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Kamigami ga waku waku da yo!

One Shot Sammlung Part II
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wir entschuldigen uns, dass es so lange mit dem nächsten Update gedauert hat. Aktuell können wir auch nicht versprechen, dass wir unsere festgelegten Fristen einhalten können. Wir bitten um Nachsicht.
Nun aber viel Spaß mit dem nächsten OS und dem neuen Pair! :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung: Drama! Und Spoiler, falls jemand die Serie noch nicht bis zum Ende geschaut haben sollte. Just saying.
Ich bereue nichts. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wir entschuldigen uns, dass du so lange auf eine neue Geschichte warten musstest. Wie immer wünsche ich dir aber viel Spaß mit dem nächsten Pair, an welchem ich mich versuchen durfte. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh. Mein. Gott … Dieses Kapitel liegt jetzt schon wie lange, gute drei Jahre fertig auf meinem PC? Ich wollte warten, bis die gute Erenya ihren Counterpart fertiggestellt hat, damit ich ihr nicht in unserer Challenge vorauseile. Irgendwann hatte ich es vergessen und, ja … Ich denke, inzwischen brauche ich nicht mehr zu warten. So denn, surprise! >▽<

Das Kapitel hat einen nachträglichen Feinschliff erhalten, sonst habe ich nicht viel daran verändert. Es gefällt mir noch immer so gut wie vor drei Jahren. Ich hoffe, dass die Challenge den einen oder anderen noch immer erfreuen kann. ❀ Komplett anzeigen

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Sein Licht in der Dunkelheit (Uncleshipping)

 „Nnng.“ Ausgiebig streckte sich Dionysos, wobei er auf seinem Stuhl gefährlich weit nach hinten kippelte. Von einem lauten Gähnen begleitet verschränkte er die Arme auf der Tischplatte vor sich und bettete den Kopf darauf. „Morgen ist der Tag.“

„Hehe, ich bin schon ganz aufgeregt!“ Fröhlich lächelte Apollon zu dem Freund hinüber. „Das ist unsere erste Gruppenaufgabe. Ich bin wirklich gespannt, was jeder so ausgearbeitet hat. Ne, Dee-Dee, darf ich eure Ausarbeitung mal sehen?“

„Hm?“, blinzelte er müde. Wenig elanvoll hob er das grüne Heftchen empor, welches er unter seinen Armen vergraben hatte.

„Ah, lass sehen, lass sehen!“, freute sich Apollon seines Lebens, als er das Heft entgegennahm und fröhlich summend darin zu blättern begann.

Er stutzte bald. „Eh? Aber da steht ja gar nichts drin!“

„Oh, echt nicht?“, blinzelte Dionysos zu ihm hin. „Ich bin mir sicher, ein paar der Aufgaben begonnen zu haben … aber ich hatte keine Lust, dazu etwas aufzuschreiben. Und Thor wirkte auch nicht so, als habe er mehr Elan. Jedes Mal verschwindet er direkt nach dem Unterricht zu seinem Club.“

„Loki-Loki und Toru-Toru sind wirklich sehr vorbildlich, was ihren Going-Home-Club anbelangt. Schade, dass sie nicht denselben Eifer in den Unterricht investieren.“ Er verzog die Lippen zu einem Schmollmund. „Thoth-sensei wird jedes Mal laut deswegen. Vor allem wegen Loki-Loki.“

Aus einer Ecke des Raumes klang ein Räuspern, als sich Hades aus einem schattigen Plätzchen heraus bemerkbar machte. „Im Unterricht einzuschlafen, ist nicht minder unangemessen.“

„Wen meinst du damit, Onkel Hades?“

„Ich kann nichts dafür“, verteidigte sich Dionysos, ein erneutes Gähnen unterdrückend. „Die Sonne macht mich schläfrig. Und Regentage. Und windiges Wetter. Und stickige Räume und eintöniges Gerede.“

„Also im Grunde alles, was mit Unterricht zu tun hat, und das immer“, schlussfolgerte Apollon und grinste breit, als sei er ehrlich stolz auf diese Erkenntnis.

„Genau.“ Dionysos erwiderte das Grinsen bis zu den Ohren.

Hades am anderen Ende des gemeinsamen Wohnzimmers seufzte schwer. „Wie dem auch sei“, sprach er ruhig. „Wenn Thor und du nichts vorzutragen habt, braucht ihr euch morgen erst gar nicht im Unterricht blicken zu lassen. Ich habe so ein unwohles Gefühl, was passieren wird, wenn er eure leeren Hefte sieht. Und wenn dazu ich noch im Raum bin …“

„Ah, darüber mach dir mal keine Sorgen“, winkte Dionysos ab und lachte unbekümmert. „Er wird so oder so wütend. Außerdem glaube ich, dass Thor eine Ausarbeitung angefertigt hat. Wer mit Loki und Baldr zusammen ist, hat keine andere Wahl, als für die beiden mitzuarbeiten, nicht? Wenn er mir die Aufzeichnungen gibt, kann ich sie bestimmt in einer Art vortragen, mit der unser großer Meister zufrieden sein wird.“ Siegessicher streckte er den Daumen in die Höhe.

„Es wird auf jeden Fall lustiger als Thoth-senseis stierernster Unterricht. Er ist immer so ernst, nicht? Wenn Dee-Dee anfängt, etwas zu erzählen, kann das Thema noch so langweilig sein, er macht es zu einer richtigen Geschichte. Es wird lustig!“

„Na, na, jetzt schmeichelst du mir aber.“ Verlegen, dennoch sichtbar stolz auf dieses Kompliment rieb er sich mit dem Finger unter der Nase.

„Wir werden ebenfalls unser Bestes geben!“, entschied Apollon voller Eifer und sah zu seinem Onkel, der gerade die Seite in seinem Buch umschlug, welches er las. „Gehen wir noch einmal alles durch, Onkel Hades? Wir werden zusammen eine perfekte Arbeit abliefern! Und dann wird Thoth-sensei richtig stolz auf uns sein. Und Yousei-san* und alle anderen. Es wird perfekt, nicht wahr?“

„Hach, ich beneide euch“, seufzte Dionysos leise, mild lächelnd. „Ich hätte auch gern mit einem von euch beiden zusammengearbeitet. Stattdessen habe ich Thor abbekommen. Nicht gerade die klügste Entscheidung von unserem Herrn Lehrer, was? Naja, lässt sich nichts machen.“

Laut schob er seinen Stuhl zurück, als er sich schließlich erhob. Die Arme über Kreuz in die Höhe schiebend, streckte er sich einmal ausgiebig und gab ein wohliges Stöhnen von sich. „Na denn, ich will euch nicht von der Arbeit abhalten. Ich hau‘ mich schon mal aufs Ohr. Macht nicht mehr so lange, denn ihr wisst ja: »Wer des Nachts nicht feiert, soll nicht Unnütz tun und ruhen.«“

„Ah, Dee-Dees Lieblingsspruch!“

Er grinste breit. „Und er ist wahr! Also dann“, wandte er sich ab und hob die Hand zum Wink, „gute Nacht ihr beiden.“

„Schlaf gut, Dee-Dee!“

„Gute Nacht.“

„Also“, wandte sich Apollon seinem Onkel zu, kaum dass Dionysos den Gemeinschaftsraum der griechischen Götter verlassen hatte, „fangen wir gleich an? Ich habe meine Notizen hier. Du deine doch auch? Lass uns nochmal die Aufgaben durchgehen. Ich glaube zwar nicht, dass wir etwas vergessen haben, aber doppelt hält besser, oder so.“

„Mh“, nickte Hades einmal, klappte sein Buch zu und legte es zur Seite.

Derweil schlug Apollon bereits seine Aufzeichnungen in seinem hellblauen Notizheft nach. „Mal sehen … »Welchen Nutzen zieht der Mensch aus seinen fünf Sinnen«, hm … Zu »schmecken« habe ich irgendwie nicht sehr viel. Zu den anderen vier habe ich viele Stichpunkte, aber zu »schmecken« nicht mal fünf. Hm, dabei habe ich so lange mit Yousei-san darüber gesprochen … Können wir unsere Aufzeichnungen dazu bitte noch einmal vergleichen, Onkel?“

„Natürlich.“ Schon begann er, in seinem eigenen schwarzen Heft nach den Aufzeichnungen zu blättern.

„Eeeh?“, stieß Apollon einen entrüsteten Laut aus. „Kommst du denn gar nicht an den Tisch, damit wir zusammenarbeiten können? Es sind doch so viele Stühle frei und das Licht ist hier auch sehr viel besser als dort hinten.“

„Das ist schon in Ordnung so“, wies Hades das Angebot zurück. „Auf die Art kann nichts Schlimmes passieren, wenn wir genug Abstand zueinander einhalten. Lass uns so einfach fortfahren.“

„Aber das gefällt mir nicht.“ Der junge Sonnengott blähte trotzig die Backen. „Es gefällt mir nicht, wenn du so weit weg bist. Das ist, als würdest du dich ausschließen. Außerdem müssen wir durch den ganzen Raum miteinander reden. Ich mag das nicht.“

„So ist es das Sicherste. Du weißt –“

„Aber ich mag es nicht!“, stürzte er zwischen die Worte seines Onkels, trotzig wie ein kleines Kind, das sein Lieblingsspielzeug nicht hergeben wollte. „Ja, ich weiß, aber ich mag es dennoch nicht!“

Hades stieß ein schweres Seufzen aus. „Apollon …“

„Gut, dann komme ich eben zu dir. Es ist entschieden!“ Damit schob Apollon seinen Stuhl zurück, hakte ihn sich kurzerhand unter und ging mit seinen Notizen in der anderen Hand zu seinem Onkel hinüber. Noch ehe dieser protestieren konnte, stellte der junge Gott seinen Stuhl neben Hades‘ Sessel an den niedrigen Lesetisch und angelte aus dem Bücherregal hinter ihm nach der Leselampe, welche er in einer der Steckdosen unter dem Tisch anschloss.

Nach getaner Arbeit ließ er sich auf seinen Platz sinken und lächelte sein fröhlichstes Lächeln in das Gesicht seines Onkels. „So ist es gleich viel besser, nicht?“

„Wir sollten nicht –“

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte ihn Apollon sofort. „Alles wird gut, du wirst schon sehen. Alles wird gut. Schau, bisher hat mich deine Nähe auch nicht umgebracht.“

„Das nicht, aber –“

„Also, lass sehen“, unterbrach er ihn erneut und griff nach dem schwarzen Notizheft. Eifrig überflog er die dünne, linksneigende Handschrift seines Onkels. „Hm, wo ist es denn …? Ach, da hast du’s ja! Der Sinn »schmecken« beim Menschen ist –“ Noch ehe er den ersten Stichpunkt zu Ende lesen konnte, wurde ihm das Heft aus der Hand entrissen.

„Hey!“, protestierte er laut und versuchte, das Notizheft in der Luft zu erwischen, bevor es gänzlich aus seiner Reichweite verschwunden war.

„Frag wenigstens vorher, bevor du dir einfach etwas nimmst, was anderen gehört“, mahnte Hades ihn, ohne die Stimme zu erheben.

„Na, komm schon, Onkel! Gib es her, lass mich sehen! Es geht doch viel schneller, wenn wir unsere Notizen direkt vergleichen“, versuchte er ihn mit Argumenten zu überreden. So gut er konnte, machte er die Arme lang und haschte nach dem Heft. „Bitte, gib …“, versuchte er es nochmals, überstreckte sich, brachte durch die ungleichmäßige Gewichtsverlagerung den Stuhl unter sich zum Rutschen, bis er ihm entglitt. Apollon verlor die Sitzfläche unter seinem Hintern, erschrak darüber und stolperte ungeschickt über seine wackeligen Beine, wodurch er laut polternd und von einem Schrecklaut begleitet zu Boden ging. Haltsuchend griff er nach dem Erstbesten, was er in seiner Hast zu fassen bekam, erwischte aber nur das Stromkabel der Tischlampe, welche er mit sich riss und mit einem dumpfen Aufschlag gegen seine Stirn aufschlug.

„Apollon!“, rief Hades erschrocken aus und sprang hoch. Sofort kniete er sich zu dem Neffen hinunter, der den Eindruck machte, als würde er für den Moment Sterne sehen. „Ich habe schon wieder Unglück gebracht … Junge, ist alles in Ordnung? Ich habe dich gewarnt, dass in meiner Nähe zu sein –“

„Sch-schon gut“, brachte Apollon nuschelnd zustande. „‘s is‘ nich‘ deine … ‘s ist meine Schuld. Ich hätte nicht so … überstürzt sein sollen, nicht wahr?“

„Es tut mir leid“, presste Hades leise hervor, die Hand an Apollons Schulter zur Faust geballt. „Ich bringe jedem, der mir nahesteht, nichts als Unglück.“

„Schon okay.“ Er bemühte sich um ein unbekümmertes Lächeln. „Es ist wirklich nicht deine Schuld, Onkel. Ich hätte einfach nicht so übereifrig sein sollen. Tut mir leid. Ich hätte dich erst fragen sollen, ob ich mir deine Notizen ansehen darf. Bitte entschuldige.“

Hades seufzte nur und schüttelte mit dem Kopf. Statt noch etwas darauf zu erwidern, half er seinem Neffen zurück auf die Beine und sorgte dafür, dass er sicher auf seinen Platz zurückfand. Anschließend setzte auch er sich wieder und reichte, um weiteren Unfällen vorzubeugen, dem jungen Gott seine Notizen.

„Es ist wirklich nicht deine Schuld“, beteuerte Apollon noch einmal, doch Hades winkte ab.

„Schon gut.“

„Hm …“ Nachdenklich betrachtete er sich seinen Onkel, den griechischen Gott der Unterwelt.

Ohne noch etwas zu sagen, wandte er sich den Notizen zu. Er las nicht die Wörter, die dort geschrieben standen, sondern ließ seinen Blick auf der schwarzen Handschrift ruhen.

Die Striche waren dünn, kurz; die Wörter eng aneinander geschrieben, dennoch ordentlich und gut lesbar; zwischen ihnen standen weite Abstände. Es gab so viele Details zu entdecken, die sich von seiner eigenen Handschrift deutlich unterschieden. Jedes Einzelne davon sprach eine kleine Wahrheit über seinen Onkel aus.

Apollon verstand nicht viel von Graphologie. Er wusste auch nicht sicher, ob sie als Götter bereits über ihre eigene Handschrift verfügt hatten oder ob diese sich erst wie von selbst entwickelt hatte, als sie von Zeus an diese Schule geholt und zu Menschen gemacht worden waren. Was er wusste, war, dass diese Handschrift anders war als seine eigene und auch anders als die Yuis. Er konnte es sich nicht erklären, doch er befand, dass sie zu seinem Onkel passte. Dass sie einmalig war, wie es sein Onkel ebenfalls war.

„Du willst es nicht“, sprach er leise, sodass es kaum zu hören war.

„Hm?“

„Hier sein.“ Apollon klang ungewohnt traurig, während er das sagte. „Die anderen auch nicht. Yousei-san auch nicht. Sie sind alle von Zeus gezwungen worden, hier zu sein. Und ich … Aber von uns allen willst du am allerwenigsten hier sein, nicht wahr?“

Er erhielt keine Antwort.

„Du versuchst immer alle auf Abstand zu halten. Du versuchst, keinen zu nah an dich heranzulassen und nicht Teil der Gruppe zu werden. Das ist traurig, sehr traurig.“

Apollon ließ eine Pause folgen, ehe er aufsah. Eine Mischung aus Hoffnung und Schmerz lag in seinen grünen Augen. „Ist es so schlimm? Hast du denn gar keinen Spaß? … Alle versuchen, das Beste aus dieser Situation zu machen. Yousei-san ist nett zu uns allen und versucht, uns bestmöglich zu unterstützen und zu verstehen, obwohl sie keine Göttin ist. Als Mensch ist es bestimmt nicht leicht für sie, die Einzige zu sein. Und doch … haben alle Spaß, nicht wahr? Du hast auch schon gelächelt, seit du mit den anderen zusammen bist, nicht? Du hast gelächelt.“

„Das ist es nicht“, sprach Hades gedämpft und wandte seinen Blick zur Seite ab. Ihm war anzusehen, dass ihm dieses Thema unangenehm war. Die Hände geballt in seinem Schoß kämpfte er seinen stillen Kampf mit dem Unmut in seinem Inneren.

„Ich habe mit Yousei-san gesprochen und sie meint auch, dass sie dich gern mehr in der Gruppe eingebunden hätte. Sie möchte nicht, dass du ausgeschlossen bist, und dass du mit allen gemeinsam schöne Erinnerungen machen kannst. Sie macht sich große Sorgen um dich.“

„Dummkopf“, flüsterte er leise, kaum hörbar. Jedoch legte sich ein dünnes Lächeln auf seine Lippen. „Sie ist ein gutes Mädchen, nicht? Aber es nützt nichts. Ich bringe Unglück. Jeder, der sich mir nähert, begibt sich in große Gefahr. Ich möchte nicht, dass einer von ihnen verletzt wird.“

Daraufhin machte sich ein betretenes Schweigen zwischen ihnen breit. Beide wussten um die Bedeutung dieser Worte, die schwer wogen.

„Ist es wirklich so schlimm?“, fragte Apollon noch einmal. Bedächtig, vorsichtig.

Hades sagte nichts darauf. Erst, als er die warmen Hände um seiner eigenen spürte, wie sie sie sanft und bestimmt zugleich hielten, blickte er zu seinem Neffen auf. In seinen eigenen Gedanken versunken, hatte er nicht bemerkt, wann Apollon mit seinem Stuhl näher an ihn herangerückt war. In den sonst so sanften, grünen Augen, die dazu bestimmt waren, eine göttlich goldene Farbe zu besitzen, lag Entschlossenheit.

„Wenn es dich so sehr quält, dann nehme ich ihn auf mich. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dich von deinem Fluch zu erlösen oder ihn dir abzunehmen, ich tue es! Ich möchte, dass du lachen kannst. Ich möchte, dass du glücklich sein und die Zeit mit den anderen genießen kannst! Wenn es einen Weg gibt …“

„Apollon …“

„Es ist nicht fair!“, klagte er laut. Tränen stiegen dem Jungen in die Augen, dessen Herz so hell und warm war wie die Sonne selbst. „Es ist nicht fair, dass du diese Bürde allein tragen musst. Es ist nicht fair, dass du immer mit dieser Angst leben musst, andere zu verletzen, obwohl du es nicht willst. Dass du deswegen allein bist. Dass du deswegen alles und jeden auf Abstand hältst und das Wohl anderer vor dein eigenes stellst. Und das alles nur wegen …“

Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Wie er mit den Tränen Apollons umgehen sollte, die er seinetwegen verlor. Es erinnerte ihn an jenen Tag, als ihn der Junge als kleiner Knirps das erste Mal in der Unterwelt besucht hatte.

Bei dieser, ihrer ersten Begegnung hatte der Junge geweint. Hatte er sich gefürchtet vor diesem dunklen Ort, den düsteren Gestalten, den verstorbenen Seelen … vor ihm. Es war ganz natürlich gewesen. Und doch, obgleich er das Gegenteil erwartet hätte, hatte ihn Apollon ab diesem Tag des Öfteren besucht. Hatte nach und nach seine Furcht verloren und diesen verdammten Ort mit etwas erfüllt, das Hades fast vergessen hätte: Lachen. Er hatte den kleinen Jungen schnell in sein Herz geschlossen.

Von allen, die er kannte und denen er bisher begegnet war, war Apollon der Letzte, den er diese Tränen weinen sehen wollte. Und doch wusste er nicht, was er dagegen tun sollte.

„Es ist nicht seine Schuld“, versuchte er ihn zu trösten. „Es war Schicksal.“

„Dennoch …“, schluchzte er leise. Seine Stimme verebbte.

In einer nächsten Überlegung legte er eine Hand an die rechte Brust Hades‘, unter dessen Stoff seines weißen Hemdes er das dunkle Mal wusste. „Warum?“, sprach er leise und die Frage war mehr an ihn selbst gerichtet. „Ich habe es versucht … Ich sollte dazu in der Lage sein … aber selbst mit meinen göttlichen Kräften …“

Sanft legte Hades seine Hand auf die Apollons. Er sagte nichts, schloss nur die Augen.

„Warum?“

„Lass gut sein, Apollon.“

„Aber“, widerstrebte er und schüttelte mit dem Kopf. „Ich werde nicht aufgeben! Es ist nicht fair … Du bist immer so lieb und gutherzig. Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein! Ich will nicht, dass du deswegen unglücklich bist! Ich liebe meinen Onkel Hades.“

Wie die Sonne. Apollons Worte waren warm und wohlwollend wie die Sonne selbst. Sie entlockten Hades ein ehrliches Lächeln.

„Du bist ein guter Junge, Apollon“, sprach er sanft und legte dem jungen Gott seine Hand auf, um ihm über das blonde Haar zu streicheln. Ihre Blicke trafen sich. „Mein Bruder ist ein gesegneter Mann, solch einen lieben Jungen zu haben. Fast beneide ich ihn.“

Schmollend plusterte Apollon die Backen. „Zeus ist …“

„Dein Vater“, ergänzte Hades den Satz seines Neffen. Milde lag auf seinen Zügen. „Grolle nicht gegen ihn, Apollon. Er wird seine Gründe haben für das hier. Er hat meist seine guten Gründe für alles.“

Apollon stieß einen abfälligen Laut aus. „Ja, so sagt er.“

„Ich werde versuchen, Spaß zu haben“, sprach Hades und strich dem Jungen noch einmal über den hellen Schopf. „Ich will nicht, dass du und Dionysos euch um mich sorgt. Ich verspreche dir, dass ich es versuchen werde, auch wenn ich wenig Hoffnung habe … Ich könnte versuchen, morgen den Vortrag vor dem Rest der Klasse zu halten.“

„Echt?!“, überschlug sich Apollon schier vor lauter Begeisterung. „Das wäre toll, richtig toll! Ich freue mich. Und ich werde dir dabei helfen. Ich helfe dir!“

„Das würde mich sehr freuen.“ Er schenkte dem Jungen ein aufrichtiges Lächeln.
 

In diesem Moment empfand er Glück. Vielleicht war das die Chance, die sein Bruder ihm einräumte, als er ihn gegen seinen Willen hierher gezwungen hatte. Die Chance, hier, an diesem Ort, fern des Olymps und der Unterwelt, etwas anderes als Schmach und Pein zu erfahren. Er wollte an diesem Glauben festhalten, so schwer es ihm auch fiel.

Apollon war sein Licht in der Dunkelheit. War es gewesen seit dem ersten Tag, an dem er dem Jungen zum ersten Mal begegnet war. Solange er bei ihm war, konnte er so etwas wie Glück empfinden.

 

 

*Yousei bedeutet so viel wie „Fee“. Da „Fräulein Fee“ im Deutschen sehr befremdlich klingt, bleibt es beim japanischen Spitznamen.

Operation "Rot" (Prudentshipping)

Von einem gedehnten Knarren begleitet, fiel die Tür zur Schulbibliothek in ihr Schloss zurück.

Schritte entfernten sich auf dem leeren Flur, klackend. Ein fröhliches Pfeifen lag in der Luft.

Auf dem Gesicht des jungen Mannes, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen den Weg zum Schulgelände aufsuchte, spielte ein schelmisches Grinsen.

 

„Guten Morgen“, grüßte Yui den Rest der Klasse. Sie war in Begleitung von Baldr, Apollon und Dionysos, die es ihr gleich taten und ebenfalls die restlichen Schüler begrüßten.

„Guten Morgen“, erwiderte Takeru, der über Lokis Pult lehnte. Die beiden Jungs hatten sich offenbar mit einem Freizeitmagazin beschäftigt, das vor ihnen aufgeschlagen lag.

„Guten Mohorgen“, entließ Loki, ganz der Schalk, fröhlich und setzte ein zufriedenes Grinsen auf.

Thor hinter ihm nickte nur. Von Hades' Platz aus war ein leises „Guten Morgen“ zu hören.

„Und was für ein besonders wunderschöner Morgen“, betonte der Schalk und ließ diese Worte melodisch klingen. Alles an ihm, seine Stimme wie sein Gesicht, bis hin zu seiner entspannten Körperhaltung wirkte an diesem Tag besonders fröhlich.

„Wie es scheint, geht es dir heute besonders gut“, bemerkte Baldr und lächelte besonnen zu seinem besten Freund hinüber.

„Ich würde so gern etwas von deiner guten Laune abhaben“, sprach Yui. In ihren Worten schwang ein Seufzen mit. „Ich bin ganz nervös wegen des anstehenden Tests. Ich fühle mich, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan.“

„Ich bin auch aufgeregt“, gestand Apollon, der gerade seinen Platz einnahm. Seine Schultasche landete auf seinem Pult. „Es geht um Leben und Tod, hat Thoth-sensei gesagt. Wuah, ich habe solche Angst, den Test nicht zu bestehen. Ich will noch nicht sterben, ich will nicht!“

„Bist du ein Dummkopf, oder was?“, warf Takeru ihrem Schülersprecher seinen Argwohn entgegen. Seine Augenbrauen zogen sich tiefer über die zimtbraunen Augen. „Hast du dir allen Ernstes zu Herzen genommen, was dieser Typ gesagt hat? Mann, der wollte uns doch nur Angst machen und hat maßlos übertrieben, mehr nicht.“

„Bist du dir da auch ganz sicher, Take-Take?“

„Natürlich! Schalt dein Hirn ein, Idiot!“

„Na, na“, versuchte Yui verzweifelt den aufmüpfigen Wassergott zu beschwichtigen. Abwehrend hob sie die Hände und lächelte unsicher. „Nicht streiten, okay? Das macht meine Nervosität nicht gerade besser.“

„Man sagt“, meldete sich Dionysos hinter ihr zu Wort und hob belehrend den Finger in die Höhe, „gegen Nervosität hilft ein kräftiger Schluck reifer Rebe, wenn ihr versteht. Leider ist es ja verboten, Genussmittel für Erwachsene mit in den Unterricht zu nehmen.“

„Eeeh?“, bekundete Apollon jämmerlich. „Wie gemein von dir, Dee-Dee. Du weißt solche Dinge und teilst sie nicht mit uns? Das ist so gemein, so gemein!“

„Sorry.“ An seinen jüngeren Halbbruder gewandt hob Dionysos die Hand in eine entschuldigende Geste. „Fürs nächste Mal werde ich daran denken, wenn du es dann immer noch willst.“

„Ja, wirklich?“ Die grünen Augen des Sonnengotts nahmen ein kindliches Strahlen an. „Das wäre super. Vielen Dank, Dee-Dee!“

„Dionysos!“, mahnte Hades von seinem Platz aus.

„Na, na …“ Yui war sichtlich bemüht, die Runde friedlich zu halten, wie es sich für Schüler in einem Klassenraum gehörte. Als einzige menschliche Vertreterin fühlte sie sich nicht selten hilflos zwischen den ganzen Göttern, die alle ihre kennzeichnenden Eigenarten hatten. Die einen mehr oder minder schwer ausgeprägt.

„Also was mich anbelangt“, meldete sich Loki zwischen ihnen zu Wort. Die Sorglosigkeit in Person, kippelte er auf den Hinterbeinen seines Stuhls und war sich nicht zu fein, die Beine lässig auf seinem Pult zu überschlagen. „Ich bin kein Stück aufgeregt. Nicht das geriiingste bisschen.“

„Wie kommt es?“, wandte sich Takeru ihm zu. Skeptisch verzog er die Miene. „Sag bloß, du hast zur Abwechslung einmal was gelernt?“

„Tze, tze, woran denkst du?“ Abfällig winkte Loki ab und belächelte die Vermutung des Japaners neben ihm. „Für wen hältst du mich? Natürlich habe ich keine Sekunde damit vergeudet, meine Nase in irgendwelche Notizen zu stecken. Keeeine einzige. Aber ich habe ein sehr gutes Gefühl, was den heutigen Tag anbelangt.“ Daraufhin grinste er verheißungsvoll. „Vor allem, was unseren lieben Lehrer anbelangt“, flötete er scheinheilig.

„Wieso? Was ist mit Thoth-sama?“, wollte Yui wissen.

„Sagt mal“, lenkte Apollon auf ein anderes Thema um, „wo ist eigentlich Tsuki-Tsuki?“

„Vorhin war er noch mit uns anderen beim Schülerrat zusammen“, überlegte Baldr laut und legte sich nachdenklich eine Hand an die Wange. „Sagte er nicht, dass er noch etwas erledigen müsse, bevor der Unterricht beginnt?“

„Huh? Ist er nicht zu Takeru zurückgegangen?“ Müde blinzelte Dionysos zu besagtem Jungen hinüber.

„Ich habe meinen Bruder seit heute Morgen nicht mehr gesehen“, erklärte dieser.

„Ich glaube, dass Tsukito-san gesagt hatte, dass er noch etwas in die Bibliothek zurückbringen müsse.“

„In die Bibliothek?!“ Für einen Moment verlor Loki das Gleichgewicht auf seinem Stuhl, welcher nach vorn wegrutschte und den Feuergott polternd zu Boden schickte. Fluchend rappelte er sich zurück auf die Beine, rieb sich den schmerzenden Hintern, während er sich mit vor Schreck geweiteten Augen an das Mädchen wandte. „Bist du dir ja auch wirklich sicher? Bist du dir sicher, dass du dich nicht nur verhört hast?“

„J-ja.“ Sie schluckte den Unmut herunter und nickte entschieden. „Ja, ich bin mir ganz sicher. Aber wieso? Was ist denn los, Loki-san?“

„Mist.“ Er wandte den Blick von ihr ab, zischte einmal zwischen den Zähnen hervor und hob sich den Daumen an den Mund, um auf dessen schwarzlackierten Fingernagel nervös herumzukauen. „Hoffentlich ist der Depp erst nach ihm dort aufgeschlagen, ansonsten ist mein schöner Streich –“

In dem Augenblick wurde die Tür zum Klassenzimmer lautstark aufgeschoben und zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf die Person, die soeben eingetreten war.

„Setzen!“, herrschte die erhobene Stimme ihres Lehrers, der offenbar keine Zeit verschwenden und so schnell es ging zur Tat schreiten wollte. Ein Berg voller Papierbögen, vermutlich die Testfragen, landeten krachend auf seinem Tisch. „Wir gehen zu Beginn wie gehabt die Anwesenheit durch, danach erfolgt der heutige Test. Wer für Störungen oder Verzögerungen dieses Tagesplans sorgt, wird umgehend der Klasse verwiesen. Haben wir uns soweit verstanden? Ich dulde keine Widerrede!“

„Nein!“, rief Loki aus, noch ehe er sich beherrschen konnte. Im selben Moment schlug er mit beiden Händen auf seinen Pult, lehnte sich vor und deutete ungläubig auf den ägyptischen Gott, wobei er stammelte: „D-das glaube ich jetzt nicht! W-wieso bist du nicht …? Ist dieser Kerl also wirklich …?“

„Loki Laevatein“, schnitt Thoths Stimme ungemütlich durch das gesamte Klassenzimmer. Seine Hand landete laut aufschlagend auf der Platte seines Lehrerpults vor ihm. „Gibt es ein Problem? Ich habe dich nicht aufgerufen!“

„J-ja! I-ich meine … nein?“ Schnell ließ er sich zurück auf seinen Platz sinken, stützte die Ellenbogen auf und raufte sich die roten Haare. Immer wieder gab er ein leises Gemurmel von sich, das wie ein „Wieso, wieso?“ klang.

„Der erste Schwachkopf ist also anwesend.“ Thoth stieß ein abfälliges Schnauben aus. In einer Geste der Selbstbeherrschung richtete er sich das Monokel vor seinem rechten Auge. „Fahren wir direkt fort. Wer als Nächstes unaufgefordert den Mund aufmacht, fl... –“

Ein weiteres Mal wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgeschoben. Weniger gewaltvoll als beim letzten Mal, doch wie schon zuvor, richteten sich auch jetzt wieder alle Augenpaare auf den Ankömmling.

„Anii*!“

Zeitgleich mit Takeru schob auch Apollon seinen Stuhl zurück und sprang auf. „Tsuki-Tsuki! Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?“

Aus den hinteren Bankreihen schlug sich Loki hörbar gegen die Stirn, ein leises „Autschi“ ausstoßend.

„Tut mir leid, dass ich zu spät zum Unterricht komme“, sprach Tsukito an Thoth gewandt und verneigte sich ehrfürchtig mit geradem Rücken vor dem Lehrer. Den aufgeregten Zurufen der Freunde schenkte er keinerlei Beachtung.

Mit seiner Geduld schon fast am Ende, wandte sich der Ägypter seinem Schüler zu. Sein griesgrämig versteinertes Gesicht lockerte sich auf, als er das seltsame Bild bemerkte, das der Mondgott vor ihm an der Tür ergab.

Überrascht oder skeptisch, das war nicht fest zu bestimmen, hob er eine Augenbraue und musterte den Jungen von oben bis unten. „Hey, Totsuka Tsukito … Kannst du mir diesen Aufzug irgendwie erklären?“

Aufgeforderter richtete sich in eine gerade Haltung auf und begegnete frei jeglicher Emotion dem abschätzigen Blick des Lehrers. Man hätte annehmen können, dass er selbst nicht bemerkt hatte, in welch unschicklicher Verfassung er vor der Klasse stand.

Der Körper des jungen Japaners war von oben bis unten mit roter Farbe bedeckt. Streichfarbe, so viel war anzunehmen, wie man sie für das Bestreichen von Wänden oder anderweitig großen Flächen verwendete. Kein anderer Farbakzent setzte sich mehr darunter durch, weder das hellviolette Haar noch die blasse Haut, auch nicht die blütenweiße Schuluniform mit ihrer goldenen Verzierung, der blauen Krawatte und der schwarzen Weste, die er darunter trug. Bis auf die graue Hose und den hohen, schwarzen Stiefeln war er über und über versehen mit diesem dominanten Rot, das ausnahmslos eines Fleckes an ihm haftete. Lediglich die goldbraunen Augen blickten in ihrer üblichen Teilnahmslosigkeit heraus.

„Ich bin in die Bibliothek gegangen“, erklärte er unbeteiligt, als erstatte er lediglich einen Zeugenbericht. „Als ich die Tür aufgeschoben und einen Schritt hineingesetzt habe, fiel es auf mich herab. Im nächsten Moment habe ich nur noch Rot vor meinen Augen gesehen.“

Im Anschluss an seiner Erzählung trat er näher auf den Lehrer zu und hielt ihm mit beiden Händen einen kompakten Stapel Bücher entgegen, die in exakt demselben Zustand waren wie er selbst. „Ich wollte diese Bücher zurückbringen. Ich konnte nicht verhindern, dass sie etwas abbekommen. Tut mir leid.“

Thoths Mundwinkel zuckte verdächtig. Während sein Blick auf dem tiefroten Stapel in Tsukitos ebenso roten Händen ruhte, verdüsterten sich seine Gesichtszüge von Sekunde zu Sekunde mehr.

„Raus“, bebte seine Stimme bedrohlich. Er ließ dieser Aufforderung eine ausladende Armbewegung in Richtung Tür folgen. „Dafür, dass du zu spät zum Unterricht erschienen bist, verweise ich dich des Klassenzimmers. Raus!“

„Thoth-sama!“, sprang Yui von ihrem Platz auf. „Das können Sie nicht tun! Er kann doch nichts dafür. Er –“

„Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt!“, schnitt er ihr scharf das Wort ab.

„Aber das ist nicht fair …“

„Als Schülervorsitzender muss ich ebenfalls widersprechen!“, versuchte Apollon das Mädchen zu unterstützen, indem er ebenfalls das Wort erhob. „Tsuki-Tsuki ist –“

„Ist heute Tag der Heuschreckenplage?!“, herrschte Thoth zurück. Wütend schlug er mit beiden Händen auf seinem Lehrerpult auf, aus seinen dunkelblauen Augen blitzte es gefährlich. „Ihr könnt ihm gern Gesellschaft auf dem Schulflur leisten. Ich habe kein Problem damit, euch allesamt durchfallen zu lassen und euch an diesen Ort für die Ewigkeit zu binden!“

„Anii!“ In der Klasse war das Chaos bereits ausgebrochen, so hielt Takeru nichts mehr auf seinem Platz und er eilte an die Seite seines unglücklichen Bruders. „Anii, ist alles in Ordnung mit dir? Ist dir etwas passiert? Bist du verletzt?“

„Mir geht es gut“, sprach er genauso anteilslos wie zuvor schon.

„Wer hat dir das nur …“ Die Antwort auf diese unvollständige Frage lag auf der Hand. Sein Blick heftete sich instant auf den Feuergott in den hinteren Bankreihen. „Loki, du verdammter Bastard! Ist das dein Werk? Hast du das meinem Bruder angetan?!“

„Huh, ich?“ Der junge Norde mit dem feuerroten Haar setzte eine Engelsmiene auf. „Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich hatte nicht vor, ihn damit zu treffen, wenn du verstehst“, säuselte er scheinheilig zu ihm herüber.

„Loki“, sprach Baldr wehmütig zu seinem Freund und schenkte ihm einen enttäuschten Blick. „Hast wirklich du das getan?“

„Hey, was soll dieser Ausdruck in deiner Stimme, Baldr?“ Jeglicher Frohsinn entwich ihm, als er den Blickkontakt zu dem Freund erwiderte. „Es ist nicht so, als hätte ich ihn umgebracht. Überhaupt, ein so läppischer, harmloser Kinderstreich bringt keinen um.“

„Wie kannst du es nur …?!“, polterte Takerus erboste Stimme durch den gesamten Raum, wurde jedoch in jeglicher weiterer Ausführung unterbrochen, als ein lauter Schlag gegen die Tafel für ein allgemeines Aufschrecken unter den Anwesenden sorgte.

„Genug!“, verkündete Thoth, donnernd. „Der Unterricht ist gestrichen! Ihr pubertären Gören mit dem Hirn einer Erbse versteht den Ernst der Lage nicht. Ich bin es leid, mich mit euch Nichtsnutzen herumzuplagen.

Loki Laevatein!“ Er richtete seinen Arm mit dem ausgestreckten Zeigefinger unmissverständlich auf den nordischen Feuergott. „Du kommst mit mir!“

„Eeeeh?“, stieß dieser einen gedehnten Laut der Ungläubigkeit aus. „Aber wieso denn ich? Ich habe doch gar nichts –“

„Ich dulde keine Widerrede! Sofort, Schwachkopf!“

„Moah …“ Widerwillig schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. Die Hände lustlos in den Hosentaschen vergraben, setzte er sich in Bewegung, um den ägyptischen Gott nicht noch mehr zu verärgern, als er es ohnehin schon getan hatte. Reue empfand er keine, sein Ziel hatte er dennoch erreicht. Wenn auch nicht auf die Art, auf die er es geplant hatte.

„Hey“, sprach ihn Takeru von der Seite an, gerade als Loki an ihm vorbei auf den Schulflur treten wollte. „Entschuldige dich gefälligst bei meinem Bruder!“

„Wieso?“, warf er ungerührt zurück und schenkte ihm einen verständnislosen Blick. „Ist doch nicht meine Schuld, wenn er mir in die Quere kommt und alles vermasselt.“

„Was sagst du?!“

„Na, na, reg dich nicht künstlich auf“, winkte Loki ab und zuckte halbherzig mit den Schultern. Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen hob er den Zeigefinger empor. „Davon abgesehen, was dein lieber Bruder da an sich hat, ist keine gewöhnliche Farbe. Es ist –“

„Genug Geschwätz!“, fuhr ihm Thoth dazwischen, der ihn wenig geduldig voranstieß. Bis zum Äußersten gereizt wandte er sich an Takeru: „Wenn euer kleiner Kaffeeklatsch nicht warten kann, kannst du dich genauso gut nützlich machen. Mitkommen!“

„Was?! A-aber –“

„Muss ich mich erst wiederholen?!“

Takeru wandte den Blick ab, ein protestierendes Aufbrummen unterdrückend. Wütend warf er einen Blick auf den Schalk, welcher wenig Bedauern zeigte und ihm nur schadenfroh die Zunge herausstreckte. Frei nach dem Motto: „Mitgehangen, mitgefangen.“

„Anii, es tut mir leid …“

„Mach dir keine Sorgen“, war es Baldr, der sich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen und Thor im Rücken zu den japanischen Brüdern gesellte. „Wir werden uns um Totsuka-san kümmern.“

Zweifelnd sah Takeru zu dem Norden mit dem langen, hellblonden Haar auf. Es widerstrebte ihm sichtlich, seinen Bruder in der Obhut anderer zu überlassen, dennoch nickte er langsam.

„Ich vertrau ihn euch an“, gab er nach, verbeugte sich flüchtig, ehe er sich noch einmal an Tsukito wandte. „Ich komm‘ zu dir, sobald ich kann. Solange pass bitte auf dich auf.“

Tsukito nickte, schon wurden Takeru und Loki unsanft vorangeschoben und aus dem Klassenraum gedrängt. Thoths wüstes Geschimpfe, vermischt mit Lokis Protesten und Takerus Schuldzuweisungen, war noch lange Zeit zu hören, während sie sich entfernten.

