war: in voller Sportbekleidung. Es war die Zeit für seine letzte Runde, die er jeden Abend lief. Warum, das wusste Tsukito nicht. Takeru hatte es ihm oft gesagt, irgendetwas von ‚sich in Form halten‘ und ‚der Schwäche dieses Menschenkörpers nicht nachgeben‘. Aber was genau das bedeuten sollte, war ihm unklar. „In Ordnung.“ Ungerührt machte sich Tsukito daran, gemächlich seine Schreibutensilien zusammenzuräumen.  „Ist er eigentlich schon zurück?“ „Wer?“ „Usamaro.“ Tsukito sah auf. Sein Bruder stand inmitten des Zimmers, eine Hand in einer unbehaglichen Geste an den Hinterkopf gelegt. „Ich habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Wirklich seltsam.“ So, war es das? Tsukito wusste es nicht. „In letzter Zeit kriege ich ihn immer seltener zu Gesicht. Allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen.“ „Wieso?“ „Na, weil …“ Takeru machte den Eindruck, als müsse er selbst überlegen. „Weil er eben ein Hase ist. Was macht ein Hase schon den ganzen Tag? Und dann noch an so einem Ort … Ich frage mich wirklich, wo er bleibt. Er hat noch nie das Frühstück verpasst.“ Seine zunehmende Unruhe blieb Tsukito nicht verborgen. Es war Yui und den anderen zu verdanken, dass er ein wenig über die menschliche Körpersprache gelernt hatte. Er verstand im Ansatz, wie er aus ihr lesen konnte. Dieser neue Blickwinkel war interessant, wenn er auch noch weit davon entfernt war, dieses neuerworbene Wissen zu meistern. Aufmerksam beobachtete Tsukito seinen Bruder. Dieser verschränkte gerade die Arme vor der Brust, den Blick gen Boden gesenkt. „Normalerweise ist er immer hier während des Unterrichts. Ich weiß nicht, wo er sich neuerdings immer herumtreibt. Die Schule ist so groß, verdammt.“ Nur vorsichtshalber holte Tsukito sein kleines Notizbüchlein hervor und blätterte darin. Wenn er Takerus Worte, die abwehrende Körperhaltung und den verkrampften Gesichtsausdruck richtig deutete, war dieser ernsthaft besorgt. Warum, wusste er nicht. Was hatte ihm Yui erklärt, was man tat, wenn jemand in Sorge war? „Er könnte überall sein, so klein wie er ist.“ Takeru knirschte die Zähne. So laut, dass Tsukito es noch auf die Entfernung hörte. „Vielleicht hat er etwas oder ihm ist was passiert. Er könnte sich irgendwo verfangen oder eingesperrt haben. Oder jemand von den anderen hat ihn. Wobei … eigentlich sollte jeder wissen, dass Usamaro zu uns gehört.“ Ah, da war es! Tsukito hatte die richtige Seite gefunden. Flüchtig überflog er die Notizen. „Das wird schon wieder“, sagte er, tonlos wie immer. Sein Blick haftete auf dem beschriebenen Blatt. Laut seiner Mitschrift war diese Phrase angemessen, wenn jemand traurig, niedergeschlagen, verzweifelt oder besorgt war. Und da stand noch mehr. „Es wird schon gut werden. Möchtest du ein Eis essen? Soll ich dir einen Tee anbieten?“ „Anii?“ „Bei einem Gläschen guten Wein sieht es nicht mehr so düster aus. Aber Alkohol löst keine Probleme. Du kannst auch jemandem nasse Tücher in die Schuhe legen, das erheitert das Gemüt.“ „Was zum …?