„Also“, begann Baldr zwanglos und wandte sich Tsukito zu, „am besten beginnen wir, indem wir dich sauber machen. Würdest du mich bitte zu den Herrentoiletten begleiten?“

Erneut nickte er anteilslos, doch dieser Plan sollte bald scheitern, kaum dass sie sich der Tür zugewandt hatten. Da der heutige Unterricht offiziell abgesagt worden war, sahen sich auch die übrigen Schüler nicht länger in der Pflicht, auf ihren Plätzen zu verweilen, und schon hatten sie Baldr wie eine dichte Traube umgeben, die es ihm unmöglich machte, sich von seinem Fleck zu bewegen.

„Beruhigt euch, beruhigt euch“, hörte man Apollon von der anderen Seite rufen, der verzweifelt versuchte, die übrigen Schüler zu beruhigen, die ihn als Vorsitzenden des Schülerrates umzingelt und begonnen hatten, ihn mit aufdringlichen Fragen zu löchern, was sie denn nun tun sollten. Allein war er mit der chaotischen Situation überfordert, weswegen Yui versuchte, ihn nach Leibeskräften und mit gewandter Überredungskunst zu unterstützen.

„Scheint, als bliebe es an mir hängen“, bemerkte Thor nüchtern, als er feststellte, dass sich Dionysos an seinem Platz bereits wieder dem Schlaf der Gerechten übergeben hatte und Hades in seinem üblichen Hapern gefangen war, das ihn daran hinderte, irgendetwas zu tun.

Geschlagen seufzte er, woraufhin er sich Tsukito zuwandte. Zwei ausdruckslose Augenpaare trafen aufeinander. „Ich helfe dir, die Farbe wieder loszubekommen. Ich kenne Lokis Streiche von klein auf und weiß, was zu tun ist.“

Abermals nickte Tsukito. „Gut. Was soll ich tun?“

„Zuerst würde ich dich bitten, deine Kleider zu wechseln. Anschließend kommst du mit der betroffenen Kleidung und allem anderen zu uns aufs Zimmer.“

 

Wenig später klopfte es an der Tür, die zu den Wohnräumen der nordischen Götter führte. Sie wurde nach innen geöffnet und zum zweiten Mal an diesem frühen Tag trafen zwei ausdruckslose Augenpaare aufeinander.

„Du bist es“, stellte Thor trocken fest und trat zur Seite, um den Besucher hereinzulassen.

„Danke“, verneigte sich Tsukito höflich und trat ohne Umschweife ein. Derweil hatte er, wie ihm angeraten, seine Schuluniform in seine Alltagskleidung umgewechselt und trug das rote Kleidungsbündel unter seinem Arm. In der anderen Hand hielt er seine Schultasche, die ebenfalls Zeuge seines morgendlichen Unfalls trug und nichts mehr von ihrem tiefen Dunkelblau aufwies. Das Rot dominierte noch immer: an dem Stoff, an Tsukitos Haar sowie auf seiner Haut von Gesicht, Halsbereich und Händen. Es sah albern aus. Jetzt, da er frische Kleidung und somit wieder etwas mehr Farbe an sich trug, noch mehr als zuvor.

„Ich habe versucht, es abzuwaschen“, erklärte er, während er dem nordischen Donnergott in den gemeinsamen Wohnbereich folgte. „Es ging nicht ab. Weder mit kaltem noch mit warmen Wasser. Seife hat auch nichts genützt.“

„Wundert mich nicht“, entgegnete Thor wenig überrascht, ohne ihn anzusehen. „Was du dort an dir hast, ist keine gewöhnliche Farbe. Ich erkenne es am Geruch. Es riecht nach Gummi.“

Dem stillen Wissensdrang folgend, hob sich Tsukito das rote Kleiderbündel ans Gesicht und roch an dem von Rot getränkten Stoff. „Gummi“, wiederholte er leise. – Das war es also, so nannte man diesen eigentümlichen Geruch. Er speicherte diese neue Information in seinem Gedächtnis ab.

„Setz dich“, forderte Thor ihn auf und deutete auf einen der gepolsterten Holzstühle, die um den runden Tisch mittig des Gemeinschaftsraumes aufgestellt waren. „Ich bereite eben alles Notwendige vor. Warte solange hier. Deine Sachen nehme ich mit. Ich bin in ein paar Minuten zurück.“

Wortlos nickte Tsukito und überreichte Thor sein Hab und Gut. Sobald dieser es entgegengenommen hatte, wandte er sich ab und verschwand zu einer Seite des Raumes hinter einer Tür. Stille kehrte im Zimmer ein.

Es war das erste Mal, dass Tsukito einen der anderen Wohnräume seiner Schulkameraden, die sie zu diesem Zeitpunkt waren, betreten hatte. Leider hielten sich Interesse und Neugierde bei ihm generell in Grenzen.

Ihm waren natürlich sofort einige Besonderheiten aufgefallen. Offensichtliche Dinge wie die überwiegend helle Raumgestaltung mit dunklen Veredelungen, der dunkelrot ausgelegte Teppichboden und einige typisch westliche Einrichtungen, die dem zusätzlichen Komfort dienten. Alles in einem war der Wohnbereich der nordischen Götter anders als jener, den er mit seinem Bruder Takeru im typisch traditionell-japanischen Stil bewohnte. Ungewohnt, befremdlich.

Es interessierte ihn wenig. Statt seinen Blick in der neuen Umgebung schweifen zu lassen, saß er nur reglos auf seinem Stuhl. Wartend, wie man es ihm aufgetragen hatte.

 

Minuten verstrichen, bis das Klacken einer Tür zu hören war, welchem schwerfällige Schritte folgten.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, hörte Tsukito Thor sagen und hob seinen Blick zu dem hochgewachsenen Norden, der vor ihm zum Stehen gekommen war. In seinen Händen hielt er eine Schüssel mit einem Gegenstand darin, wovon er nur den hölzernen Griff erkennen konnte. Außerdem trug er einen durchsichtigen Überwurf bei sich, welchen er ihm reichte.

„Zieh das über“, forderte er ihn auf und zog sich einen der freien Stühle heran, auf welchen er sich vor dem Japaner sinken ließ. „Ich schätze, ich muss mich bei dir für Loki entschuldigen. Sein Streich sollte nicht dir gelten.“

Ohne unnötiges Zögern oder etwas auf das Gesagte zu erwidern, schob Tsukito seinen Kopf durch das Loch des Überwurfs. Thor half ihm, indem er den Bund über die eingelassene Schnüre festzog, sodass die Plasteschürze fest, aber nicht drückend saß und die Kleidung schützend bedeckte.

„Leg bitte die Ärmel zurück und streck mir deine Hand entgegen.“

Er kam der Aufforderung nach. Mit ruhiger Hand krempelte er den beige-weiß verlaufenden Stoff seines Alltagskimonos zurück, wodurch die blasse Haut seiner Unterarme in Erscheinung trat. Neben dem intensiven Rot, das seine Hände bis zu jener Stelle am Handgelenk bedeckte, wo die Ärmel seiner Schuluniform endeten, bildete sie einen deutlich abhebenden Kontrast.

Thor nahm die Hand entgegen, die der Japaner ihm reichte, und hielt sie am Gelenk im festen Griff. Für einen kurzen Moment ließ er den Blick auf den langen, schlanken Fingern ruhen. Tsukitos Hand war wesentlich kleiner als seine eigene, das Handgelenk ungewöhnlich schmal für das eines Mannes. Es wirkte recht feminin auf ihn, was ihn verblüffte. Vielleicht kam ihm das aber auch nur so vor und es war für japanische Verhältnisse ganz normal, das wusste er nicht. Er ließ es auf diesem Gedanken beruhen.

Mit der freien Hand langte er nach dem Holzgriff in der Schüssel, welche er vor sich auf dem Tisch abgestellt hatte. An dem breiten Pinsel haftete eine dicke, weiße Flüssigkeit, die den Anschein machte, als handle es sich dabei ebenfalls um Farbe.

„Kalt“, bemerkte Tsukito monoton, als sein Gegenüber begonnen hatte, die weiße Flüssigkeit auf seiner Haut aufzutragen. Dicht und nicht zu zimperlich, bis sie die rote Farbe unter sich verdeckte. Über seinem Unterarm breitete sich eine Gänsehaut aus.

„Lässt sich nicht vermeiden“, entgegnete Thor ruhig und setzte seine Arbeit fort. „Die Masse darf beim Auftragen 13° Celsius nicht übersteigen. Aber keine Sorge, du wirst dich schnell daran gewöhnen. Durch deine Körperwärme wird es in wenigen Sekunden nicht mehr so schlimm sein. Zum Glück sind nur vereinzelte Bereiche deines Körpers betroffen.“

„Was ist das? Farbe?“

„Deine andere Hand“, forderte er, nachdem er die linke Hand Tsukitos fertig behandelt hatte. „Halte sie bitte in der Luft. Es muss einwirken.“

Tsukito nickte verstehend, reichte dem Norden die andere Hand und ließ die fertige entspannt über der Stuhlarmlehne hängen.

„Um es kurz zu machen“, kam Thor auf die Frage zurück, „es handelt sich um ein spezielles Gemisch aus konzentriertem Kalziumpulver. Es ist ungefährlich, zieht in Mischkunstmittel ein und löst sie. Das ideale Gegenmittel für Schlangenfarbe.“

„Schlangenfarbe?“

„Ja. Loki verwendet sie gern für seine Streiche, um anderen einen Schrecken einzujagen. Lässt sie glauben, es handle sich um richtige Farbe, die sie nicht mehr losbekommen können.“

„Was ist das?“

„Schließ die Augen“, wies Thor erneut an, gab die fertige Hand frei und erhob sich. Aus der Jackentasche seiner Schuluniform zog er eine durchsichtige Haube heraus und machte sich daran, sie dem Japaner aufzusetzen. Dabei gab er Acht, möglichst alle Haare zu erwischen, die zu dem Zeitpunkt nichts von ihrer eigentlichen Farbe überhatten und wie eine einzige rote, pappige Masse aneinanderklebten.

Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren und er noch einmal alles überprüft hatte, machte er sich schließlich daran, das Gesicht des Mondgottes zu behandeln. Angefangen am Kinn.

„Schlangenfarbe, so nennt Loki es. Es handelt sich um eine künstliche Farbe. Sie verhält sich wie Schlangenhaut, bleibt für einige Tage haften, bis sie sich von selbst wieder löst und abfällt. Waschen und Schrubben bewirkt rein gar nichts, man muss warten, bis die Zeit verstrichen ist.

Eine Kalziumbehandlung beschleunigt diesen Vorgang. Wärme lässt die Farbe haften, durch die niedrige Temperatur der Masse wird eine Art Erstarrung ausgelöst. Das Kalzium zieht ein, löst die Stoffe auf und lockert so die Farbschicht. Später, wenn die Masse gehärtet ist, kann sie mitsamt der Farbe abgestreift werden.“

„Schreib es mir auf.“

„Hm?“

„Ich kann auf die Art meine Hände nicht bedienen“, erklärte Tsukito und nickte vielsagend zu seinen eingeweißten Händen. „Deswegen schreib du es bitte für mich auf.“

„Beweg deinen Kopf nicht.“ Thor trug neue Masse auf seinen Pinsel auf und setzte seine Arbeit an den Wangenkonturen des Japaners fort. „Wozu willst du das aufgeschrieben haben? Das sind keine notwendigen Informationen, die du irgendwann noch einmal gebrauchen könntest.“

„Man kann so etwas nie vorher wissen.“

„Beweg dich bitte nicht.“

 

Die nächsten zehn Minuten setzte Thor seine Arbeit fort. Sorgfältig bestrich er das Gesicht mit der weißen Masse und ging über zum Hals-Nacken-Bereich. Er ließ nicht den kleinsten Millimeter aus, bis nichts mehr von der roten Farbe zu sehen und komplett von dichtem Weiß überdeckt war.

„Lass es noch ein paar Minuten trocknen“, riet er, wobei er die bis auf einen kleinen Rest geleerte Schüssel auf dem Tisch abstellte. Leise seufzend ließ er sich auf seinen Stuhl sinken, verschnaufte einen Moment und nahm sich die Zeit, sich sein Werk noch einmal ausgiebig zu betrachten.

Tsukito schlug derweil die Augen auf. Zum wiederholten Male an diesem Tag begegneten sich die beiden Augenpaare. Ausdruckslos, nichtssagend.

„Was ist?“, war es Tsukito, der nach einiger Zeit das andauernde Schweigen zwischen ihnen brach. Noch immer hielten sie den Blickkontakt.

„Nichts“, entgegnete Thor ruhig. Er erhob sich von seinem Platz, langte nach der Schüssel und machte Anstalten, sich zu entfernen. „Ich dachte nur, dass die Situation seltsam ist.“

„So?“

Er nickte.

In der Tat war es seltsam. Thor konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so viel Zeit mit jemand anderem als Loki und Baldr verbracht zu haben. Mehr noch, er kam auch nie jemandem wirklich nahe. Nicht, dass ihn das störte; er war es gewohnt. Umso mehr irritierte ihn diese Gesamtsituation, die er Loki zu verdanken hatte – mehr oder minder.

„Du kannst dich jetzt waschen gehen“, sprach er zu Tsukito, ohne sich nach ihm umzudrehen. „Das Badezimmer ist dort drüben. Ich habe dir schon alles bereitgestellt. Es steht eine graue Sprühflasche mit weißem Etikett am Waschbecken, verwende sie bitte für deine Haare. Sie müssen gleichmäßig eingesprüht werden, bis ein Film darüberliegt. Fünf Minuten einwirken lassen, anschließend mit kaltem Wasser gründlich ausspülen. Wiederhole das bei Bedarf noch ein, zwei Mal, dann dürfte alle Farbe aus den Haaren raus sein.“

„In Ordnung.“

„Solltest du Hilfe brauchen, ruf mich.“

„Verstanden.“

 

Thor seufzte leise.

Und das alles nur, weil Loki den Test nicht schreiben wollte.

 

 

* „Anii“ oder „Ani“ ist die Kurzform zu „Aniki“, was so viel  wie „großer Bruder“ bedeutet. Um Takerus Beziehung zu Tsukito besser  darzustellen, wird diese japanische Ansprache gelegentlich übernommen, da im  Deutschen seltener nach dem „großen Bruder“ ausgerufen wird.

Mein Geheimnis, dein Geheimnis (Redshipping)

„Hmm, das sieht gut aus.“

Mit einem fröhlichen Summen auf den Lippen trat Dionysos an die Pumpe heran und stellte sie über einen simplen Knopfdruck aus. Die Maschine fuhr sich herunter, das Surren wurde leiser, bis es erstarb und das Display verkündete, dass das Gerät nun ausgeschaltet werden dürfe. Was er direkt tat.

Damit war das Umfüllen des heranreifenden Weines von einem Fass in ein frisches erfolgreich beendet. Über den Tag verteilt hatte er alle fünf dieser verschieden gefertigten Holzfässer bedienen können, sodass er stolz von sich behaupten konnte, fleißig und produktiv gewesen zu sein. Ja, er war äußerst zufrieden mit sich selbst.

Er war dankbar für diese neckische Erfindung der Menschen und für den Einkaufsladen der Schule, der wirklich alles beschaffen konnte, was man sich wünschte. Kaum auszudenken, wie lange er anderenfalls für diese Arbeit gebraucht hätte, die notwendig war, wenn er mehr Qualität für den eigens erarbeiteten Wein erzielen wollte. So jedoch hatte es ihm wenig Umstände bereitet und der Aufwand war minimalst gewesen.

Standen nur noch die Aufräumarbeiten an.

„Na, dann mal los!“

 

Als Dionysos mit seinem Tageswerk fertig war, seinen geheimen Weinkeller verlassen und die Tür hinter sich verriegelt hatte, war es bereits später Abend. Die Sonne war vom Horizont gewichen, den jetzt die schönsten und hellsten Sterne zierten. Onkel Hades wäre sicherlich überaus entzückt von diesem herrlichen Anblick.

„Schon so spät“, sprach er leise zu sich selbst, ließ die Schlüssel zu seinem Kellerraum in seiner Hosentasche verschwinden und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg in Richtung Wohngebäude. Die anderen würden mit Sicherheit schon dort sein und sich fragen, wo er so lange blieb. Er konnte sich ausmalen, welche Predigt ihn von Hades erwarten würde, sollte er diesem in die Arme laufen. Sein Onkel versuchte noch immer, ihm gut zuzureden und ihn eines Besseren zu belehren, was seine Schulbeteiligung anbelangte. Der Herrscher der Unterwelt würde noch sehr viel mehr von dieser Geduld brauchen, um ihn davon überzeugen zu können, dass etwas mehr Aufopferung für den Unterricht nur gut für ihn wäre. Und für sie alle, die sie voneinander abhängig waren.

„Allein der Gedanke an Unterricht macht mich müde“, brummte er unwillig, stieß ein herzhaftes Gähnen aus und beschleunigte seinen Schritt. So oder so, im Moment war es wichtiger, dass er sich beeilte und schon einmal Gedanken darum machte, wie er Hades und Apollon wegen seines Verspätens besänftigen konnte.

 

Er bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde.

Hinter den weiten, hohen Fensterscheiben verborgen, war eine weitere Person zu dieser späten Stunde wach und behielt das Schulgelände im Blick. Deren Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie, ehe sie den Fenstervorhang zurückfallen ließ und sich von ihrem Posten abwandte.

 

 

Das kontinuierliche Klackern von harter Kreide auf der großen Tafel, während Thoth eifrig und ohne Unterbrechung Notizen für die Schüler aufschrieb, vermischt mit dessen pausenloser Unterredung zu irgendwelchem Unterrichtsstoff und den zeitgleichen Schreibgeräuschen der Klassenkameraden, die brav Aufzeichnungen in ihre Hefte übernahmen, wirkten monoton und einschläfernd. Wie immer.

Dionysos wusste nicht wirklich, um welches Thema es heute ging. Zu Beginn der Stunde hatte er noch mitbekommen, wie ihr ägyptischer Lehrer etwas von »Energiehaushaltsplan des menschlichen Körpers« gesagt hatte, im nächsten Moment lag sein Kopf bereits auf seinen Armen auf seinem Pult. Zu viel Gerede, zu viele Diagramme mit irgendwelchen Kurven und Zahlen, zu viele … einfach »zu viel« eben. Viel zu viel.

Energie, ja. Davon hatte er wohl zu wenig. Viel zu wenig, um sie in den Unterricht zu investieren. Er brauchte sie für wichtigere, sinnvollere Dinge.

Für Dinge, die mehr Spaß machten und sich dafür erkenntlich zeigten, dass er sich ihnen zuwandte. Seinen Garten, zum Beispiel, mit all den vielen Pflanzen, die er mühevoll mit eigenen Händen hochgezogen hatte. Oder den Schülerrat, für den er zwar nicht immer viel beisteuern konnte, der aber zumindest Spaß machte, wenn er den anderen bei ihren Planungen zuhören und eigene Gedankensblitze in den Raum werfen konnte.

Fader Unterricht hingegen zählte nicht dazu. Er wusste, dass er keine wirklich andere Wahl hatte, als sich an ihm zu beteiligen; wirklich aufraffen, dem aktiv nachzukommen, konnte er sich jedoch nicht.

Vielleicht, wenn eine Tanzauflage dabei wäre. Ein abwechslungsreiches Buffet, fröhliche Musik, mehr Gelächter. Und vor allem: Wein.

Auf seinem Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Leise brummelte er gegen den Stoff seiner Ärmel.

Rotwein, Weißwein, Obstwein, Schaumwein, Branntwein … Ganz egal, er war nicht zimperlich. Ihm war alles davon recht. Jede Sorte hatte seinen eigenen, besonderen Reiz und Charme. Der eine war mehr umschmeichelnd, der Nächste neckisch. Einige luden zur Entspannung ein, andere zur Ausgelassenheit.

Wein. Wein war etwas Tolles. Die höchste Kunst. Anbetungswürdig.

Ihm lief förmlich das Wasser im Mund zusammen. „Mh, lass mich den probieren. Er sieht so gut aus … So eine schöne Farbe, mhh.“

„Dee-Dee!“ Apollon stieß lediglich ein leises Flüstern in Richtung seines Bruders aus. Solange der Unterricht lief, konnte er nichts tun, ohne Ärger mit ihrem Lehrer zu riskieren. Dafür saß er zu weit weg. „Schon wieder? Das ist schlecht, ganz schlecht ist das …“

„Thyrsos“, versuchte Baldr sein Glück, der rechts von ihm an seinem eigenen Pult saß. Der Norde hatte den missbilligenden Blick ihres Lehrers bemerkt, den er dem Schlafenden über die Schulter zugeworfen hatte, ehe er in seinem Unterricht fortfuhr, als sei nichts. Doch seine innere Zeitbombe tickte, dazu gab es keinerlei Zweifel.

„Lass ihn“, flötete Loki hinter dem Freund und kicherte sich amüsiert ins Fäustchen. „Lass uns sehen, wie lange es dieses Mal dauert, kihihi.“

„Thyrsos, sei wenigstens etwas leiser. Caduceus-sensei wird sonst –“

„Haa, was für ein toller Jahrgang! Schenkt an alle aus, den muss jeder kosten!“

Das war zu viel.

Thoth wandte sich von der Tafel ab, steuerte auf direktem Wege auf den Platz des Schlafredners zu und bäumte sich vor ihm auf. Natürlich folgte darauf keine Reaktion, so holte er aus und schlug kraftvoll mit beiden Händen auf der Tischplatte auf, die derzeit als Schlafunterlage diente. „Dionysos Thyrsos!“

Besagter schrak auf, warf sich in seinem Stuhl zurück, der kurzzeitig zu kippen drohte, und blickte sich orientierungslos zu allen Seiten um. „W-was? Was?!“

„Beantworte die Frage!“

„W-welche Frage?“, wandte er sich zögerlich dem Lehrer zu und versuchte sich an einem herunterspielenden Lächeln, um dem Zorn, der ihm deutlich in diesen tiefblauen Augen begegnete, zu entgehen.

„Hast du überhaupt irgendetwas von dem mitbekommen, was ich euch die ganze Zeit erklärt habe?“ Das Beben in seiner Stimme war deutlich herauszuhören, als Thoth noch versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren.

„E-eh …“

Wie so meist war das Glück auf der Seite der Narren und gewährte ihm Rettung, indem die Schulglocke das Ende des heutigen Unterrichts einläutete. Dennoch blieb es still im Klassenzimmer. Jeder der Anwesenden schien den Atem anzuhalten. Die Atmosphäre im Raum war zum Zerreißen angespannt.

„Der Unterricht ist beendet“, sprach Thoth beherrscht, mit einer deutlichen Unterkühlung in seiner Stimme. „Merkt euch das heute Gelernte gut, es wird im nächsten Test vorkommen. Geht!“

Damit ließ er von der Tischplatte ab, erhob sich und gewährte Dionysos einen kurzen Moment, in dem er erleichtert aufatmen konnte. Doch er war mit dem jungen Gott noch lange nicht fertig. „Dionysos Thyrsos, du kommst mit mir.“

Oh, das konnte nichts Gutes bedeuten. Dionysos spürte es instinktiv, ihm lief ein eisiger Schauer den Rücken hinunter. Die Ruhe in Thoths Stimme war tückisch, bestimmt und ließ keinerlei Widerrede zu. Er ahnte, dass er mit seiner heutigen Teilnahmslosigkeit einen Geduldsfaden zu viel bei dem Ägypter hatte reißen lassen.

 

„Reiß dich am Riemen!“

Dionysos kniff reflexartig die Augen zusammen, als der Arm des Ägypters an seinem Kopf vorbeischnellte und mit der Hand gegen die Wand hinter ihm aufschlug, wo er sich abstemmte. Er hatte diese Haltung ihres Lehrers schon einmal gegenüber von Yui gesehen und darüber geschmunzelt, weil das Mädchen einen so verängstigten Gesichtsausdruck getragen hatte. Doch jetzt, da er sich selbst der Nähe des Ägypters stellen musste, war die Situation nicht mehr so lustig. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich unbehaglich, als stünde er einem Titanen gegenüber.

Dieser Vergleich schien ihm nicht so weit hergeholt, denn in den blauen Augen Thoths blitzte es zornig, geradezu feindselig.

„Hältst du das für ein Spiel?“, zischte er ihm haltlos zu. Eine Kobra hätte dagegen wie ein sanftes Hauskätzchen ausgesehen. „Du scheinst den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Wenn es mir nicht gelingt, euch Hohlköpfen die Menschen nahezubringen, stecken wir alle für immer an diesem Ort fest. Die anderen Idioten tun zumindest so, als würde es sie interessieren, aber du …!“

„Tut mir leid“, versuchte sich Dionysos an einem schiefen Lächeln und zwängte die Hände vor seinen Körper, um einen Sicherheitsabstand zwischen sich und dem Ägypter zu gewährleisten. Thoth räumte ihm keinen halben Meter Raum zwischen ihnen ein, das war ihm entschieden zu nahe. „Ich versuch’s ja, ehrlich, aber Unterricht ermüdet mich. Ich bin kein Mann der Theorie, ich würde lieber –“

„Was du würdest, interessiert hier nicht!“, herrschte Thoth ihn an und schnitt ihm dabei das Wort ab. „Solange du hier bist, hast du dich zu beugen und zu tun, was von dir erwartet wird. Haben wir uns verstanden?! Denkst du allen Ernstes, ich gebe mich aus Spaß an der Freude mit euch Versagern ab? Tze, ich hätte wahrlich Besseres zu tun, als mich mit solchen Spatzenhirnen von Möchtegerngöttern abzugeben und an eurer Nutzlosigkeit meine wertvolle Zeit zu verschwenden.“

Dionysos‘ Miene verhärtete sich, als ihm ein Kommentar zu den Beleidigungen ihres Lehrers auf der Zunge brannte, doch er war nicht dumm und schluckte seinen aufkeimenden Unmut hinunter. Sicher, Thoth war vermutlich ebenso unfreiwillig an diesem Ort wie sie alle, jedoch machte er im Alltag weit weniger den Anschein, als würde es ihn großartig kümmern. Dionysos bezweifelte auch dessen Aussage, dass der Gott des Wissens tatsächlich Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste, aber er war überlegt genug, diesen Gedanken nicht laut auszusprechen. Schon gar nicht in dieser verzwickten Situation, in der er sich im Augenblick befand und nicht wusste, wie er sich richtig verhalten sollte, um seine Lage nicht noch mehr zu verschlimmern, gleichzeitig nicht wie ein Weichling dazustehen, der vor dem ägyptischen Gott kuschte.

Er hob die Hände ein Stück höher zu einer beschwichtigenden Geste. Bemüht, sich nichts von seinen Gedanken anmerken zu lassen und es mit einem Lächeln zu übertünchen. „Schon gut, schon gut. Ich werde mich künftig mehr bemühen.“ – Auch wenn er nichts versprechen und vermutlich wenig an seiner Einstellung ändern konnte.

Thoth zog die Augenbrauen tief. „Du tust besser daran. Anderenfalls muss ich andere Saiten aufziehen.“

„Hö?“

„Du bist nicht sonderlich helle, hm?“ Daraufhin tat er einen Schritt näher auf den Griechen zu, bis dessen Knoten seiner um die Hüfte gebundenen Schuluniform an seinem Körper zu spüren war.

Dionysos folgte einem natürlichen Fluchtreflex und drängte sich dichter an die Wand in seinem Rücken. Er war zwischen den Armen des Ägypters eingekeilt und verfluchte den Moment, in dem er realisierte, dass er jeglicher Rückzugsmöglichkeit vor dem höher gewachsenen Mann beraubt war.

Thoth derweil neigte sein Gesicht dichter an ihn heran. „Vielleicht tätest du gut daran, deinen mickrigen Geist nicht jedes Mal bis in die späte Stunde in diesen Dünsten zu umnachten und noch mehr zu minimalisieren. Die Ruhestunden sind zum Ruhen da, nicht um sich fahren zu lassen und das letzte bisschen Resthirn in Kübeln zu versenken.“

Dionysos‘ Augen weiteten sich überrascht. Er wagte nicht zu atmen. Die Erkenntnis schlich sich wie ein ungeheißener Besucher in sein Bewusstsein: Thoth hatte ihn gesehen. Er wusste über alles Bescheid.

Die Veränderung an dem Fruchtbarkeitsgott blieb nicht unbemerkt. Thoth wusste sofort, dass er den richtigen Nerv getroffen und unwiderruflich die Oberhand errungen hatte.

Wissend spielte er ein selbstsicheres Grinsen auf. „Dir ist hoffentlich bewusst, dass du damit gegen die Schulordnung verstößt. Nun, mir soll es egal sein, wenn du der Meinung bist, die anderen Versager in diese Angelegenheit mit hineinzuziehen. Ob so oder so, die Konsequenz für deine Gedankenlosigkeit tragt ihr alle. Allerdings … diesen Frevel der Ignoranz in meinem Unterricht kann ich nicht tolerieren!“

Dionysos schluckte.

„Den Schlüssel.“

„Bitte?“

„Wenn ich mich nicht täusche, bist du einer von Zeus‘ Sprösslingen“, fuhr Thoth vielsagend fort. Die Ruhe in seiner Stimme war noch unheimlicher als sein aufbrausendes Temperament. Unterschwellig bedrohlich.

Dionysos‘ Miene versteinerte sich. Seine Lippen formten eine dünne Linie. „Versuchst du, mich zu erpressen?“, hinterfragte er flüsternd die Absichten des Lehrers. Ihm war egal, ob er sich damit unhöflich oder gar aufmüpfig verhielt; er hatte jedes gute Recht dazu.

„In einer Woche findet der nächste Test statt“, sprach Thoth bedeutsam, ohne auf die Frage des Griechen einzugehen. „Besser, du überzeugst mich mit Ergebnissen. Bis dahin übernehme ich die Gewährleistung, dass du dich an die Regeln hältst. Den Schlüssel!“

Zähneknirschend senkte Dionysos die Hand und ließ sie in der Hosentasche verschwinden, in der er den Schlüssel zu seinem Weinkeller aufbewahrte. Es widerstrebte ihm zutiefst und ihm missfiel diese Lage sichtlich, doch er besaß genug Vorstellungsvermögen, um nicht gegen den Ägypter aufzubegehren. Wer wusste schon, ob er nicht im Falle einer Erhebung seine Drohung – wenn diese auch unausgesprochen war – wahrmachen und ihn an Zeus verraten würde? In diesem Fall wäre nicht nur er, sondern sie alle in großen Schwierigkeiten. Das konnte er nicht verantworten.

Sich jeglichen Kommentar und jegliche überflüssige Regung verkneifend, händigte er den geforderten Tribut aus. Kaum dass Thoth den Schlüssel entgegengenommen hatte, ließ er von ihm ab und wandte sich um.

„Die Idealtemperatur beträgt 30°C“, rief Dionysos ihm schnell nach. Er ballte die Hände zu Fäusten, rang sichtlich mit sich, ehe er sich zu dem Ägypter drehte, der ihm längst den Rücken zugewandt hatte. „Sie muss regelmäßig kontrolliert werden. Schwankt die Temperatur während des Gärungsprozesses zu stark, büße ich an Geschmacksqualität ein.“

„Hmpf.“

Ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren, entfernte sich Thoth auf dem Schulflur.

 

 

Der erste Tag fiel Dionysos schwer. Der zweite war ein Akt reiner Selbstbeherrschung. Der dritte war … die Hölle!

Den anderen war natürlich schnell aufgefallen, dass sich etwas an der Einstellung des Fruchtbarkeitgottes verändert hatte. Es war das erste Mal, dass man ihn tatsächlich bemüht im Unterricht erlebte. Das Heft vor ihm aufgeschlagen, schrieb er fleißig sämtliche Notizen mit, die Thoth ihnen an der Tafel vorgab. Nach dem Unterricht sah man ihn immer seltener in seinem Garten, wo er lediglich die notwendigen Versorgungs- und Pflegearbeiten tätigte. Dafür zog er sich früher in die Wohnräume der griechischen Götter zurück und ging den Unterrichtsstoff auf selbständiger Basis durch, um sich damit auseinanderzusetzen.

Es sorgte für viel Gesprächsstoff. Wann immer er von den Freunden darauf angesprochen wurde, wie es zu diesem erheblichen Wandel gekommen sei, hatte er Mühe, ihnen nichts von seiner Unterredung mit dem Lehrer zu erzählen. Besonders Apollon machte es ihm schwer, kein Wort zu seiner misslichen Lage zu verlieren, indem er ihn rund um die Uhr mit Fragen löcherte und die wildesten Vermutungen aufstellte, die meist so weit danebenzielten, dass Dionysos wünschte, er könnte einfach reinen Tisch machen. Doch welche Konsequenzen hätte das?

Er schlug sich wacker. Zu jeder Zeit gelang es ihm irgendwie, ein Lächeln gegenüber den anderen aufzusetzen. Welches erstarb, sobald er in Blickkontakt mit Thoth geriet. In jenen Momenten lag eine gewisse Anspannung zwischen ihnen in der Luft, die nicht unbemerkt blieb, zu der sich allerdings keiner der beiden äußerte. Es wurde lediglich heruntergespielt oder, für Thoth gesprochen, gänzlich abgeschmettert oder ignoriert.

Doch je länger er durchhielt, umso schwieriger wurde es für ihn.

Dionysos erwischte sich immer öfter, wie seine Gedanken zu seinem Weinkeller abdrifteten und er im Begriff war, den Unterricht mit Thoths Vortragungen an sich vorüberziehen zu lassen. In jenen schwachen Momenten begann er heimlich Pläne zu schmieden, wie er es erreichen könnte, wieder Zugang zu seinem Keller zu erringen. Er war schon so weit, dass er bereit wäre, für dieses Vorhaben auf die Hilfe ihres Streichkönigs zurückzugreifen und mit ihm einen Komplott einzugehen, solange er nur zurückbekam, was ihm so wichtig war. Selbst für den Fall, dass er diesen Kompromiss für eine lange, nachhaltende Zeit bereuen würde. Für diesen Moment verwischten die Grenzen zunehmend.

Auf der anderen Seite, was konnte Loki schon tun? Und war es das wirklich wert? Es waren nur noch ein paar Tage länger, die er durchhalten müsste, danach würden die Karten neu gemischt. Im Vergleich zu der Zeit, die er ausharren musste, bis sein Wein die optimale Reife errungen hatte, was war das schon? – Und dennoch …

Er hatte seinen Weinkeller stets im Blick. Wann immer er konnte, hielt er Ausschau, ob sich etwas in dessen Umgebung tat. Doch nie hatte er Thoth in dessen Nähe gesehen. Nie, kein einziges Mal.

Hatte er sich in ihm getäuscht? Besaß er gar nicht so viel Ehrgefühl, ihm diesen klitzekleinen Gefallen zu erweisen, während er sich tatsächlich bemühte, seinen ihm aufgetragenen Anforderungen gerecht zu werden?

Wer kümmerte sich in dieser Zeit seiner Abwesenheit um seinen kostbarsten Schatz? Wer sah nach dem Wein, kümmerte sich um ihn, damit er angemessen wachsen konnte?

Normalerweise würde er sich nicht so viele Sorgen während des Reifungsprozesses machen. Wein konnte gut einige Zeit ohne Kontrolle auskommen, lagerte zu einem späteren Zeitpunkt für mehrere Wochen bis hin zu Jahren, ohne Schaden zu nehmen. Im Moment allerdings befand sich der Most in einer heißen Phase und bedurfte viel Pflege, damit er einmal zu einem Rotwein von so göttlicher Färbung und vollem Geschmack gedeihen konnte, dass selbst er als Gott des Weines vor ihm niederknien mochte. – Das war sein großes Ziel. Sein einziges.

Vermutlich wäre es wieder an der Zeit, den Tresterhut unter die Maische zu heben. Ein letztes Mal wollte er dies noch tun, bevor er die Traubenreste von dem künftigen Wein abhob und gänzlich entfernte, um sich nur noch auf den Ausbau und die Schönung zu konzentrieren. Es müsste bald soweit sein, das hatte er im Gefühl.

Dieser Gedanke stimmte ihn ganz unruhig. Die Sorge verschlimmerte sich, je mehr er zu seinem Handwerk abdriftete. Er brauchte Gewissheit; er musste sich davon überzeugen, dass es seinem Wein gut ging. Koste es, was es wolle!

 

„Thyrsos!“

Dionysos hielt inne. Er war gerade im Begriff gewesen, sich nach Unterrichtsschluss auf dem Schulflur zu entfernen, als er von Baldr aufgehalten wurde.

Fragend wandte er sich nach ihm um. „Was ist?“

Statt einer Antwort folgte ein lautes Poltern, als der nordische Lichtgott ungeschickt über seine eigenen Füße stolperte und mit der Nase voran zu Boden ging.

Schnell eilte Dionysos an seine Seite. „Hey, alles okay? Bist du verletzt?“

„Nein, alles okay“, entgegnete er verlegen, lächelte schief und griff nach der Hand des Griechen, die ihm gereicht wurde, um ihm zurück auf die Beine zu helfen. „Danke.“

„Du hast wirklich ein Talent“, lachte Dionysos. „Wohin so eilig?“

„Gehst du deiner Clubaktivität nach? Darf ich dich vielleicht begleiten?“

„Ähm …“ In einer unbehaglichen Geste kratzte er sich hinterm Ohr. „Nein. Ich habe die Beete schon heute Morgen gegossen. Vorhin hatte es kurz geregnet, ich muss nicht noch einmal nach dem Garten sehen.“

„Ach so.“

„Was ist los?“, wollte er wissen und bemühte sich um ein Lächeln. Baldr verhielt sich eigenartig, das entging ihm nicht. Sonst lächelte er die meiste Zeit oder schaute vorwurfsvoll, wenn jemand etwas angestellt hatte. Im Moment allerdings schien seine Stimmung getrübt und Dionysos glaubte, Sorge aus seinem Gesicht ablesen zu können. „Du schaust aus wie sieben Tage Regenwetter“, sprach er folglich. „Muss ich mir Sorgen um dich machen?“

„Um ehrlich zu sein“, setzte Baldr zögerlich an und hob seinen Blick zu dem Griechen. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Seit einigen Tagen verhältst du dich seltsam, unüblich für deine Verhältnisse. Wir machen uns schon alle große Sorgen um dich.“

Dieses Thema schon wieder. Dionysos‘ Lächeln schwand in derselben Sekunde.

„Natürlich ist dein jetziges Verhalten überaus vorbildlich und wir bewundern dein Bestreben sehr. Aber … es ist befremdlich. Es sieht dir nicht ähnlich.“

„Na, na“, fing er sich wieder und winkte die Besorgnis des Freundes beiseite. „Um so etwas macht ihr euch Gedanken? Jeder kann sich einmal irren und seine Einstellung korrigieren. Besser spät als nie, oder nicht?“

„Ist etwas vorgefallen?“, überrannte ihn Baldr mit eben jener Frage, die Dionysos am liebsten vermieden hätte.

Da er es nicht übers Herz brachte, ihm ins Gesicht zu lügen, wandte er den Blick zur Seite ab.

„Wenn dich etwas bedrückt“, fuhr Baldr indes fort, „kannst du jederzeit mit uns über alles reden. Wir sind füreinander da, immerhin sitzen wir alle im selben Boot.“

„Boot?“, wiederholte Dionysos.

Endlich tat sich Baldrs sonniges Gemüt wieder vor ihm auf, als er sichtlich stolz zu ihm hinüberlächelte. „Das hat mir Yui-san beigebracht. Es handelt sich dabei um ein beliebtes Sprichwort der Menschen, wenn sie ausdrücken wollen, dass man denselben Umstand miteinander teilt.“

„Aha?“ Er dachte über diese Worte nach.

Ja, es stimmte. Sie alle waren in der gleichen Situation. Sie alle waren gegen ihren Willen von Zeus an diesen Ort geholt worden, da dieser der Meinung war, sie hätten es nötig, ihre Verbundenheit zu den Menschen aufzufrischen. Seitdem gaben sich alle die größte Mühe, miteinander auszukommen und gemeinsam Fortschritte zu erzielen, sodass sie binnen eines Jahres ihren Abschluss machen konnten. Sie teilten während dieser Zeit schöne wie auch schwere Momente. Ging es einem von ihnen nicht gut, bemühte sich der Rest, denjenigen aufzufangen und ein Lächeln zu schenken.

Sie waren füreinander verantwortlich. Sie für ihn wie er für sie.

Diese Erkenntnis ließ ihn schmunzeln. Wie hatte er diese Tatsache nur aus den Augen verlieren können? Jetzt hatte er einen guten Grund mehr, sein Problem mit Thoth anzugehen und hoffentlich mit ihm zu einer Einigung zu kommen.

„Verstehe. Na, wenn das so ist“, wandte er sich offen an den Freund und schenkte ihm ein breites Grinsen, „kannst du mir vielleicht sagen, wo ich unseren Lehrer finde?“

 

Die Bibliothek, wo auch sonst. Eigentlich hätte er auch von selbst darauf kommen können.