“ Fragend sah Tsukito auf. Sein Bruder taxierte ihn mit einem Blick, den er als ratlos, möglicherweise auch ärgerlich interpretierte. Das war nicht die Reaktion, die man ihm erklärt hatte. Dabei hatte er alles notiert, was ihm die anderen in puncto Trostspenden erklärt hatten. Vielleicht hatte er etwas übersehen? Nein, dort stand es. An diesem Punkt hätte Takeru lächeln, annehmen oder sich bedanken müssen. Er hätte sich beruhigen und sich ihm anvertrauen müssen. So hatte er es vermerkt. Davon jedoch, dass sein Gegenüber ein zweifelhaftes Gesicht aufsetzen und die Stirn in noch tiefere Sorgenfalten legen könnte, stand nichts geschrieben. Was hatte er falsch gemacht? »Wenn du nicht weißt, wie du jemandem helfen kannst, dann frag danach«, besagte seine letzte Notiz, welche Thors Ratschlag an ihn festhielt. Wenn dies ebenfalls nichts half, würde er wohl oder übel an dieser Aufgabe scheitern, Takerus Aufregung zu lindern. Tsukito klappte das Buch zu. Indem er den Blick hob, wandte er sich offen ganz Takeru zu. „Was kann ich tun, um dir zu helfen?“ „Hm …“ Takeru zögerte einen Moment. Dann, nach einiger Überlegung, trat er auf Tsukito zu und ließ sich plump vor ihm auf die Knie sinken. „Anii, kann ich dich um einen Gefallen bitten?“   Nichts, keine Spur von dem kleinen Hasen. Inzwischen hatte Tsukito verschiedene Plätze abgesucht, ohne Erfolg. In der Cafeteria  war er gewesen, in der Aula, in ihrem Klassenzimmer. Bis in die kleinste Nische hatte er die Flure inspiziert, während er sämtliche Orte ablief, die ihm in den Sinn kamen. Kein Hase. Allmählich gingen ihm die Möglichkeiten aus. Blieb als Nächstes der Campus. Sollte er dort ebenfalls kein Glück haben, blieben nur noch die Privaträume seiner Klassenkameraden. Takeru hatte diese zwar ausgeschlossen, aber vielleicht irrte er sich. Tsukito hatte versprochen, nach Usamaro zu suchen. Dies war seine Mission, die Takeru auf ihn übertragen hatte. Und egal wie, er würde sie erfüllen. Der Himmel stand bereits im tiefen Abendrot, als er über das Sportgelände streifte. Immer wieder rief er den Namen des Tieres, wie Takeru es ihm erklärt hatte. Wenn man jemanden suchte, rief man immerzu nach dessen Namen und hoffte auf Antwort. Tsukito konnte sich nicht erinnern, dass Hasen sprechen konnten, aber wenn Takeru es sagte, würde es wohl richtig sein. Doch seine Bemühungen blieben fruchtlos. Er wollte gerade zu dem Wohngebäude zurückkehren, als er ein nahes Rascheln bemerkte. „Usamaro?“ Am Rande der Büsche kam das weiße Huschen zu einem Stillstand. Lange Ohren richteten sich auf, ein rosa Näschen zuckte. Kurz darauf drehte sich das Köpfchen und der Hase sah in Tsukitos Richtung. Noch ein Wittern, dann machte er kehrt und sprang in langen Zügen auf seinen Herrn zu. Auf seinen Knien fing Tsukito das Tier auf. Sein Fell fühlte sich kühl an, als Usamaro das Köpfchen weich unter sein Kinn schmiegte. „Ich habe dich gefunden.“ Gewohnt strich er dem Tier einmal über den Rücken, bevor er sich mit ihm in den Armen erhob. „Gehen wir zurück. Totsuka Takeru wartet auf dich.