Während sich Dionysos auf dem Weg zu dieser heiligen Einrichtung befand, ging er in seinem Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie er den Ägypter konfrontieren konnte. Sollte er direkt damit herausrücken, was ihm auf dem Herzen lag? Sollte er es auf die einschmeichelnde Art versuchen? Sollte er versuchen, ihm ins Gewissen zu reden? – Hatte irgendetwas davon eine Aussicht auf Erfolg?

Zum wiederholten Male seufzte er und strich sich über das dunkelrote Haar, das ihm wie immer zu einer zotteligen Mähne nach hinten gekämmt abstand. Irgendwie bezweifelte er, dass es ihm gelingen würde, zu dem Ägypter durchzudringen. Für Thoth zählten Fortschritte und Ergebnisse, nichts weiter.

Machte er sich nichts vor: Er war chancenlos. Sein Vorhaben war zum Scheitern verurteilt. Nie und nimmer würde es ihm gelingen, auf ihn einzureden.

„Wo bist du gewesen?!“, hörte er die herrschende Stimme Thoths, noch ehe er sein Ziel richtig erreicht hatte, und erstarrte augenblicklich in seiner Bewegung. Im ersten Moment glaubte er, dass die Frage ihm gegolten hatte, doch als er bemerkte, dass ihr Lehrer mit dem Rücken zu ihm vor den Türen der Bibliothek stand, nutzte er die Chance und verbarg sich hinter einer der breiten Ziersäulen zu den Seiten des Ganges. – Glück gehabt, er war noch längst nicht auf sein Zusammentreffen mit dem ägyptischen Gott vorbereitet. Eine letzte Verschnaufpause war ihm noch gegönnt.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du hier warten sollst, bis der Unterricht vorbei ist. Denkst du eventuell auch einmal nach, was passiert, wenn du entdeckt wirst?“

Oh, das war heiß! Was auch immer dort gerade vor sich ging, Dionysos ahnte, dass es etwas war, das nicht für seine Ohren bestimmt war. Hatte er damit einen guten oder schlechten Zeitpunkt erwischt, gerade jetzt hier aufzutauchen und den Lehrer in einer, offenbar, misslichen Lage vorzufinden, die ihm zum Verhängnis werden könnte?

Die Neugierde nahm überhand. Vorsichtig lugte er an der Säule in seinem Rücken vorbei in der Hoffnung, erkennen zu können, was genau dort vor sich ging.

Ein leises Gebrabbel, welches er nicht genau verstehen konnte, ließ ihn vermuten, dass es sich um eine weitere Person handelte, die bei Thoth stehen musste. War sie der Grund für seinen aufgebrachten Tadel?

Thoth stieß ein schweres Seufzen aus, das bis zu ihm drang. „Schon gut, ich verstehe. Du bist einfach unverbesserlich. Na schön, ich sehe heute noch einmal darüber hinweg.“

Wie ärgerlich, es ließ sich einfach nichts erkennen. Es stand außer Frage, dass Thoth mit jemandem sprach, aber Dionysos konnte nicht erkennen, um wen es sich dabei handelte. Was musste dieser Ägypter auch so hoch gewachsen sein und mit seiner lose über den Schultern hängenden Jacke jegliche Sicht verwehren? Vielleicht sollte er riskieren, näher zu kommen und einen besseren Beobachtungsposten zu beziehen?

Wieder dieses Gebrabbel. Alles, was er davon verstehen konnte, war etwas, das wie ein fröhliches „bara bara“ klang. War das überhaupt ein Wort, fragte er sich.

Thoth räusperte sich in die Faust. „Schön, ich hole dir etwas. Aber dieses Mal hörst du auf das, was ich dir sage und rührst dich nicht vom Fleck!“

Eigenartig, das war alles höchst eigenartig.

Dionysos hörte noch etwas, das klang, als versuche jemand den Ruf einer Krähe zu imitieren, dann wurde ihm ein kurzer Augenblick zuteil, in dem er tatsächlich eine Person ausmachen konnte, die sich von dem Lehrer abwandte und durch die Türen ins Innere der Bibliothek verschwand. Viel hatte er nicht von ihr sehen können, lediglich das kurze, schwarze Haar, das im geraden Schnitt nicht ganz bis zur Schulter fiel. Wenn er sich nicht ganz täuschte, hatte er außerdem einen dunklen Teint erkennen können, der sehr an den ihres Lehrers erinnerte. – Ein Schüler, von dem sie nichts wussten? Zumindest hatte diese Person ebenfalls ihre Schuluniform getragen, wenn auch mehr lose über den Armen hängend, als sei sie ihm mehrere Nummern zu groß und würde ihm daher von den schmalen Schultern rutschen. Handelte es sich um einen Jungen? Ein Mädchen?

„Hey!“

Er fuhr in sich zusammen. Zu spät bemerkte er, dass er entdeckt worden war. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er seine Deckung ganz vernachlässigt hatte. Sein geheimer Beobachtungsposten war aufgeflogen.

Thoths Miene verdüsterte sich, wie er mit vor der Brust verschränkten Armen auf einige Meter Entfernung in seine Richtung zugewandt stand. „Du? Was willst du hier, Saufbold? Hast du dich nicht etwas im Gebäudeteil geirrt?“

„Ich? Äh … N-nein, ich wollte –“

„Ich habe keine Zeit für dich“, schnitt ihm Thoth das Wort ab. „Geh in euer Loch zurück. Ich bin mir sicher, du hast noch genug Stoff aufzuholen.“

„Was? Aber, ich wollte –“

„Oho?“ Der Ägypter zog ungläubig eine Augenbraue in die Höhe. „Sag bloß, du bist beabsichtigt hier? Die Bibliothek ist bis auf Weiteres geschlossen. Komm später wieder, wenn ich Zeit für euch nerviges Gesindel habe.“

„Lass mich doch mal zu Wort kommen.“ Dionysos wurde brummig. Kaum zu fassen, was sich dieser Typ herausnahm, nur weil er sich als ihr Lehrer für etwas Besseres hielt. Und da warf man ihm schlechte Manieren vor.

„Kein Bedarf“, schmetterte der Lehrer zurück, zeigte sich ein weiteres Mal von seiner wenig geduldigen Seite und wandte sich zum Gehen ab. „Du vergeudest meine Zeit. Ich empfehle mich.“

„Warte!“, hielt er ihn zurück, trat hinter seinem Versteck hervor und zielgerichtet auf den Ägypter zu. „Wer war das eben?“

Tatsächlich hielt Thoth in seinem Vorhaben inne und wandte sich ihm über die Schulter zu. „Wer war was?“

„Die Person, mit der du gerade gesprochen hast.“

Er legte die Augenbrauen tiefer. „Ich weiß nicht, wovon du redest, Saufbold.“

„Ach, nein? Also liege ich mit meiner Vermutung richtig, dass du diese Person vor uns geheim halten wolltest?“ – Hatte er’s doch gewusst! Was für ein Glück er doch hatte! Das war die Gelegenheit, die er gebraucht hatte, um mit dem Ägypter eine Verhandlung anzustreben. Die Karten waren neu gemischt; jetzt standen sie auf gleicher Ebene.

Er lächelte zuversichtlich. „Gut, hör zu. Lass uns verhandeln: Ich halte dicht, was ich hier gehört und gesehen habe, und dafür gibst du mir meinen Weinkellerschlüssel zurück.“

„Wie war das?“ Thoth drehte sich ihm gänzlich zu. Abwartend, regelrecht lauernd, warf er ihm einen abschätzigen Blick zu. „Wiederhole das.“

„Wir sitzen im selben Boot“, griff Dionysos auf jenen Spruch zurück, welchen er vor weniger als einer Stunde erst gelernt und sofort auf seine Favoritenliste menschlicher Sprichwörter gesetzt hatte. Es passte wie die Faust aufs Auge – noch so ein tolles Sprichwort! „Du weißt von meinem Geheimnis, ich jetzt von deinem. Statt uns gegeneinander auszuspielen, sollten wir das Kriegsbeil begraben und zusammenarbeiten, meinst du nicht auch?“

„Zusammenarbeiten?“ Er stieß einen abfälligen Laut aus. „Wieso sollte ich mich auf etwas so Banales einlassen?“

„Oh, wusstest du es noch gar nicht?“ Sich seiner Sache sicher, dass er in diesem Gespräch die Oberhand hatte, verschränkte er lässig die Arme im Nacken und gestattete sich ein Schmunzeln. „Zufällig bin ich einer der Sprösslinge von deinem Boss. Ich bin mir sicher, dass er mir zuhören wird, wenn ich ihm etwas zu erzählen habe.“ – Das war zugegeben hoch gepokert, aber damit hatte er das Blatt zu seinen Gunsten gewendet. Und außerdem Thoths eigene Worte gegen ihn verwendet. Wie raffiniert, Apollon und Onkel Hades wären sicherlich stolz auf ihn!

In Thoths Gestik und Mimik tat sich für einige Zeit nichts. Dann setzte er sich in Bewegung und ging mit gemächlichen Schritten auf den Griechen zu.

Wieder verspürte Dionysos den Drang zurückzuweichen, berief sich allerdings darauf, dass er dieses Mal nichts zu befürchten hatte und verharrte in seiner Position sowie Haltung. Bis Thoth vor ihm zum Stehen kam, keinen Meter Abstand zwischen ihnen lassend, und sich zu ihm herüberbeugte.

„Okay, Saufbold“, klang seine Stimme finster, als er eindringlich zu ihm sprach. „Was soll das hier werden? Versuchst du, dich gegen mich aufzulehnen?“

„Was? Nein, mitnichten.“ Bemüht, sich sein Unbehagen in der Gegenwart des Ägypters nicht anmerken zu lassen, winkte er dessen Worte belächelnd beiseite. „Ich versuche, eine Einigkeit zwischen uns zu finden. Weißt du, ich schlafe schlecht, wenn ich nicht weiß, wie es um meinen Schatz steht. Und das geht mir an die Konzentration deines lehrreichen Unterrichts.“

„So?“

Dionysos befielen Zweifel. Ging er zu weit? Schoss er über das Ziel hinaus? Verfehlte er gar den Zweck, welchen er anstrebte?

Wieso, beim Olymp, ging dieser Ägypter nicht auf seinen Standpunkt ein und schaffte es, sich so unbeeindruckt zu zeigen? Als ließe es ihn kalt, dass er ihm einen Schwachpunkt gezeigt und damit eine Angriffsfläche geboten hatte.

„Ich verlange ja nicht viel“, versuchte er auf eine verharmlosende Schiene einzulenken. „Ich möchte lediglich meinen Schlüssel zurückhaben. Dafür verspreche ich, weiterhin im Unterricht aufzupassen. Ich halte dicht, du hältst dicht, und alle sind glücklich.“

Sekunden, wenn nicht gar Minuten verstrichen, in denen kein weiteres Wort zwischen ihnen fiel und Thoth ihn prüfend musterte, als versuche er, den jungen Gott in die Knie zu starren.

„Lass mich das auf den Punkt bringen.“ Thoth schloss die Augen, atmete einmal tief durch, ehe er den Blickkontakt wieder aufnahm. „Du verlangst, dass ich dir deinen Schlüssel zurückgebe. Im Gegenzug bietest du mir dein Schweigen an. Gleichzeitig garantierst du, weiterhin meinem Unterricht zu folgen, wenn ich im Gegenzug ebenfalls Stillschweigen bewahre. Sehe ich das richtig?“

Dionysos nickte.

Sein Blick wurde finster. „Ich wiederhole: Wieso, denkst du, sollte ich auf solch einen »Handel« eingehen?“

„Weil wir beide dasselbe wollen.“ Er schluckte sämtlichen Unmut hinunter. „Wir wollen beide, dass Zeus nichts von unserem jeweiligen Geheimnis erfährt.“

Bei Thoth tat sich nichts. Er verzog keine Miene.

Für mehrere Sekunden war es Dionysos unmöglich, irgendetwas aus seinem Gesicht abzulesen. Nicht, ob er die Situation abwägte. Nicht, ob er überlegte. Da war nichts, rein gar nichts, und er wusste das anhaltende Schweigen des Ägypters nicht zu deuten.

Es war Thoths zuversichtliches, wenn auch herabwürdigendes Schmunzeln, welches ihn letztlich mehr verblüffte als die Worte, die er sprach: „Ich lehne ab.“

„Was?“

Er wandte sich daraufhin ab, verschränkte die Arme locker vor dem Körper und trat einige Schritte von ihm weg. „Du vergeudest meine Zeit.“

„Aber … was?“ Dionysos verstand nicht.

„Mitkommen!“

Ratlos kam er der Aufforderung nach und setzte sich in Bewegung. Welche andere Wahl hatte er auch schon?

Thoth verblüffte ihn. Egal, wie sehr er es versuchte, er wurde einfach nicht schlau aus ihm. Sein Verhalten machte keinen Sinn für ihn, noch weniger seine Worte. Ab welchem Punkt hatte das angefangen?

„Also“, wagte er einen zögerlichen Versuch, den Lehrer anzusprechen, nachdem sie für längere Zeit geschwiegen hatten. Sie hatten die Bibliothek längst hinter sich gelassen, folgten dem Rundkorridor in Richtung Treppe, die sie aufs Erdgeschoss zurückführen würde, wo sich die große Aula befand. „Was genau bedeutet das jetzt?“

„Wovon sprichst du?“

„Kümmert es dich gar nicht, wenn Zeus von deinem heimlichen Freund erfährt?“

Thoth warf ihm einen prüfenden Blick von der Seite zu.

„Warst du nicht der Erste, der damit gedroht hat, mich an ihn zu verraten?“

„Wann habe ich etwas in dieser Richtung verlauten lassen?“

„Als du sagtest, dass die anderen mit mir die Konsequenzen zu tragen haben werden. Und als du im direkten Anschluss auf meine Verwandtschaft zu Zeus angespielt hast.“

„Und?“, entgegnete Thoth unbeeindruckt. „Das sind nichts weiter als Fakten. Der Einzige, der für deine Unzulänglichkeit in Rechenschaft gezogen werden kann, bist du, der falsche Schlussfolgerungen aus meinen Worten gezogen hat.“

Verblüffung machte sich auf Dionysos‘ Gesicht breit. „Heißt das, dass du nie vorhattest –“

„Dich an Daddy zu verpetzen, wenn du nicht tust, was ich dir sage?“, beendete er den Satz. Ein abfälliges Schnauben folgte. „Idiot. Wie einfältig bist du eigentlich?“

„Hm? Wieso?“

Diese Begriffsstutzigkeit war ermüdend. Thoth richtete seinen Blick nach vorn. „Zu deiner Information“, setzte er nach einer kurzen Sammelpause an, „Zeus hat diesen Ort eigens erschaffen. Denkst du allen Ernstes, ihm entgeht auch nur irgendetwas, das an dieser Schule passiert?“

Dionysos würdigte diese Worte eines Gedankens. Grübelnd legte er eine Hand um sein Kinn.

„… Oh.“ Natürlich, das erklärte alles. „Oh.“

 

Wenig später hatten sie das Rundgebäude verlassen. Der späte Nachmittag zeigte sich mild im tiefen Sonnenstand. Aus Richtung des Schulgeländes waren Stimmen jener Schüler zu hören, die sich zu dieser Zeit ihren Clubaktivitäten hingaben.

„Also“, richtete Dionysos sein Wort an den Lehrer, welchem er noch immer folgte, „da die Sache damit geklärt ist und keine Notwendigkeit mehr besteht … bekomme ich meinen Kellerschlüssel zurück?“

„Nein.“

„Wieso nicht?“, schmollte er. „Du hast selbst gesagt, dass es keinen Sinn macht, mit Verrat zu drohen. Also wozu –“

„Ich behalte ihn als Pfand“, schnitt Thoth ihm das Wort ab. Diese Aussage unterstreichend, schob er die Hand in die Hosentasche, holte jenen klobigen Metallschlüssel hervor und hielt ihn demonstrativ hoch, wobei er dem Junggott einen Blick über die Schulter zuwarf. „Damit garantiere ich mir dein Bemühen. Sieh es als einen Anreiz für dich.“

„Aber das geht nicht!“, beharrte er. „Ich muss nach dem Wein sehen, sonst war alle Mühe umsonst! Bitte! Ich verspreche auch, mich weiterhin im Unterricht zu bemühen. Oder ich leihe ihn mir nur aus und verspreche, ihn dir zurückzubringen, sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin.“

„Hmpf, hältst du mich für so leichtfertig?“ Er ließ den Schlüssel zurück in der Tasche verschwinden. „Ich gebe keinen müden Gedanken auf dein Wort.“

Dionysos machte bereits Anstalten, etwas darauf zu erwidern, als Thoth stehen blieb und sich nach ihm umdrehte. „Ich komme mit“, sprach er entschieden. „Ab sofort unterstehst du meiner Aufsicht, wann immer du diesen Keller betreten willst. Du wirst mich zuvor aufsuchen und warten, bis ich Zeit für dich habe. War das verständlich für dein Spatzenhirn, Saufbold?“

Das kam unerwartet. Dionysos war so überrannt von diesem Beschluss, dass er keine Antwort fand. Stattdessen blinzelte er überrascht.

„Hey, antworte, wenn man dich etwas fragt.“

Er nickte zögernd. „Ja, verstanden.“

„Gut.“ Thoth wandte sich um. „Geh vor. Ich habe noch etwas zu erledigen. Solltest du nicht vor Ort sein, wenn ich ankomme, werde ich nicht auf dich warten.“

Heimlicher Freund (Deepshipping)

„Endlich sind wir wieder zurück!“

Erleichterung machte sich unter der Gruppe breit, kaum dass sie den Campus der Schule betreten hatten. Ein paar der Schüler, welche eifrig das niedergefallene Laub zusammenkehrten, begrüßten sie höflich, ehe sie in ihrer Arbeit fortfuhren.

Apollon hob sich den Arm ans Gesicht, um sich ein paar der Freudentränen fortzuwischen. „Wir sind wieder da. Endlich sind wir wieder da! Ich freue mich so. Nie zuvor war ich so froh, die Schule wiederzusehen. Ich bin so froh.“

„Eine Woche kann wirklich lang sein“, schloss sich Yui ihm an und ließ den Blick durch die Gruppe schweifen. Jeder der Jungs wirkte reichlich erschöpft, als drohten sie unter ihrem Wandergepäck in die Knie zu gehen.

Sie lächelte erleichtert. Der lange Fußmarsch von der Doppelkopfinsel ganz im Osten bis hierher hatte an den letzten Kraftreserven eines jeden Einzelnen gezehrt und für wenig begeisterte Stimmung in der Gruppe gesorgt. Auf halber Strecke hatte sie die Befürchtung gehabt, dass die Jungs das Handtuch werfen würden: Loki sträubte sich gegen alles und jeden, Baldr beklagte den unebenen Weg, Takeru nannte sie alle Jammerlappen und keifte unaufhörlich, während Hades mehr und mehr an Überzeugung gewann, dass es besser wäre, würden sie ihn zurücklassen. Einzig Tsukito hatte keinerlei Beschwerden geäußert, jedoch auch ebenso wenig Ermunterung.

Es war ihr unmöglich gewesen, das Chaos zu bändigen. Auch Apollons unermüdliche Aufmunterungsversuche waren vermehrt ins Leere gegangen und hatten für nur noch mehr Zunder in der Gruppe gesorgt.

Dass sie es am Ende dennoch bis zu ihrem Ziel geschafft hatten, war Dionysos und Thor zu verdanken. Außerhalb des alltäglichen Schulunterrichts zeigten sie sich als gutes Beispiel und waren den übrigen Jungs eine Motivation. Wäre es ihnen nicht irgendwie gelungen, die Freunde immer wieder durch ihre überzeugenden Argumente voranzutreiben, wer wusste schon, wo sie jetzt wären.

Yui war ihnen dafür unendlich dankbar. Sie wusste die Leistung zu schätzen und würde sich etwas einfallen lassen, um sich für die gute Arbeit zu bedanken. – Aber nicht jetzt.

Wenn sie sich die Gesichter der Jungs betrachtete, erkannte sie Erschöpfung darin. Sie waren müde und würden sich gewiss von der langen Reise und den vielen Abenteuern erholen wollen. Sicher, das hatten sie sich verdient.

„Ist alles okay, Hades-san?“, wandte sie sich sorgenvoll an den griechischen Gott der Unterwelt zu ihrer Rechten. Thor hatte darauf gedrängt, dass er zwischen ihr und Apollon in vorderster Reihe ging, sodass er sein Wehklagen nicht bewahrheiten und sich unbemerkt von der Gruppe absetzen konnte.

Für Hades musste das die schlimmste Strafe gewesen sein. Sein Gesicht war blass, regelrecht fahl, und ihm stand Schweiß auf der Stirn.

Lange hatte er sich gesträubt, der Gruppe so gefährlich nah zu sein, bis Loki dem Ausfall nahe gestanden und eine fruchtende Drohung ausgesprochen hatte: Würde er nicht den restlichen Weg über ruhig sein, würde er ihm künftig alle Erdbeeren vor der Nase wegschnappen und vor seinen Augen unter der Schuhsohle zertreten. Dies zeigte Wirkung und Hades fügte sich, wenn auch widerwillig.

Er machte ihr Sorgen. „Du solltest dich auf jeden Fall ausruhen. Soll ich schauen, ob sie noch ein paar Daifuku für dich haben?“

„Nein“, presste er hervor, als habe er die ganze Zeit über die Luft angehalten. „Ist schon gut. Ich … möchte nur noch aufs Zimmer.“

Yui betrachtete ihn bekümmert, nickte jedoch.

„Ein langes, warmes Entspannungsbad wäre jetzt schön“, träumte Baldr hinter ihnen, woraufhin Dionysos bestätigend nickte. Müde lächelnd wandte er sich an seinen besten Freund neben ihm. „Meinst du nicht auch?“

„Passe.“ Loki stieß ein schweres Stöhnen aus. „So reizvoll es auch klingt, mit dir und Thor-chin zu baden, ich will nur noch ins Bett. Diese menschlichen Körper sind eine Plage. Ich fühle mich, als hätte ich hundert Jahre nicht mehr geschlafen.“

„Dem schließe ich mich an“, sprach Thor hinter ihnen.

„Ich bin auch müde“, erklärte Yui mild lächelnd. „Aber ich denke, ein Bad werde ich mir dennoch vorher gönnen. Was ist mit euch, Takeru-san und Tsukito-san?“

„Ein Bad und Schlaf scheinen mir beidermaßen angemessen zu sein“, klang Tsukito teilnahmslos wie immer, als sei er der Einzige, den ihr Ausflug nicht erschöpft hatte. „Ich werde dem Beispiel von Kusanagi Yui folgen.“

„Und du?“

„Hm?“ Als hätte er nicht realisiert, dass er angesprochen worden war, blickte Takeru zu Dionysos auf.

„Was wirst du als Erstes tun, wenn du wieder auf eurem Zimmer bist?“, half er ihm auf die Sprünge.

„Ach, ja … Ja, ihr habt wohl recht.“

Fragende Blicke begegneten ihm.

„Hast du uns nicht zugehört?“, hinterfragte Loki vorwurfsvoll.

„Takeru-san ist bestimmt nur erschöpft“, warf Yui schnell ein, die nicht wollte, dass die beiden sich erneut stritten. Schnell wandte sie sich an den Rest der Gruppe, um der Situation auszuweichen: „Dann sollten wir uns heute am besten ausruhen. Ich denke, das haben wir uns verdient. Morgen dann setzen wir uns alle zusammen und arbeiten die Fragen aus, die uns Thoth-sama für das Survival Training aufgegeben hatte. Ist damit jeder einverstanden?“

„Waaas?“, stieß Apollon in hörbarer Enttäuschung aus. „Heißt das, wir essen nachher nicht alle gemeinsam in der Mensa? Wie schade, ich hatte mich schon sehr darauf gefreut. Das ist wirklich schade.“

„Naja, wer nachher noch möchte und Hunger hat, kann sich dort ja einfinden?“, schlug Yui besänftigend vor. „Wir haben noch etwas Zeit. Bis zum Abendessen sind es noch knapp drei Stunden. In der Zeit kann sich ja jeder schon einmal ausruhen, baden und umziehen, wer mag. Wer lieber schlafen mag, dem sind wir auch nicht böse, nicht wahr?“

„Das klingt gut, Yui-san“, lächelte Baldr fröhlich zu dem Mädchen herüber.

„Gut, dann machen wir es so. Genauso machen wir es!“ Apollon nickte eifrig. „Gehen wir erst mal auf unsere Zimmer. Wer sich ausruhen möchte, ruht sich aus. Nachher treffen wir uns zum gemeinsamen Abendessen, wer möchte. Und morgen machen wir zusammen die Ausarbeitung und haben Spaß. Es wird Spaß machen, da bin ich mir ganz sicher! Ihr werdet sehen, wir machen das ganz kalos!“

„In Momenten wie diesen möchte ich unserem Ahollon gern den Hals umdrehen“, seufzte Loki genervt, was die übrigen Jungs mit einem einstimmigen Kopfnicken befürworteten.

Der junge Sonnengott fand dies weniger lustig. Beleidigt plusterte er die Backen.

„Totsuka Takeru“, wandte sich Tsukito in die Richtung seines Bruders, als die anderen bereits unter lautem Geschwätz zu den Wohnhäusern aufgebrochen waren. Besagter stand abseits, blickte sich in der näheren Umgebung des Geländes um und schien nicht zu bemerken, dass sie von der Gruppe zurückgelassen wurden. „Kommst du nicht mit?“

„Hm? Ah, sorry, Anii.“ Erst Momente später reagierte Takeru auf seinen Bruder, hob die Hand an den Hinterkopf und senkte den Blick zu Boden. „Geh doch bitte schon mal mit den anderen vor. Ich hab‘ noch was zu erledigen.“

Nichtssagend sah Tsukito zu ihm. Er machte keine Anstalten, sich von seinem Fleck zu bewegen, brachte allerdings auch keinerlei Initiative auf, die Worte seines Bruders zu hinterfragen.

„Ich komme später nach“, erklärte Takeru deswegen, hob winkend die Hand und wandte sich zur Seite ab. Er hatte nicht erwartet, dass Tsukito Fragen oder Zweifel aufbringen würde. Ihm kam es gelegen, denn er empfand keine Bereitschaft, sich zu erklären. Nicht einmal seinem Bruder gegenüber, dem er sonst alles anvertraute. Absolut alles.

Kurz darauf war Takeru vom Platz verschwunden und Tsukito blieb allein zurück. Er wandte sich um und folgte der Richtung, die zum Schülerwohnheim führte.

 

 

 Abseits des Campus war Takeru auf einen Weg abgebogen, der in den angrenzenden Waldbereich führte. Er war Teil seiner Laufstrecke, die er zwei Mal am Tag seines Trainings wegen ablief. Es dauerte nicht lange, bis er tief genug im Wald verschwunden war, dass von menschlichen Stimmen nichts mehr zu hören und vom Schulgebäude nichts mehr zu erkennen war.

In diesem Waldabschnitt kannte er sich aus. Er war in den letzten Wochen oft hier gewesen, hatte viel Zeit nach seinem abendlichen Training hier verbracht und war um einige Schleichpfade fündig geworden. Sein Weg war vorgegeben, den er ging, um zu jener kleinen, offenen Holzhütte zu gelangen, die nicht zum ersten Mal sein Ziel war. Kein Haus, lediglich ein kleiner tür- und fensterloser Holzbau im Hüttenschnitt, in dem man sich unterstellen und verschnaufen konnte.

Auf der schlichten Holzbank, die im Quadrat im Inneren der Hütte an der Wand angebracht war, legte er sein Wandergepäck ab, welches er bisher auf dem Rücken getragen hatte. Es war eine Wohltat, als die schwere Last endlich von seinen Schultern herunter war, und er streckte sich einmal ausgiebig. Die Glieder schmerzten ihm aufgrund der vergangenen Woche. Ihm war, als könne er jeden einzelnen Muskel in seinem menschlichen Körper spüren, die um eine Pause ausriefen.

Vielleicht sollte er für später in Erwägung ziehen, sich etwas Entspannung  in dem Onsen zu gönnen, der hinter ihrem Zimmer rund um die Uhr zur Verfügung stand. Ja, ein Bad in der heißen Quelle, die ihn an zu Hause erinnerte, klang nicht verkehrt.

Er seufzte leise, wandte sich um und trat nach draußen. Vor der Hütte stellte er sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick durch die nahe Umgebung schweifen.

Nichts. Weit und breit war nichts zu sehen. Nichts rührte sich, kein Mucks war zu hören. Nichts, bis auf das Übliche.

War er nicht hier? Takeru hätte schwören können, ihn hier anzutreffen. Seltsam, dabei sollte er längst mitbekommen haben, dass ihre Gruppe zurück an der Schule war. Sonst bekam er auch immer alles mit, wodurch auch immer.

Würde er noch kommen? Sollte er auf ihn warten? Allein der Gedanke stimmte ihn brummig, aber er hatte es ihm versprochen. Und er war ein Mann, der seine Versprechen hielt. Für die Unzuverlässigkeit anderer konnte er schließlich nichts.

„Zehn Minuten“, entschied er und lehnte sich gegen den hölzernen Bau der Hütte zurück. Widerwillig verschränkte er die Arme vor dem Körper. „Ich gebe ihm zehn Minuten, nicht mehr.“

Und so wartete er. Wartete, wartete … lief einige Male um die Hütte herum, von links nach rechts, hielt Ausschau … und wartete.

Nichts tat sich. Niemand ließ sich blicken. Die Minuten zogen vorüber.

 

Seinem Gefühl nach musste die Frist schließlich verstrichen sein. Takeru stieß ein genervtes Stöhnen aus.

Was tat er hier eigentlich? Er machte sich nur zum Affen, indem er hier stand wie bestellt und nicht abgeholt. Dabei könnte er längst mit seinem Bruder auf ihrem Zimmer sein, in frischen Klamotten nach einem entspannenden Bad. Stattdessen war er den ganzen Weg hierhergekommen, war müde, ausgelaugt und mit den Nerven längst am Ende. Dieser Loki!

Die Warterei war sinnlos. Statt sich weiterhin zum Narren zu machen, sollte er lieber dem Ruf seiner schmerzenden Glieder nachgeben und sich auf den Heimweg begeben. – Genau das würde er jetzt auch tun! Pech gehabt.

Entschieden kehrte er in die Hütte zurück, nahm sein Gepäck auf und schwang es sich über die Schulter. Ärgerlich trat er nach draußen, sah sich ein letztes Mal um, ehe er sich in Richtung Schulgelände bewegte.

Er kam nur wenige Schritte weit, als ihm etwas in einigen Metern Entfernung auffiel. Hinter einem der Baumstämme rechterhand von ihm lugte etwas hervor, das wie ein weißes Stoffmaterial auf dem dunklen Waldboden wirkte. Auf den zweiten Blick, etwa auf einem Meter Höhe, bemerkte er außerdem etwas, das zuerst schwierig zu erkennen gewesen war: etwas Schwarzes mit einem weißen Kreis und weißen Fleck darin. Das kam ihm doch bekannt vor?

„Hey“, rief er in jene Richtung und bemerkte, wie die Schulter erschrocken aufzuckte, ehe sie hinter dem Baumstamm verschwand.

Takerus Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Gib‘s auf, ich hab‘ dich schon gesehen. Idiot, hältst du mich für bescheuert?“

Er musste sich kaum anstrengen, um das leise Gebrabbel zu hören, welches daraufhin hinter dem Baum zu vernehmen war. Es klang vertraut, stimmte seine Verärgerung jedoch nicht besser.

„Wie lange willst du jetzt noch da sitzen bleiben? Hast du nicht gehört: Ich hab‘ dich längst gesehen. Also komm vor da!“

„Bara!“, kam es widerspenstig zu ihm zurück, ehe sich das Etwas hinter dem Baumstamm regte und auch schon verschwunden war. Nach links, so viel hatte Takeru noch erkennen können, alles andere geschah zu schnell für sein Auge.

„Hey, wo willst du hin? Bleib gefälligst hier!“, rief er noch aus, doch zu spät. Die letzten aufgewirbelten Laubblätter fielen zurück zu Boden, danach war es still um ihn herum.

„Tze“, stieß er einen abfälligen Laut aus, rückte sich das Gepäck auf seinen Schultern zurecht und setzte sich in Bewegung. Die Wut wollte nicht verrauchen. „Na toll, dafür bin ich extra hergekommen? Feigling! Warst nicht du es, der wollte, dass wir uns treffen, sobald wir wieder zurück sind?“

Er erhielt keine Antwort. Natürlich nicht, was hatte er auch anderes erwartet? Vermutlich war er längst über alle Berge und würde sich die nächste Zeit auch nicht mehr blicken lassen. Bis er irgendwann wieder aus heiterem Himmel auf seiner Laufroute auftauchte. Wie damals, die erste Zeit über. Dabei hatte er gedacht, sie hätten diese albernen Spielchen endlich hinter sich gelassen. Tja, so schnell konnten sich die Dinge ändern, kaum dass er mit den anderen für eine Woche weg war.

Es ärgerte ihn. Es ärgerte ihn so sehr, dass er sich selbst einen Vollidioten schimpfte. Und ihn. Und Loki, wenn er schon einmal dabei war, sowie die ganze Schule und alles, was ihm in dem Moment in den Sinn kam. Würde er ihn das nächste Mal sehen, dann würde er … würde er …

Hinter ihm raschelte es. Reflexartig blieb Takeru stehen, seufzte genervt, ehe er sich umdrehte.

Noch einmal raschelte es. Eines der Gebüsche wackelte, bis ein Kopf zwischen dem Gestrüpp hervorkam. Ein Paar tiefvioletter Augen blickte scheu zu ihm herüber. Blätter hatten sich in dem schwarzen Haar verfangen, das etwas über Kinnlänge zu einem geraden Bob geschnitten war.

Takeru verzog das Gesicht. „Was ist?“, begegnete er dem Jungen patzig, nicht fähig, seine Verärgerung hinunterzuspielen. „Hast du dich jetzt doch entschieden, aus deinem Versteck herauszukommen? Damit du’s gleich weißt: Ich hab‘ nich‘ gerade die beste Laune. Und auf diese Versteckspielchen hab‘ ich schon mal gar keine Lust!“

„Bara bara“, war das leise Murmeln des Jungen mit dem braunen Teint zu hören. Er senkte den Blick betreten zu Boden, richtete sich auf und trat schließlich aus seinem Versteck hervor. Wie Takeru zuvor richtig vermutet hatte, trug er die Jacke ihrer Schuluniform offen über den Armen, geradeso, als wäre sie ihm einige Nummern zu groß, weswegen sie ihm immerzu über die Schultern nach unten rutschte.

„Bist du dann jetzt fertig?“, schnippte er zu ihm herüber. „Ich kann auch wieder gehen. Hatte ich ohnehin gerade vor.“

„Bara bara bara“, schien der Junge zu widersprechen, wobei er wild den Kopf schüttelte.

Takeru hob überrascht eine Augenbraue. „Nicht? Und stattdessen?“

Der Junge wich seinem Blick zur Seite aus. Die Hände übereinandergelegt vor seiner Brust haltend, machte er einen sehr unsicheren Eindruck.

Er seufzte. „Versprichst du mir, das Versteckspiel sein zu lassen?“

„Ka“, war die prompte, wenn auch gedrückte Antwort, doch sie stellte Takeru zufrieden.

„Na schön“, gab er bei. Seine Wut war noch nicht gänzlich verraucht, wirklich nachtragend konnte er ihm aber auch nicht sein. In der Zeit, die er den sonderbaren Jungen schon kannte, hatte er sich nach und nach an dessen Eigenarten gewöhnt. Mehr oder weniger zumindest.

Verlegen räusperte er sich und blickte zur Seite. „Also dann … kann ich dir ja jetzt von dem Training erzählen. Sofern du möchtest.“

Ein begeistertes „Kaah!“ war die Antwort.

 

Unter einem der Bäume hatten sie sich niedergelassen. Etwas abseits vom Wegesrand, damit sie nicht sofort entdeckt werden konnten. Wer auch immer zu dieser Stunde außerhalb des Campus nach ihnen suchen sollte.

Gespannt lauschte Anubis den Erzählungen. Das Survival Training, so erklärte Takeru, sollte dazu dienen, dass die Götter die Bedürfnisse der Menschen besser verstehen lernten. Sie sollten vertrauter mit dem menschlichen Körper werden, ihre Stärken und Schwächen ohne jegliche göttliche Kraft sowie die Grenzen erfahren. Er erzählte außerdem, dass die Verbundenheit zur Natur eine nicht niedere Rolle gespielt habe. So habe Yui ihnen einiges gezeigt, wie sie ein Quartier aufschlagen und sich versorgen könnten. Als Götter, die sie waren, hatte es sich blamabel angefühlt, sich von einem Menschen belehren zu lassen. Dennoch sei die gemeinsame Woche mit all ihren Herausforderungen schön gewesen. Anstrengend, das ohne Frage, aber eben dadurch äußerst lehrreich und voller Überraschungen, in denen sie viel über sich selbst erfahren konnten.

„Zuerst wollte keiner wirklich mitziehen“, erzählte er ihm und legte dabei den Kopf seitlich. „Es war einfach nur peinlich, sich ständig belehren zu lassen. Aber da wir unsere Kräfte nicht nutzen konnten und nur das Nötigste zur Hilfe mitnehmen durften, hatten wir keine wirklich andere Wahl gehabt. Schon am zweiten Tag wollte die Hälfte von uns das Handtuch schmeißen, aber irgendwie … hat sie es geschafft, uns davon abzuhalten. Tja, und irgendwie wurde es dann nach und nach besser.“

Anubis nickte begeistert. Zu gern wäre er bei diesem Ausflug dabei gewesen, gäbe es da nicht dieses klitzekleine Problem, dass er die Nähe anderer Personen scheute. Vielleicht, wenn es nur er, Thoth und Takeru gewesen wären … Eine Woche nur sie und die Natur, das klang toll in seinen Ohren.

„Am vorletzten Tag hatten die meisten wieder keinen Bock. Wir haben das Lager abgebaut und einen Wettbewerb veranstaltet, wer am besten allein zurechtkommt. War vielleicht nich‘ die klügste Idee … Ironischerweise haben wir uns zum Abend alle wieder zusammengefunden und uns auf ein Unentschieden geeinigt. Ja, und dann war die Woche endlich rum. Ich glaub‘, erst auf dem Rückweg wurde uns so richtig bewusst, wie wertvoll diese gemeinsam verbrachte Zeit für uns alle war.“

„Ka bara bara?“, wollte er wissen und legte seinerseits den Kopf schief.

„Ich nehme an, du willst wissen, wieso?“

Anubis nickte.

„Naja … wir haben doch so manche Herausforderung gemeinsam überwunden. Da war zum Beispiel dieser Moment, als Baldr in eine Grube gefallen war. Zusammen konnten wir aus mehreren Stoffen eine Art Rettungsseil binden, das stark genug war, um ihn da wieder rauszuholen. Oder als einmal ein Sturm einige unserer Laubhütten eingerissen hatte und wir auf einmal ohne Schlafplatz dastanden, da haben alle mit angepackt, neue auf die Schnelle zu bauen und robuster zu machen.“ Bei der Erinnerung stahl sich ein verträumtes Lächeln auf seine Lippen. „Das war was, sag‘ ich dir. Ich dachte echt, das kippt alles. Aber wenn’s hart auf hart kommt, können alle zusammenarbeiten, wenn es sein muss. Es hat Spaß gemacht, irgendwie. Auch wenn’s manchmal echt stressig war und nicht alle dufte miteinander waren. Bestimmt haben wir der Kleinen oft schlimm zugesetzt. Sie hatte keine einfache Zeit mit uns.“

„Bara?“

„Du weißt schon, das Mädchen.“

Ah, der Mensch. Anubis erinnerte sich. Er hatte Thoth schon oft über sie reden gehört, was in ihm die Neugierde geweckt hatte. Ab und an hatte er sie heimlich beobachtet, doch was er von dem Mädchen halten sollte, das wusste er nicht. Ihm war es auch egal. Letztlich war sie immer noch ein Mensch. Und Menschen mochte er nicht.

Bei dem Gedanken schüttelte er schnell den Kopf. Nein, an Menschen wollte er jetzt wahrlich nicht denken. Er war froh über seine Distanz zu ihnen. Dabei wollte er es für den Moment belassen.

„Sag mal“, hörte er, wie sich Takeru wieder an ihn wandte, und blickte fragend zu ihm auf, „du bist doch auch ein Schüler. Bestimmt bist du aus demselben Grund hier wie wir. Wieso beteiligst du dich nicht mit am Unterricht und versteckst dich stattdessen vor uns?“

Er wandte den Blick zur Seite ab. Dieses Thema schon wieder. Takeru hatte ihn das schon einmal gefragt und er hatte ihm keine Antwort darauf geben können. Es hätte ohnehin keinen Sinn gemacht, es zu versuchen.

Ihm war schnell aufgefallen, dass Takeru ihn nicht verstehen konnte. Genau wie Thoth es ihm einmal gesagt hatte, als sie an diesen seltsamen Ort gekommen waren. Es hatte ihn nie gestört. Im Gegenteil: Normalerweise war es ihm ganz recht so, da er nie beabsichtigt hatte, mit jemand anderen als Thoth zu reden. Doch nun, seit er Takeru kannte und sie so etwas wie Freunde geworden waren, war es ärgerlich. Äußerst ärgerlich.

„Weißt du, wenn du am Unterricht teilnehmen würdest … Also, es ist zwar ziemlich idiotisch und unnütz, es nervt auch tierisch und ist oft chaotisch. Aber manchmal … kann es auch Spaß machen. Du könntest auf solchen Ausflügen dabei sein. … Ich mein‘ ja nur.“

Ja, das wusste er alles. Es war nicht das erste Mal, dass Takeru ihn mit solchen Argumenten zu bereden versuchte und auch Thoth sprach oft über den Unterricht. Anubis bezweifelte nicht, dass es Spaß machen konnte. Jedoch …

Da waren so viele fremde Leute! Götter, die er nicht kannte und mit denen er nichts zu tun haben wollte. Und da war ein Mensch unter ihnen! Er hasste Menschen. Er wollte ihnen nicht näher als zwingend notwendig kommen.

Davon ganz abgesehen, würden sie kein Wort verstehen, das er zu ihnen sprach. Welchen Sinn machte es schon, mit Leuten zusammen zu sein, mit denen er sich nicht richtig verständigen konnte? Er wäre ein Außenstehender. Jemand, der nicht dazugehörte und nicht erwünscht war.

So wie es schon immer der Fall war. Zu Hause, in Ägypten. Es wäre exakt dasselbe. Nicht anders als dort.

Takeru neben ihm seufzte. „Versteh‘ schon. Du magst nich‘ drüber reden. Vergiss es einfach wieder.“

„Kah …“ – Das stimmte so nicht.

Traurig ließ er den Kopf zwischen den Schultern sinken. Er würde durchaus mit ihm darüber reden, aber wie? Takeru verstand ihn nicht, ganz gleich, was er versuchte. Wie sollte er sich mit ihm verständigen?

Vorsichtig wagte er einen Blick zu ihm herüber. Die Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, behagte ihm nicht. Er wollte noch mehr von ihm hören. Wollte noch mehr von seinen Abenteuern und Erlebnissen vom Survival Training erfahren. Egal was, es kümmerte ihn nicht. Er wollte ihm nur noch etwas länger zuhören dürfen.

Ihm fiel auf, dass Takeru seinen Blick gesenkt hatte. Zu seiner rechten Hand, die in seiner Hosentasche steckte. Anubis konnte erkennen, dass sich seine Finger unruhig darin bewegten, als kramte er.

„Ka bara?“, ließ er verlauten und beugte sich ein Stück zu ihm herüber, die Augen auf die verborgene Hand gerichtet, um deutlich zu machen, was ihn interessierte.

„Hm?“, bemerkte Takeru die Neugierde des Ägypters und hielt in seiner Kramerei inne. Als Anubis daraufhin fragend den Blick zu ihm hob, drehte er den Kopf schnell zur Seite.

„Also“, begann er zögerlich, ohne ihn anzusehen, „also, ich … ha-habe dir etwas mitgebracht.“

Augenblicklich richteten sich die beiden abstehenden Haarsträhnen auf Anubis‘ Kopf in die Höhe, als seien es Tierohren. Das Violett seiner Augen nahm ein helles Leuchten an, als er erkannte, dass ihn eine Überraschung erwartete.

Takeru räusperte sich verlegen in die freie Faust, anschließend holte er die Hand aus der Hosentasche hervor und streckte sie nach Anubis‘ Richtung aus. „Da“, kam sein Angebot mehr einer Aufforderung gleich, „für dich. Hab‘ ich selbst geschnitzt.“

Mit wild klopfendem Herzen nahm Anubis die kleine, flache Holzfigur an sich, die kaum größer war als sein Daumen. Behutsam hielt er sie in seinen Händen und betrachtete sie sich ausgiebig.

„Bara ka bara?“

„Erkennt man’s nicht? Ist ‘n Hund. Sorry, hab’s nich‘ besser hinbekommen.“

Ah, tatsächlich. Die Figur stellte einen sitzenden Hund dar. Ihm fielen die langen, spitzen Ohren und die ebenso spitze Schnauze auf, deren Konturen tief hervorstachen. Das machte ihn stutzig.

Vielleicht irrte er sich, aber sollte die Figur ihn darstellen? War es das, wie Takeru ihn sah?

Es war nicht zu übersehen, dass er sich mit den Details des Hundes große Mühe gegeben hatte. Die Schnauze und die Ohren waren ohne Frage so gewollt. Sie erinnerten ihn an die Hieroglyphe, die er vor einiger Zeit Takeru aufgezeichnet hatte, um ihm seinen Namen zu nennen. Leider schien der Japaner auch seine Schriftsprache nicht zu verstehen, denn er hatte weder mit der alten noch mit der neuen ägyptischen Schreibweise seines Namens etwas anfangen können. Stattdessen hatte er sich über die »krakeligen Bildchen« lustig gemacht und Anubis hatte es schnell aufgegeben, auf diesem Wege mit ihm zu kommunizieren.

Die Erinnerung war keineswegs erheiternd, dennoch: Er freute sich über dieses Geschenk. Der Gedanke, dass Takeru, trotz all der anderen um ihn herum, an ihn gedacht hatte, während er diese kleine Figur geschnitzt hatte, löste ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihm aus.

Er hatte an ihn gedacht. Er hatte an ihn gedacht! – Er hatte ihn nicht vergessen.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Auf seinen Wangen breitete sich ein Glühen aus. Das Bild auf die kleine, etwas kantig geratene Holzfigur ruckelte, als seine Hände unwillkürlich zu zittern begannen.

„Hey, weinst du?“, klang Takerus Frage halb erstaunt, halb entsetzt. „Ich weiß, es ist nicht so toll geworden, wie es sollte. Aber … hör mal. Wenn sie dir nich‘ gefällt, kannst du sie auch wegschmeißen oder damit anstellen, was du willst.“ Daraufhin wandte er den Blick ab und fuhr nuschelnd fort: „Stört mich nich‘, echt nicht. Is‘ mir egal. Du musst sie nich‘ behalten, wenn –“

„Bara bara bara!“, fuhr ihm Anubis schnell dazwischen und schüttelte abermals wild mit dem Kopf. Verdammt, wieso konnte er ihm nicht sagen, wie falsch er ihn deutete und wie sehr er sich in Wirklichkeit über dieses Geschenk freute? Das war so ärgerlich, dabei war er so ungemein glücklich!

Er wollte etwas sagen, öffnete den Mund und schloss ihn kurz darauf wieder. Es war zwecklos.

Mutlos senkte er den Blick und überlegte angestrengt, was er tun könnte, um Takeru zu vermitteln, wie er wirklich fühlte. Doch statt auf eine Antwort, wurde er auf etwas anderes aufmerksam.

„Ka bara?“, wollte er wissen, wobei er bedeutend auf Takerus Hand zeigte.

Dieser folgte der Geste. Als er bemerkte, worauf der Ägypter aufmerksam geworden war, zog er die Hand schnell von seinem Bein und legte die andere darüber. „Das“, erklärte er stammelnd, „ist nichts. Nur ‘n kleiner Unfall. Bin mit dem Messer ausgerutscht.“

Anubis verstand.

Takeru hatte sich verletzt. Beim Schnitzen. An der Figur, die er für ihn gemacht hatte. Wegen ihm.

Die Hand war um die Mitte verbunden, woraus er schlussfolgerte, dass er sich in die Handfläche geschnitten haben musste. Der Verband sah frisch aus, kein Blut. Dennoch vermutete er, dass es schlimm sein musste, wenn die Hand so sorgfältig bandagiert werden musste.

Es tat ihm leid. Er fühlte sich schuldig für diese Verletzung.

In einem spontanen Beschluss langte er nach Takerus Hand und zeigte sich ungeahnt beharrlich, als der Wassergott versuchte, sich zu sträuben und seinem Griff zu entziehen, was ihm nicht gelang. Prüfend musterte er den Verband, wobei er die Hand dicht an sein Gesicht hob.

Dann, für Takeru gänzlich unvorbereitet, beugte er sich weiter hinab und setzte unter äußerster Vorsicht einen bestimmten, hingebungsvollen Kuss auf die Mitte der Handinnenfläche.

„W-w-was tust du da?!“, entrüstete sich Takeru in heller Aufruhr, zog die Hand eilig aus Anubis‘ Besitz zurück und hielt sie so weit von ihm weg, wie ihm möglich war. Ganz im Unverständnis des Totengottes, der ihn aus unschuldigen Augen anblickte, was ihm umso mehr die Röte ins Gesicht trieb. „Spinnst du? Das ist doch pervers!“

Anubis plusterte beleidigt die Backen. Was hatte er denn bitte falsch gemacht? Und wieso regte sich Takeru so auf? Er wurde nicht klug aus seinem Verhalten.

„Was bist du?! Ein Oni? Ein Tier?“

„Bara“, schnippte Anubis brummig.

„Tu das ja nicht nochmal! Klar, Inuto?“

„Bara! Bara ka bara bara!“, schimpfte er und vergaß in dem Moment, dass Takeru ihn nicht verstehen konnte. Er hatte einen Namen, und dieser lautete »Anubis«. Nicht »Inuto«, wie Takeru ihn immer nannte, seit er versucht hatte, ihm seinen Namen in Hieroglyphen deutlich zu machen.

„Das steht für »fliegender Hund«“, hatte er ihm erklärt, was das Ganze nicht besser machte. Nein, er mochte diesen Namen nicht, den Takeru ihm verpasst hatte. Allerdings war es ihm bisher auch nicht gelungen, dieses Missverständnis klarzustellen.

… Moment! Da fiel ihm gerade wieder etwas ein.

„Was ist?“, brummte Takeru. Kritisch beobachtete er, wie sich Anubis eilig umblickte, sich plötzlich erhob und für einen Moment hinter einem Gebüsch verschwand, ehe er mit einem Stock in der Hand zu ihm zurückkehrte.

Seine Skepsis wandelte sich in Neugierde, als Anubis mit dem Holzstück im Boden zu malen begann. „Was tust du?“

Seine Frage beantwortete sich bald von selbst. Mit Verwunderung beobachtete er, wie sich die einzelnen Striche zu japanischen Schriftzeichen zusammensetzten. Katakana, wie er schnell erkannte.

Interessiert rückte er dichter an Anubis‘ Seite, um die Zeichen aus der richtigen Perspektive betrachten zu können. Als dieser kurz darauf sein Tun beendete, las er das Geschriebene laut vor: „A-nu-hi-su.“

Zweifelnd legte er die Stirn in Falten. „Anu… his? Hiss? Ist das Englisch?“

Anubis schüttelte den Kopf. „Bara, ka bara bara“, erklärte er, tippte mit dem Stock neben die Zeichen und klopfte sich mit der freien Hand auf die Brust. „Bara bara!“

„Ich verstehe nicht“, brummte Takeru zurück, starrte auf die Zeichen und überlegte angestrengt. „»Anuhisu« … Anuhis? Soll das vielleicht dein Name sein?“

Wieder schüttelte er den Kopf, der Verzweiflung nahe. Wieso verstand er denn nicht?

Jetzt hatte er schon extra die Woche, in der Takeru mit den anderen fort gewesen war, genutzt und unter größter Bemühung gelernt, wie man seinen Namen auf Japanisch »schrieb«. Heimlich, ohne dass Thoth etwas davon mitbekommen hatte, was schwierig genug gewesen war. Er hatte nicht gewollt, dass Thoth wieder wütend auf ihn wurde, weil er sich noch immer mit »diesem Fehlschlag« abgab. Und wozu das Ganze? Was machte er denn falsch?

Noch einmal betrachtete er sich die Zeichen, die ihm so fremd und nichtssagend waren. Er wusste nicht, was sie bedeuteten; er hatte lediglich die Strichsetzung auswendig gelernt. Hatte er wohlmöglich etwas übersehen?

„Kaah!“, rief er plötzlich aus, als er seinen Fehler entdeckt hatte. Schnell setzte er die zwei fehlenden Kurzstriche rechts über den horizontalen Seitenstrich, wodurch aus dem japanischen »hi« ein »bi« wurde. Wie hatte er die nur vergessen können?

„Anubisu“, las Takeru das neue Wort vor, woraufhin er nachdachte. „Ah, »Anubis«! Anubis, das ist dein Name, richtig?“

Endlich!

Erleichtert nickte er und stieß ein Seufzen aus. Nie zuvor hatte er es als eine solche Wohltat empfunden, seinen eigenen Namen zu hören.

„So, verstehe. Nun, dann … nehme ich an, nenne ich dich wohl ab sofort auch so?“

„Bara bara“, nickte Anubis mit einem freudigen Strahlen. Überglücklich presste er sich die kleine Schnitzfigur an die Brust und wippte mit dem Kopf hin und her.

„Na schön … Anubis.“ Takeru räusperte sich verlegen. „Schade, »Inuto« hatte mir auch gut gefallen.“

„Bara!“

„Schon gut, meinetwegen“, schmollte er zurück.

 

Das Schlagen der Glockenuhr war vom Schulgelände bis zu ihnen in den Wald hinein zu hören. Schwer, mächtig – als könne sie ihren Klang in jeden noch so entferntesten Winkel tragen, wie es ihr beliebte.

Takeru und Anubis hatten sich derweil erhoben und standen sich zum Abschied gegenüber. Sie würden den Wald getrennt verlassen, wie sie es immer taten, damit sie nicht zusammen entdeckt würden. Doch nun, da die friedliche Idylle des Waldes gestört wurde, horchten beide auf.

„Das ist“, setzte Takeru an, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende bringen, als er die Veränderung bereits bemerkte: Die Temperatur sank spürbar, die Laubbäume um sie herum verloren ihre letzten buntgefärbten Blätter und erste, weiße Miniflocken tanzten vor seiner Nase vom Himmel herab. „Schnee?“

„Kah! Kah!“

Irritiert beobachtete er das seltsame Verhalten seines heimlichen Freundes. Zwischen den schimpfenden Ausrufen gab dieser zischende Laute von sich, die genauso gut von einer Katze hätten stammen können. Gehetzt sprang er von einem Bein aufs andere; versuchte, den rieselnden Flocken auszuweichen, wobei er nach jenen ausschlug, die ihn zu berühren drohten. Es gab ein so albernes Bild ab, dass Takeru nicht wusste, ob er lachen oder verzweifeln sollte.

„Beruhig dich“, rief er ihm zu. „Das ist nur Schnee. Der tut dir nichts.“

Wie auf Kommando stellte Anubis seine erfolglosen Abwehrversuche ein. Fragend blinzelte er zu Takeru, ehe er seinen Blick neugierig gen Himmel hob und die Hände ausstreckte, um die seltsamen weißen Dinger aufzufangen, die ihn nicht wirklich an Blüten erinnerten. Flaumstückchen? Wattefetzen?

Nein. Es fühlte sich kühl und feucht an, als die Flocken auf seine Haut trafen. Fasziniert beobachtete er, wie sie binnen eines Augenblicks schmolzen und ein kaum sichtbares Pfützchen hinterließen.

„Er hat wohl schon wieder die Jahreszeit gewechselt. Muss ihm ja echt Spaß machen“, murmelte Takeru derweil vor sich hin, wobei er sich überflüssig über das blaue Haar strich, das er mit einem Haarreif zu bändigen versuchte. Es landeten direkt neue Schneeflocken darauf.

Seufzend gab er sein fruchtloses Unterfangen auf und wandte sich wieder Anubis zu. Dieser war noch immer ganz gebannt von dem seltsamen Phänomen, das ihm gänzlich unbekannt war.

„Scheint, als sei das dein erster Schnee, den du siehst“, schlussfolgerte er aus seinem Verhalten. „Schneit es dort, wo du herkommst, etwa nicht?“

„Ka bara?“, wandte sich Anubis fragend an Takeru. Verneinend schüttelte er mit dem Kopf.

„Verstehe.“

Takeru beobachtete den Ägypter noch eine Weile nachdenklich. Schließlich trat er auf ihn zu, ging um ihn herum und machte sich daran, ihm die Jacke seiner Schuluniform, die er auf die Arme gerutscht trug, richtig über die Schultern zu ziehen.

„Damit du dich nicht erkältest“, erklärte er, als Anubis von seinem Tun zusammengezuckt und einen Satz von ihm weg geschreckt war. Als wäre die Situation nicht schon albern genug, dass er einen Jungen, der immerhin ein gutes Stück größer als er selbst war, korrekt ankleiden musste. „Passiert schnell bei so ‘nem Wetter. Diese menschlichen Körper sind zu schwach“, ergänzte er leise brummend, um die Peinlichkeit zu überspielen.

Fragen standen in Anubis‘ Augen geschrieben. Fragen, die er ihm nicht stellen konnte.

Abwesend griff er nach dem Kragen seiner Jacke und zog sie sich über den spärlich bekleideten Oberkörper zusammen. Sie war ihm tatsächlich zu groß, zwei Nummern mindestens.

„Gehen wir besser zurück“, wandte sich Takeru von ihm ab. „Jetzt, da es Winter ist, wird es schneller dunkel. Am besten gehe ich vor und du kommst nach. So entdeckt uns niemand zusammen und du kannst dich weiterhin vor den anderen verstecken. Wirst sicherlich keine Einwände dagegen haben.“

Das bedeutete einmal mehr Abschied nehmen. Schade.

Die Zeit mit Takeru verging immer so schnell. Anubis wünschte, er könnte diese Momente länger hinauszögern. Gerade an Tagen wie diesen, an denen er so viel Freude, Spaß und Glück an der Seite seines neuen Freundes empfunden hatte.

Leise, unbemerkt von Takeru, seufzte er.

„Du kennst ja meine Route. Ich laufe ab morgen wieder zur selben Zeit wie immer. … Nich‘, dass ich damit etwas Bestimmtes sagen will oder so.“

Hoffnung keimte in ihm auf, als er zu Takeru aufblickte. Dieser hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und schulterte in dem Moment sein Gepäck.

„Is‘ eigentlich egal. Vergiss es. Tschüss.“

Er lächelte, überglücklich über diese Worte.

Takeru wollte ihn wiedersehen. Ja, morgen würden sie sich wiedersehen.

Gegensätzlich gleich (Oppositeshipping)

„Du hast was?!“, rief Loki voller Entsetzen aus, wobei er einige Krümel der Maiskekse, die er bis zu diesem Zeitpunkt als Vorm-Schlafengehen-Snack verputzt hatte, über den halben Tisch spuckte. Dabei hatte er die Augen aufgerissen und blickte zu dem Freund hinüber, als hätte dieser soeben die morgige Apokalypse verkündet.

Baldr stand inmitten des Wohnraumes der nordischen Götter, lächelte sein strahlendstes Lächeln und nickte beherzt. „Ja, zusammen mit Yui-san, Agana Belea, Thyrsos und Totsuka-san. Es war lustig.

Ihr zwei hättet auch dabei sein sollen. Mit euch wäre es bestimmt noch viel lustiger gewesen“, schloss er seinen Bericht und warf auch einen Blick zu Thor herüber, der sich neben Loki auf einem der gepolsterten Holzstühle an dem runden Mahagonitisch niedergelassen hatte. Er begegnete ihm ohne jegliche Regung in seinen hohen Gesichtszügen. In seiner Hand hielt er einige Spielkarten und die zwei Stapel auf dem Tisch – der eine ordentlich zu-, der andere schluderig aufgedeckt – ließen vermuten, dass sich die beiden bis eben die Zeit mit einer Runde Mau-Mau vertrieben hatten.

„Wir hatten hier auch so Spaß“, erklärte Loki. Er legte ein Kreuz-Ass auf der Kreuz-Drei des offenliegenden Stapels ab, ließ ein weiteres Pik-Ass mit einem „Mau“ folgen und beendete das Spiel mit seiner letzten Karte auf der Hand: einem Herz-Buben. „Mau-Mau, fünf zu null. Du schuldest mir fünf Tafeln Toffee.“

Anschließend erhob er sich von seinem Platz, während sich Thor widerstandslos ans Aufräumen des Kartendecks machte. Seufzend ging er auf Baldr zu, wobei er die Hände locker in die Hüften legte. „Ehrlich, Baldr. Gib dich doch nicht so viel mit denen ab. Wir haben uns hier schon große Sorgen um dich gemacht“, wehklagte er.

„Tut mir leid, ihr zwei. Das wollte ich nicht. Vielleicht hätte ich euch erst kurz Bescheid sagen sollen, dass ihr euch nicht um mich sorgen braucht.“

„Uns fehlt immer etwas, wenn du nicht da bist. Ist doch so, nicht, Thor-chin?“

„Allein gegen Loki zu spielen, ist aussichtslos“, entgegnete Thor ungerührt. „Er lässt mir keine Chance. Mit Baldr wäre es weniger einseitig.“

„Tjaaa“, säuselte Loki zufrieden, „ich bin eben nicht nur der Scherze-, sondern auch der Spielekönig.“

Baldr neben ihm lächelte. „Selbst zu zweit hätten wir keine Chance gegen dich.“

„Wohl wahr, wohl wahr.“ Loki genoss seinen Ruhm sichtlich. Stolz reckte er das Kinn ein Stück vor und wickelte sich verspielt eine seiner langen, roten Haarsträhnen um die Finger.

„Dennoch“, wurde er wenig später wieder ernst, stellte sich an Baldrs Seite und legte ihm den Arm über die Schulter. „Ich mein’s ernst. Gib dich besser nicht so viel mit denen ab, Baldr. Besonders nicht mit den Griechen. Die sind mir nicht geheuer und du weißt, was man sich über die erzählt“, versuchte er ihm ins Gewissen zu reden, wobei er ein wehleidiges Gesicht aufspielte.

„Die drei sind ganz in Ordnung“, beschwichtigte Baldr sanftmütig. „Sie sind vielleicht ein wenig seltsam, aber sowohl Agana Belea als auch Thyrsos und Aidoneus sind ganz nette Personen.“

„Bei Hades wäre ich vorsichtig“, warf Thor von der Seite ein. „Soweit ich weiß, ist er der griechische Gott der Unterwelt. Die Unterwelt selbst ist nach ihm benannt. Und er sagt von sich selbst, dass er anderen um sich herum nur Unglück bringt.“

„Nicht wahr?“, griff Loki diese Worte sogleich als Argument auf und nickte zustimmend. In einer halben Drehung wandte er sich vor Baldr, ergriff beherzt dessen Hände und hielt sie zwischen ihren Körpern umklammert. „Versteh doch, wir meinen es nicht böse. Wir sind nur sehr besorgt um dich und wollen nur das Beste für dich. Wenn dir etwas zustieße … Du bist uns immens wichtig. Und du weißt ja: Wir drei, für immer!“

„Ja. Wir drei, für immer“, beteuerte Baldr. Dabei versuchte er, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen und es mit einem vorsichtigen Lächeln zu überspielen. „Wie könnte ich unser Versprechen vergessen? Aber ihr macht euch wirklich viel zu viele Sorgen um mich. Ihr wisst doch, mir kann nichts passieren. Niemand kann mich verletzen.“

„Und trotzdem muss man immerzu auf dich aufpassen, dass du nicht über deine eigenen Füße stolperst“, seufzte Loki theatralisch.

„Tut mir leid“, kicherte Baldr leise, unschuldig.

Loki seufzte erneut. „Schon gut, schon gut. Man kann dir ja doch nicht lange böse sein“, zwinkerte er dem Freund schelmisch zu. Daraufhin gab er Baldrs Hände frei, nur um hinter ihn zu huschen und entschieden voranzuschieben. „Und nun ab in dir ins Bett! Es ist schon spät und du musst dich noch waschen und umziehen. Ehrlich, wieso läufst du eigentlich in deinen Badeklamotten herum, Baldr? Husch, husch, damit du auch ja genug Schlaf bekommst und morgen nicht wieder vom Stuhl fällst.“

Er ließ ihm keine Gelegenheit zu widersprechen. Nicht, dass Baldr etwas dieser Art vorhatte, doch Lokis Beschluss kam etwas plötzlich für ihn. Er hatte Mühe, unter Lokis sanften Schubsern nicht ins Taumeln zu geraten, während er ihn entschieden die Treppe zu den Schlafräumen hinaufdirigierte. Schnell konnte er Thor noch ein „Gute Nacht“ zurufen, was dieser erwiderte, ehe er sich schon in seinem Zimmer wiederfand.

Seufzend lehnte er sich gegen die geschlossene Zimmertür in seinem Rücken. Er wusste, dass die beiden es nicht böse meinten und tatsächlich nur sein Bestes im Sinn hatten. Dennoch, manchmal wünschte er sich, sie würden ihn weniger umsorgen und mit Samthandschuhen anfassen.

„Mir kann doch nichts passieren“, sprach er leise zu sich selbst.

Müde legte er den Kopf in den Nacken. Hob den Blick hinauf zu der weißen Zimmerdecke, die unbeleuchtet war. Seine Miene festigte sich.

‚Mir kann nichts passieren.‘

 

 

Die Schulglocke läutete einen weiteren überstandenen Schultag ein. Der Unterricht war beendet, endlich.

Es lag nicht an Thoth. Zwar hatte der Ägypter auch heute nicht die beste Laune an den Tag gelegt, aber das war verhältnismäßig noch erträglich gewesen.

Es war der Tag selbst. Viele Dinge waren geschehen und hatten ihnen nicht nur einmal Schwierigkeiten bereitet. Jede neue Unterrichtsstunde hatte sich angefühlt wie eine neue Runde Schwarzer Peter, in der jeder darauf gewartet hatte, wer dieses Mal den Joker ziehen würde. – Es war wie verhext.

„Was machen wir jetzt?“, wandte sich Baldr fragend an Yui, neben deren Pult er stand. Das Mädchen packte gerade, von einem schweren Seufzer begleitet, ihre Schulunterlagen zusammen.

„Wir können das Meeting ohne sie nicht abhalten“, sprach sie betrübt. „Ohne Apollon-san und Dionysos-san ist der Schülerrat nicht vollständig.“

„Außerdem ist Apollon Agana Belea der Schülervorsitzende“, ergänzte Tsukito unnötigerweise von seinem Platz neben Yui aus.

Baldr ließ seinen Blick zu dem leeren Platz vor dem Mädchen schweifen. Apollons Abwesenheit war spürbar gewesen. Nie hätte er gedacht, dass er den griechischen Sonnengott mit seiner eigenwilligen Art zu sprechen vermissen könnte. Vielleicht empfand er diesen Gedanken aber auch nur aufgrund der Sorge so intensiv. Und aufgrund des Vorfalls, der sich heute Morgen vor der Schule ereignet hatte.

Apollon war vor ihnen allen zusammengebrochen. Jetzt lag er auf der Krankenstation der Schule, um sich von seinem Fieberausbruch zu erholen. Baldr hatte auf Anraten Yuis und mit der zerknirschten Zustimmung Thoths in regelmäßigen Abständen nach ihm gesehen, um Wasser aufzufüllen und den Kühlverband zu wechseln. Lieber er als einer der anderen, nachdem sich Yui für die Mitschriften bereiterklärt hatte.

Und Dionysos? Er hatte sich laut Aussage Apollons über Nacht eine Erkältung eingefangen und war auf seinem Zimmer geblieben. Sein leerer Platz an Baldrs Seite hatte sich ungewohnt kühl angefühlt. Immer wieder hatte er sich dabei erwischt, wie er einen verstohlenen Blick zu dem blanken Pult geworfen hatte, auf dem dieses Mal kein dunkelroter Schopf auf verschränkten Armen gelegen hatte. – Etwas hatte merklich gefehlt.

„Anii, lass uns gehen“, holte ihn Takerus Stimme aus seinen Gedanken. Der japanische Meeresgott war an die Seite seines Bruders getreten, die Schultasche lässig über die Schulter geworfen, und wartete auf ihn.

„Ich werde erst noch einmal nach Apollon Agana Belea sehen.“

„Hä? Wieso das denn?“

„Kusanagi Yui hatte es heute Morgen gesagt.“ Aus der Innentasche seiner schwarzen Schuluniformweste zog er sein kleines, blaues Notizbüchlein hervor. Er blätterte einige Male darin herum, bis er die richtige Seite gefunden hatte und sie seinem Bruder vor die Augen hielt. „»Klassenkameraden sind wie Freunde. Wenn ein Freund krank ist, geht man ihn besuchen, erkundigt sich nach seinem Befinden und muntert ihn ein wenig auf«“, zitierte er ihre Aussage auf das Wort genau.

Takeru verzog das Gesicht. „Ehrlich, Anii, wieso schreibst du dir so etwas auf? Hey, Zassou!“ Schnaubend wandte er sich an das Mädchen und warf ihr einen grimmigen Blick zu. „Hör gefälligst auf, meinem Bruder solche Flausen in den Kopf zu setzen!“

„Eh, was? T-tut mir leid?“, stammelte sie eingeschüchtert zurück. Nur vorsichtig ließ sie ihren Blick zu Tsukito wandern. „Du hättest das wirklich nicht mitschreiben brauchen, Tsukito-san …“

„Tze.“ Takeru wandte sich von ihnen ab. „Macht doch, was ihr wollt, aber lasst mich bloß damit in Ruhe! Anii, ich geh‘ dann schon mal vor und sehe nach Usamaro.“

Die Gruppe blickte dem japanischen Meeresgott noch nach, wie er das Klassenzimmer verließ.

„Ich werde nach Thoth-sama suchen“, brach Yui das eingekehrte Schweigen und lenkte damit Baldrs Aufmerksamkeit auf sich. „Ich will schauen, ob er mir noch ein paar Kopien oder sonstiges Material zum heutigen Unterrichtsstoff für die beiden geben kann. Meine Aufzeichnungen von heute Vormittag kann ich ihnen nicht mehr geben …“ Daraufhin warf sie einen verstohlenen Blick auf ihren Rock, auf dem noch immer der dunkle Fleck ausgebreitet war, den sie einem Klassenkameraden zu verdanken hatte. Im Vergleich zu ihrem Hefter, der vom Kaffee regelrecht getränkt worden war, war der helle Stoff noch glimpflich davongekommen. Sie seufzte schwer.

„Ich bin mir sicher, dass Totsuka-san alles mitgeschrieben hat.“

„Ja …“, lächelte sie beklommen. „Vermutlich hat er wirklich alles mitgeschrieben. Ich bezweifle, dass Apollon-san und Dionysos-san damit etwas anfangen können werden.“

Er erwiderte ihr Lächeln. Vermutlich hatte sie recht.

Sein Blick ging weiter durch das Klassenzimmer zu den vorderen Reihen, wo Hades als Letzter neben ihnen und einigen der übrigen Schüler an seinem Platz verweilte. Ihre Augen gerieten für einen kurzen Moment in Kontakt, ehe sich der griechische Gott der Unterwelt abwandte, seine Schultasche in die Hand nahm und ebenfalls in Richtung Tür entfernte.

„Also dann, ich muss los“, hörte Baldr Yui sagen und bemerkte, wie auch sie sich erhob und in Bewegung setzte.

„Ah, warte!“, wollte er sie zurückhalten, befand sich jedoch in dem Moment, in dem er die Hand nach dem Mädchen ausstreckte, in einer Traube aus Schülern wieder.

„Baldr-sama, gehst du heute wieder zum Soft-Tennis?“

„Dürfen wir dich begleiten?“

„Seid doch nicht so aufdringlich! Lasst Baldr-sama etwas Platz!“

„Baldr-sama!“ – „Baldr-sama?“

 

Geschlagene zwanzig Minuten später war es Baldr endlich gelungen, das Klassenzimmer hinter sich zu lassen. Unbeschadet, was einem Wunder gleichkam, doch wie hätte es auch anders sein sollen? Es waren Momente wie diese, in denen er froh war, den stetigen Schutz seiner Mutter um sich zu haben, wodurch er von nichts und niemanden Schaden nehmen konnte. Manchmal erwies sich das doch als überaus praktisch.

Er hoffte, dass es seinen Mitschülern gut ging. Auf der einen Seite war er Loki überaus dankbar für seine Hilfe, auf der anderen Seite bereitete es ihm ein schlechtes Gewissen, die Geistschüler in der Obhut des Freundes und seinen Bonbonbomben zu überlassen. Hoffentlich übertrieb Loki es nicht wieder, nur um ihm aus der Patsche zu helfen …

Die Schulflure, welche er entlangschlenderte, waren wie leer gefegt. Unbewusst hielt er Ausschau nach einem bekannten Gesicht, doch niemand war ihm bisher begegnet. Ob Yui sich wohl noch bei Thoth aufhielt? Oder war sie inzwischen zum Krankenzimmer gegangen, um noch einmal nach Apollon zu sehen? Wie er das Mädchen kannte, würde sie das garantiert noch tun. Sie war so ein herzensguter Mensch.

Er bemerkte erst, dass seine Gedanken ihn lächeln ließen, als er auf einmal innehielt und stutzte. Sofort sah er sich um, fand in der Nähe eine Skulptur und huschte dahinter, um sich zu verstecken. Nur vorsichtig blinzelte er dahinter hervor.

Dort vorne stand Hades. Seine Augen ruhten auf dem Knauf der Tür, vor welcher er verweilte. Irgendwie wirkte er zögerlich, unentschlossen, und rührte sich zu keiner Bewegung.

Hinter dieser Tür befand sich das Krankenzimmer, in welchem sie Apollon untergebracht hatten. Baldr war sich sicher, er war heute schon oft genug hier gewesen. Der Weg hatte sich ihm eingeprägt, was selbst die Tatsache nicht ändern konnte, dass er bis eben mehr gedankenverloren umhergewandert, als zielstrebig vorangegangen war.

Fragen sammelten sich in seinem Kopf. Wieso ging Hades denn nicht hinein? Wollte er sich denn nicht des Zustandes seines Neffen vergewissern? Und wieso versteckte er sich eigentlich vor ihm?

Er verhielt sich albern, das wurde Baldr in diesem Moment bewusst. Es gab keinen Grund, sich versteckt zu halten, und auch keinen, wieso Hades nicht hineingehen sollte. Also wollte er beides ändern.

„Aidoneus“, machte er sich bemerkbar und trat hinter seinem Versteck hervor. „Wie schön, dich hier zu sehen. Möchtest du Agana Belea besuchen?“

Hades wandte sich nach ihm um und sah ihn aus seinen roten Augen an. Für wenige Sekunden nur, dann drehte er sich um und ging, ohne auch nur ein Wort zu ihm gesprochen zu haben. Diese abweisende Reaktion brachte Baldr so sehr aus dem Konzept, dass sein Lächeln augenblicklich erstarb, er ein weiteres Mal stehen blieb und dem Griechen irritiert nachblickte. Dessen Schritte entfernten sich leise, bis der lange Flur erneut wie verlassen war.

 

„Ich verstehe nicht, wieso dich das so sehr kümmert.“ Es ergab ein knirschendes Geräusch auf dem Boden, während Loki im Gemeinschaftsraum der nordischen Götter auf den Hinterbeinen seines Stuhls kippelte. Die Beine auf dem Tisch überschlagen, die Hände im Nacken verschränkt und im Mundwinkel einen Lolli machte er einen äußerst gelangweilten Eindruck, während er sich nicht einmal die Mühe machte, zu dem Freund herüberzuschauen. „Ich finde, ihr macht alle einen viel zu großen Aufriss um diesen griechischen Kindskopf. Selbst schuld, wenn er halbnackt im Regen herumspielen muss. Er ist eben ein Ahollon. Geschieht ihm nur recht.“

„Seit wann bist du so gehässig?“, machte Baldr ihm zum Vorwurf. Anschließend seufzte er geschlagen. „Vielleicht hast du ja recht. Ich fände es dennoch schön, wenn du nicht immer so gemein zu den anderen wärst.“

„Und was diesen Trauerkloß anbelangt“, fuhr Loki einfach fort, ohne auf Baldrs Worte einzugehen, „ist der nicht immer so? Mal ganz im Ernst: Für den ist doch alles ein Weltuntergang. Aber das heißt nicht, dass es das für uns auch sein muss.“

„Du hast ja recht, aber ich mache mir dennoch Sorgen.“

Dem Feuergott blieb nicht verborgen, dass Baldrs Stimme bei seinen letzten Worten immer leiser geworden war. Lautstark ließ er den Stuhl in seinen festen Stand zurückfallen, schwang sich aus seiner bequemen Haltung und erhob sich, um auf Baldr zuzugehen.

Bedeutend legte er ihm beide Hände auf die Schultern. „Baldr. Ich bin dein Freund und zum Wohle unserer Freundschaft sage ich es dir noch einmal: Lass dich nicht auf diese Spinner ein. Ich weiß, du kannst nicht anders, aber … bitte.“

Sie sahen einander an. Lange Zeit herrschte Stille zwischen ihnen, als Baldr nichts auf die Worte des Freundes erwiderte und Loki ganz offensichtlich auf eine Antwort von ihm wartete.

Schließlich wischte Baldr dessen Hände von seinen Schultern und trat einen Schritt zur Seite. „Hast du vergessen, was Zeus am ersten Tag zu uns gesagt hat? Wir müssen alle zusammen unseren Abschluss hier schaffen, wenn wir in unsere Welten zurückkehren wollen. Wenn wir also nicht ewig hier gefangen bleiben wollen, sollten wir alle zusammenarbeiten.“

„Ist das dein Ernst?“

„Aus diesem Grund bitte ich dich: Hör auf, dich immerzu gegen die anderen zu stellen. Damit stellst du dich auch gegen uns.“

„Baldr!“

Er drehte sich von ihm weg. „Es tut mir leid, Loki.“

„Wa-warte! Baldr!“

Doch Baldr hatte sich bereits von ihm entfernt und verließ in diesem Moment den Gemeinschaftsraum.

 

Loki meinte es nicht böse. Er machte sich nur Sorgen um ihn. Er mochte keine Fremden, schon gar nicht, wenn sie Baldr zu nahe kamen. Und er brauchte diese kleinen Neckereien.

Er war eben so. Baldr wusste das. Er war sich sehr wohl darüber bewusst. Niemals hätte er es dem Freund zum Vorwurf gemacht. Und dennoch …

„Was ist nur los mit mir?“, stellte er sich selbst leise die Frage, die ihn schon den ganzen Tag über belastet hatte. Lag es an dem seltsamen Tag mit all den seltsamen Vorfällen? Lag es daran, dass er schon den ganzen Tag das Gefühl gehabt hatte, dass etwas nicht richtig war, nur weil zwei seiner Klassenkameraden-auf-Zeit gefehlt hatten? Oder hatte es noch einen ganz anderen Grund, der ihm nur noch nicht in den Sinn gekommen war?

Verbittert über sich selbst blieb er stehen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt und die Luft war spürbar heruntergekühlt. Es war still auf dem Schulgelände, und doch trieb er sich hier draußen herum, weder mit einem richtigen Grund noch einem festen Ziel vor Augen. Wie lange irrte er hier schon umher, lief von A nach B, nur um nicht in die Wohnräume zurückkehren zu müssen? Und wieso eigentlich?

‚Sie meinen es nicht böse‘, sprach er sich zum unzähligen Male in Gedanken zu. Nicht, dass er sich selbst daran erinnern müsste. Diese Worte wiederholten sich wie von selbst in seinem Kopf, ohne dass er aktiven Einfluss darauf hatte. Wieso? Er wusste das doch.

Leise seufzend fuhr er sich über das Haar und ließ die Hand kurz im Nacken ruhen, um ihn zu massieren. Vielleicht machte er sich auch einfach zu viele Gedanken. Wenn er so überlegte, war in der letzten Zeit sehr viel passiert und es war gut möglich, dass erst jetzt alles nach und nach sackte. Schließlich waren sie nicht mehr in Asgard, nichts hier erinnerte an zu Hause. Da konnte es gut vorkommen, dass hin und wieder einfach die Verwirrung überhandnahm. Ja, das könnte eine Erklärung sein.

Mit einem entschiedenen Kopfnicken setzte er sich wieder in Bewegung, machte einen Schritt und … ging rücklings zu Boden. Sein Hintern schmerzte augenblicklich und er gab einen wehleidigen Laut von sich, musste dann aber selbst leise lachen, als er erkannte, dass sich manche Dinge trotz allem noch nicht geändert hatten. Das hatte etwas Beruhigendes an sich.

Unweit von sich hörte er ein Geräusch, das seine Aufmerksamkeit erregte. Augenblicklich drehte er den Kopf und erkannte Hades mehrere Meter hinter sich, der gerade mit einem Lederkoffer in der Hand auf das Gelände getreten war. Ihre Blicke trafen sich, nur für einen Moment, dann wandte sich der Grieche zur Seite ab und entfernte sich entlang des Schulgebäudes.

Es dauerte einige Zeit, bis Baldr kombiniert hatte. Natürlich, der Abend brach über sie herein und Hades würde die späten Stunden nutzen, um seiner Leidenschaft nachzugehen. Ein Blick in Richtung Nachthimmel, der bald vom tiefen Rot in ein dunkles Violett übergehen würde, ließ bereits die schwache Silhouette des Sichelmondes erkennen. Nicht mehr lange, bis auch die ersten Sterne zu sehen sein würden. Und bis zur vorgeschriebenen Nachtruhe.