“ Er war kaum auf den Beinen, da war ein erneutes Rascheln zu hören. Lauter als zuvor und wieder drehte sich Tsukito danach um. Im selben Moment sprang ihm der Hase aus den Armen. Bevor er es verhindern konnte, hoppelte er ihm davon und verschwand in das nächste Gebüsch. Er zögerte nicht lang. Entschieden trat er an das Gebüsch heran, in welches er Usamaro hatte verschwinden sehen. Mit den Händen teilte er das Geäst, um sich einen Weg zu bahnen. Die kleinen Äste knackten unter seinem Eingriff. Spitze Zweige stachen in seine Haut, doch er ignorierte es. Er musste Usamaro wieder einfangen, bevor er verschwinden konnte. Leichter gesagt, als getan. Bei seinem Versuch, das Dickicht zu durchstoßen, stolperte er ungeschickt. Es knackte laut um ihn herum, als das Gestrüpp unter ihm nachgab. Schmerzhaft ging er zu Boden, an seinem Gesicht piekte und kratzte es. Doch dafür blieb jetzt keine Zeit. Fixiert auf seine Mission stemmte er sich hoch. Er rappelte sich auf Hände und Knie und … verharrte in dieser Position. Sekundär fragte er sich, wie er nicht hatte bemerken können, dass er nicht allein war. Auf etwa einen Meter zu ihm hockte ein Junge, der ihm unbekannt war. Er hatte einen dunklen Teint, der an ihren Lehrer erinnerte. Große, violettfarbene Augen blickten ihm mit Entsetzen entgegen. Tsukito konnte dieses Gesicht keiner Person zuordnen. Möglicherweise handelte es sich um einen der vielen Geistschüler. Deren Gesichter kannte er nicht. Er hatte es nie als notwendig erachtet, sie einzustudieren. Auf den zweiten Blick bemerkte Tsukito die Jacke, die sich der Junge um die Hüften gebunden hatte. Ja, die war eindeutig ihrer Schuluniform zuzuordnen. Damit stand fest, dass er nicht irrte und tatsächlich einen Mitschüler vor sich hatte. Allerdings war dieser hier seltsam. Diese kauernde Haltung auf allen Vieren, dieser unausweichliche Blick. Als lauerte er auf die nächste Bewegung. Tsukito erinnerte sich, dazu etwas notiert zu haben. War der Junge möglicherweise verängstigt? Wie verhielt man sich in so einer Situation? Unweit von ihnen regte sich etwas. Abgelenkt drehte Tsukito den Kopf und erkannte etwas Weißes unter einem der Büsche. Langsam, seine Umgebung wachsam prüfend, wagte sich Usamaro unter dem Gestrüpp hervor. Sein rosa Näschen zuckte, als er in Tsukitos Richtung witterte. Die langen Ohren gingen darauf nach oben, doch der Hase entschied sich anders. In wenigen Sprüngen setzte er auf den fremden Schüler zu und sprang ihm direkt in die Arme. Wenig scheu schmiegte er sich unter das Kinn des Jungen und gab ihm einen Schlecker über die Wange. Tsukito beobachtete dieses Verhalten, ohne es zu verstehen. Nach einer Weile löste er den Blick und stemmte sich zurück auf die Beine. Er bemühte sich nicht, den Schmutz von seiner Kleidung zu klopfen. Auch dass seine Hände voll haftender Erde waren, schien ihn nicht zu bekümmern. Seine einzige Aufmerksamkeit galt dem Jungen, der ihn aus sicherer Entfernung feindselig anstierte. Noch immer verweilte er in seiner geduckten Haltung, den Hasen mit einem Arm eng an sich haltend. „Der Hase, er gehört mir.“ Obwohl Tsukito die Stimme kaum erhoben hatte, zuckte der Junge bei ihrem Klang zusammen. Er quittierte die Worte mit einem drohenden Laut, der zwischen Knurren und Zischen nicht genau zu bestimmen war. „Gib ihn mir zurück, bitte.“ „Ka bara!“ Tsukito wusste diese Reaktion nicht zu deuten. Machte er etwas falsch? Vielleicht hatte ihn der Junge nur nicht richtig verstanden. Er versuchte es erneut, dieses Mal deutlicher. „Dieser Hase …“ „Bara!“ „… gehört zu mir.“ „Kchhh!“ „Gib ihn mir zurück, bitte.“ Es nützte nichts. Usamaro machte Anstalten, aus den Armen des Jungen zu klettern, was dieser ihm verwehrte. Stattdessen erhob er sich und drückte den Hasen umso fester an sich. In geduckter Haltung trat er einen Schritt zurück, Tsukito keinen Moment aus den Augen lassend. „Anii!“ Der laute Ruf versetzte den Jungen in Aufruhr. Hektisch ging sein Blick umher. Nach einer Ausflucht suchend lehnte erst zu der einen, sprang dann zu der anderen Seite. Keinen Augenschlag später war er zwischen den Bäumen verschwunden, und mit ihm Usamaro. „Anii, hier bist du!“, kam Takeru bei ihm zum Stehen. In vornübergebeugter Haltung schnappte er ein paarmal nach Luft, bevor er ihm sorgevoll ins Gesicht sah. „Ich habe dich schon überall gesucht. Was machst du denn noch hier draußen? … Anii, ist alles in Ordnung? Ist dir etwas passiert?! Du bist so schmutzig.“ „Ich habe ihn gefunden.“ „Wen?“ „Usamaro.“ „Usamaro? Wirklich?“ Tsukito nickte. Ungeachtet Takerus wirren Ausdrucks auf dem Gesicht hob er die Hand in jene Richtung, in die der seltsame Junge verschwunden war. „Sie sind da lang.“ „Hast du ihn verloren?“ Takeru klang enttäuscht. Nur für einen Moment, schon drehte er sich in gezeigte Richtung. „Nicht wichtig. Zeig deinen Arm! Wie hast du dir diese Schrammen –“ „Hey, ihr zwei!“, erklang eine laute Stimme im Dunklen. Ihr tiefer Klang ließ Takeru in der Bewegung erstarren. „Es ist längst Ruhezeit. Was habt ihr beiden Schwachköpfe noch auf dem Schulgelände zu suchen?“ Takeru drehte sich blitzartig herum und erkannte ihren ägyptischen Lehrer eine Schrittlänge entfernt vor ihnen stehen. Intuitiv stand er gerade und straffte die Haltung, entschlossen, etwas zu ihrer Verteidigung zu erwidern. Doch Thoths alles durchbohrender Blick ließ ihn um Worte ringen. „Also … wir, ähm …“ „Wir suchen nach Usamaro“, setzte Tsukito fort. Thoth hob fragend eine Augenbraue. „Usamaro? Wer soll das sein?“ Tsukito nickte. „Unser Hase. Er ist uns entlaufen.“ „So?“ „Nicht direkt ‚entlaufen‘“, versuchte Takeru zu schlichten. Zwar entsprachen Tsukitos Worte der Wahrheit, doch Takeru ahnte, dass Thoth sie nicht gutheißen würde. Er musste das Schlimmste verhindern. „Ist das alles?“, gab Thoth unberührt zurück. Er verschränkte betont die Arme vor der Brust und blickte finster auf die beiden Schüler hinab. „Das ist der Grund, dass ihr gegen die Schulordnung verstoßt? Nicht zu verwundern von einem Schwachkopf und einem Fehlschlag.“ „Woher nimmst du dir heraus …“, brauste Takeru auf, doch er stoppte sich rechtzeitig. Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. Dann baute er sich, so gut es ihm eben möglich war, vor dem hochgewachsenen Ägypter auf. „Sollen wir ihn etwa sich selbst überlassen? Er ist nur ein Hase und er –“ „Und welche Gefahr sollte bestehen?“, fuhr Thoth ihm dazwischen. Sein unnachgiebiger Blick bohrte sich in den Schüler hinein. „Ihm dürfte es wesentlich besser ergehen als euch zwei Schwachköpfen, wenn ich euch nur eine Minute länger auf diesem Campus herumlungern sehe. Habe ich mich für eure Spatzenhirne verständlich genug ausgedrückt? Macht, dass ihr auf eure Räume kommt! Sofort!