Vorsichtig rappelte er sich zurück auf die Beine. Eher beiläufig klopfte er sich den Schmutz von dem hellen Stoff seiner Schuluniform, wobei er in jene Richtung blickte, in die der griechische Gott verschwunden war. Wenn Loki hier wäre, hätte er bestimmt wieder einen fiesen Spruch auf den Lippen gehabt. Aber er war nicht so, er gönnte Hades das Einzige, was ihm Freude bereitete.

Er sollte besser zu Loki und Thor zurückkehren, ehe sie sich schon wieder Sorgen um ihn machten, dass er noch so lange weggeblieben war. Loki dürfte ohnehin schon wütend auf ihn sein wegen ihrer kleinen Auseinandersetzung vorhin. Wenn er wüsste, dass er Hades …

Bei dem Gedanken hielt er inne. Noch einmal suchte er die Richtung ab, in der Hades verschwunden war. Die Pfade schlängelten sich in seinem Kopf fort.

Schließlich fasste er einen Entschluss.

 

Er behielt recht. Hades hatte lediglich einen Umweg gemacht und sich auf die freie Fläche abseits des Sportplatzes vor dem Schulgebäude begeben, wo er sein Teleskop aufgestellt hatte. In diesem Moment saß er auf dem kleinen klappbaren Hocker, drehte an dem Schaugerät herum und schien ganz in seinem Element zu sein.

Ihn trennten nur noch wenige Meter von dem griechischen Gott der Unterwelt und noch immer war er nicht auf ihn aufmerksam geworden. Das war unüblich für ihn. Fast spürte Baldr so etwas wie Neid, dass Hades etwas für sich besaß, das ihn so sehr fesseln konnte, dass selbst seine Achtsamkeit in Mitleidenschaft geriet.

Er wartete noch einige Zeit, ehe er auf sich aufmerksam machte: „Schaust du dir wieder die Sterne an?“

Wie erwartet löste sich Hades daraufhin von dem Fernsichtgerät. Schweigend blickte er zu dem Norden herüber, ohne jeglichen Ausdruck in seinen Augen.

„Oh, tut mir leid. Störe ich dich? Vielleicht sollte ich leise sein.“

Nichts, keine Reaktion.

„Lass dich bitte nicht von mir stören. Ich verspreche auch, dass ich von jetzt an leiser bin. Ich suche nur nach etwas Gesellschaft.“

„Und die suchst du bei mir?“ Kein Vorwurf, kein Unglaube klang aus diesen Worten. Da war nur die übliche Zurückweisung, die deutlich wurde, als Hades seinen Blick wieder nach vorn wandte. „Da muss ich dich enttäuschen. In meiner Nähe findet man nichts bis auf Unglück. Du bist bei den anderen besser aufgehoben.“

„Im Moment fühle ich mich dort eher unwohl“, erklärte Baldr leise.

Hades schwieg für kurz. „Dann such dir einen Rückzugsort, bis du dich besser fühlst. Wie auch immer, du solltest nicht in meiner Nähe sein.“

„Machst du dir Sorgen, dass mir ansonsten Unglück widerfährt, wenn ich bleibe?“

Keine Antwort.

Baldr lächelte. „Nur keine Sorge, mir kann nichts passieren. Solange ich nicht über meine eigenen Füße stolpere, kann mir nichts etwas anhaben.“

„Wenn du meinst.“

Und so kehrte wieder Stille zwischen ihnen ein. Hades kümmerte sich nicht weiter um seinen unerwarteten Besucher, während Baldr es als sicherer erachtete, sich in das weiche Gras zu setzen. Lieber wollte er nichts herausfordern, als am Ende tatsächlich noch unglücklich zu stürzen und Hades damit Anlass zu geben, sich erneut unangemessene Schuld aufzubürden. So konnte ihm nichts passieren, und wenn etwas vom Himmel stürzen würde, würde es ihn nicht treffen. Dessen war er sich gewiss.

Es sei denn, Hades‘ Fluch wäre stärker als sein Segen. Das war mit ein Grund, warum er sich bewusst gegen die Bitte seines Freundes entschieden und Hades aufgesucht hatte. Zugegeben, damit forderte er die Mächte heraus, aber wenn es eine Möglichkeit gab …

„Hast du ihn noch besucht?“, richtete er sein Wort an Hades, um sich von den egoistischen Gedanken loszulösen. „Agana Belea, meine ich.“

Zögern. „Nein.“

„Wieso nicht?“

Schweigen.

„Möchtest du nicht wissen, wie es ihm geht?“

Keine Antwort.

Baldr seufzte leise. „Ich habe vorhin noch einmal nach ihm gesehen. Es geht ihm schon besser. Wenn er die Nacht gut durchschläft, dürfte er morgen schon wieder auf den Beinen sein.“

Auf Hades Lippen stahl sich ein erleichtertes Lächeln. „Das ist gut“, sprach er so leise, dass es kaum zu verstehen war. „Apollon ist ein tapferer Junge. Er wird es schaffen, ganz bestimmt.“

Es war die erste Gefühlsregung, die Hades an diesem Tag gezeigt hatte. Natürlich war sie Baldr nicht verborgen geblieben. Jedoch warf sie nur noch mehr Fragen in ihm auf.

„Denkst du vielleicht, dass es deine Schuld ist, dass er jetzt auf der Krankenstation liegt?“

Durch Hades ging ein Ruck. Baldr merkte es daran, dass seine Schultern kurz zuckten, ehe der Grieche seine Körperhaltung versteifte. Damit war klar, dass er mit seiner blinden Vermutung mitten ins Schwarze getroffen hatte.

„Das ist doch Unsinn“, versuchte Baldr ihm ins Gewissen zu reden. „Sein Fieber kommt daher, dass er vermutlich zu lange in den nassen Kleidern geblieben ist nach unserer gestrigen Aktion. Es war außerdem recht kühl gewesen, als es geregnet hatte. Bei dem Strandausflug ist er auch schnell krank geworden, als er zu lange im kalten Wasser geblieben war. Er ist die Grenzen unseres menschlichen Körpers einfach nicht gewöhnt.“

Kurz pausierte er. „Es hat nichts mit dir zu tun. Oder damit, dass du anderen Unglück bringen sollst. Rede dir das nicht ein.“

Es folgte abermals Stille. Gerade als Baldr dachte, dass Hades ihm wieder nicht antworten würde, stieß dieser ein schweres Seufzen aus, ehe er sprach: „Es ist meine Schuld. Immer, wenn mir so etwas wie Glück widerfährt, ist das Unglück, was ich den mir Umstehenden bringe, nur umso größer.“

Es war an Baldr, zu schweigen und lediglich zuzuhören.

Hades senkte den Kopf, sein Blick wurde trüb. „Gestern Abend, als ich euch alle um mich gesehen habe, war ich glücklich. Als ich euch lachen gehört habe, war ich glücklich. Zu sehen, wie ihr das Unglück, das ich euch gebracht habe, in etwas Gutes verwandelt, hat mich außerordentlich glücklich gemacht. … Als Strafe dafür, dass ich so viel Glück empfunden habe, hat das Unglück heute umso mehr seine Hände nach euch ausgestreckt. Es ist meine Schuld.

Apollon und Dionysos sind krank. Tsukito wäre beinahe die Treppe hinuntergestürzt. Kusanagi wurde von heißem Kaffee überschüttet. … Alle, die gestern für mein Glück verantwortlich waren, mussten heute dafür büßen. Alles wegen mir …“

„Das stimmt doch nicht“, versuchte Baldr zu widersprechen, merkte jedoch schnell, dass jeglicher gute Wille nichts nützte. Hades war von seiner Theorie überzeugt und er hatte nichts in der Hand, um dem entgegenzuwirken.

Er wollte es dennoch nicht dabei belassen. „Aber schau, mir ist doch nichts passiert. Das beweist, dass dein Unglück mir nichts anhaben kann. Du kannst in meiner Gegenwart also ganz unbesorgt sein.“

„Du bist gestürzt“, warf Hades ein. „Dreimal in meiner Gegenwart.“

„Das hatte weniger etwas mit dir zu tun“, entgegnete Baldr beschwichtigend und lächelte unbeholfen. „Ich bin einfach zu unachtsam, das ist alles. Ich stolpere andauernd über meine eigenen Füße.“

Hades entgegnete nichts darauf. Er richtete lediglich den Blick von dem jungen Lichtgott weg und hielt sich in Schweigen.

Baldrs Zehen zuckten unruhig. Um es zu überspielen, begann er, abwechselnd mit den Füßen zu wackeln, die ausgestreckt vor ihm in dem weichen Gras lagen. Irgendwie bereitete ihm das Thema Unbehagen, ohne dass er wusste, wieso das so war. Dabei war es doch nichts Neues, er war es gewohnt und jeder andere wusste längst von seiner Unschicklichkeit. Wieso auf einmal war es ihm unangenehm, darüber zu sprechen?

„Ich bereite den anderen immerzu Kummer deswegen“, sprach er dennoch weiter, als würde ihn die eingekehrte Stille dazu drängen. „Ich kann es nicht ändern, es ist ein fester Teil von mir geworden. Es macht mir nichts aus, aber jedes Mal, wenn ich stürze, machen sich die anderen Sorgen um mich. Und das tut mir leid.

Seit wir klein waren, waren Loki und Thor immerzu um mich besorgt. Ich weiß nicht, wieso. Es ist vollkommen unnötig. Sie wissen, dass ich nicht verletzt werden kann. Ich bin durch den Wunsch meiner Mutter gesegnet. Und dennoch …“ Er stieß ein langes Seufzen aus. „Oft wünschte ich mir, sie würden mich weniger mit Samthandschuhen anfassen.“

„Sie sind um dich besorgt, weil sie dich lieben.“

Baldr lächelte. „Ja. Ja, da magst du wohl recht haben.“

Nach einem kurzen Zögern sah er auf. „Dasselbe kann man auch über dich sagen“, ergänzte er an Hades gewandt.

Dieser warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Ich habe euch beobachtet“, erklärte Baldr, lächelte herzensgut und legte den Kopf ein wenig schief. „Dich, Agana Belea und Thyrsos. Die beiden lieben dich aufrichtig, deswegen sind sie so besorgt um dich. Es ist dasselbe wie bei mir, Loki und Thor.“

Es könnte Einbildung gewesen sein, doch Baldr glaubte, ein kurzes Aufleuchten in den Augen des Griechen zu sehen, ehe sich dieser auch schon wieder von ihm wegwandte. „Ich weiß nicht, ob man das miteinander vergleichen kann“, sprach er leise.

„Wieso denn nicht? Es ist doch etwas sehr Schönes. Und glaub mir, ich kann das sehr gut verstehen.“

Ein weiteres Mal kehrte Stille zwischen ihnen ein. Nur für eine kurze Zeit, bevor Baldr erneut das Wort ergriff: „Manchmal wird ein Fluch zum Segen, und manchmal wird ein Segen zum Fluch. Ich beginne, das zu verstehen, seit ich hier mit euch allen zusammen bin. Zwei Gegensätze, die in sich so gleich sind.“

Schließlich erhob er sich. Als er sich zu Hades drehte, bemerkte er, dass dieser ihn mit einem nachdenklichen Blick bedachte.

„Ich verstehe dich sehr gut. Besser als du denkst. Deswegen …“ Er schenkte dem Gott der Unterwelt sein wärmstes Lächeln und streckte die Hand nach ihm aus. „Lass uns Freunde sein, ja?“

Hades sagte nichts. Seine Augen ruhten weiterhin auf dem Norden, als versuche er, sich dessen helles Gesicht genauestens einzuprägen.

„Hm“, stieß er einen leisen, belächelnden Laut aus und wandte sich ab. „Ich fange an zu verstehen, wieso du der nordische Gott des Lichts bist. Selbst noch in dieser Menschengestalt strahlst du so viel Barmherzigkeit und Wärme aus.“

„Eh? Findest du?“

Da gab es keinen Zweifel. Hades spürte es tief in seiner Brust. Wie ein Licht, das seine Seele erhellte. Und da war noch etwas anderes.

Er hatte etwas in dem Lichtgott gesehen. Etwas, das er zuvor nie wahrgenommen hatte und unter normalen Umständen wohl auch niemals hätte. Etwas, das traurig war und ihm doch das tröstende Gefühl gab, dass sie beide, die unterschiedlicher kaum sein könnten, etwas gemeinsam hatten. Seltsam, und kaum zu glauben.

War es etwas Gutes? War es etwas Schlechtes? Sollte es ihn glücklich stimmen? Unglücklich? Was war richtig, was war falsch?

Was zählte es schon? Es war längst zu spät.

Mein Versprechen an dich (GoingHomeshipping)


 

»Ich habe dich immerzu beobachtet. Dich und Baldr.

Ich war jederzeit bei euch. Habe über euch gewacht.«
 

„Moaaah!“ Loki stieß ein langes, lautstarkes Stöhnen aus. Von allen Lebensgeistern verlassen, ließ er sich nach vorn fallen, die Arme über die gesamte Tischplatte ausgestreckt. Sein Kopf sank auf das dunkle, polierte Holz. „Jetzt helft mir doch mal, Baldr, Thor-chin. Ich kann mich einfach nicht entscheiden!“

„Denkst du wieder über einen neuen Streich nach?“, wollte Baldr wissen, wobei er das Buch, in dem er bis eben gelesen hatte, aufgeschlagen auf seinen Schoß sinken ließ.

„Die Entscheidung fällt so schwer“, lamentierte Loki erneut. Wehleidig und trostsuchend rieb er die Wange gegen die kühle Platte. „Nehme ich den Klebstoffstreich oder mische ich ihm etwas Senf unters Essen? Hach, beides hat seinen Reiz. Aber das mit dem Senf birgt ein gewisses Risiko, dass es nicht wie gewünscht funktioniert. Und der Klebstoff wäre schon wieder zu einfach, aber dafür effektiv. Hm, Spaß gegen Garantie. Welchem gebe ich nur den Vorzug?“

„Ganz ehrlich, Loki“, stieß Baldr ein leises Seufzen aus. „Ich finde, du solltest es sein lassen. Beides ist nicht besonders nett und ich finde, so viel Boshaftigkeit hat er nicht verdient.“

„Machst du Witze? Selbstverständlich hat er eine Abreibung verdient!“ Er ließ ein beleidigtes Schnauben folgen. Unwillig richtete er sich auf seinem Stuhl auf, überschlug die Beine und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Er hat mich in die Seite gerammt und mir kurz darauf ein Bein gestellt! Nur schlechte Verlierer wie er greifen auf so miese Tricks zurück. Meine linke Seite schmerzt immer noch, als hätte mich ein Bulle erwischt … Dagegen sind meine Streiche vollkommen harmlos. Er hat es nicht anders verdient!“

„Es war doch nur Fußball“, sprach Baldr ruhig auf ihn ein. „Beim Sport kann es immer zu kleineren Unfällen kommen. Ich finde, du solltest das nicht allzu persönlich nehmen.“

„Ich glaube, es geht dir weniger um Gerechtigkeit als vielmehr um Genugtuung“, gab Thor seine Vermutung kund.

„Und wenn schon!“, schmetterte Loki die Argumente der beiden Freunde zurück, ohne sich einsichtig zu zeigen. „Ich habe ihm oft genug gesagt, dass er aufpassen soll, mit wem er sich anlegt. Aber dieser Idiot lernt ja nicht dazu. Ich helfe ihm lediglich wieder etwas auf die Sprünge, das ist alles. Jaha, so nett bin ich zu ihm! Also, was wollt ihr von mir?“

„Mach, wie du denkst. Aber ohne mich.“ Mit diesen Worten schlug Baldr sein Buch zu. Ohne weitere Umschweife erhob er sich von seinem Platz und entfernte sich in Richtung Treppe, die zu den Schlafräumen hinaufführte. „Du hörst ohnehin nicht auf das, was man dir sagt. Aber merke dir, dass wenn du Takeru bei deinem Streich ernsthaft verletzen solltest, ich dir das niemals verzeihen werde. Gute Nacht.“

Baldrs Schritte waren das Einzige, was im Raum zu hören war, bis die Tür zu seinem Zimmer leise ins Schloss fiel. Anschließend breitete sich Stille im Wohnbereich aus.

„Ich schätze, jetzt hast du Baldr verstimmt. Wieder einmal.“

„Ach was, der kriegt sich schon wieder ein“, winkte Loki die Bemerkung beiseite. Die Enttäuschung in seiner Stimme strafte seine Worte Lügen, doch er überspielte diese Tatsache sofort.

Ganz der Schelm spielte er ein breites, vielheißendes Grinsen auf seine Lippen. Lässig lehnte er sich vor, stützte beide Ellenbogen auf den Tisch und bettete das Kinn auf seine ineinander verschränkten Finger. „Also, Thor-chin“, liebelte er zu dem Freund hinüber. „Was meinst du? Welchen Streich soll ich morgen nehmen?“

Thor legte sich eine Hand ans Kinn und überlegte. „Die Sache mit dem Senf scheint mir die glimpflichere Wahl zu sein.“

„Gut, gut. Dann entscheide ich mich für den Klebstoff!“
 

»Wir waren immer zusammen. Wir drei.

Und wir würden es immer sein.«
 

„Ach, nun komm schon, Baldr! Bist du etwa immer noch sauer auf mich?“

Auf den Meter folgte Loki dem Freund entlang des Sportgeländes, das zu dieser Zeit noch gut besucht war von den Schülern, die hier ihren Sportclubaktivitäten nachgingen. Baldr war einer von ihnen. Zwar war nie wirklich zu bestimmen, ob das, was er und sein Club veranstalteten, tatsächlich Soft-Tennis war, aber zumindest zeigte sich der Lichtgott gewissenhaft und hatte sein Bestes versucht. So wie jeden freien Mittwochnachmittag.

 Baldrs Weg führte ihn hinüber zu der Wasserstelle. Leises Rauschen war zu hören, als er den Hahn ein Stück weit aufdrehte und mit den Händen eine Schale formte, um das fließende Wasser aufzufangen. Das kühle Nass war angenehm erfrischend und er verteilte es großzügig in seinem Gesicht. Eine zweite Fuhre landete in seinem Nacken, um die erhitzte Haut unter dem zusammengebundenen Haar zu kühlen. Es entlockte ihm ein wohliges Seufzen.

Anschließend drehte er das Wasser ab, nahm sich das weiße Handtuch von den Schultern und tupfte sich das Gesicht trocken. Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, doch für Loki fühlten sie sich an wie eine Ewigkeit.

„Schau, es war doch nur ein harmloser Streich. Ein wenig Klebstoff, ein wenig Gebrüll und die Hälfte der Klasse hat gelacht. Und es ist niemand zu Schaden gekommen, wie ich es versprochen habe“, erklärte er sich, da er die Stille nicht länger ertrug. Dabei zog er die Schultern nach oben und hob die Hände seitlich in eine entschärfende Geste. Als handle es sich nur um eine kleine Lappalie.

Endlich drehte sich Baldr nach ihm um. Noch immer hielt er das Handtuch im Nacken und wischte sich die letzten Wasserreste von der Haut, wobei er den Freund ohne jeglichen Vorwurf bedachte. „Loki, ich bin nicht wütend auf dich.“

„Bist du dir da sicher?“, hakte der Schalk nach. Er bezweifelte diese Aussage, was umso deutlicher wurde, als er die Arme vor der Brust verschränkte und die Augenbrauen in Skepsis verzog. „Dann kam es mir also nur so vor, als hättest du mich den ganzen Tag gemieden und versucht, mir aus dem Weg zu gehen?“

Baldr wich ihm zur Seite aus. Kurz überlegte er, ehe er den Blickkontakt wieder aufnahm. „Ich hatte gehofft, du würdest dich noch bei ihm entschuldigen“, gestand er leise.

Loki seufzte theatralisch. Betont löste er die Arme von seiner Brust und ließ die Schultern nach vorn fallen. „Ach, Baldr. Wieso sollte ich mich denn bei ihm entschuldigen? Ich habe mich lediglich bei ihm revanchiert, das ist alles. Und das hat er auch verstanden, da bin ich mir sicher.“

„Loki …“

„Was denn? Was willst du denn von mir?“, ging Loki sofort in Abwehrhaltung. „Komm schon, ich habe niemanden verletzt! Was man von einem gewissen Fischkopf nun nicht gerade behaupten kann!“

„Ich weiß doch …“ Mit einem Mal war die Atmosphäre zwischen ihnen angespannt. Baldr konnte es deutlich spüren, doch er ließ sich nichts anmerken und hielt Lokis kleinem Ausbruch stand.

Still zählte Loki bis fünf. Ein schweres Seufzen folgte, dann setzte er sich in Bewegung und tat die wenigen Schritte, bis er direkt vor Baldr stand. „Schon gut. Tut mir leid, dass ich eben laut geworden bin“, gab er bei und legte ihm versöhnlich die Hand auf die Schulter. „Ich will nicht mit dir streiten. Verzeihst du mir?“

Kurze Zeit prüfte Baldr Lokis Augen. Offen und sanft blickten sie ihm entgegen, wie er es gewohnt war. Alle Anspannung fiel von ihm ab, als er das aufrichtige Lächeln Lokis erwiderte. „Wie könnte ich dir jemals nicht verzeihen?“, sprach er leise.

„Das ist gut.“ Beherzt griff Loki nach Baldrs Händen und drückte sie liebevoll.

„Haaa, jag mir doch nicht so einen Schrecken ein! Ich dachte für einen Moment wirklich, du wärst sauer auf mich“, war er im nächsten Moment zurück in seiner Melodramatik und stieß ein gequältes Stöhnen aus. Erneut ließ er die Schultern nach vorn fallen, hob Baldrs Hände in seinen zwischen ihre Körper und setzte einen wehleidigen Blick auf. „Das kannst du mir nicht antun, Baldr. Ich wüsste nicht, was ich dann machen sollte!“

„Tut mir leid“, lächelte Baldr tröstlich.

So schnell wie Loki den Betroffenen gemimt hatte, rückte er seine Haltung wieder zurecht und begegnete dem Lichtgott mit einem breiten Grinsen. „Das kann ich nicht zulassen, niemals! Und deswegen …“ Daraufhin gab er Baldrs Hände frei und zog die schwarze Tasche, die er quer über seine Schulter an der Seite trug, nach vorn und suchte in ihr herum. Heraus holte er ein weißes, unförmiges Päckchen, dessen Zelltaschentücher er auseinanderwickelte.

„Hier!“, forderte er ihn auf und hielt Baldr ein handgroßes Gebäckstück in Form eines Halbkreises mit verzierenden Einschnitten an der runden Kante entgegen. „Frisch aus der Hausmannsküche: Gefüllte Teigtaschen. Extradünner Teig, extraviel Fleischfüllung.“

„Eh?“ Überrumpelt blinzelte Baldr erst auf das Gebäck, dann in das stolz strahlende Gesicht des Freundes. „Du hast das gemacht? Für mich?“

„Ich muss doch sicher gehen, dass du mir auch wirklich vergibst“, erklärte Loki voller Überzeugung. „Hier, na komm schon, nimm! Sie sind noch warm.“

Er ließ ihm gar keine andere Wahl und drückte ihm die Teigtasche einfach in die Hand. Prüfend musterte Baldr das Gebäckstück von allen Seiten und entließ ein entzücktes Kichern, als er das Mäusegesicht entdeckt hatte, welches Loki in den Teig geritzt hatte. Ein erster Bissen war genug, um Baldr vollends in Verzückung zu versetzen und seine Begeisterung lautend zu machen.

Zufrieden über sein Werk beobachtete Loki den Freund einige Zeit, wie er die erste Tasche genüsslich verputzte und kurz darauf um Nachschlag bat. Während er sich auch diesem Verzehr gänzlich hingab, wandte Loki den Kopf nach hinten und hob – als er gefunden hatte, wonach er suchte – in einer Siegerpose den Daumen in die Höhe.

Hinter einem Gebüsch verborgen stand Thor und erwiderte diese Geste mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen
 

»Baldr ist dir wichtig. Niemand ist dir wichtiger.

Und keiner weiß das besser als ich.«
 

Lokis gut gelauntes Summen klang durch den gesamten Wohnraum der nordischen Götter, während er Wasser in das Spülbecken einließ. Alles in allem war er zufrieden. Der Tag war für ihn gut verlaufen und das gemeinsame Abendessen mit den beiden Freunden hatte dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt. Er konnte sich wahrlich nicht beklagen.

„Warte, ich helfe dir.“ Weiteres Geschirr, welches Thor gerade vom Tisch abgeräumt hatte, wurde herangetragen. Er stellte es zu den Tassen und Gläsern, die bereits auf Säuberung warteten, neben Loki auf der Arbeitstheke ab.

„Ah, danke. Geschirrtücher sind dort drüben“, wies er ihn sogleich an. Kurz deutete er zu einer der Schubladen, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Loki begann, die ersten Gläser in dem heißen Wasser zu spülen, wobei er im Takt seines leisen Singsangs fröhlich mit dem Kopf wippte.

„Scheint, als hättest du wieder bessere Laune als heute Vormittag“, stellte Thor nüchtern fest. Das erste Glas wurde ihm gereicht, welches er sorgsam trocknete und polierte.

„Aber natürlich“, flötete Loki höchst zufrieden. „Es hat sich doch alles zum Guten gewendet. Mein Streich war ein voller Erfolg, Ahollon hat sich vor der gesamten Klasse blamiert und ich war der Star des Tages. Besser kann es doch kaum laufen?“

Thor schenkte dem Freund ein schwaches Lächeln. Er sagte nichts, sondern griff stattdessen nach dem nächsten Glas, um ihre Arbeit voranzubringen.

„Ne, Thor?“, richtete Loki kurz darauf erneut das Wort an ihn, was Thor fragend aufblicken ließ. „Danke dir nochmal für deine Hilfe.“

„Nichts zu danken.“

„Nein, ich mein’s ernst“, widersprach Loki eisern und sah zu ihm auf. „Danke. Ohne deine Hilfe hätte ich das niemals so schnell geschafft.“

Sie sahen einander an. In Lokis silbernen Augen lag Aufrichtigkeit. Thor wusste das, auch ohne danach suchen zu müssen.

Er lächelte. „Gern geschehen.“

Lokis Miene lockerte sich zu einem breiten Grinsen, ehe er sich wieder dem Abwasch zuwandte. „Hast du gesehen, wie sehr sich Baldr über die Teigtaschen gefreut hat? Hihi, für dieses Strahlen würde ich alles tun.“

Ja, dafür würde er alles tun.

„Man kann ihm so einfach eine Freude machen. Gib ihm etwas Fleisch und schon freut er sich wie ein Kind über einen Lolli.“

Thor konzentrierte sich auf seine Hände, während er den ersten Teller in Angriff nahm.

„Hm, irgendwie klingt das schon wieder abwertend. Findest du nicht?“

„Baldr ist eben so. Mach es dir nicht zum Vorwurf.“

Es folgte ein leises Lachen. „Ja, so ist er eben, hihi.“

Er würde alles dafür tun.

„Es ist schön, dass ihr zwei euch wieder versöhnt habt“, sprach Thor nach einiger Zeit, ruhig und gewogen.

„Ja“, bestätigte Loki leise, wobei ein vorsichtiges Lächeln herauszuhören war. „Jeder Streit mit Baldr wäre Zeitverschwendung. Wir sollten sie sinnvoller nutzen und lachend verbringen. Wir drei zusammen. … Solange wir es noch können.“

Thor entgegnete nichts darauf. Nach einem kurzen Moment des Schweigens hob er nur seine Hand, um sie dem Freund auf den Kopf zu legen und ihm kurz über das feuerrote Haar zu streichen.

„Thor?“, flüsterte Loki leise und warf ihm einen fragenden Blick zu.

Er würde alles tun, was immer es auch sein mochte.

Thor fuhr ihm noch ein letztes Mal über den Schopf, ehe er von ihm abließ und sich wieder seiner Arbeit zuwandte. „Tut mir leid, ich konnte nicht anders.“

Perplex tastete Loki nach der Stelle, die er berührt hatte. Schnell drehte auch er sich wieder dem Geschirr zu und setzte das Spülen fort. „E-ehrlich, Thor-chin! Manchmal machst du mir echt Angst, wenn du so bist. Also echt …“, empörte er sich leise.

Thor sah ihn nicht an. Er wollte den Freund nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, als er es bereits getan hatte. Er kannte Loki gut genug, um zu wissen, dass beides nicht besonders vergnüglich für den Schalk war. Dennoch, gegen das stille Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, kam er nicht an.

Er würde absolut alles tun, um dieses besondere Leuchten in diesen silbernen Augen zu bewahren.
 

»Ich weiß es,

aber die Wahrheit ist …«
 

„Was hast du morgen vor?“

„Hm? Och, weiß noch nicht.“ Nachdenklich hob Loki den Kopf. „Ich denke, ich werde den morgigen Tag einfach auf mich zukommen lassen“, entschied er dann und lachte leise dabei.

„Klingt gut.“
 

»… ich will derjenige sein.«

»Ich habe dich immerzu beobachtet.

Ich war stets an deiner Seite.«
 

Ein Knirschen. Dann ein klackendes Geräusch. – Das war alles, was es brauchte, um Loki aus seinem leichten Schlaf zu holen.

Obwohl die Geräusche nur leise zu hören gewesen waren, war er sofort hellwach. Kerzengerade saß er in seinem Bett, die Decke zurückgeschlagen, und lauschte in die Dunkelheit seines Zimmers. – Nichts.

Hatte er sich geirrt? War es nur seine Einbildung gewesen?

Sein Blick huschte zu dem knallpinken Wecker, der neben seinem Bett auf einem kleinen Nachttischchen stand. Die Zeiger, in Form von Armen eines Clowns, der in der Mitte des Zahlenrads im Schneidersitz saß, zeigten eine Zeit von zwei Uhr in der Nacht.

Kurzerhand schob er die Decke weiter zurück und kletterte von der weichen Matratze. Ein Kissen und zwei seiner unzähligen Plüschtiere rutschten dabei leise raschelnd zu Boden. Zu dieser späten Stunde sollten die anderen beiden eigentlich im tiefen Schlummer liegen. Doch wenn ihn das kühle Kribbeln, das sich über seinen Rücken schlich, und sein aufgebrachtes Herzklopfen nicht trogen, schwante ihm Übles.

Schnell schlüpfte er in seine flauschigen Pantoffeln, warf sich seinen Morgenmantel im rot-schwarzen Karomuster über die Schultern und huschte durch die Zimmertür hinaus auf den Flur. Er verzichtete auf Licht. Für die sieben Schritte, die er bis zu dem Zimmer nebenan benötigte, genügte der helle Schein des Mondes vor den hohen Fenstern des unteren Wohnbereiches voll und ganz.

Leise drehte er den Knauf. Ganz vorsichtig, um keinen verräterischen Laut zu machen, drückte er die Tür nach innen auf. Einen kleinen Spalt nur, sodass er hineinblinzeln konnte. Es reichte nicht ganz, also steckte er den gesamten Kopf hindurch, um die rechte Hälfte des Raumes absuchen zu können.

Das Bett, welches er vorfand, war leer. Das weiße Bettlaken war unordentlich, die unbedruckte helle Decke großzügig zurückgeschlagen. – Kein gutes Zeichen.

Noch etwas weiter öffnete er die Tür … und erstarrte für einen Augenblick. Lautlos tat er einen tiefen Atemzug, ehe er entschieden in den Raum hineintrat und die Tür leise hinter sich schloss.

 

Etwas riss Thor aus seinem Schlaf. Schwerfällig richtete er sich auf und presste sich als Erstes eine Hand gegen die Schläfe. Erst dann folgte ein Blick zu dem schlicht-schwarzen Wecker neben seinem Bett.

Was war das gewesen? Es hatte geklungen, als wäre jemand aus dem Bett gefallen. … Nein, vollkommen unmöglich. Dafür war das Geräusch, das ihn geweckt hatte, zu laut gewesen.

Seine Gedanken kamen nur langsam in Fahrt. Stück um Stück setzten sich die einzelnen Teile zu einem Bild in seinem Kopf zusammen. Barrikade um Barrikade.

Dann traf es ihn wie ein Blitzschlag.

Er warf die Decke zurück. Etwas zu schwungvoll, sodass sie halb auf dem Boden landete – egal. Im selben Moment war er aufgesprungen und die wenigen Meter zu seiner Tür gestürzt, welche er wenig zimperlich aufriss.

Draußen begrüßte ihn das leise Klacken einer Zimmertür, die zurück in ihr Schloss gezogen wurde. Jeder einzelne Muskel in Thors Körper versteifte sich, als er die zierliche Gestalt erkannte, auf dessen gekrümmten Rücken ein einzelner, geflochtener Zopf aus langem, feuerrotem Haar lag. In dieser Sekunde verfluchte er sich dafür, dass er nicht früher aufmerksam geworden war.

„Loki“, entkam es seiner Kehle, noch bevor er dazu in der Lage gewesen war, die erste Flut an Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Es erschreckte ihn selbst, wie ruhig seine Stimme klang, obgleich in seinem Inneren ein Krieg aus abertausend Fetzen tobte.

„Oh, Thor“, trug sich Lokis monotone Stimme an sein Ohr. Schleppend, schwer.

Thor wusste es sofort: Ein weiteres Teilchen in Loki war zerbrochen.

„Was ist passiert?“, wollte er wissen und musste sich dieses Mal bemühen, ruhig dabei zu klingen. „Ist Baldr …?“

„Ihm geht es gut.“ Seine Stimme war nicht mehr als eine dünne Linie. „Er schläft jetzt.“

Lokis Schritte waren träge, als er sich von der Tür wegdrehte und wie in Zeitlupe auf Thor zukam. So zumindest erschien es ihm.

Thor hatte viele Fragen, doch er stellte keine einzige. Das, was er sah, erklärte bereits alles, was er wissen musste: Lokis unordentliche Frisur, wie ihm der Morgenmantel lose von den Schultern hing, sein abwesender Blick.

„Soll ich uns einen Tee machen?“, fragte er stattdessen, woraufhin Loki nur mit dem Kopf schüttelte. Sein Blick glitt hinab und blieb an Lokis rechter Hand haften. Thor konnte erkennen, dass er in der locker geschlossenen Faust etwas umklammert hielt, aber nicht, was.

Das, was Thor bis hierhin an Informationen gesammelt hatte, genügte ihm, um die Situation zu deuten. Leise zog er die Zimmertür hinter sich ins Schloss. Es waren nur wenige Schritte, die er kurzerhand zurücklegte, um die Distanz zu Loki zu überwinden.

„Lass uns drinnen reden.“ Nur kurz blieb er neben Loki stehen. In einer Geste des stillen Zuspruchs legte er ihm die Hand auf die Schulter. Dann zog er an ihm vorüber und betrat ohne Weiteres das mittlere Zimmer hinter ihnen.
 

»Wir haben es uns geschworen, aber wir wissen beide:

Es kann nicht ewig so bleiben.«
 

Es war ordentlich, für Lokis Verhältnisse. Zumindest lagen ausnahmsweise keine Spielzeuge und Zeitschriften über dem Boden verstreut herum, wie es tagsüber gern der Fall war. Selbst ein sorgloser Chaot wie Loki einer war, konnte keine allzu große Freude daran empfinden, als Erstes nach dem Aufstehen auf einen spitzen Gegenstand zu treten oder auf glattem Papier auszurutschen.

Beiläufig hob Thor das Kissen und die beiden Kuscheltiere auf, die Zeuge von Lokis überstürztem Aufbruch wenige Minuten zuvor waren. Sorgsam legte er sie auf das Bett zurück, ehe er mit beiden Händen nach der Bettdecke griff und sie kurz aufschüttelte. Schlaf würde sein Freund noch brauchen, wenn man ihm später im Unterricht diese furchtbare Nacht nicht anmerken sollte.

Noch immer stand Loki an der Tür, den Rücken gegen das dunkle Holz gepresst. Sein Blick war gen Boden gerichtet und er verlor kein einziges Wort. Er ließ Thor einfach gewähren, als wäre es das Normalste der Welt, dass dieser in seinem Privatraum für Ordnung sorgte.

„Komm lieber etwas weiter ins Zimmer. Du holst dir noch einen Zug“, wies Thor ihn an. Der erste Schock schien überwunden und er war wieder ganz Herr seiner Ruhe. Sein Tun führte ihn hinüber zu den Fenstern, von denen eines angeklappt war, und er schloss es mit Bedacht. Weniger der Kälte wegen, denn der Privatsphäre, die notwendig sein würde.

Seine Worte drangen zu Loki durch. Nur langsam stieß er sich von dem Holz weg und steuerte tiefer in das Zimmer hinein. Als Thor sich nach ihm umdrehte, stand Loki bereits auf einem Meter vor ihm, den rechten Arm erhoben und die geschlossene Faust vor seine Brust gedrückt.

Thor verlor nicht den leisesten Laut. Nicht, als Loki den Arm locker in seine Richtung ausstreckte und auch nicht, als er erkannte, was der Freund in seiner Hand verborgen gehalten hatte, als er diese öffnete.

„Es wird schlimmer“, presste Loki leise hervor. Die Qual, die ihm diese Worte bereiteten, war unbestreitbar. Es musste ihn alle Selbstbeherrschung kosten, sie ruhig klingen zu lassen. „Baldrs Zustand verschlechtert sich.“

Schweigend blickte Thor auf das kleine Geschöpf, das regungslos auf Lokis Handfläche ruhte. Ein kleiner Vogel. Tot. Er erkannte es auf den ersten Blick. Kein Herzschlag, kein Quäntchen Leben erfüllte mehr diesen winzigen Körper.

„Das ist das dritte Mal binnen eines Monats. Und nicht nur das: Es wird mit jedem Mal stärker.“

„Was ist noch passiert?“, griff Thor Lokis letzte Worte sofort auf. Er kannte den Freund gut genug, um zu wissen, dass mehr hinter deren Bedeutung steckte.

Loki schloss seine Hand. Ganz vorsichtig legte er die Finger über das nachtblaue Gefieder. „Baldr war im tiefen Schlaf. Es hat dieses Mal länger gedauert, bis ich zu ihm durchgedrungen bin.“

„Hat er dich angegriffen?“

„Mach dir keine Sorgen“, sprach Loki ruhig, um ihn zu besänftigen. Ohne weitere Erklärungen drehte er sich um und ging hinüber zu seinem Bett. Aus der Hocke tastete er mit seiner freien Hand unterhalb des Gestells, woraufhin es einige Male kurz raschelte, bis er wohl gefunden hatte, wonach er suchte. Eine kleine, hellrosa und mit roten Kringeln bedruckte Schachtel kam in seiner Hand zum Vorschein. Er nahm sie an sich, hievte sich zurück auf die Beine und steuerte als nächstes Ziel seinen Schreibtisch an. Die Schachtel war bereits geöffnet und der Deckel locker. Ein kleines Schnipsen mit dem Daumen genügte, um sie zu öffnen und den Inhalt über der beigefarbenen Unterlage auszuleeren. Mehrere rote Gummischnecken purzelten hervor und verteilten sich quer über die Tischplatte.

„Was hast du vor?“

„Ich werde ihn begraben“, erklärte Loki knapp. Behutsam legte er den kleinen Vogel in die Schachtel hinein, darauf bedacht, ihm keinen weiteren Schaden zuzufügen. Die Größe war genau richtig, das Tier passte mühelos hinein. „Wenn ich meine Kräfte zur Verfügung hätte, wäre es wesentlich einfacher. Aber so … Gleich morgen Früh kümmere ich mich darum. Noch vor der Schule.“

Thor schwieg.

„Das bleibt unter uns. Kein Wort zu Baldr hiervon.“

„Loki.“

„Und kein Wort zu den anderen.“

„… Loki.“

„Versprich es!“

Still und ohne es sich anmerken zu lassen, atmete Thor einmal tief durch.

„Loki, wir können es nicht ewig geheim halten.“

„Ich weiß.“

„Früher oder später müssen wir –“

„Ich weiß, verdammt!“, fuhr Loki aus. Ruckartig drehte er sich herum. „Denkst du, ich weiß das nicht?! Denkst du, ich denke nicht darüber nach?! Ich weiß es, verdammt!“

Schwäche.

„Früher oder später werden sie es erfahren. Und wenn es soweit ist, wird es für Baldr bereits zu spät sein. Aber noch nicht jetzt!“

Angst.

„Es ist noch zu früh. Noch können wir Baldr beschützen! Und wenn es soweit ist, werde ich …“

Verzweiflung.

Loki hob beide Hände vor das Gesicht, versteckte es dahinter. „Bitte, Thor … Hilf mir. Baldr ist unser Freund. Hilf mir, ihn zu beschützen …“
 

»Ich will derjenige sein.«
 

Thor sagte nichts. Langsam setzte er sich in Bewegung und ging die wenigen Schritte zu dem Freund hinüber. Sein Griff war sanft, aber bestimmt, als er seine Finger um die Hände Lokis legte und sie unter einem schutzversprechenden Zwang von seinem Gesicht herunterdrückte.

Tränen standen in diesen geliebten, silbernen Augen. Wann hatte sich Thor an diese neue Farbe gewöhnt? Sie leuchteten so wunderschön in dem schwachen Mondlicht, das durch das Fenster auf sie herabfiel. Doch jetzt spielte ein trauriger Glanz in ihnen.