“ Alles in Takeru bäumte sich auf. Gerade als er sich zuckte, nach vorne zu treten, spürte er eine Hand an seinem Rücken liegen. Tsukitos Hand, warm und beschwichtigend. Takeru hielt den Atem an, ließ die tosenden Wellen sich in ihm brechen. Erst dann folgte er Tsukitos Schritten, die zu den Wohnräumen führten, ohne dem Lehrer den geringsten Respekt zu zollen. „Und wehe dem, der sich nur eine zum Unterricht zu meinem Unterricht verspätet!“, donnerte Thoths Drohung ihnen nach. Danach wurde es still auf dem Gelände.   „Was? Euer Hase ist verschwunden?“, wiederholte Yui erschrocken. Ihr sorgevoller Blick ging zu Takeru hinüber. „Wolltest du deswegen mit mir den Platz tauschen? Damit du das Schulgelände im Blick haben kannst?“ „Das erklärt einiges, in der Tat.“ Baldr neben ihr nickte. „Deswegen hast du die ganze Zeit lieber aus dem Fenster gesehen, als dem Unterricht zu folgen. Caduceus-sensei war davon nicht sehr erfreut.“ „Also ich fand’s gut“, schnurrte Loki zufrieden. Sorglos kippelte er auf seinem Stuhl, die Beine auf seinem Tisch überkreuz, einen bunten Lollistiel zwischen den Lippen. „Meinetwegen darf Goldfischchen immer die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrers für sich haben. So viel Spaß wie heute hatte ich lange nicht mehr am Unterricht!“ „Wie hast du mich gerade genannt?!“ „Loki!“, rügte Baldr den Freund. Doch Loki tat es mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab. „Das ist ja furchtbar“, sagte Yui mitfühlend. „Tsukito-san und du müsst ganz besorgt sein. Können wir euch nicht irgendwie bei der Suche helfen?“ „Gute Idee!“, rief Apollon aus und sprang voll Tatendrang von seinem Platz. Vor Takerus Pult blieb er stehen, stemmte beide Arme auf den Tisch und sah aus leuchtenden Augen auf ihn hinab. „Wir werden euch helfen, genau das werden wir! Als Schülersprecher ist es meine Aufgabe, euren Hasen sicher zu euch zurückzubringen. Das ist es, jawohl!“ „Idiot, was redest du da?“, knurrte Takeru zu ihm hoch. Sich distanzierend lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ganz bestimmt keine Aufgabe des Schülersprechers. Davon abgesehen, vergesst es. Ihr könnt Usamaro nicht fangen.“ „Wieso denn nicht?“, fragte Apollon bedrückt. „Weil er sich von niemandem anfassen lässt, abgesehen von Anii und mir. Er lässt keinen außer uns in seine Nähe.“ „Und diesen Jungen“, ergänzte Tsukito leise. Sein Murmeln wurde von Dionysos‘ herzhaftem Gähnen übertönt. „Wieso versucht ihr es nicht mit Leckerlis?“, schmatzte er müde. Noch halb verschlafen kratzte er sich im Haar, bevor er den Kopf zurück auf die Arme senkte, die über dem eigenen Pult gekreuzt lagen. „Ich habe gehört, Hasen mögen Möhren. Holt euch doch einfach welche und probiert es damit.“ „Gute Idee! Stellen wir ihm eine Falle.“ „Hast du sie noch alle?!“, sprang Takeru auf. Böse funkelte er in Richtung des Kipplers. „Eins schwöre ich dir: Wenn du Usamaro nur ein Haar krümmst … Ich bring‘ ich dich um, solltest du‘s nur versuchen!“ „Na schön, na schön, ich habe verstanden. Dann, wie wäre es damit?“ Frohen Eifers schwang Loki die Beine vom Tisch. Sein Stuhl war noch nicht ganz zur Ruhe gekommen, da tänzelte er bereits mitten im Gang.  „Ich habe da eine Idee, es ist wirklich ganz einfach. Aber der Plan funktioniert NUR, wenn er von der richtigen Person ausgeführt wird.“ „Ein Plan?“ Takeru knurrte verdrießlich. „Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich dir vertraue?“ „Oh, das musst du auch gar nicht“, wies Loki abwinkend zurück. Bester Laune tänzelte er zwischen den Tischen hindurch, bis er sich schwungvoll auf Tsukitos Pult plumpsen ließ. „Um dich geht es hier immerhin nicht. Du bist nicht die ‚richtige‘ Person“, grinste er schelmisch über das ganze Gesicht. Takeru beobachtete das Verhalten des Norden mit einem unwohlen Gefühl im Bauch. „… Was hast du vor?“ „Anii~“, gurrte Loki vergnüglich. Provokant holte er seinen Lolli zwischen den Lippen hervor und beugte sich zu Tsukito vor. Bei seinem Ohr flüsterte er seinen Plan.   Er war der Einzige, der diese Mission erfüllen konnte. Loki hatte recht. Er wollte Takeru immerhin helfen, er hatte es ihm versprochen. Auf gar keinen Fall konnte er noch einmal versagen. Doch mit Lokis Plan würde er es auch nicht. Still kauerte er auf der Wiese. Schweigend, und wartend. „Verhalte dich einfach wie ein Hase“, hatte Loki gesagt. Zuversicht lag in diesem Rat. „Sei Usamaro.“ Unter seinen Händen spürte er den flauschigen Stoff seines Kostüms. Nur zart stachen Gras und Steinchen darunter hindurch. Die langen Ohren auf seinem Kopf wippten mit jeder Bewegung. Nicht im Moment, solange er im Stillen verharrte. Das anhaltende Kauern auf allen Vieren zog einen ziehenden Schmerz durch seinen gebogenen Rücken. Er konzentrierte sich nicht darauf,  stattdessen behielt er das satte Bündel Karotten, welches wenige Meter von ihm entfernt lag, aufmerksam im Blick. Dionysos war überzeugt, ihr Duft würde Usamaro ganz von selbst anlocken. Irgendwo streunten die anderen in der Nähe umher, um den scheuen Hasen in Tsukitos Richtung zu treiben. Takeru und Yui waren bei den Gebäuden geblieben, falls Usamaro dorthin zurückkehrte. Bis zum Ertönen der Turmglocke hatten sie Zeit, den Hasen zu finden, danach würde Thoth sie auf ihre Räume zurückschicken. Bis dahin blieben noch wenige Stunden, wie der tiefe Sonnenstand ihnen verriet. In den Büschen weiter vorne raschelte es. Reglos harrte Tsukito an seinem Fleck und wartete ab, was sich hinter den Sträuchern tat. Ein dunkler Schopf kam langsam zum Vorschein, dem folgte ein Kopf. Tsukito erkannte den Jungen. Es war derselbe, dem er am Abend zuvor begegnet war. Neugierig sah der Junge in seine Richtung. Zwei abstehende Haarsträhnen zuckten auf seinem Kopf, als seien es Ohren, die sein Interesse verrieten. Dann, nur langsam, kletterte er zwischen den Büschen hervor. Vorsichtig schleichend auf Tsukito zu. Tsukito hielt still. Gründlich betrachtete er den Jungen von oben bis unten. Soweit er es feststellten konnte, trug er Usamaro nicht länger bei sich. Auch als er nähergekommen war, konnte Tsukito den Hasen nirgends entdecken. Sollte er inzwischen in ihre Räume zurückgekehrt sein? Oder trieb er sich noch irgendwo in der Nähe herum? Hatten die anderen ihn möglicherweise bereits finden und einfangen können? Sie würden ihn dazu informieren, wenn dem so wäre? Sein Blick verharrte auf