Feuchte Spuren zeichneten sich auf Lokis Wangen ab. Sie trieben einen unbarmherzigen Dolch inmitten von Thors linker Brust.
 

»Ich will derjenige sein, der dich beschützt.

Vor allem Unheil, allem Übel.«
 

In einer zärtlichen Berührung wischte er ihm mit beiden Daumen das Nass aus den Augenwinkeln. Er ließ ihn nicht los, hielt seine Hände weiterhin fest umschlossen. Sie wirkten zierlich im Gegensatz zu seinen.

Er hasste diese Momente. Sie ließen den Freund, der sonst so voller Schalk und Leben steckte, so schwach und zerbrechlich erscheinen. Loki so zu sehen, rief Unmengen an Gefühlen in ihm hervor. Und Unmengen an Bedürfnissen, denen er nicht nachkommen durfte. Die er nicht haben durfte.

Wieso? Wieso Loki? Er war derjenige, der von ihnen allen am meisten litt. Um Baldrs Willen.

Wieso ausgerechnet Loki? Hatte er denn nicht schon genug gelitten? Sollte das denn alles sein, was das Schicksal für ihn bereithielt?

Nein.

Nein, das würde nicht alles sein. Das würde er nicht zulassen. Baldr sah das genauso, darin vertraute Thor noch immer. Sie hatten es sich versprochen.
 

»Ich will derjenige sein, der dich befreit.

Von allem Kummer, aller Pein.«
 

„Loki, was auch immer passieren mag, ich verspreche, dass ich bei dir sein werde.“

Das verräterische Glänzen kehrte zurück. Neue Tränen stiegen in diesen geliebten Augen empor und sammelten sich zu einem weiteren Schwächeindiz.

„Was auch immer du vorhast, ich stehe hinter dir.“

Ein spitzer Eckzahn trat hervor und vergrub sich in Lokis Unterlippe. Sie bebte im Kampf gegen die Hilflosigkeit, die ihn zu überrollen drohte wie ein alles unter sich begrabender Erdrutsch.

Leicht ließ er sich nach vorn fallen. Lehnte die Stirn gegen Thors Brust, direkt unter dessen Kinn. Selbst durch den grauen Pyjama konnte Loki die Wärme spüren, die von Thor ausging. Wie ein Kuss auf seiner Stirn. Sie zog ihn sprichwörtlich in eine tröstende Umarmung. So wohlvertraut. Loki schloss die Augen.

„Danke“, hauchte er leise, seine Stimme nicht mehr als ein ersticktes Kratzen.

Thor stieß leise die Luft aus.

Um ein Haar wäre er der Versuchung erlegen gewesen. In dem Moment, als sich Loki in seiner Lippe verbissen hatte, wodurch sich die weichen Kissen angespannt verzogen hatten. Thor hatte den Wunsch verspürt, sich nach vorn zu beugen und sie in Beschlag zu nehmen. Die Anspannungen zu lösen, indem er ihnen sein Versprechen aufhauchte. Ganz zart nur, voller Behutsamkeit.

Beinahe wäre er dem Moment verfallen. Aber das hier war auch gut. Der süße Duft von Lokis rotem Haar stieg ihm in die Nase und die Wärme seines Körpers drang bis auf seine Haut, wie eine sanfte Liebkosung. Das war alles, was er wollte. Mehr brauchte er nicht.

Wie selbstverständlich, und ohne dass er darauf Einfluss hatte, legten sich Thors Arme um den zierlicheren Körper des Freundes.
 

»Ich will es sein, doch mir ist klar:

Dich zu beschützen, bedeutet, zuerst Baldr zu beschützen.«

»Ich weiß.«
 

„Autsch!“

Lokis Ausruf glich mehr einem Zischen, doch es reichte, dass Thor kurz zusammenzuckte. Hatte er ihm wehgetan? So fest hielt er ihn doch gar nicht.

Sofort löste er die Umarmung und ließ seine Arme nach vorn gleiten. „Habe ich dir wehgetan?“

„Nein, das ist es nicht“, presste Loki zwischen seinen Lippen hervor, was Thor dazu veranlasste, den Freund von sich zu schieben. Fragend sah er ihn an.

„Scheint, als hätte der Fischkopf ganze Arbeit geleistet. So viel Kraft hätte ich dem Kleinen gar nicht zugetraut“, erklärte er sich.

„Der …“, ließ sich Thor das Gehörte durch den Kopf gehen. Takerus Rammstoß sollte für die Schmerzen verantwortlich sein? Zugegeben, er war kraftvoll gewesen und hatte Loki auf die Bretter geschickt. Doch das lag mehr als einen Tag zurück. Und Loki steckte solche Attacken und auch Verletzungen für gewöhnlich recht schnell weg.

Davon ganz abgesehen … war er mit Lokis Seite kaum in Berührung gekommen.

„Loki.“

„Das schreit ganz laut nach Encore! Der gestrige Streich mit dem Klebstoff war zwar schon fies, aber vielleicht sollte ich –“

„Loki“, fiel Thor ihm ruhig, aber mit Nachdruck in seiner Stimme, ins Wort. „Du brauchst mir nichts vorzumachen. Was ist wirklich los?“

Der Schalk war überführt. Fest presste Loki die Lippen aufeinander und verkniff sich den ersten Kommentar, der ihm in den Sinn kam.

„Okay, du hast mich durchschaut“, sagte er dann und spielte ein schelmisches Grinsen auf. „Ich wollte nicht, dass du mich auslachst, deswegen wollte ich nichts sagen. Ich bin in der Nacht aus dem Bett gefallen und auf meiner Schultasche gelandet. Du weißt schon, mit den ganzen Büchern darin. Ich sage ja immer, dass dieser dämliche Unterricht etwas für Leute mit Todessehnsucht ist, aber –“

„Loki.“

„Schon gut, schon gut!“ Loki spie die Worte regelrecht. Kurz biss er sich auf die Lippe, bevor er das Gesicht zur Seite abwandte. Mehrere Sekunden rang er noch mit sich, bis er schließlich mit einem kapitulierenden Seufzen jede letzte Gegenwehr aufgab. „Ich hatte es vorhin schon gesagt, nicht wahr? Es wird stärker.“

„Baldr hat …?“

„Es war nicht Baldr!“, ging Loki ihm sofort dazwischen. Er bemerkte selbst, wie er dabei die Stimme gegen den Freund erhoben hatte. Doch Thors Miene blieb unverändert.

Im Stillen zählte Loki bis drei. Schmerzhaft verkrampfte er die Hände zu Fäusten, bis er sich dazu in der Lage sah, weiterzusprechen. „Ich würde dieses Ding, das da in Baldr schlummert, nicht mal im Traum mit seinem Namen ansprechen. Aber darum geht’s jetzt auch gar nicht …“

„Was ist passiert?“

Er zögerte einen Moment lang. „Es gab eine kleine Rangelei. Wobei, so würde ich es vielleicht auch nicht bezeichnen …“ Noch einmal verstummte er und schien seine nächsten Worte genau abzuwägen. Es dauerte jedoch nicht lang, dann seufzte er abermals und erklärte knapp: „Ich bin gegen die Wand geschleudert worden.“

Durch Thor ging ein Ruck. „Gegen …?“

„Mit dem Rücken. Als ich versucht habe, ihm den Vogel abzunehmen. Seine Kraft hat mich zurückgestoßen, noch bevor ich ihn erreichen konnte, und die Wucht hat mich durch das halbe Zimmer geschleudert. Zum Glück war es nur eine freie Wand und kein Bücherregal oder Schrank oder so.“

„Bist du verletzt?“

„Nein. Ich sagte doch, es war nur die Wand. Halb so wild. Mir ist nichts passiert. Ist nichts gebrochen oder so. Tut nur höllisch weh.“

„Klingt nach einer Prellung.“

Er winkte ab. „Kein Drama. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas habe. Ich weiß, wie ich damit umgehen muss.“

Daraufhin kehrte wieder eine andächtige Stille zwischen ihnen ein.

Als Loki schließlich den Blick hob, lag ein erneutes, dieses Mal aufrichtiges Grinsen auf seinem Gesicht. „Den anderen werde ich aber trotzdem erzählen, dass es Takerus Schuld ist, hihi.“
 

»Deswegen, was immer dafür nötig ist …
 

Es behagte ihm nicht, doch Thor rang sich ein nachsichtiges Lächeln ab.

Loki, der verletzt war. Loki, der unermessliche Qualen litt. Und das alles wegen seiner tief greifenden und absolut bedingungslosen Liebe zu Baldr. Ihrem Freund.

Es behagte ihm nicht, die Dinge so stehen zu lassen. Aber es war richtig so. Es war alles, was er für Loki tun konnte. Und wenn es bedeutete, dass er weiterhin nicht mehr tat, als still über ihn zu wachen.

Nein, es war mehr als das.
 

… ich verspreche es dir.«
 

Noch einmal legte er ihm den Arm um die Schultern und zog ihn sanft an sich. Unverkennbar war diese ganz spezielle Duftnote, die von seinem roten Haar ausging. Sie erinnerte ihn an süße Feige.

Er versank darin, nur für einen kurzen Moment. Seine Lippen flüsterten sein stummes Versprechen in die weichen Flammen:
 

»Wir drei werden immer zusammen sein.«
 

Glaube (Bookshipping)

Es war einer dieser Tage: gespickt mit strengem Unterricht. Draußen lockte das herrliche Wetter an diesem frühen Nachmittag. Nachvollziehbar, dass sie ihre Zeit lieber im sommerlichen Sonnenschein verbracht hätten, doch Thoth ließ sich von den müden Gesichtern seiner Götterschüler nicht erbarmen. Unbeirrt setzte er seine Lehren fort und füllte auch das letzte Stück der weiten Tafel mit weißer Kreideschrift.

„Kurzum“, schloss er seinen monologen Vortrag und setzte den Aufzeichnungen ein Ende, „Menschen und Götter unterscheiden sich. Ihre Diskrepanzen sind fundamentaler Natur. Über die Jahrtausende sind nur wenige Eigenschaften verblieben, die eine Verbindungsbrücke zwischen ihnen stemmen.“

Von allen Seiten war das kratzende Geräusch von Schreibfedern auf Papier zu hören.

Yui sah von ihrem Notizheft auf. Zum unzähligen Male, seit sie dazu gezwungen war, am Unterricht dieser Götterschule teilzunehmen, ließ sie ihren Blick durch die Bänke schweifen. Und wie immer fühlte sie sich unbehaglich dabei.

Der Unterrichtsstoff, den sie vorgesetzt bekamen, war für sie äußerst befremdlich. Anstelle von Mathematik und Sprache standen Anatomie und Denkwesen als zwei der Hauptfächer auf dem Stundenplan. Nicht selten musste sich Yui Themen stellen, die ihr als einzige menschliche Vertreterin höchst unangenehm bis peinlich waren. Doch jeder anwesende Schüler schrieb brav und gewissenhaft mit, was Thoth sie lehrte. Alles, ausnahmslos alles, was er ihnen vortrug.

Das heutige Kernthema lautete »Entstehung der menschlichen Eigenschaften«. Nun, wenn man Thoths Unterricht so verfolgte, könnte es genauso gut den Titel »Ignoranz, Hochmut und Idiotie des verblendeten Menschenpacks« tragen. Zumindest wurde Yui das unweigerliche Gefühl nicht los, dass die Ausführungen ihres Lehrers durchgängig mit einer negativen Gegenüberstellung behaftet waren. Ganz unterschwellig, selbstverständlich.

Die Götter, zumindest einige von ihnen, machten sich fleißig Notizen. Und auch die Geistschüler waren über ihre Hefte gebeugt und schrieben eifrig mit. Yui fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Informationen, die sie im Unterricht aufnahmen, auch nur im Ansatz nützlich für sie waren. Streng genommen zählten sie weder zu den Vertretern der Götter noch der Menschen. Ob sie überhaupt je darüber nachdachten, was sie waren und warum sie hieran teilnahmen?

„Zum Abschluss des heutigen Unterrichts werde ich Aufgaben zum besprochenen Thema verteilen. Ihr werdet sie in Gruppen lösen und zu einem Aufsatz zusammenfassen.“

Ein lautes Murren ging durch den Klassenraum. Yui registrierte einen leichten Luftzug, als ein kleiner weißer Papierflieger knapp über sie hinwegzog. Er unternahm eine Bruchlandung gegen den blonden Schopf des Schülervorsitzenden vor ihr, was Apollon erschrocken hochfahren ließ. In seiner hektischen Bewegung fegte er einmal über die rechte Hälfte seines Pults, woraufhin sich seine Schreibutensilien klappernd über den Erdboden verteilten.

„Es stehen folgende drei Themen zur Auswahl: Glaube, Nächstenliebe und Vergebung. Je eine Gruppe wird ein Thema gemeinsam ausarbeiten. Gruppe Eins: Apollon Agana Belea, Hades Aidoneus, Dionysos Thyrsos. Gruppe Zwei: Baldr Hringhorni, Loki Laevatein, Thor Megingjard. Gruppe Drei: Totsuka Tsukito, Totsuka Takeru, Kusanagi Yui.“

„Wie unfair!“, plärrte Apollon vom Boden aus. Noch immer war er dabei, seine Habseligkeiten zwischen den Stuhl- und Tischbeinen aufzusammeln. „Ich möchte auch mit Yousei-san in einer Gruppe sein. Wieso dürfen immer nur Tsuki-Tsuki und Take-Take mit ihr zusammenarbeiten? Ich finde das nicht fair, gar nicht fair!“

„Idiot“, schnaubte Takeru von der hintersten Reihe aus. Genervt ließ er sich nach vorn fallen und lehnte das Kinn in die Handinnenfläche seines aufgestützten Arms. „Ihr seid alle zu dritt hergekommen, Anii und ich sind aber nur zu zweit. Sie muss zu uns, anders geht die Rechnung für Gruppenarbeiten nicht auf.“

„Da muss ich dir entschieden widersprechen“, leistete Baldr ihm mit gleichbleibender Stimme Widerspruch. „Ihr mögt nur zu zweit sein, aber das rechtfertigt nicht, dass Yui-san immerzu den Lückenbüßer für euch spielen muss. Sie eingerechnet, entsprechen wir je drei aus drei verschiedenen Mythologien. Die Rechnung würde ebenfalls aufgehen, wenn man die Mythologien im fairen Verhältnis miteinander vermischen würde, statt sie zu trennen“, erklärte er ruhig, ohne dem Meeresgott auch nur einen Blick über die Schulter zu widmen.

„Ja, genau!“, bekräftigte Apollon diese These.

„Was macht das schon aus?“, fragte Thor wenig interessiert.

Daraufhin streckte sich Dionysos vor ihm und gähnte ungeniert. „Leute, ich will nach Hause. Stimmt doch einfach ab und lasst uns endlich gehen.“

„Ja, ganz genau! Dee-Dee hat recht, lasst uns abstimmen! Ich bin für eine neue Gruppenzusammenstellung. Ich wäre dann gern mit Yousei-san und Loki-Loki in einem Team, wäre ich sehr gern!“

„Dagegen“, widersprach Baldr.

„Ehm, Leute …?“

„Sei nicht so ein Kindskopf! Sie gehört dir nicht!“

„Moah, ich will einfach nur nach Hause …“

„Kihihi.“

Ein lauter Knall aus dem vorderen Bereich des Klassenzimmers bereitete der ausschweifenden Diskussion ein jähes Ende. Von der eingedrückten Delle zogen sich feine Risse durch die sonst glatte Tafeloberfläche. Noch immer stemmte Thoth mit seinem ausgestreckten Arm dagegen, hielt den Kopf gesenkt und rang um Fassung.

„Die Gruppen bleiben so“, erklärte er hörbar unterkühlt, wobei seine tiefe Stimme im Kampf um die Selbstbeherrschung zitterte. „Wer damit ein Problem hat, hat Pech. Ich diskutiere nicht. Und jetzt sucht euch endlich euer Thema aus, sonst tu ich es!“

Es wurde daraufhin totenstill im Klassenzimmer. Apollon war der Einzige, der es schlussendlich wagte, ein letztes Murren auszustoßen. „Na schön. Dann nehme ich für meine Gruppe das Thema »Nächstenliebe«.“

„Eh?“, horchte Baldr auf und schob im selben Moment seinen Stuhl zurück. Der Protest blieb ihm regelrecht im Halse stecken, als ihn die negativen Schwingungen erreichten, die ohne jede Frage von Thoth ausgingen. Sie jagten einen kühlen Schauer seinen Rücken hinab.

Der nordische Lichtgott schluckte, ließ sich anstandslos auf seinen Platz zurücksinken und lächelte unbeholfen. „In dem Fall übernehmen wir das Thema »Vergebung«“, sagte er knapp.

‚Dann bleibt für unsere Gruppe wohl »Glaube« übrig‘, dachte Yui im Stillen. Zwei Reihen weiter nach rechts war Takerus leises, abfälliges „Tze“ zu hören.

 

Wenig später war der Unterricht als beendet erklärt. Keine fünf Sekunden später hatte Thoth auch schon seine Unterlagen zusammengepackt und das Klassenzimmer verlassen. Damit waren die Götter wieder unter sich.

„Können wir jetzt gehen?“, eröffnete Dionysos die Runde.

„Ich finde es wirklich nicht nett von dir, dass du dir einfach ein Thema geschnappt hast, ohne uns anderen zuvor zu fragen“, erklärte Baldr an Apollon gewandt. Wie immer klang seine Stimme ruhig dabei, doch er schenkte dem griechischen Sonnengott einen vorwurfsvollen Blick.

„Bist du deswegen jetzt böse, Baru-Baru?“, fragte er unschuldig. Binnen weniger Schritte war er zu Baldr herübergeeilt und bezog vor dessen Pult Stellung. „Sei bitte nicht böse“, bat er aufrichtig, wobei er ein betretenes Gesicht aufsetzte. „Ich hab’s nicht so gemeint, ja? Ich dachte nur, es sei okay, weil niemand etwas gesagt hat. Und wir wollten doch alle sobald es geht nach Hause. Ich habe es wirklich nicht böse gemeint, habe ich wirklich nicht.“

‚Es hat nur niemand etwas gesagt, weil Thoth-sama eine mörderische Aura durch das ganze Klassenzimmer geschickt hat‘, dachte Yui still. Ein Blick in die Runde bestätigte ihr, dass jeder ihrer Freunde exakt dasselbe dachte wie sie. 

Baldr seufzte nur schwer und winkte ab.

„Aber »Vergebung« ist doch auch ein tolles Thema“, versuchte Yui ihn zu überzeugen und lächelte aufmunternd.

Baldr drehte den Kopf in ihre Richtung. Als er ihrem Blick begegnete, lächelte er schwach. „Mag sein, aber ich hätte mich dennoch lieber mit »Nächstenliebe« befasst. Es passt sehr viel besser in unsere Gruppe als in die griechische.“

„Eeeh, was redest du denn da, Baru-Baru? Es passt sehr viel besser in unsere Gruppe! Bei uns zu Hause wird »Nächstenliebe« großgeschrieben, wird es! Wir können es von allen am allerbesten repräsentieren. Nicht wahr, Dee-Dee, Onkel Hades?“

„Vorsicht“, schnurrte Loki aus den hinteren Reihen und wickelte sich verspielt eine seiner langen roten Haarsträhnen um den Finger. „Wenn ein Grieche von Nächstenliebe spricht, könnte man das missverstehen. Ihr Griechen seid bekannt für eure »Nächstenliebe«, selbst bis zu uns. Aber unser kleiner, naiver Ahollon weiß vermutlich nicht einmal, was damit gemeint ist, hihi.“

„Loki!“, empörte sich Takeru von seinem Platz hinter Loki aus. Teils entsetzt, teils peinlich berührt stand ihm die Schamesröte im Gesicht. Im selben Moment wagte Hades aus den vorderen Sitzreihen ein leise protestierendes „Hey“.

„Was meinst du denn damit, Loki-Loki?“

Dionysos seufzte nur. Er ließ das Gesagte unkommentiert und hob die Arme unter einem teilnahmslosen Schulterzucken zur Seite.

„Hey, Anii! Schreib das nicht auf!“

„Kihihi.“ Loki genoss seinen kleinen Ruhm sichtlich und kicherte ausgelassen vor sich hin.

„Aber wisst ihr, was ich wirklich unfair finde?“ Ohne Vorwarnung schwenkte Dionysos mit seiner Frage im Thema um. Alle Augen richteten sich auf ihn und er deutete mit dem Daumen auf die übrigen, nichtgöttlichen Schüler. „Immer sind wir diejenigen, die irgendwelche zusätzlichen Aufgaben aufgehalst bekommen. Während für sie alles entspannt ist und sie sich direkt nach Unterrichtschluss vergnügen können, müssen wir uns noch mit Hausaufgaben und Lernstress abmühen. Oder bin ich der Einzige, der das so sieht?“

Daraufhin wurde es still in der Runde.

„Wie dem auch sei.“ Loki streckte sich einmal ausgiebig auf seinem Platz. Anschließend schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Zeit für die Clubaktivitäten. Thor-chin, kommst du?“

„Hey, und was ist mit unserer Ausarbeitung für den Aufsatz?“, rief Baldr den beiden Freunden nach. Er erhob sich ebenfalls, als sie drohten, durch die Tür nach draußen auf den Flur zu verschwinden.

„Oh, das hat doch noch Zeit. Aber ehrlich gestanden, habe ich gar keine Lust auf Hausaufgaben“, erklärte Loki unberührt und warf einen Blick über die Schulter auf Baldr zurück.

„Loki!“

„Ich muss ihm ausnahmsweise recht geben.“

„Takeru-san?“, stieß Yui aus. Sie traute ihren Ohren kaum.

Takeru indes tat es Loki gleich, erhob sich von seinem Platz und warf sich die Schultasche über die Schulter. „Sorry, Zassou, aber ich bin raus. Bei so ‘nem Scheiß mache ich nicht mit. Rechne nicht mit meiner Hilfe.“

„Was? Aber, Takeru-san!“ Sie stolperte beinahe, als sie an seine Seite eilte, und ergriff seine Hand flehend mit beiden Händen. „Was ist denn los? Wieso magst du denn nicht mitmachen? Es geht sehr viel schneller, wenn wir drei zusammenarbeiten, und macht auch sehr viel mehr Spa… –“

„Ich mach‘ nicht mit!“, fuhr er wütend zu ihr herum und entriss ihr seine Hand in nur einem kräftigen Ruck. „War ich nicht deutlich genug? Habt doch euren »Spaß« allein! Ich werde nicht mitmachen und dabei bleibt es!“

Nicht die Tatsache, dass die übrig verbliebenen Götter auf Takerus Aufbrausen hin an Yuis Seite eilten, sondern vielmehr ihr verletzter Ausdruck in den Augen war es, der Takeru wieder zur Besinnung brachte. Wütend über sich selbst ballte er die Hand zur Faust und biss sich auf die Unterlippe.

Schnell wandte er den Blick zur Seite ab, ehe er sich von dem Mädchen wegdrehte. „Tze. »Glaube«, was?“, zischte er mit einer Abscheu in der Stimme, die Yui einen Stich versetzte. „Soll ich etwa lügen? Ist das nicht erst der Grund, warum wir hier … Sorry, aber vergiss es!“ Damit stürmte er regelrecht aus dem Klassenraum und ignorierte den sorgenvollen Blick, den Yui ihm nachwarf.

 

„Was hat Takeru-san nur?“ Zum wiederholten Male stellte sich Yui diese Frage, aber eine Antwort bekam sie nie. Sie hatte eine vage Vermutung, doch so recht wollte sie diese nicht zulassen. Das wäre einfach zu traurig.

„Totsuka Takeru hat recht“, sprach Tsukito an ihrer Seite, was sie aufblicken ließ. Gemeinsam suchten sie in der großen Schulbibliothek nach Lektüre, die ihnen bei ihrem Thema weiterhelfen könnte. Ein paar erste Exemplare hatten sie bereits gefunden, doch wie viel sie daraus für ihren Aufsatz verwenden könnten, bliebe noch herauszufinden.

„Was meinst du, Tsukito-san?“

„Als wir an diesen Ort gekommen sind, hat uns Keraunos Zeus erklärt, dass wir entweder hier sind, weil die Menschen den Glauben an uns oder wir den Glauben an sie verloren haben. Er hat gesagt, wir sind hier, um über das menschliche Herz zu lernen, damit diese besondere Verbindung zwischen Göttern und Menschen wieder stabilisiert wird. Wir können diesen Ort erst verlassen, wenn wir uns unserer obersten Aufgabe als Götter wieder bewusst geworden sind, weswegen es notwendig ist, seine Schule zu absolvieren“, schloss er.

Nachdenklich ließ Yui den Kopf hängen. Sie erinnerte sich, dass Zeus etwas Ähnliches zu ihr gesagt hatte. Ihr war noch immer nicht ganz klar, wieso, aber er war davon überzeugt gewesen, dass sie die Götter über Menschen und Liebe lehren würde. Er hatte ihr auch gesagt, dass die Götter, mit denen sie hier an dieser Schule war, jene Vertreter ihrer Mythologie waren, die am meisten Schwierigkeiten mit ihrer Verbindung zu den Menschen hatten. Aber was genau das Problem jedes Einzelnen war, darüber wusste sie bis heute nichts.

‚Und was ist eigentlich mit mir?‘, stellte sie sich leise diese Frage, über die sie bisher kaum nachgedacht hatte. Ja, sie hatte als Tochter eines Shinto-Priesters immer eine enge Verbindung zu den Göttern gehabt und glaubte natürlich an sie. Aber wie viel wusste sie? Als sie auf Hades, Loki und Baldr getroffen war, hätte sie bei ihren Namen eigentlich sofort stutzig werden müssen. Doch dem war nicht so gewesen. Sie hatte sie nicht als Götter anderer Mythologien erkannt.

‚Und jemand wie ich soll den Göttern etwas lehren?‘ Sie stieß ein schweres Seufzen aus. Wie sollte sie unter diesen Voraussetzungen nur einen glaubhaften Vortrag zu dem Thema »Glaube« abhalten?

„Aber es gibt doch Menschen, die an euch glauben“, tat sie ihre Gedanken kund. Ihr Blick richtete sich nachdenklich an den Mondgott. „Ihr beide, sowohl Takeru-san als auch du … ich meine, Susanoo-san und Tsukiyomi-san … ihr seid beide unter den Menschen in meiner Heimat bekannt und werdet verehrt. Es gibt Schreine und Gebete. Die Menschen glauben an euch! … Oder, denkst du …?“

Tsukito hielt in seinem Tun inne. Für einen Moment glaubte Yui, dass der Mondgott tatsächlich nachzudenken schien.

„Ich weiß es nicht.“ Eine Pause kehrte ein, bevor er ergänzte: „Ob Menschen an Götter glauben oder Götter an Menschen. Ob Menschen ihren Glauben verloren haben oder Götter den ihren. Ich weiß es nicht.“

 

Sie hatten schließlich einige Bücher zusammengetragen und direkt damit begonnen, sie auf hilfreiche Informationen zu studieren. Tsukito hatte direkt mit dem ersten Buch begonnen, Aufzeichnungen zu machen, was Yui im ersten Moment erstaunt hatte. Ein kurzer Blick an seinen Arm vorbei zeigte ihr jedoch, dass er lediglich alle Passagen Wort um Wort abschrieb, die etwas mit dem Begriff »Glaube« zu tun hatten. Nicht wirklich das, wonach sie suchten, aber sie erkannte ihm immerhin an, dass er so bestrebt war.

Bis zum Abend ließ sich Takeru nicht bei ihnen blicken. Im Stillen hatte Yui noch gehofft, dass der Meeresgott es sich noch einmal anders überlegen würde, sobald sein Gemüt etwas heruntergekühlt war, doch dem war nicht so. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie ihr Mitschüler pünktlich zu seiner abendlichen Laufrunde angetreten war. Beneidenswert, wie zielstrebig er sein konnte, wenn er etwas nur wirklich wollte. Würde er doch nur denselben Willen dazu aufbringen, sie und die anderen Götter etwas mehr zu unterstützen, um Zeus‘ Schule abzuschließen. Wie gerne wäre sie mit ihm gelaufen …

„Lass uns für heute Schluss machen“, sagte sie schließlich zu Tsukito, wobei sie das letzte Buch zuschlug, welches sie durchforstet hatte. Es hatte wenigstens ein bisschen etwas gebracht. „Ich finde, wir sind heute ganz gut vorangekommen. Wenn wir morgen nochmal alles geben, können wir unseren Aufsatz rechtzeitig bei Thoth-sama abgeben.“

„Ja“, bestätigte er, wobei er sein zuletzt abgearbeitetes Buch zu dem kleinen Stapel vorangegangener legte. Geflissentlich räumte er all seine Unterlagen zusammen, ehe auch er sich erhob und an Yuis Seite gesellte.

„Ähm, Tsukito-san?“, begann sie zögerlich. Es war ihr unangenehm, diese Bitte an ihn zu richten. „Könntest du bitte noch einmal versuchen, mit Takeru-san zu reden? Ich denke, es wäre wirklich wichtig für ihn, an diesem Aufsatz mitzuwirken. Und ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt, wenn Thoth-sama erfährt, dass er nicht mitgeholfen hat.“

„In Ordnung.“ Er zeigte ein Nicken. „Was soll ich ihm ausrichten?“

„Ähm, also …“ Sie zögerte. „Sag ihm … ach, nicht so wichtig. Sag ihm einfach das, was ich dir eben gesagt habe, nur mit deinen eigenen Worten vielleicht“, lächelte sie vorsichtig.

„In Ordnung, werde ich machen.“

 

Für den nächsten Tag hatte sich Yui fest vorgenommen, direkt nach dem Unterricht die anderen Götter zu dem Thema »Glaube« zu befragen. Der Gedanke ließ sie einfach nicht mehr los, dass jeder von ihnen verschiedene Ansichten dazu haben könnte. Es schien ihr außerdem praktisch, denn auf die Art würde sie weniger Druck auf Takeru ausüben, von dem sie hoffte, dass er sich doch noch von seinem Bruder überreden ließ.

Doch ihr Plan ging nicht auf. So fest ihr Vorhaben auch gewesen war, sie kam einfach nicht zu einer Verwirklichung, denn wie es schien, hatten ihre Mitschüler exakt denselben Gedanken wie sie gehabt. Statt, dass sie diejenige war, die Fragen stellte, war sie nun diejenige, die Rede und Antwort stehen musste. Es gab Unmengen an Dinge, die die Götter zu den Themen »Nächstenliebe« und »Vergebung« von ihr aus Menschensicht wissen wollten. Ehe sie es sich versah, war sie Mittelpunkt einer Diskussionsrunde geworden, die alles andere als strukturiert und durchdacht war. Von Geduld und Rücksichtnahme ganz zu schweigen.

Da Takeru das laute Durcheinander dazu genutzt hatte, sich ein weiteres Mal klammheimlich aus dem Staub zu machen, blieb für Tsukito nur eine einzige Wahl: Es lag an ihm, ihre Aufgabe zu einem Ziel zu führen. Das war seine Mission, die er zu erfüllen gedachte.

Verantwortungsbewusst machte er sich also auf, in der Schulbibliothek weiteren Nachforschungen nachzugehen. Es dauerte nicht lang, bis er eine erlesene Auswahl an Büchern der verschiedensten Kategorien beisammen hatte, mit denen er sich sogleich an die Arbeit machte. Er las nicht wirklich, was in ihnen stand, und vergeudete keine Zeit, sich mit dem Inhalt näher auseinanderzusetzen. Einige Passagen, die sich mit dem Thema »Glaube« befassten, waren schnell gefunden und er machte sich sogleich daran, sie ordentlich abzuschreiben. Wort um Wort, sodass er nicht Gefahr lief, eine wichtige Botschaft oder ein entscheidendes Detail auszulassen.

Es verging Stunde um Stunde, in denen er in seiner Arbeit vertieft war. Er war so konzentriert, dass er nicht einmal bemerkte, wie Thor ihm einen kurzzeitigen Besuch abstattete. Auch er war auf der Suche nach Informationsmaterial und wo ließ sich dieses besser beschaffen, als in der großen Bibliothek ihres Lehrers? Der nordische Donnergott bemerkte Tsukitos Anwesenheit und sprach ihn wohl auch an, um sich eine Richtung für seine Lektüresuche vorgeben zu lassen. Doch er musste schnell erkennen, dass es keinen Sinn machte, den Mondgott anzusprechen, und verließ die Bibliothek wenig später genauso stillheimlich, wie er gekommen war.

Von alledem bekam Tsukito nichts mit. Buch um Buch wurde abgearbeitet, unentwegt erfüllte das kratzende Geräusch seines Stiftes die hoch reichende Halle und fütterte Seite um Seite seines Notizheftes. Er war unermüdlich und hielt in seinem Tun auch nicht inne, als sich die Tür zur Bibliothek sehr viel später ein weiteres Mal öffnete.

„Anii, hier bist du! Habe ich es mir doch gedacht“, durchschnitt Takerus Stimme die Stille, die durch die hohen Wände gleich sehr viel lauter wirkte. „Kommst du essen? Es ist schon spät.“

Zum ersten Mal, seit Tsukito hier war, blickte er von seiner Arbeit auf. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, als er zu seinem Bruder hinübersah und kein einziges Wort sprach.

„Mann, ich kann nicht glauben, dass du diesen Mist tatsächlich durchziehst“, rümpfte sich Takeru, während er langsamen Schrittes in den Raum hineintrat, um sich Tsukito anzunähern. Sein Blick ging prüfend an den hohen Buchregalen vorbei, welche sich über mehrere Etagen erstreckten, was ihm nur einen weiteren abfälligen Laut entlockte. „Wo ist das Mädchen? Wollte sie dir nicht bei der Ausarbeitung helfen?“

„Kusanagi Yui wurde aufgehalten“, erklärte er ruhig, ohne die geringste Gefühlsregung in seine Worte zu bemühen.

Takeru brach aus: „Aufgehalten, hm? Tze! War sie es nicht gewesen, die am lautesten gebrüllt hat, dass wir diese Aufgabe von diesem arroganten Typ von Lehrer ernst nehmen sollen? Aufgehalten, von wegen! Du bist der Einzige hier, der sich wirklich um diesen Blödsinn bemüht, Anii.“

Tsukito erwiderte nichts darauf, doch das hielt seinen Bruder nicht davon ab, an seine Seite zu eilen. „Wollen wir auf dem Zimmer essen? Ich habe etwas wirklich ganz Leckeres vorbereitet! Du hast doch sicher Hunger?“

„Hunger? Ich weiß nicht.“

„Komm schon, gehen wir“, forderte Takeru ihn auf, wobei er ungefragt nach Tsukitos Händen griff und ihn so vom Stuhl auf seine Beine zwang. „Es ist sowieso viel zu stickig hier drin. Und du bist wirklich schon den ganzen Tag seit Schulschluss hier? Mach Schluss für heute, auf einen Tag mehr oder weniger kommt‘s auch nicht mehr an. Du überanstrengst dich noch.“

„Aber“, wollte er wohl Widerspruch erheben, kam jedoch nicht dazu, als eine weitere Person zu ihnen stieß und ihm ungeniert ins Wort fiel.

„Huh, sehen meine Augen richtig? Hat es sich da jemand etwa doch noch anders überlegt und ist zu einem netten Jungen mutiert? Ne, Takeru?“, säuselte die Stimme Lokis durch den Raum, die auch ohne seine typisch neckende Bemerkung kaum zu verkennen gewesen wäre.

„Loki! Du, was glaubst du denn?!“, ging Takeru, wie so oft, sofort auf seine kleine Stichelei ein und drehte sich nach dem Schalk um. „Wer hat dich eigentlich nach deiner Meinung gefragt?! Und überhaupt, was machst …“ Mitten im Satz stoppte er und erstarrte für den Moment. Der Schalk hielt etwas auf den Armen, das ihm äußerst bekannt vorkam. Es war klein und weiß, hatte lange Ohren und … „Usamaro?“

„Huh? Ach, der Kleine hatte offensichtlich Sehnsucht nach seiner Mami und dem Papi. Wusstest du, dass Hasen sehr gute Nasen haben?“

„Du …! Lass ihn sofort runter!“

„Oh, jetzt habe ich aber Angst.“

Lokis herablassende Art, mit der er seinen Ernst abtuend belächelte, ließ in Takeru einen Faden reißen. Er stieß ein inbrünstiges Knurren aus und wollte schon auf ihn zusprinten, als eine donnernde Stimme die Halle vereinnahmte: „Ruhe! Ihr werdet nicht auch diesen Ort mit eurem intelligenzbeschränkten und zudem überaus kindischen und schwachsinnigen Herumgeplärre entweihen!“

Die Blicke Takerus und Lokis gingen gleichermaßen in die Ecke, aus welcher die unverkennbare Stimme ihres Lehrers gekommen war. Selbst Tsukito konnte sich dazu aufraffen, zu ihm zu sehen, als Thoth bereits hervorgetreten und auf direktem Wege zu den beiden Störenfrieden war.

„Wenn ihr hier nichts Sinnvolles zu schaffen habt, dann geht wieder“, machte er seinen Standpunkt deutlich und hielt sich auch nicht an, seine Verstimmung vor den Götterschülern zu verbergen.

„Was? Aber ich habe doch gar nichts gemacht! Ich bin nur hier, um Anii –“

„Eeeh? Willst du etwa sagen, dass es meine Schuld ist?“

 „Du! Wegen dir ist es erst –“

„Mich interessieren eure kindischen Ausflüchte nicht!“, schnitt Thoth scharf zwischen die erneute Auseinandersetzung der beiden Streitköpfe. Kurzerhand packte er Takeru am Nackenkragen seiner Uniformsweste und schob ihn unmissverständlich und wenig rücksichtsvoll in Richtung Ausgang. Loki schien diese Haltung sofort zu verstehen: Er machte auf dem Absatz kehrt und ergriff aus freien Stücken die Flucht, nicht ohne noch ein gekichertes „Oh-oh, nicht gut“ zurückzulassen.

Alles Zetern und Murren nützte nichts. Takeru versuchte noch, sich loszureißen und rief nach seinem Bruder aus, doch gegen den engstirnigen Ägypter hatte er keine Chance. Unwillentlich stolperte er vor ihm her und erfuhr einen wortwörtlichen Rausschmiss, bevor sich die Tür zur Bibliothek vor seinen Augen schloss und weitere Störenfriede draußen hielt.

„Hmpf.“ Thoth schenkte dem Ganzen keine weitere Beachtung. Indem er ein abfälliges Schnauben ausstieß, drehte er weg um und heftete seine Aufmerksamkeit schlussendlich an Tsukito, den er beinahe vergessen hätte. Der ruhige Mondgott stand noch immer an seinem Fleck gleich neben dem Stuhl und sah zu ihm herüber, ohne in der gesamten Zeit nur ein einziges Wort zu verlieren.

„Und was machst du eigentlich noch hier?“, schnippte er in seine Richtung. Kurzerhand änderte er seinen Kurs, um auf den letzten Besucher zuzukommen. „Die Zeit für vorgeschriebene Schulaktivitäten und das Besuchen öffentlicher Schuleinrichtungen ist vorbei. Geh auf dein Zimmer!“

„Ich war noch mit dem Aufsatz beschäftigt. Totsuka Takeru wollte mich zum Essen abholen“, listete Tsukito die Fakten auf, ohne sich von der sichtlich schlechten Laune ihres Lehrers beirren zu lassen.

Etwas wie Interesse wurde in Thoth wach. Aufmerksam zog er eine Augenbraue in die Höhe. „So? Scheint, als hätten das Mädchen und der Fehlschlag Besseres zu tun, als dich dabei zu unterstützen, wenn sie dich diese Aufgabe allein erledigen lassen.“

„Kusanagi Yui wurde aufgehalten und Totsuka Takeru erachtet diesen Aufsatz als unnötig.“

„Tch. Lass sehen.“ Er wartete erst gar nicht auf eine Erlaubnis, sondern griff direkt an dem Schüler vorbei und nahm sich dessen Notizbüchlein zur Hand. Der flüchtige Anflug von Anerkennung wich binnen kürzester Zeit von seinem Gesicht. Nur interessenshalber griff er auch nach dem zweiten Heft, welches vor Tsukito auf dem Tisch gelegen hatte, und erkannte Yuis Handschrift darin. Seine Augen flogen kurzweilig über die ersten Zeilen, ehe er das Heft senkte und Tsukito mit einem strengen Blick bedachte. „Ist das euer Ernst?“

Vielleicht ahnte Tsukito bereits, dass er mit ihren bisherigen Bemühungen nicht zufrieden war, so genau wusste Thoth das nicht zu sagen. Es tat auch nichts zur Sache, denn schon knallte er das Heft mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Alles, was das Mädchen zustandegebracht hat, sind nichts als verschönlichte Darstellungen und vollkommen fehlgesetzte Wunschvorstellungen einer Utopie von Idealprinzipien, die in keinster Weise unterlegt worden sind!“, wetterte er los. Ihm war egal, wie laut er dabei wurde. Er konzentrierte all seinen Frust und seine Verärgerung auf Tsukito, der in diesem Moment wohl oder übel als Ventil herhalten musste. „Und alles, was du bisher geliefert hast, sind sinnfrei herausgezogene Zitate ohne jeglichen Zusammenhang! Hast du überhaupt verstanden, worum es bei eurem Thema geht? Hast du nur eine Sekunde über das Kernthema und dessen Sinn nachgedacht und deinen eigenen Kopf bemüht?! Dummkopf! Du bist absolut unnütz, zu nichts in der Lage und absolut unfähig, selbst zu denken!“

Inmitten seiner Rage packte er Tsukito am Kragen. Er zog ihn ein Stück an sich heran und zwang ihn auf die Zehenspitzen, um mit dem Japaner auf etwa gleicher Augenhöhe zu sein. „Hast du den Ernst der Lage überhaupt verstanden? Das ist kein Sonntagsausflug, auf dem ihr euch hier befindet!“, zischte er gefährlich. Er zog ihn noch dichter an sich heran und senkte die Stimme. „Wenn du dir nicht bald mehr Mühe gibst und aus deiner kleinen Lethargie aufwachst, wirst du den Absprung nie schaffen. Ich lasse dich und den Rest eures Gesindels einfach durchfallen, wenn es sein muss, ohne mit der Wimper zu zucken. Was dann aus euch wird, soll nicht mein Problem sein!“

Ruckartig ließ er von ihm ab und wandte sich um. Tsukito hatte während seiner gesamten Predigt keine einzige Regung gezeigt. Keine Einsicht, keine Erkenntnis, nicht einmal ein müdes Augenblinzeln. Es war Thoth einerlei, er war mit diesem Holzkopf fertig.