diesem Jungen. Er bewegte sich scheu, ständig zur schnellen Flucht bereit. Doch seine Augen leuchteten interessiert. Er wirkte ganz fasziniert von dem übergroßen Tier, welches Tsukito darbot. Vorsichtig, kauernd auf allen Vieren, wagte der Junge sich näher, bis keine Hasensprunglänge mehr zwischen ihnen lag. Bedacht streckte der Junge die Hand aus und angelte eine der losen Karotten aus dem Bündel hervor. Er teilte sie laut knackend etwa mittig entzwei, schob sich eine der Hälften zwischen die Zähne und reichte die andere Tsukito hin. Der Junge lächelte offenherzig dabei, als wolle er ihn in Sicherheit wiegen. Tsukito blickte unschlüssig auf das ihm dargebotene Möhrenstück. Während er überlegte, was er nun tun sollte, erinnerte er sich an Lokis Rat: „Verhalte dich einfach wie ein Hase.“ Kurzerhand sprang er nach vorn, direkt auf den Jungen zu. Er hatte nicht beabsichtigt, so viel Schwung zu nehmen. Der fremde Schüler wirkte auf einmal sehr schmächtig, als er mühelos von Tsukito leichtem Gewicht in das tiefgrüne Gras gedrückt wurde. „Bara! Ka bara bara!“, schimpfte der Junge und begann wild unter dem Mondgott zu zappeln. Tsukito wollte weichen, doch in diesem monströsen Hasenkostüm verlangte jede Bewegung nach seiner höchsten Konzentration. Konzentration, die er nicht hatte, solange wütende Fäuste haltlos um ihn herum flogen. Lokis säuselnde Worte flüsterten ihm: „Sei Usamaro.“ Richtig. Es war ganz einfach. Was würde Usamaro jetzt tun? Tsukito streckte den Hals und schmiegte den Kopf unter das Kinn des anderen Schülers. Dessen Abwehrversuche stellten sich ein. Allmählich wurde er ruhig. Endlich war es Tsukito möglich, sich auf seine Arme nach oben zu stemmen. Doch als er hinabsah, wurde er starr. Große, geweitete Amethystaugen bannten auf ihm. Obwohl die Nasenflügel schmetterlingsgleich bebten, war die Atmung des Jungen kaum zu vernehmen. Als hielte er vor ihm die Luft an. Einen solchen Ausdruck hatte Tsukito zuvor nie gesehen. Angestrengt dachte er nach. Er war sich nicht sicher, aber konnte das Angst sein? Fürchtete sich der Junge vor ihm? Warum? Was hatte er Falsches getan? Usamaro würde es wissen. Tiere spürten Angst instinktiv, das hatte Totsuka Takeru ihm einmal gesagt. Der Hase wüsste es besser. Er war eben doch nur ein Fehlschlag. Was sollte er tun? Was würde Usamaro tun? Er beugte sich vor und leckte dem Jungen zärtlich über die Wange. Die dunklere Haut des Jungen schmeckte nach Erde. Sie schmeckte salzig. Das war interessant. In einem plötzlichen Stoß warf der Junge ihn von sich. Seine Brust schmerzte an der getroffenen Stelle von dem heftigen Schub. Verdattert lag Tsukito auf der Seite, begraben unter Tonnen von Plüsch, und sah verständnislos zu, wie der fremde Schüler zwischen den Büschen verschwand. Sein hysterisches „Kaaa!“ war noch lange zu hören, bis es in der Ferne verstummte. Minuten später war es Tsukito möglich, sich auf die Knie zu rollen. Er hörte es hinter sich knuspern, worauf er den Kopf drehte. Neben dem Karottenbündel saß Usamaro und knabberte genüsslich an einer der saftigen Möhren. Sein rosa Näschen zuckte zufrieden in dem schneeweißen Fell. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)