„Sag den anderen beiden, dass eure Aufzeichnungen Mist sind. Damit werdet ihr nicht einmal mit Mittelmäßig abschneiden. Strengt gefälligst eure Köpfe an, die sind nicht nur zum Haare striegeln da! Und jetzt verschwinde!“

 

Das hat er gesagt?“ Yui stieß ein langes Stöhnen aus. Ihr Kopf sank niedergeschlagen auf die Tischplatte.

„Ja.“

Tsukito hatte ihr alles erzählt. Bis ins kleinste Detail hatte er ihr geschildert, was am gestrigen Tag in der Bibliothek alles vorgefallen war. Dabei hatte er auch kein Blatt vor den Mund genommen und Wort für Wort wiedergegeben, was Thoth zu ihm hinsichtlich ihrer Arbeit gesagt hatte. Wie sehr diese Ausführungen das Mädchen deprimieren würden, hatte er natürlich nicht bedacht und auch jetzt nahm er kaum wahr, was er in ihr ausgelöst hatte.

Aber sie war nicht die Einzige.

Thoths Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste nicht, warum, aber es löste ein schwer lastendes Gefühl in ihm aus, wenn er an sie zurückdachte. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Thoth ihn einen Nichtsnutz geschimpft hatte, und doch hatte es ihn dieses Mal härter getroffen als jemals zuvor. War er wirklich zu nichts in der Lage? War er zu nichts gut? Sollte er der Grund sein, dass ihre Mission scheitern würde? Tsukito konnte nicht aufhören, sich diese Fragen zu stellen.

Wieder und wieder hatte er sich seine Aufzeichnungen angesehen. Es stimmte, er hatte sie nur Wort für Wort aus den Büchern übernommen und verstand ihren Inhalt nicht. Doch er war sich sicher gewesen, dass es das war, was Thoth gesucht und von ihnen erwartet hatte. Konnte er sich so sehr geirrt haben? Hatte er etwas nicht verstanden?

„Erkläre es mir bitte noch einmal“, bat er mit monotoner Stimme, woraufhin das Mädchen den Kopf anhob.

„Eh? Das ist aber ungewöhnlich für dich, Tsukito-san. Ich habe dir bereits alles erzählt, was ich über den Glauben weiß.“

„Erzähle es mit bitte noch einmal“, wiederholte er seine Bitte, wobei er ihr fest in die Augen sah. „Ich möchte es verstehen.“

 

Nach diesem nervenaufreibenden Tag hatte sich Thoth in seine Räumlichkeiten der Schulbibliothek zurückgezogen. Diese nichtsnutzigen Möchtegerne von Göttern würden ihm eines Tages noch den Verstand kosten. Bei einer Tasse aromatischen Kaffee wollte er den späten Nachmittag ruhig ausklingen lassen. Er war nicht wie das übliche Gesöff, das man sonst bevorzugt unter den Menschen konsumierte. Dieser hier war speziell mit schwarzem Kardamom angereichert und gab ihm ein Stück der vermissten Heimat zurück. Wenigstens eine Sache, die er an harten Tagen wie diesen nicht missen wollte.

Er hatte sich eines der vielen Bücher geschnappt, heute aus dem Bereich der Geisteswissenschaft, und ließ sich auf eine der vielen Sitzmöglichkeiten sinken, um den Rest des Abends ungestört im Lesen zu verbringen. Seine Augen verschwanden bereits zwischen den vielen Zeilen, als er ein Geräusch vernahm, das ihm verkündete, dass sein just begonnenes Vorhaben bereits gestört wurde.

„Thoth Caduceus?“

Seine unbewegte Stimme war nicht zu verkennen. Thoth stieß ein leises Zischen zwischen den Zähnen aus, ehe er das Buch zuklappte und sich aus seinem Sitz erhob. Er trat an das Geländer heran, suchte kurz die unterste Etage nach dem Eindringling ab, und tatsächlich: Er erkannte den Dummkopf, ganz ohne Geleit und Gepäck, der gerade in die Bibliothek gekommen war und ganz offensichtlich nach ihm suchte.

„Thoth Caduceus?“

„Für dich immer noch »Sensei«“, machte er sich von seiner Position aus bemerkbar, indem er den Schüler korrigierte. Er drehte sich mit dem Rücken gegen das Geländer, um seinen abweisenden Standpunkt deutlich zu machen. Indem er einen Blick über die Schulter nach unten warf, erkannte er, dass sein unerwünschter Besucher ihn inzwischen bemerkt hatte und ausdruckslos zu ihm hochsah. „Was willst du hier, Dummkopf? Hast du nicht etwas zu tun?“, gab er sich genervt.

„Thoth Caduceus, ich möchte mit dir reden.“

„Tch.“ Thoths rechter Mundwinkel zuckte. „Reden? Worüber willst du mit mir reden?“

„Ich komme zu dir hoch.“

Schweigend beobachtete Thoth, wie Tsukito seine Ankündigung in die Tat umsetzte. Es war ungewöhnlich für den Mondgott, aktiv eine Handlung vorzunehmen, so viel hatte selbst er über ihn gelernt. Doch gemessen an dem, was er bisher von ihm gesehen und erlebt hatte, brachte es selten etwas Gutes, wenn er etwas von sich aus versuchte. Eigentlich nie, korrigierte er sofort. Generell war es selten ein gutes Zeichen, wenn einer seiner Schüler ihn noch nach dem Unterricht aufsuchte, um ihn zu konsultieren. Das brachte nie etwas Sinnvolles zustande. Kurz fragte er sich, ob das Mädchen diesen Dummkopf wohl vorgeschickt hatte, um ihm einen Floh zu präsentieren, den sie ihm ins Ohr gesetzt hatte.

„Ich habe nicht viel Zeit. Fasse dich also kurz“, sagte er klipp und klar, gerade als Tsukito die letzten Stufen erklomm, um den kurzen Gang an ihn heranzutreten.

„Ich habe eine Frage.“

„Ja, das dachte ich mir schon.“

„Thoth Caduceus, »glaubst« du?“

„Wie bitte?“ Thoths Augenbrauen zogen sich zusammen. Hatte er sich da gerade verhört?

„Thoth Caduceus, »glaubst« du?“

„Ich habe deine Frage schon verstanden!“, machte er deutlich, wobei er die Stimme erhob. Er zwang sich schon im nächsten Moment unter Kontrolle, stieß sich vom Geländer weg und richtete sich vor dem Schüler in eine gerade Haltung auf. In einer distanzierten Geste verschränkte er die Arme vor dem Körper, fixierte den jungen Gott jedoch mit festem Blick. „Wozu willst du das wissen? Ich denke nicht, dass dir meine Antwort in irgendeiner Weise in deinem Aufsatz weiterhelfen wird.“

„Ich möchte nur wissen, ob du »glaubst«.“

Thoth stieß ein langes Stöhnen aus. Auf die Art würde er mit dem Dummkopf nicht weiterkommen. Er war ja nicht einmal dazu in der Lage, selbst zu verstehen, was er eigentlich von ihm wollte.

„Spezifiziere deine Frage“, sagte er daher. „Wie vielleicht sogar du inzwischen mitbekommen hast, gibt es verschiedene Definitionen von »glauben«.“

Tsukito wurde daraufhin ruhig. Wie Thoth es befürchtet hatte. Dieser Hohlkopf war nicht zum eigenen Denken in der Lage. Sicherlich würde das jetzt schon das Ende ihrer kleinen Unterhaltung bedeuten. Er würde ihm mit Sicherheit nicht noch mehr auf die Sprünge helfen. Wenn dieser hoffnungslose Fall nicht selbst wusste, was er eigentlich von ihm wollte, dann war das alles, wie weit er ihm entgegenkommen konnte.

„Gibt es etwas, an das du glaubst?“, kam dann doch endlich die Frage, auf die Thoth schon nicht mehr gehofft hatte.

Er stieß die Luft leise durch die Nase aus.

„Deine Aufgabe hat zum Ziel, dass wir uns unserer Verbindung als Götter zu den Menschen bewusst werden, habe ich recht?“, fuhr Tsukito indes fort. „Du hast uns gelehrt, dass »Glaube« eine der letztverbliebenen Verbindungsbrücken zwischen Göttern und Menschen darstellt. Meine bisherigen Informationen besagen, dass die Beziehung zwischen Menschen und Göttern auf den Glauben aufbaut. Menschen glauben an die Götter und einst glaubten auch Götter an die Menschen. Aber tun sie das immer noch?“

Thoth würde es niemals offen zugeben, doch er empfand so etwas wie Anerkennung für seinen Schüler. Es war das erste Mal, dass Tsukito von sich aus auf eine Überlegung gestoßen war, die zudem gar nicht so dumm war. Hatte er wohlmöglich einen Durchbruch bei dem japanischen Mondgott erzielt?

„An was glaubst du, Thoth Caduceus?“

„Ich bin der Gott des Wissens“, sprach er ruhig, aber gewogen. „Jegliche Form von »glauben« ist für mich nicht von Belang. Ich glaube nicht, ich weiß.“

Stille kehrte zwischen den beiden ein.

„Ich verstehe nicht“, gestand Tsukito leise.

„Es besteht kein Anlass, an etwas zu glauben, wenn man um dessen Existenz weiß“, erklärte er. „Es besteht außerdem kein Anlass, an eine Entwicklung zu glauben, wenn man sie bereits anhand von Wissen und Erfahrung vorkalkulieren kann. Zu glauben ist etwas für jene, die nicht wissen.“

Tsukito ließ sich diese Worte für einen Moment durch den Kopf gehen. Oder zwei, oder drei.

„Und Menschen glauben …“

„Weil sie nicht wissen.“

„Und Götter?“

Glauben zu wissen.“

Er ging in sich.

„Das heißt, Wissen hebt den Glauben auf?“

Thoth gab ihm darauf keine Antwort. Was immer seine Beweggründe dafür waren, er zeigte keinerlei Gefühlsregung und hüllte sich in Schweigen.

„Würden Menschen nicht mehr an Götter glauben, wenn sie von ihnen wüssten? Würden Götter mehr an die Menschen glauben, wenn sie weniger wüssten? Kann Glaube nur dort bestehen, wo kein Wissen existiert?“, stellte sich Tsukito all diese Fragen, die ihm just durch den Kopf gingen. Er war regelrecht in seinen Gedanken vertieft. „Wenn dem so ist, wieso sind wir dann an dieser Schule, um über die Menschen zu lernen, wenn das in gleicher Linie bedeutet, dass wir damit aufhören, an sie zu glauben?“

„Manchmal, in den seltensten Fällen, ist der Glaube wichtiger als das Wissen, um das Gleichgewicht der Welt zu bewahren“, sprach Thoth ruhig, um dem Schüler eine Antwort auf seine vielen Fragen zu geben. „Ihr seid hier, um zu lernen, dass die Verbindung zwischen Menschen und Göttern ein essentieller Bestandteil ist, um dieses Gleichgewicht zu halten.“

„Aber du glaubst nicht“, gelang Tsukito schlussendlich zu seiner Erkenntnis, wobei er dem Lehrer fest in die Augen sah, „weil du weißt.“

„So ist es.“

„Du glaubst nicht an die Menschen, weil du über sie weißt. Du glaubst nicht an die Welt, weil du weißt, wie sie funktioniert. Und vermutlich glaubst du auch nicht an diese Schule, weil du weißt, dass sie nichts bewirken wird.“

Thoths Augen verschmälerten sich. Er ließ sich vor dem Schüler nicht anmerken, wie sich sein Körper bei dessen Worten versteifte. Sie mussten etwas in ihm bewegen, aber was, das wusste nur er allein.

„Ich weiß nichts von alledem, aber ich bin hier, um zu lernen. Das ist meine Mission“, sagte Tsukito, unbewegt wie immer. Obwohl es dieselben Worte waren, die Thoth schon so oft von ihm gehört hatte, lag dieses Mal etwas darin, das ihm zeigte, dass er es ernst meinte. „Ich weiß nichts über dich, Thoth Caduceus. Genauso wenig, wie ich über Totsuka Takeru, Kusanagi Yui, Apollon Agana Belea und die anderen weiß. Aber ich glaube an dich. Genauso, wie ich an Totsuka Takeru, Kusanagi Yui und die anderen glaube.“

Der Gott des Wissens konnte nicht vermeiden, dass sich bei diesen Worten seine Augenbrauen in die Höhe zogen. Er überhörte geflissentlich, wie Tsukito ihn mit dem übrigen Pack gleichstellte. Allein, dass er seinen Glauben an oder in ihn verkündete, löste in ihm ein gewisses Erstaunen aus.

„Hast du damit deine Antworten, die du wolltest?“

„Ja.“

„Dann verschwinde! Du hast genug meiner wertvollen Zeit in Anspruch genommen, Dummkopf!“

Garten voller Wunder (Afterpartyshipping)

Warmer Sonnenschein, eine milde Brise und der Duft von Blüten in der Luft. Mehr war es nicht, was Dionysos brauchte, um nach einem ermüdenden Schultag zu seinen Lebensgeistern zurückzufinden. Die meisten anderen Schüler hatten sich bereits ihren freiwilligen Nachschulaktivitäten angenommen und er hatte nun, da er wieder einigermaßen wach war, fest vor, dasselbe zu tun.

„Mal sehen … Heute ist das Unkraut dran, ich muss gießen und die Reben müssen geschnitten werden. Oh, und umtopfen! Das sollte ich vielleicht sogar als Erstes tun.“

Laut listete er seinen heutigen Arbeitsplan vor sich auf. Es stand eine Menge an. Dank Zeus‘ freier Laune, die Jahreszeiten nach seinem Belieben wechseln zu lassen, hatte er kaum genug Zeit, all seinen Pflanzen dieselbe aufopfernde Liebe zukommen zu lassen, die sie für ihr gesundes Gedeihen benötigten. Auch kam er manchmal kaum mit der Arbeit hinterher, denn durch die unvorhersehbar abwechselnden Wetterbedingungen an diesem Ort konnte er sich selten an einem Plan festhalten.

Einen Vorteil hatte das Ganze: Manchmal brachten eben diese Umstände ganz interessante Überraschungen in seinem Garten zutage. In derselben Strenge bedeuteten sie aber auch einiges an Ärger für ihn. An manchen Tagen hatte sich so viel in seinem kleinen Garten getan, dass die damit angefallene Arbeit an Mühe grenzte. Nichts, was Dionysos sonderlich gut gefiel.

Schwer seufzte er. „Na, wir werden sehen.“

Auf seinem Weg zu seinem Garten kam er an dem weiten Sportplatz vorbei. Hier war es lauter von den vielen Schülern, die ihren Sportclubaktivitäten nachgingen. Nichts, was ihm persönlich zusagen würde, aber die heiteren und ausgelassenen Rufe ließen ihn lächeln.

Er ließ seinen Blick schweifen. Ein paar Mädchen liefen ihre Bahnen im Sprint, ein paar Jungs beschäftigten sich mit Fußball, in einem anderen Bereich ging man Sportarten wie Basket- und Football nach. Und noch etwas weiter waren die Felder für die Tennisclubs.

„Hm?“ Seine Aufmerksamkeit wurde auf eine Person gelenkt, die etwas abseits des ganzen Treibens vor den Gittern stand. Zuschauer waren hier nicht selten, besonders beim Feld für den Soft-Tennisclub waren größere Randgrüppchen nicht unüblich. Aber diese eine Person stand abseits jeglicher Gesellschaft und beobachtete aus sicherer Distanz das Spiel, welches sich der Tennisclub gerade bot.

Dionysos entschied sich kurzerhand für einen kleinen Zwischenstopp und lenkte seine Schritte um.

„Jo, Hades-san“, grüßte er lässig und gesellte sich an die Seite seines Onkels. „Was gibt’s?“

„Apollon spielt.“

„Ah, ich seh‘ schon.“

So wirklich »spielen« konnte man es nicht nennen. Das Spiel gestaltete sich im Doppel, jede Seite bestand aus zwei Personen. Der Ball ging jeweils zwei, drei Mal hin und her, bis Apollon ihn entweder verfehlte, gegen das Netz oder zu weit außer Reichweite der Gegenseite spielte. Kein harmonisches Miteinander, sondern mehr ein wüstes Herumgerenne zeichnete das Spiel aus. Dionysos konnte sich anhand von Apollons Entschuldigungen ausmalen, dass er heute nicht gerade seinen besten Lauf hatte.

„Aber eher schlecht als recht“, kommentierte er das Schauspiel und zuckte unter einem bemitleidenden Lächeln die Schultern.

„Mh.“

„Geht das schon die ganze Zeit so?“

„Mh.“

Ein weiterer Schlag ging daneben. Im hohen Bogen fand der Ball über das abgrenzende Gitter und ließ eine kleine Gruppe von Bewunderern erschrocken auseinanderspringen. Unter weiteren Entschuldigungen eilte Apollon heran, sein Lächeln bemüht, als er um den Ball bat.

„Aber irgendwie niedlich, unser Kleiner. Obwohl er manchmal so ein Tollpatsch ist und von allen Seiten Kritik erntet, verliert er nie sein sonniges Gemüt und steckt andere mit seiner guten Laune an. Wen wundert es, dass er selbst hier schnell neue Freunde gefunden hat? Er ist einfach unermüdlich. Ganz unser Apollon, meinst du nicht?“

Dionysos bemerkte im Reden nicht, wie sich Hades stillschweigend von dem Spiel abgewandt hatte. Erst als er sich nach einer Bestätigung suchend der nun freien Stelle an seiner Seite zuwandte, wurde er auf dessen Rückzug aufmerksam. Er tat es ihm sogleich nach, drehte sich von dem Gitter weg und ließ das lärmende Dilemma hinter sich.

„Was hast du noch vor?“

„Lesen, vielleicht.“

„Ist das nicht ziemlich langweilig? Es dauert noch ein wenig, bis der Astronomieclub Sinn macht, nicht?“

Auf hin dieses Einwurfs blieb Hades stehen. Er warf nur einen Blick über die Schulter zu ihm zurück. „Dionysos, ich werde schon eine Beschäftigung für mich finden. Allein.“

Dionysos, mit hinter dem Nacken verschränkten Armen, hielt ebenfalls inne und besah ihn mit einem nachdenklichen Blick. „Hm, willst du damit sagen, du findest eine allein ohne meine Hilfe, oder eine für dich allein?“

Hades richtete sein Gesicht wieder nach vorn. „Folge mir nicht“, wies er an, schon setzte er sich in Bewegung und entfernte sich.

„Du bist wirklich mehr der Einzelgänger, hm?“

Diese Aussicht gefiel ihm nicht. Der Gedanke, dass sich Hades ein weiteres Mal stillschweigend irgendwohin zurückziehen und zum Alleinsein verdammen würde, widerstrebte ihm. Dabei hatten sie an Zeus‘ Schule endlich die Gelegenheit, mehr Zeit miteinander zu verbringen und dabei ganz auf ihre Pflichten als Götter zu pfeifen. Diese Zeit war dazu bestimmt, um sich auszuruhen und es zu genießen; nicht, um weiteren Unmut zu säen.

‚Säen, hm?‘

„Weißt du, ich habe mir überlegt“, begann er zu erzählen, wobei er sich gemächlich in Bewegung setzte, damit Hades ihn auch ja hörte, „vielleicht sollte ich mir noch ein paar Leute in den Gärtnerclub hinzuholen. Ich hatte schon einmal welche angeworben, aber bisher hat niemand den benötigten grünen Daumen bewiesen. Das ist echt ärgerlich, denn ich könnte wirklich jemanden gebrauchen, der mir mit den Pflanzen hilft.“

Sein Plan ging auf. Die Beharrlichkeit in seinen Worten drang zu Hades durch und bewegte ihn ein weiteres Mal dazu, stehen zu bleiben und sich über die Schulter nach ihm umzusehen. Er hatte Hades‘ volle Aufmerksamkeit, das war alles, was er brauchte.

„Ich weiß, du bist nicht so der größte Vertreter von meinem Hobby mit dem Wein und so, aber vielleicht magst du es ja trotzdem einmal versuchen? Ich habe auch viele Blumen, die gepflegt werden müssen. Du magst doch sicherlich schöne Dinge? Ich bräuchte wirklich dringend jemanden, der mir bei der Arbeit aushilft.“

„Wieso fragst du nicht jemand anderen? Kusanagi, zum Beispiel?“

„Ich könnte niemals vertreten, dass sich eine Frau in der Gartenarbeit ihre zarten Hände schmutzig macht“, wies er lächelnd zurück.

„Apollon?“

„Du hast doch gesehen, wie er mit seinem Schläger umgeht. Sollte ich ihm wirklich eine Harke oder Schere anvertrauen?“

„Die Japaner?“

„Haben keine Ahnung. Und ehe du fragst: Baldr zieht mir zu viel Aufmerksamkeit auf sich, Loki ist mehr der Zerstörer als ein Erbauer und Thor … passt einfach nicht ins Bild. Bei den Geistschülern habe ich bereits mein Glück versucht, jedoch ohne Erfolg.“

Für mehrere Sekunden verweilte Hades in Schweigen, während er das Gesicht des Neffen prüfte. Schließlich stieß er ein ergebenes Seufzen aus. „Ich werde dich mehr aufhalten, als ich dir eine Hilfe sein kann“, erklärte er seine Zweifel.

Dionysos tat es mit einem breiten, zuversichtlichen Grinsen ab. „Lass uns das erst herausfinden, ehe du das von dir behauptest. Ich bin der Chef in meinem Garten. Unter meiner Anweisung kann schon nicht viel schiefgehen.“

 

Bei Dionysos‘ kleinen Garten angekommen, dirigierte er Hades zuerst in den Schuppen.

„Hier, zieh das über“, wies er ihn an, wobei er ihm eine lange, dunkelgrüne Schürze entgegenhielt. „Binde sie bitte gut fest, damit sie eng anliegt, aber sie sollte dir nicht im Weg sein. Hm, glaubst du, dass du auch eine andere Hose brauchst? Man macht sich bei der Gartenarbeit schnell dreckig.“

„Es geht schon“, lehnte Hades leise ab. Kurz besah er sich die Schürze auf seinem Arm, ehe er sich noch einmal an Dionysos wandte: „Und du bist dir wirklich sicher?“

„Na sicher bin ich sicher“, gab er unter einem selbstsicheren Grinsen zurück. „Nun mach dir mal nicht so viele Gedanken. Du wirst sehen, es wird Spaß machen!“

Überzeugt schien Hades nicht, doch er entgegnete auch nichts. Schweigend ergab er sich seinem Schicksal und zog sich die Schutzkleidung über den Kopf. Im direkten Anschluss begleitete er Dionysos nach draußen und ließ sich an die vielen Kleinbeete heranführen.

„Also, am einfachsten ist das Unkrautjäten. Schau, du hältst Ausschau nach allem Gewächs, was nicht wie diese ordentlichen Saaten aussieht. Das ziehst du dann hiermit oder mit den Händen heraus und tust es einfach in den Eimer. Schau, ungefähr so“, unterwies er ihn in seiner ersten Aufgabe, von der Dionysos überzeugt war, dass er sie schaffen würde. Er gab sich extra Mühe, alles so zu erklären, dass Hades es auch verstand. „Und wenn du dir mal nicht sicher bist, ruf einfach nach mir. Ich schaue es mir dann an, bevor du etwas Falsches herausziehst“, schloss er und klopfte seinem Onkel einmal aufmunternd auf die Schulter.

„Ich versuche es“, willigte Hades ein und machte sich sogleich daran, das eben Gelernte in die Tat umzusetzen. Dionysos beobachtete ihn einige Zeit dabei, bis er gewiss war, dass alles schon funktionieren würde, ehe er sich in Richtung Schuppen abwandte.

Es war an der Zeit für seine wichtigste Arbeit des Tages: die Orchideen mussten für das neue Substrat, welches er zusammengesetzt hatte, umgetopft werden. Dafür hatte er sie die letzten Tage ausreichend bewässert und versorgt, damit sie für den heutigen Tag stark genug waren. Diese hübschen Blumengewächse gehörten mit zu seinem größten Stolz. Eines Tages, wenn er genug kräftige Triebe von ihnen gezüchtet hatte, würde er sie in den öffentlichen Räumlichkeiten der Schule verteilen, um jeden an ihrer Schönheit teilhaben zu lassen. Jeder sollte sie sehen und jeder sollte sich an ihnen erfreuen. Doch bis es soweit war, dauerte es noch und die sensiblen Pflanzen brauchten viel Pflege.

„Ah!“ Dionysos‘ erschrockener Ausruf wurde von einem lauten Scheppern begleitet, das Hades‘ Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Dionysos? Alles in Ordnung?“

„Ja, schon gut. Alles in Ordnung“, kam es zu ihm zurück. Ein leiseres „Oh nein, meine geliebte Orchidee“ folgte, gerade als sich Hades aus seiner Hocke erhob, um zu sehen, was passiert war.

Er erkannte seinen Neffen inmitten eines Scherbenhaufens aus Ton, Erde, Rindestücken und dem, was wohl besagte Orchideenpflanze gewesen war. Alles lag unordentlich zu dessen Füßen verteilt, bedeckte zum Teil die grünen Gummistiefel und wurde bereits von Dionysos‘ fürsorglichen Händen betrauert.

„Ist das mein …?“

„Hm? Ach nein, nur keine Sorge“, bemühte sich Dionysos schnell um ein tröstliches Lächeln, als er erkannte, welche Gedanken den Unterweltgott soeben befallen hatten. „Das hat nichts mit dir zu tun. Der Topf ist mir aus der Hand gerutscht. So war es zwar nicht geplant, aber auf die Art geht es schneller mit dem Umfüllen der Erde. Ist nur schade um den Topf, aber zum Glück kostet mich die Ausrüstung ja nichts. Alles halb so schlimm“, versuchte er ihn zu beschwichtigen.

Das war natürlich gelogen, die Orchideen waren hinüber. Einen harten Sturz aus über ein Meter fünfzig Höhe würde die zarte Pflanze nur schwer überstehen.

 

Nach diesem ernüchternden Vorfall hatte Dionysos schweren Herzens entschieden, das Umtopfen seiner geliebten Pflanzen besser auf einen anderen Tag zu verschieben. Der Verlust einer seiner hart gezüchteten Orchideen hatte ihn fürs Erste einen Dämpfer versetzt, sodass er keine weiteren Risiken eingehen wollte. Sicher war sicher, vor allem für seine Pflanzen.

Als Nächstes nahm er sich seine Weinreben vor. Einige der Triebe mussten beschnitten werden, damit die Kletterpflanzen ausreichend gedeihen konnten. Er wollte sie in bester Verfassung sehen, sodass die Ernte eines Tages reich ausfallen würde. Sie waren ihm besonders wichtig und er widmete sich ihnen stets mit ganzer Hingabe, denn sie würden es sein, aus denen er den besten Wein der Schule gewinnen würde, sobald die Zeit reif dafür wäre.

Ein lautes Poltern durchbrach das kontinuierlich-ruhige Schnippschnapp, welches von Dionysos fröhlichen Summen begleitet worden war. Dieses war nun vorbei, stattdessen verließ ein schmerzerfülltes Stöhnen seinen Lippen.

„Dionysos?“

„Nichts passiert“, antwortete er gleich, konnte aber nicht verhindern, dass Hades schneller bei ihm war, als er sich zurück auf die Beine hieven konnte. „Das war wohl etwas zu weit vorgestreckt. Ich hab‘ die Leiter unter den Füßen verloren“, lächelte er ungeschickt.

Wortlos sah Hades auf das Bild, welches sich ihm ergab: Dionysos rücklings auf dem Erdboden, neben ihm die umgekippte Bockleiter, weit abseits die Heckenschere und neben dem Gott einige der Ranken und Blätter, die er mit sich gerissen haben musste. An sich war es eine Kunst, so unglücklich zu stürzen. Die kleine Leiter mit ihren drei Stufen bestand aus massivem Holz und war durch ihren runden Podest normalerweise stabil genug, um jemanden doppelten Gewichts des Fruchtbarkeitgottes tragen zu können. Dennoch lag sie jetzt umgekippt neben ihm und für Hades gab es nur eine Erklärung, wie das möglich sein konnte.

„Das ist nur, weil ich –“

„Wer hoch hinaus will, wird tief fallen, oder wie war das?“, fiel ihm Dionysos, der sich gerade zurück auf die Beine kämpfte, direkt ins Wort. Beiläufig befreite er seine Rückfront vom Schmutz und sah hinauf zu seinen Reben, die gerade einmal zur Hälfte ordentlich geschnitten waren.

„Dionysos, ich denke –“

„Hm, den einen dort habe ich etwas zu weit geschnitten. Was meinst du?“

„Ich … ich denke –“

„Wer fällt, muss nur wieder aufstehen. Jetzt, da ich wieder auf den Beinen bin, kann die Arbeit weitergehen. Nur keine Müdigkeit vortäuschen!“

„Dion… –“

„Wie weit bist du mit dem Unkraut?“

Es hatte keinen Zweck. „Gleich fertig.“

„Sehr gut! Dann lege ich dir schon einmal alles für das Gießen zurecht. Wie das geht, zeige ich dir dann, wenn du soweit bist.“

Es hatte wirklich keinen Zweck. Für Dionysos‘ unerschöpfliches Lächeln hatte Hades nur ein müdes Seufzen übrig.

 

Kurz darauf hatte sich Hades dem Bewässern der Beete angenommen. Dionysos hatte sich seit geraumer Zeit im Schuppen verschanzt, aus welchem hin und wieder ein leiseres bis lauteres Scheppern zu hören war. Es rang ihm ein Seufzen ab, doch er wollte nicht nachsehen und fragte auch nicht weiter nach. Das Resultat würde doch nur dasselbe sein, wie schon beim letzten Mal.

Hades war davon überzeugt, dass sein Unglück an all diesen Unfällen schuld war, doch Dionysos schien das gar nicht hören zu wollen. Sicherlich meinte er es nur gut und wollte ihn durch sein Hinwegblicken in seiner Schuld entlasten. Hades wusste das, doch das änderte leider nichts an der Tatsache. All das Unglück, welches sein Fluch über andere brachte … Er sollte wirklich nicht hier sein.

„Okay, ich bin fertig. Wenn du dann soweit bist, können wir –“

Ein Ziehen am Schlauch …

„Vorsicht!“

… ein Poltern …

„Wuah!“

… ein Sturz.

„Ah, verdammt. Tut mir leid, Hades-san, ich –“

„Nein, das ist meine –“

„Oh nein! Nicht das Nelkenbeet! Bitte nicht meine geliebten Nelken!“

Hades verstummte. Es versetzte ihm einen Stich mitten durch die Brust, in dieses verzweifelte Gesicht Dionysos‘ blicken zu müssen. Er war über ihn gebeugt, durchnässt bis aufs Hemd dank der Flutungsattacke, die Hades nicht hatte verhindern können, als er die Kontrolle über den Gartenschlauch verloren hatte. Aber selbst das, neben dem unschicklichen Sturz des Neffen, bei welchem er Hades einfach mit sich gerissen hatte, wäre verkraftbar gewesen, doch nicht dieser bestürzte Gesichtsausdruck.

„Es tut mir leid. Daran ist nur mein Unheil –“

„Hm? Ach was, nein“, wies er die Worte schnell zurück. Sein Lächeln war sichtlich bemüht, das blieb Hades nicht verborgen. „Ich war doch derjenige, der über den Schlauch gestolpert ist. Das war einfach nur ungeschickt, mehr aber auch nicht. Das hatte nichts mit dir zu tun.“

„Nein, mein Unglück ist schuld daran.“

„Hm?“

Es ging nicht, er konnte diesen Anblick nicht länger ertragen. Gepeinigt drehte Hades den Kopf zur Seite. „Ich wollte dir davon abraten. Ich habe geahnt, dass so etwas passieren würde. … Nein, ich wusste es. Es ist mein Fluch. Mir ist nicht vergönnt, so etwas wie Glück zu empfinden. Und aus diesem Grund kann keinem in meiner Gegenwart –“

„Shht!“

Er verstummte augenblicklich. Inzwischen hatte sich Hades irgendwie daran gewöhnt, dass man ihm des Öfteren ins Wort fiel; dass man ihm hingegen gänzlich den Mund verbat, war ihm neu. Und dann auch noch ausgerechnet einer seiner eigenen Neffen.

Folglich irritiert drehte er den Kopf und erstarrte für den ersten Moment. Dionysos, noch immer über ihm, hatte sich weiter zu ihm herabgebeugt. Sein Gesicht war nahe, zu nahe. Überhaupt wurde Hades erst jetzt so richtig bewusst, dass ein viel zu geringer Sicherheitsabstand zwischen ihnen beiden lag. Er sah sich zwischen Armen und Beinen des jungen Gottes festgekeilt und war nicht einmal dazu in der Lage, sich mit der Hand die nassen Tropfen fortzuwischen, die aus Dionysos‘ durchtränktem Haar auf ihn herabfielen.

„Wunderschön.“

Auf die Lippen des Fruchtbarkeitgottes legte sich ein lockeres Lächeln. Seine grünen Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. Für einen weiteren Atemzug war Hades wie paralysiert. Unfähig, von ihm wegzusehen, sich zu rühren oder auch nur zu bemerken, wie sich Dionysos‘ Hand auf seine Stirn zubewegte.

„D-Dionysos! Was …?“

„Hades ist so wunderschön“, erklang Dionysos‘ Stimme erneut in einer Tonlage, die Hades einen leichten Schauer versetzte. So sanft, so beruhigend … Nie zuvor hatte jemand so mit ihm gesprochen. „Das war es, was ich gerade gedacht habe.“

Er war zu keiner Regung mehr fähig. Der kurze Anflug von Gegenwehr verebbte genauso schnell, wie sie über ihn gekommen war. Dionysos‘ federleichte Berührung, als er ihm das lange Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, hatte sich als ungeahnt zärtlich herausgestellt. Er konnte ein leichtes Kribbeln an der Stelle verspüren, an der Dionysos‘ Finger seine Haut kurz berührt hatten. Zugleich spürte er die Panik in sich aufwallen, als ihm jäh bewusst wurde, was der Gott mit dieser flüchtigen Geste freigelegt hatte.

Tief sog Dionysos dieses Bild in sich auf: Hades, der in einem Meer aus Blüten lag. Hades, der in diesem Moment so rein und unschuldig, und gleichzeitig so verletzbar wirkte. Hades, in dessen schmal geschnittenem Gesicht so viele Emotionsregungen abliefen, dass er ganze Geschichten aus ihnen hätte erzählen können. Er war in seiner aktuellen Verfassung kein Gott, ebenso wenig wie er selbst, und doch selbst in dieser menschlichen Gestalt so vollkommen, dass Dionysos nicht anders konnte, als ihn zu bewundern.

„Und es ist wahr: Du bist wirklich wunderschön. Selbst mit diesem Auge“, sprach er seine Gedanken laut aus, wobei sein Daumen zärtlich an seinem Augenwinkel entlangstrich.

Hades hielt sein linkes Auge stets unter seinem langen Pony verborgen, und das aus gutem Grund. Ein Auge, dessen Grundfarbe Schwarz war, hätte wohlmöglich jeden verschreckt. Menschen gleichermaßen wie Götter. Dionysos hatte fast vergessen, dass es existierte. Er hätte sich den erneuten Anblick nach dieser langen Zeit wesentlich schlimmer vorgestellt, aber das war es nicht. Ganz im Gegenteil: Er spürte keinerlei Unbehagen oder Abscheu, während er es aus nächster Nähe betrachtete, nur stille Bewunderung und Faszination.

„Lass das“, brachte Hades leise hervor. Er drehte den Kopf zur Seite, um Dionysos‘ eingehenden Blick auszuweichen. Das lange Haar fiel ihm zurück ins Gesicht und verbarg, was niemand hätte sehen sollen.

„Weißt du, was mir ebenfalls gerade durch den Kopf geht?“ Er würde darauf keine Antwort bekommen, was Dionysos wusste, weswegen er einfach weitersprach: „»Wann habe ich ihn eigentlich zuletzt gesehen?« Ich muss damals noch ein Knirps gewesen sein, kann das sein? Du warst sehr selten zu Besuch und wenn, hat man dich kaum zu Gesicht bekommen. In die Unterwelt darf nicht jeder und du weißt ja … Ich glaube, es ist wirklich Jahrzehnte her, dass wir uns das letzte Mal so richtig gesehen haben.“

Hades sagte nichts darauf. Er hüllte sich in Schweigen und ließ sich nichts von dem anmerken, was in ihm vorgehen musste.

„Zu schade, dass wir diese Dinger nicht losbekommen. Im Augenblick würde ich dich wirklich zu gern richtig sehen. Als der Hades, der du eigentlich bist. Es ist wirklich ewig her.“

„Das willst du nicht wirklich“, murmelte Hades so leise, dass es kaum zu verstehen war.

„Tja, lässt sich nichts machen“, überging Dionysos seine Worte und setzte sich auf. „Aber weißt du, wenn man es von der Perspektive aus betrachtet, finde ich, hat es sogar etwas Gutes, dass wir hier gefangen sind. So haben wir die Gelegenheit, mehr Zeit miteinander zu verbringen und ich komme endlich dazu, dich besser kennenzulernen.“

Er schenkte ihm ein breites Lächeln, als Hades daraufhin zögerlich den Kopf zu ihm drehte. „Findest du nicht?“

„… Dionysos.“

„Hm?“

„… Runter.“

Er verstand nicht auf Anhieb.

Hades‘ Gesicht nahm eine rötliche Färbung an, als er dieses Mal deutlicher sprach: „Bitte, geh von mir runter.“

„Oh, na klar. Wobei … Was ist, wenn ich jetzt Nein sage?“

„… Unglück wird dich wieder befallen.“

„Hm, nein. Das überzeugt mich nicht wirklich.“

„Dionysos!“

„Schon gut, schon gut“, lachte er und fügte noch ein „War nur ein Scherz, komm schon“ mit an. Sofort kam er der Bitte nach und erhob sich, woraufhin er Hades die Hand reichte, um ihm ebenfalls aufzuhelfen.

Das Beet war ein Dilemma, das erkannte er nun. So schön die Blüten auch um Hades herum ausgesehen hatten, es änderte nichts an dem bitteren Beigeschmack, dass die Pflanzen zerstört waren. Unmöglich würde er sie ohne göttliche Fähigkeiten noch retten können. Er musste ganz von vorn beginnen und sie erneut aufziehen.

„Oh, schau! Eine hat es überlebt“, rief er plötzlich aus und ging in die Hocke. Eine einzige Blume ragte noch stolz und kraftvoll aus der Erde, welche nicht unter den beiden Göttern plattgedrückt worden war. Ihr Blütenköpfchen wippte, als wollte sie, dass man ihr Aufmerksamkeit zukommen ließ. „So ein Glück. Jetzt wird alles wieder gut.“

„Glück?“, wiederholte Hades leise. Unbewegt stand er neben seinem Neffen und beobachtete, wie dieser zwischen all der Zerstörung das Blumenköpfchen behutsam anhob. Die gesamte Situation war äußerst unglücklich, bedauerlich. Wie Dionysos dennoch von »Glück« sprechen konnte, war ihm unbegreiflich.

„So eine tapfere Kleine“, schwelgte Dionysos in seiner offenen Bewunderung, der er der kleinen Blume entgegenbrachte. Wieder und wieder strichen seine Finger über die einzelnen roten Blütenblätter, als belobigte er ihre Stärke. „Dir ist hoffentlich bewusst, dass es ab sofort deine Aufgabe sein wird, auf sie aufzupassen?“, sprach er an Hades gewandt, ohne sich nach ihm umzudrehen.

„Meine …?“

„Sie muss noch groß und stark werden. Außerdem braucht sie viele neue Geschwister, damit sie nicht so allein ist. Jemand muss gut für sie sorgen“, erklärte er.

„… Ich halte das für keine so gute –“

„Sie hat es bereits entschieden.“ Über die Schulter wandte er sich Hades zu. Sein Gesicht zeigte ein gütiges Lächeln. „Tut mir wirklich leid, Hades-san, aber ich muss darauf bestehen.“

Hades hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Er wollte widersprechen, doch ein Blick auf diese kleine Blume ließ ihn verstummen.

Sein Gefühl sagte ihm, dass sein Unglück auch diese letzte Nelke zerstören würde. Einmal hatte sie ihm gestrotzt, doch würde es ihr ein weiteres Mal gelingen? Er empfand Glück, wenn er sie betrachtete, doch würde sie es schaffen, es weiter in ihm heranwachsen zu lassen?

Er wusste es nicht zu sagen. Dieser kleine Garten steckte voller Überraschungen. Und wohlmöglich voller Wunder.

Wo ist Usamaro? (Secretshipping)

Endlich fertig.

Tsukito klappte das Buch zu, welches offen vor ihm auf dem niedrigen Tisch lag. Damit waren die Hausaufgaben für heute erledigt und seine Arbeit vollbracht. Er konnte eine weitere erfolgreich erfüllte Mission auf seinem Konto verbuchen.

 „Anii, ich gehe dann los.“

Nur kurz sah Tsukito auf. Er erkannte Takeru, wie er gerade aus seinem Zimmer gekommen war: in voller Sportbekleidung. Es war die Zeit für seine letzte Runde, die er jeden Abend lief. Warum, das wusste Tsukito nicht. Takeru hatte es ihm oft gesagt, irgendetwas von ‚sich in Form halten‘ und ‚der Schwäche dieses Menschenkörpers nicht nachgeben‘. Aber was genau das bedeuten sollte, war ihm unklar.

„In Ordnung.“ Ungerührt machte sich Tsukito daran, gemächlich seine Schreibutensilien zusammenzuräumen.

 „Ist er eigentlich schon zurück?“

„Wer?“

„Usamaro.“

Tsukito sah auf. Sein Bruder stand inmitten des Zimmers, eine Hand in einer unbehaglichen Geste an den Hinterkopf gelegt. „Ich habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Wirklich seltsam.“

So, war es das? Tsukito wusste es nicht.

„In letzter Zeit kriege ich ihn immer seltener zu Gesicht. Allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen.“

„Wieso?“

„Na, weil …“ Takeru machte den Eindruck, als müsse er selbst überlegen. „Weil er eben ein Hase ist. Was macht ein Hase schon den ganzen Tag? Und dann noch an so einem Ort … Ich frage mich wirklich, wo er bleibt. Er hat noch nie das Frühstück verpasst.“

Seine zunehmende Unruhe blieb Tsukito nicht verborgen. Es war Yui und den anderen zu verdanken, dass er ein wenig über die menschliche Körpersprache gelernt hatte. Er verstand im Ansatz, wie er aus ihr lesen konnte. Dieser neue Blickwinkel war interessant, wenn er auch noch weit davon entfernt war, dieses neuerworbene Wissen zu meistern.

Aufmerksam beobachtete Tsukito seinen Bruder. Dieser verschränkte gerade die Arme vor der Brust, den Blick gen Boden gesenkt. „Normalerweise ist er immer hier während des Unterrichts. Ich weiß nicht, wo er sich neuerdings immer herumtreibt. Die Schule ist so groß, verdammt.“

Nur vorsichtshalber holte Tsukito sein kleines Notizbüchlein hervor und blätterte darin. Wenn er Takerus Worte, die abwehrende Körperhaltung und den verkrampften Gesichtsausdruck richtig deutete, war dieser ernsthaft besorgt. Warum, wusste er nicht. Was hatte ihm Yui erklärt, was man tat, wenn jemand in Sorge war?

„Er könnte überall sein, so klein wie er ist.“ Takeru knirschte die Zähne. So laut, dass Tsukito es noch auf die Entfernung hörte. „Vielleicht hat er etwas oder ihm ist was passiert. Er könnte sich irgendwo verfangen oder eingesperrt haben. Oder jemand von den anderen hat ihn. Wobei … eigentlich sollte jeder wissen, dass Usamaro zu uns gehört.“

Ah, da war es! Tsukito hatte die richtige Seite gefunden. Flüchtig überflog er die Notizen.

„Das wird schon wieder“, sagte er, tonlos wie immer. Sein Blick haftete auf dem beschriebenen Blatt. Laut seiner Mitschrift war diese Phrase angemessen, wenn jemand traurig, niedergeschlagen, verzweifelt oder besorgt war. Und da stand noch mehr. „Es wird schon gut werden. Möchtest du ein Eis essen? Soll ich dir einen Tee anbieten?“

„Anii?“

„Bei einem Gläschen guten Wein sieht es nicht mehr so düster aus. Aber Alkohol löst keine Probleme. Du kannst auch jemandem nasse Tücher in die Schuhe legen, das erheitert das Gemüt.“

„Was zum …?“

Fragend sah Tsukito auf. Sein Bruder taxierte ihn mit einem Blick, den er als ratlos, möglicherweise auch ärgerlich interpretierte. Das war nicht die Reaktion, die man ihm erklärt hatte. Dabei hatte er alles notiert, was ihm die anderen in puncto Trostspenden erklärt hatten. Vielleicht hatte er etwas übersehen?

Nein, dort stand es. An diesem Punkt hätte Takeru lächeln, annehmen oder sich bedanken müssen. Er hätte sich beruhigen und sich ihm anvertrauen müssen. So hatte er es vermerkt. Davon jedoch, dass sein Gegenüber ein zweifelhaftes Gesicht aufsetzen und die Stirn in noch tiefere Sorgenfalten legen könnte, stand nichts geschrieben. Was hatte er falsch gemacht?

»Wenn du nicht weißt, wie du jemandem helfen kannst, dann frag danach«, besagte seine letzte Notiz, welche Thors Ratschlag an ihn festhielt. Wenn dies ebenfalls nichts half, würde er wohl oder übel an dieser Aufgabe scheitern, Takerus Aufregung zu lindern.

Tsukito klappte das Buch zu. Indem er den Blick hob, wandte er sich offen ganz Takeru zu. „Was kann ich tun, um dir zu helfen?“

„Hm …“ Takeru zögerte einen Moment. Dann, nach einiger Überlegung, trat er auf Tsukito zu und ließ sich plump vor ihm auf die Knie sinken. „Anii, kann ich dich um einen Gefallen bitten?“

 

Nichts, keine Spur von dem kleinen Hasen.

Inzwischen hatte Tsukito verschiedene Plätze abgesucht, ohne Erfolg. In der Cafeteria  war er gewesen, in der Aula, in ihrem Klassenzimmer. Bis in die kleinste Nische hatte er die Flure inspiziert, während er sämtliche Orte ablief, die ihm in den Sinn kamen. Kein Hase. Allmählich gingen ihm die Möglichkeiten aus.

Blieb als Nächstes der Campus. Sollte er dort ebenfalls kein Glück haben, blieben nur noch die Privaträume seiner Klassenkameraden. Takeru hatte diese zwar ausgeschlossen, aber vielleicht irrte er sich. Tsukito hatte versprochen, nach Usamaro zu suchen. Dies war seine Mission, die Takeru auf ihn übertragen hatte. Und egal wie, er würde sie erfüllen.

Der Himmel stand bereits im tiefen Abendrot, als er über das Sportgelände streifte. Immer wieder rief er den Namen des Tieres, wie Takeru es ihm erklärt hatte. Wenn man jemanden suchte, rief man immerzu nach dessen Namen und hoffte auf Antwort. Tsukito konnte sich nicht erinnern, dass Hasen sprechen konnten, aber wenn Takeru es sagte, würde es wohl richtig sein.

Doch seine Bemühungen blieben fruchtlos. Er wollte gerade zu dem Wohngebäude zurückkehren, als er ein nahes Rascheln bemerkte.

„Usamaro?“

Am Rande der Büsche kam das weiße Huschen zu einem Stillstand. Lange Ohren richteten sich auf, ein rosa Näschen zuckte. Kurz darauf drehte sich das Köpfchen und der Hase sah in Tsukitos Richtung. Noch ein Wittern, dann machte er kehrt und sprang in langen Zügen auf seinen Herrn zu.

Auf seinen Knien fing Tsukito das Tier auf. Sein Fell fühlte sich kühl an, als Usamaro das Köpfchen weich unter sein Kinn schmiegte.

„Ich habe dich gefunden.“ Gewohnt strich er dem Tier einmal über den Rücken, bevor er sich mit ihm in den Armen erhob. „Gehen wir zurück. Totsuka Takeru wartet auf dich.“

Er war kaum auf den Beinen, da war ein erneutes Rascheln zu hören. Lauter als zuvor und wieder drehte sich Tsukito danach um. Im selben Moment sprang ihm der Hase aus den Armen. Bevor er es verhindern konnte, hoppelte er ihm davon und verschwand in das nächste Gebüsch.

Er zögerte nicht lang. Entschieden trat er an das Gebüsch heran, in welches er Usamaro hatte verschwinden sehen. Mit den Händen teilte er das Geäst, um sich einen Weg zu bahnen. Die kleinen Äste knackten unter seinem Eingriff. Spitze Zweige stachen in seine Haut, doch er ignorierte es. Er musste Usamaro wieder einfangen, bevor er verschwinden konnte.

Leichter gesagt, als getan. Bei seinem Versuch, das Dickicht zu durchstoßen, stolperte er ungeschickt. Es knackte laut um ihn herum, als das Gestrüpp unter ihm nachgab. Schmerzhaft ging er zu Boden, an seinem Gesicht piekte und kratzte es. Doch dafür blieb jetzt keine Zeit.

Fixiert auf seine Mission stemmte er sich hoch. Er rappelte sich auf Hände und Knie und … verharrte in dieser Position. Sekundär fragte er sich, wie er nicht hatte bemerken können, dass er nicht allein war.

Auf etwa einen Meter zu ihm hockte ein Junge, der ihm unbekannt war. Er hatte einen dunklen Teint, der an ihren Lehrer erinnerte. Große, violettfarbene Augen blickten ihm mit Entsetzen entgegen. Tsukito konnte dieses Gesicht keiner Person zuordnen. Möglicherweise handelte es sich um einen der vielen Geistschüler. Deren Gesichter kannte er nicht. Er hatte es nie als notwendig erachtet, sie einzustudieren.

Auf den zweiten Blick bemerkte Tsukito die Jacke, die sich der Junge um die Hüften gebunden hatte. Ja, die war eindeutig ihrer Schuluniform zuzuordnen. Damit stand fest, dass er nicht irrte und tatsächlich einen Mitschüler vor sich hatte.

Allerdings war dieser hier seltsam. Diese kauernde Haltung auf allen Vieren, dieser unausweichliche Blick. Als lauerte er auf die nächste Bewegung. Tsukito erinnerte sich, dazu etwas notiert zu haben. War der Junge möglicherweise verängstigt? Wie verhielt man sich in so einer Situation?

Unweit von ihnen regte sich etwas. Abgelenkt drehte Tsukito den Kopf und erkannte etwas Weißes unter einem der Büsche. Langsam, seine Umgebung wachsam prüfend, wagte sich Usamaro unter dem Gestrüpp hervor. Sein rosa Näschen zuckte, als er in Tsukitos Richtung witterte. Die langen Ohren gingen darauf nach oben, doch der Hase entschied sich anders. In wenigen Sprüngen setzte er auf den fremden Schüler zu und sprang ihm direkt in die Arme. Wenig scheu schmiegte er sich unter das Kinn des Jungen und gab ihm einen Schlecker über die Wange.

Tsukito beobachtete dieses Verhalten, ohne es zu verstehen. Nach einer Weile löste er den Blick und stemmte sich zurück auf die Beine. Er bemühte sich nicht, den Schmutz von seiner Kleidung zu klopfen. Auch dass seine Hände voll haftender Erde waren, schien ihn nicht zu bekümmern. Seine einzige Aufmerksamkeit galt dem Jungen, der ihn aus sicherer Entfernung feindselig anstierte. Noch immer verweilte er in seiner geduckten Haltung, den Hasen mit einem Arm eng an sich haltend.

„Der Hase, er gehört mir.“

Obwohl Tsukito die Stimme kaum erhoben hatte, zuckte der Junge bei ihrem Klang zusammen. Er quittierte die Worte mit einem drohenden Laut, der zwischen Knurren und Zischen nicht genau zu bestimmen war.

„Gib ihn mir zurück, bitte.“

„Ka bara!“

Tsukito wusste diese Reaktion nicht zu deuten. Machte er etwas falsch? Vielleicht hatte ihn der Junge nur nicht richtig verstanden.

Er versuchte es erneut, dieses Mal deutlicher.

„Dieser Hase …“

„Bara!“

„… gehört zu mir.“

„Kchhh!“

„Gib ihn mir zurück, bitte.“

Es nützte nichts.

Usamaro machte Anstalten, aus den Armen des Jungen zu klettern, was dieser ihm verwehrte. Stattdessen erhob er sich und drückte den Hasen umso fester an sich. In geduckter Haltung trat er einen Schritt zurück, Tsukito keinen Moment aus den Augen lassend.

„Anii!“

Der laute Ruf versetzte den Jungen in Aufruhr. Hektisch ging sein Blick umher. Nach einer Ausflucht suchend lehnte erst zu der einen, sprang dann zu der anderen Seite. Keinen Augenschlag später war er zwischen den Bäumen verschwunden, und mit ihm Usamaro.

„Anii, hier bist du!“, kam Takeru bei ihm zum Stehen. In vornübergebeugter Haltung schnappte er ein paarmal nach Luft, bevor er ihm sorgevoll ins Gesicht sah. „Ich habe dich schon überall gesucht. Was machst du denn noch hier draußen? … Anii, ist alles in Ordnung? Ist dir etwas passiert?! Du bist so schmutzig.“

„Ich habe ihn gefunden.“

„Wen?“

„Usamaro.“

„Usamaro? Wirklich?“

Tsukito nickte. Ungeachtet Takerus wirren Ausdrucks auf dem Gesicht hob er die Hand in jene Richtung, in die der seltsame Junge verschwunden war. „Sie sind da lang.“

„Hast du ihn verloren?“ Takeru klang enttäuscht. Nur für einen Moment, schon drehte er sich in gezeigte Richtung. „Nicht wichtig. Zeig deinen Arm! Wie hast du dir diese Schrammen –“

„Hey, ihr zwei!“, erklang eine laute Stimme im Dunklen. Ihr tiefer Klang ließ Takeru in der Bewegung erstarren. „Es ist längst Ruhezeit. Was habt ihr beiden Schwachköpfe noch auf dem Schulgelände zu suchen?“

Takeru drehte sich blitzartig herum und erkannte ihren ägyptischen Lehrer eine Schrittlänge entfernt vor ihnen stehen. Intuitiv stand er gerade und straffte die Haltung, entschlossen, etwas zu ihrer Verteidigung zu erwidern. Doch Thoths alles durchbohrender Blick ließ ihn um Worte ringen. „Also … wir, ähm …“

„Wir suchen nach Usamaro“, setzte Tsukito fort.

Thoth hob fragend eine Augenbraue. „Usamaro? Wer soll das sein?“

Tsukito nickte. „Unser Hase. Er ist uns entlaufen.“

„So?“

„Nicht direkt ‚entlaufen‘“, versuchte Takeru zu schlichten. Zwar entsprachen Tsukitos Worte der Wahrheit, doch Takeru ahnte, dass Thoth sie nicht gutheißen würde. Er musste das Schlimmste verhindern.

„Ist das alles?“, gab Thoth unberührt zurück. Er verschränkte betont die Arme vor der Brust und blickte finster auf die beiden Schüler hinab. „Das ist der Grund, dass ihr gegen die Schulordnung verstoßt? Nicht zu verwundern von einem Schwachkopf und einem Fehlschlag.“

„Woher nimmst du dir heraus …“, brauste Takeru auf, doch er stoppte sich rechtzeitig. Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. Dann baute er sich, so gut es ihm eben möglich war, vor dem hochgewachsenen Ägypter auf. „Sollen wir ihn etwa sich selbst überlassen? Er ist nur ein Hase und er –“

„Und welche Gefahr sollte bestehen?“, fuhr Thoth ihm dazwischen. Sein unnachgiebiger Blick bohrte sich in den Schüler hinein. „Ihm dürfte es wesentlich besser ergehen als euch zwei Schwachköpfen, wenn ich euch nur eine Minute länger auf diesem Campus herumlungern sehe. Habe ich mich für eure Spatzenhirne verständlich genug ausgedrückt? Macht, dass ihr auf eure Räume kommt! Sofort!“

Alles in Takeru bäumte sich auf. Gerade als er sich zuckte, nach vorne zu treten, spürte er eine Hand an seinem Rücken liegen. Tsukitos Hand, warm und beschwichtigend. Takeru hielt den Atem an, ließ die tosenden Wellen sich in ihm brechen. Erst dann folgte er Tsukitos Schritten, die zu den Wohnräumen führten, ohne dem Lehrer den geringsten Respekt zu zollen.

„Und wehe dem, der sich nur eine zum Unterricht zu meinem Unterricht verspätet!“, donnerte Thoths Drohung ihnen nach. Danach wurde es still auf dem Gelände.

 

„Was? Euer Hase ist verschwunden?“, wiederholte Yui erschrocken. Ihr sorgevoller Blick ging zu Takeru hinüber. „Wolltest du deswegen mit mir den Platz tauschen? Damit du das Schulgelände im Blick haben kannst?“

„Das erklärt einiges, in der Tat.“ Baldr neben ihr nickte. „Deswegen hast du die ganze Zeit lieber aus dem Fenster gesehen, als dem Unterricht zu folgen. Caduceus-sensei war davon nicht sehr erfreut.“

„Also ich fand’s gut“, schnurrte Loki zufrieden. Sorglos kippelte er auf seinem Stuhl, die Beine auf seinem Tisch überkreuz, einen bunten Lollistiel zwischen den Lippen. „Meinetwegen darf Goldfischchen immer die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrers für sich haben. So viel Spaß wie heute hatte ich lange nicht mehr am Unterricht!“

Wie hast du mich gerade genannt?!“

„Loki!“, rügte Baldr den Freund. Doch Loki tat es mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab.

„Das ist ja furchtbar“, sagte Yui mitfühlend. „Tsukito-san und du müsst ganz besorgt sein. Können wir euch nicht irgendwie bei der Suche helfen?“

„Gute Idee!“, rief Apollon aus und sprang voll Tatendrang von seinem Platz. Vor Takerus Pult blieb er stehen, stemmte beide Arme auf den Tisch und sah aus leuchtenden Augen auf ihn hinab. „Wir werden euch helfen, genau das werden wir! Als Schülersprecher ist es meine Aufgabe, euren Hasen sicher zu euch zurückzubringen. Das ist es, jawohl!“

„Idiot, was redest du da?“, knurrte Takeru zu ihm hoch. Sich distanzierend lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ganz bestimmt keine Aufgabe des Schülersprechers. Davon abgesehen, vergesst es. Ihr könnt Usamaro nicht fangen.“

„Wieso denn nicht?“, fragte Apollon bedrückt.

„Weil er sich von niemandem anfassen lässt, abgesehen von Anii und mir. Er lässt keinen außer uns in seine Nähe.“

„Und diesen Jungen“, ergänzte Tsukito leise. Sein Murmeln wurde von Dionysos‘ herzhaftem Gähnen übertönt.

„Wieso versucht ihr es nicht mit Leckerlis?“, schmatzte er müde. Noch halb verschlafen kratzte er sich im Haar, bevor er den Kopf zurück auf die Arme senkte, die über dem eigenen Pult gekreuzt lagen. „Ich habe gehört, Hasen mögen Möhren. Holt euch doch einfach welche und probiert es damit.“

„Gute Idee! Stellen wir ihm eine Falle.“

„Hast du sie noch alle?!“, sprang Takeru auf. Böse funkelte er in Richtung des Kipplers. „Eins schwöre ich dir: Wenn du Usamaro nur ein Haar krümmst … Ich bring‘ ich dich um, solltest du‘s nur versuchen!“

„Na schön, na schön, ich habe verstanden. Dann, wie wäre es damit?“ Frohen Eifers schwang Loki die Beine vom Tisch. Sein Stuhl war noch nicht ganz zur Ruhe gekommen, da tänzelte er bereits mitten im Gang.  „Ich habe da eine Idee, es ist wirklich ganz einfach. Aber der Plan funktioniert NUR, wenn er von der richtigen Person ausgeführt wird.“

„Ein Plan?“ Takeru knurrte verdrießlich. „Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich dir vertraue?“

„Oh, das musst du auch gar nicht“, wies Loki abwinkend zurück. Bester Laune tänzelte er zwischen den Tischen hindurch, bis er sich schwungvoll auf Tsukitos Pult plumpsen ließ. „Um dich geht es hier immerhin nicht. Du bist nicht die ‚richtige‘ Person“, grinste er schelmisch über das ganze Gesicht.

Takeru beobachtete das Verhalten des Norden mit einem unwohlen Gefühl im Bauch. „… Was hast du vor?“

„Anii~“, gurrte Loki vergnüglich. Provokant holte er seinen Lolli zwischen den Lippen hervor und beugte sich zu Tsukito vor. Bei seinem Ohr flüsterte er seinen Plan.

 

Er war der Einzige, der diese Mission erfüllen konnte. Loki hatte recht. Er wollte Takeru immerhin helfen, er hatte es ihm versprochen. Auf gar keinen Fall konnte er noch einmal versagen. Doch mit Lokis Plan würde er es auch nicht.

Still kauerte er auf der Wiese. Schweigend, und wartend.

„Verhalte dich einfach wie ein Hase“, hatte Loki gesagt. Zuversicht lag in diesem Rat. „Sei Usamaro.“

Unter seinen Händen spürte er den flauschigen Stoff seines Kostüms. Nur zart stachen Gras und Steinchen darunter hindurch. Die langen Ohren auf seinem Kopf wippten mit jeder Bewegung. Nicht im Moment, solange er im Stillen verharrte. Das anhaltende Kauern auf allen Vieren zog einen ziehenden Schmerz durch seinen gebogenen Rücken.

Er konzentrierte sich nicht darauf,  stattdessen behielt er das satte Bündel Karotten, welches wenige Meter von ihm entfernt lag, aufmerksam im Blick. Dionysos war überzeugt, ihr Duft würde Usamaro ganz von selbst anlocken. Irgendwo streunten die anderen in der Nähe umher, um den scheuen Hasen in Tsukitos Richtung zu treiben. Takeru und Yui waren bei den Gebäuden geblieben, falls Usamaro dorthin zurückkehrte. Bis zum Ertönen der Turmglocke hatten sie Zeit, den Hasen zu finden, danach würde Thoth sie auf ihre Räume zurückschicken. Bis dahin blieben noch wenige Stunden, wie der tiefe Sonnenstand ihnen verriet.

In den Büschen weiter vorne raschelte es. Reglos harrte Tsukito an seinem Fleck und wartete ab, was sich hinter den Sträuchern tat. Ein dunkler Schopf kam langsam zum Vorschein, dem folgte ein Kopf. Tsukito erkannte den Jungen. Es war derselbe, dem er am Abend zuvor begegnet war.

Neugierig sah der Junge in seine Richtung. Zwei abstehende Haarsträhnen zuckten auf seinem Kopf, als seien es Ohren, die sein Interesse verrieten. Dann, nur langsam, kletterte er zwischen den Büschen hervor. Vorsichtig schleichend auf Tsukito zu.

Tsukito hielt still. Gründlich betrachtete er den Jungen von oben bis unten. Soweit er es feststellten konnte, trug er Usamaro nicht länger bei sich. Auch als er nähergekommen war, konnte Tsukito den Hasen nirgends entdecken. Sollte er inzwischen in ihre Räume zurückgekehrt sein? Oder trieb er sich noch irgendwo in der Nähe herum? Hatten die anderen ihn möglicherweise bereits finden und einfangen können? Sie würden ihn dazu informieren, wenn dem so wäre?

Sein Blick verharrte auf diesem Jungen. Er bewegte sich scheu, ständig zur schnellen Flucht bereit. Doch seine Augen leuchteten interessiert. Er wirkte ganz fasziniert von dem übergroßen Tier, welches Tsukito darbot. Vorsichtig, kauernd auf allen Vieren, wagte der Junge sich näher, bis keine Hasensprunglänge mehr zwischen ihnen lag.

Bedacht streckte der Junge die Hand aus und angelte eine der losen Karotten aus dem Bündel hervor. Er teilte sie laut knackend etwa mittig entzwei, schob sich eine der Hälften zwischen die Zähne und reichte die andere Tsukito hin. Der Junge lächelte offenherzig dabei, als wolle er ihn in Sicherheit wiegen.

Tsukito blickte unschlüssig auf das ihm dargebotene Möhrenstück. Während er überlegte, was er nun tun sollte, erinnerte er sich an Lokis Rat: „Verhalte dich einfach wie ein Hase.“

Kurzerhand sprang er nach vorn, direkt auf den Jungen zu. Er hatte nicht beabsichtigt, so viel Schwung zu nehmen. Der fremde Schüler wirkte auf einmal sehr schmächtig, als er mühelos von Tsukito leichtem Gewicht in das tiefgrüne Gras gedrückt wurde.

„Bara! Ka bara bara!“, schimpfte der Junge und begann wild unter dem Mondgott zu zappeln. Tsukito wollte weichen, doch in diesem monströsen Hasenkostüm verlangte jede Bewegung nach seiner höchsten Konzentration. Konzentration, die er nicht hatte, solange wütende Fäuste haltlos um ihn herum flogen.

Lokis säuselnde Worte flüsterten ihm: „Sei Usamaro.“

Richtig. Es war ganz einfach. Was würde Usamaro jetzt tun?

Tsukito streckte den Hals und schmiegte den Kopf unter das Kinn des anderen Schülers. Dessen Abwehrversuche stellten sich ein. Allmählich wurde er ruhig. Endlich war es Tsukito möglich, sich auf seine Arme nach oben zu stemmen. Doch als er hinabsah, wurde er starr.

Große, geweitete Amethystaugen bannten auf ihm. Obwohl die Nasenflügel schmetterlingsgleich bebten, war die Atmung des Jungen kaum zu vernehmen. Als hielte er vor ihm die Luft an. Einen solchen Ausdruck hatte Tsukito zuvor nie gesehen.

Angestrengt dachte er nach. Er war sich nicht sicher, aber konnte das Angst sein? Fürchtete sich der Junge vor ihm? Warum? Was hatte er Falsches getan?

Usamaro würde es wissen. Tiere spürten Angst instinktiv, das hatte Totsuka Takeru ihm einmal gesagt. Der Hase wüsste es besser. Er war eben doch nur ein Fehlschlag. Was sollte er tun?

Was würde Usamaro tun?

Er beugte sich vor und leckte dem Jungen zärtlich über die Wange. Die dunklere Haut des Jungen schmeckte nach Erde. Sie schmeckte salzig. Das war interessant.

In einem plötzlichen Stoß warf der Junge ihn von sich. Seine Brust schmerzte an der getroffenen Stelle von dem heftigen Schub. Verdattert lag Tsukito auf der Seite, begraben unter Tonnen von Plüsch, und sah verständnislos zu, wie der fremde Schüler zwischen den Büschen verschwand. Sein hysterisches „Kaaa!“ war noch lange zu hören, bis es in der Ferne verstummte.

Minuten später war es Tsukito möglich, sich auf die Knie zu rollen. Er hörte es hinter sich knuspern, worauf er den Kopf drehte.

Neben dem Karottenbündel saß Usamaro und knabberte genüsslich an einer der saftigen Möhren. Sein rosa Näschen zuckte zufrieden in dem schneeweißen Fell.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit heiße ich dich herzlich willkommen zu meiner Kamigami-Challenge, welche ich mit Erenya ausfechte. Ich setze meinen Startschuss mit Uncleshipping (Apollon x Hades).
So, was denke ich zu diesem Pair? Hm ... naja, es sind eben Neffe und Onkel. Meins ist es jedenfalls nicht, haha.
Dennoch hatte ich viel Spaß an diesem One Shot. Auch wenn mich Apollon ein klein wenig ... wahnsinnig macht. x)

Vielen Dank, dass du Uncleshipping gelesen hast. Bald geht es weiter mit dem nächsten Pair. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Meine Gedanken zum Pairing:
Prudent, ja. Ich bin froh, es von meiner Liste zu haben. Dank Loki war es mir möglich, ein Szenario vorzubereiten, um die beiden Emotionsklotze auf einen Meter zueinander zu bekommen. Ich glaube, anders wäre jegliche Annäherung unmöglich gewesen. Keine. Chance.
Wer dieses Pair shippen kann, hat meinen Respekt. Ich kann es nicht. Mehr war wirklich nicht drin so auf den Pfiff.

Das nächste Pairing wird mir Erenya vorgeben. Ich bin gespannt, welches es werden wird. Hoffentlich kommen wir bald zu einem entspannenden Pair, haha. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Meinung zum Pair:
Woah, ich sage euch: DAS war eine Herausforderung! Allein eine Woche habe ich gebraucht, um mir hierzu einen Plot zu überlegen. Ich bin mit dem Ergebnis recht zufrieden.
Baldr hat offenbar ein Talent dafür, sich selbständig zu machen. Sein Support war nicht geplant gewesen, aber gut, ein Hint mehr fürs Natureshipping, haha. Süß war er dennoch, oder nicht?
Interessant war, dass so sehr ich mit der Plotplanung bemüht war, so locker gelang das letztliche Schreiben. Ich durfte lange nicht mehr einen so guten Schreibfluss genießen. Sollte mir das zu denken geben? Hm ...
Tjaja, Thoth. Ob er wirklich nur der Kontrolle wegen künftig Aufpasser spielen wird? Oder hat er gar Interesse? An Dions Schatz? Vielleicht sogar ...?
Auf jeden Fall, für alle, die Interesse an Redshippy haben, sei hiermit ein Grundstein gelegt. Ich denke, auf das Ende kann man sehr gut aufbauen, um nächste Entwicklungen auszuspinnen. Werde ich wohl jemals ein Redshippy lesen, das auf meiner vorgefertigten Grundlage basiert? ;)

Fazit: Ich hatte unerwartet viel Spaß an diesem Pair. Es war sehr lustig. Ich könnte mir sogar vorstellen, sie zu shippen, haha. x)

Vielen Dank fürs Lesen von "Mein Geheimnis, dein Geheimnis". Freuen wir uns auf das, was uns als Nächstes erwarten wird. ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Meinung zum Pair:
Also irgendwie werden die OS' zu jenen Pairs, die mich nicht so überzeugen können, immer recht lang. Daran merkt man, wie viel Anlaufzeit ich gebraucht habe, schätze ich. Hm, naja, was soll's.
Zumindest gibt es viel abwechslungsreiche Handlung zum Pair. Und Hintergrundinfos, wie die beiden zusammenfanden. Ist das denn nichts?
Und Hints! Hints, Hints, Hints! Wer findet sie alle? Muhaha! Also ich habe an die zwölf Hints gezählt, danach habe ich es aufgegeben. Man kann sich also nicht beklagen, es läge zu wenig vor, aye. Auch wenn manches zwischen den Zeilen steht.
Mh, ja. Und was denke ich nun? Also, es ist nicht so meins, aber ich denke, man kann ganz süße Dinge mit den beiden anstellen. Also wer's shippen mag und kann, ist herzlich dazu willkommen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Na, wer hat erraten, nach welcher Episode dieser OS spielt? Höhö.

Meine Meinung zum Pair: Ein Pair mit Potenzial, vor allem Dramapotenzial. Ich habe doch recht schnell eine heimliche Schwäche dafür entwickelt.
Es war schwer, sich für eine Thematik zu entscheiden. Ich habe so viel Kopfkino zu diesem Pair, so viele Headcanons, dass ich nahezu alles dazu hätte schreiben können. Aber irgendwie fand ich es dann doch interessanter, erst einmal den Anfang zu formen, einfach weil ich's mag. Vielleicht habe ich am Ende dann doch etwas arg dick aufgetragen. *hust*
Ich bin gleichermaßen an dem OS verzweifelt, weil er erst ausgeartet war, wie ich auch Spaß daran hatte. Ein wirklich sehr schönes Pair, sobald sie etwas weiter vorangeschritten sind. FFs sind sehr gern dazu gesehen. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh mein Gott! Endlich! Meine erste Selbstbelohnung. ;^;

Meinung zum Pair: Ich liebe es! Oh mein Gott, merkt man das? Ich liebe es so abgöttisch. ♥
Ich hätte gern sooo viel mehr dazu geschrieben. Ich wollte es sogar zum Kuss oder mehr kommen lassen. Aber … Thor war zu vernünftig. Ich hasse ihn dafür. ;__;
Leute, mehr Liebe für GoingHome! Gebt mir mehr davon, bittäää!

Fangirling off.
Leute, das erste Viertel ist geschafft. Auf in Runde Zwei! ^_^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mit extra viel Vorgeplänkel, yeah! Weil ich kann! Na gut, eigentlich mehr, weil ich es gern so mag, hihi. ♥

Meinung zum Pair: Also, es ist ein schwieriges Pairing. Sehr schwierig. Aber eigentlich ist es sehr niedlich. Ich glaube, ich mag es. Mir gefällt die Vorstellung, wie beide mit einem Buch in der Hand bei Sonnenschein im Schatten eines Baumes sitzen und Tsukito an der Schulter Thoths schlummert. Vielleicht hätte ich lieber darüber etwas schreiben sollen? Haha.
Ach so, ja, Hints? Öhm, joa. Sind da. Bisschen zwischen den Zeilen lesen und so, weil I like it that way. ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Meinung zum Pair: Wieder so ein Familiending. Ich hab's nach wie vor nicht so mit in family, von daher fällt meine Begeisterung gering aus. Aber ich habe es versucht. Sicher hätte ich wesentlich mehr draus machen können, aber beim Schreiben entschied ich mich für mehr Schnulz als Erotik. Bamm. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Meinung zum Pair:

Oh. Mein. Gott! Ist das nicht süß, oder was? Ich hatte mir das Ship wesentlich schlimmer vorgestellt, aber mit dem richtigen Setting lässt sich durchaus einiges draus machen. Overcuteness on expert level! Ich jedenfalls hatte sehr viel Freude damit, ernsthaft shippen könnte ich die beiden allerdings nicht. xD Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von:  ShayumiIshtar
2016-08-02T07:27:55+00:00 02.08.2016 09:27
echt cool hab mich fast zu tode gelacht

Von:  Erenya
2015-06-30T21:49:52+00:00 30.06.2015 23:49
Ich weiß nicht wieso, aber Dio schafft es echt immer Erotik Pur zu sein. XD und dafür lieben wir ihn.
Aber wie er da mit hades liegt. Yummi. könnte definitiv eines meiner liebsten Shippings werden. Ich meine ne Afterparty will doch jeder mal XD
Super erfüllt die Aufgabe und du hast mein Herz zum waku-waku schlagen gebracht.
Von:  Erenya
2015-05-09T17:04:20+00:00 09.05.2015 19:04
Hach es ist ein herrlicher OS. Schade das wir nie erfahren werden, ob sie denn ihren Aufsatz doch noch fertig bekommen haben und ob Take-Take vielleicht doch noch die ein oder andere Gehirnwindung verdrehte.
Ebenso werden wir nie erfahren was Loki-Loki mit der Nächstenliebe meinte ;___; Traurig, sehr traurig.
Aber im groben und ganzen war der OS Kalos. Und vor allem die Hints ^_~
Von:  Acquayumu
2015-04-24T18:32:55+00:00 24.04.2015 20:32
Das Kapitel mit Hades x Balder hat mir auf sehr gut gefallen.
Gegensätze ziehen sich halt an.
Sehr schön hast du Balders Sicht rübergebracht.

LG Jashin
Antwort von:  Shizana
24.04.2015 23:42
Herzlichen Dank. Es war nicht einfach gewesen. Sie als Pair zu schreiben, die bereits etwas laufen haben, dürfte wesentlich entspannter sein. x)
Von:  Acquayumu
2015-04-24T18:02:56+00:00 24.04.2015 20:02
Das Kapitel mit Thor x Loki fand ich echt traurig.
Allerdings sehr schön und emotional geschrieben.
Bleibe aber trotzdem Balder x Loki fan.

LG Jashin
Antwort von:  Shizana
24.04.2015 23:41
Danke. Es freut mich, dass du das so siehst. Dann habe ich ja erreicht, was ich wollte. :)
Careshippy wird noch kommen, aber bis dahin müssen noch einige andere Pairs auf die Probe gestellt werden.
Von:  Acquayumu
2015-04-21T19:45:12+00:00 21.04.2015 21:45
Ich hab mich so checkig gelacht, als ich den Shot zum Redshipping gelesen habe.
Ich finde die beiden geben ein feines Pairing ab.
Toth ist so cool und De-De so derbst verpeilt.
Fand Dees Versuch einfach niedlich, wie er versucht hat seinen sCHLÜSSEL WIDER ZU BEKOMMEN1 Xd
uND tOTH IS SO´N RAFINIERTES Schnitzel. *lacht*

Echt genial.
Antwort von:  Shizana
21.04.2015 22:40
Hihi, danke. Das freut mich.
Ich hatte auch wirklich wahnsinnig viel Spaß an diesem Kapitel. x)
Von:  Acquayumu
2015-04-21T18:23:40+00:00 21.04.2015 20:23
Also ich lass dir auch mal einen Kommi da.
Ich liebe...wie nennt ihr das? Uncleshipping?
HadesxApollon, von daher hast du schonmal mein Favo.
Irgendwie hast du die Pairs erwischt die ich lieber mag xD.
Hoffe du machst das Rennen.

LG Jashin
Antwort von:  Shizana
21.04.2015 20:30
Hallo Kyofu,

vielen Dank für deinen Kommentar und natürlich herzlich willkommen bei uns. Ich hoffe, dass dich auch unsere anderen Geschichten gut unterhalten werden. :)
Ich werde mir jedenfalls die größte Mühe geben, yay! x3

Alles Liebe
Shizana
Von:  Monyong
2015-02-25T13:48:00+00:00 25.02.2015 14:48
*sprachlos*
Also... als ich gesehen hatte, welche Pairings dieses Mal auf dem Plan standen, habe ich mich schon wahnsinnig gefreut. Zweimal Loki und in beiden mit einem Hauch Steamshippy, aber das Baldr-Loki-Drama hat mir nun wirklich die Schuhe ausgezogen, was besonders daran lag, dass ich persönlich immer nur die Eifersucht und den Aufmerksamkeitsdrang sehe, die in Loki stecken, sobald es um Baldr geht. Das tatsächliche Drama mit Baldrs dunkler Seite habe ich bisher immer weit von mir davon geschoben, weshalb ich nun mehr als geplättet bin. Besonders weil mir Thor so unendlich Leid tut... wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich ihm einen Schubs verpasst, damit er Loki auf die Lippen geküsst hätte... D:
Antwort von:  Shizana
25.02.2015 18:28
Ha, und ich würde wirklich sooo unendlich gern eine längere FF dazu schreiben, weil es noch so viel mehr gäbe, was mir zu dieser Thematik auf der Seele brennt. Aber dafür ist hier leider kein Platz. :/
Es ärgert mich ein wenig, dass ich nicht richtig auf die Romantik eingehen konnte, die bei diesem Pair sehr präsent in meinem Kopf ist. Aber ich habe versucht, das Beste für einen kurzen Einblick herauszuholen.

Danke, dass du so mit dem Trio mitgefühlt hast.
Antwort von:  Monyong
25.02.2015 19:39
Bitte mach das... bitte schreibe eine FF zu diesem Shippy! ><
Auch wenn es mein heißgeliebtes Steamshipping betrügen würde... aber das ist mir egal! xD Loki darf Takeru gerne mit Thor betrügen xD
Von:  Monyong
2014-12-11T10:41:16+00:00 11.12.2014 11:41
Hallo ^^ auch hier gibt es einen Kommi

Das Pair ist wirklich überraschend passend, auch wenn es nicht so meins ist. Irgendwie werde ich mit Baldr nicht warm. Im Anime war ich nie sein Fan xD blöd nur, dass er quasi zu Loki dazugehört .,. Loki ohne Baldr geht nicht Dx sorry, ich schweife ab ><
Dein Loki ist so Zucker *////*
Antwort von:  Shizana
11.12.2014 12:31
Huch, ein LoaLoa!
Baldr ist schon recht eigen, das stimmt. Wobei er aber auch ein paar interessante Charakterzüge hat. Ich freue mich schon auf ein bestimmtes Pair mit ihm, wo ich das hfftl. ein wenig ausleben kann, höhö.
Aber ja, Loki ohne Baldr. Und Loki eben. ♥

Du warst gestern sehr tapfer. Daumen hoch dafür. :)
Von:  Erenya
2014-12-10T21:33:23+00:00 10.12.2014 22:33
ich hasse dich für diese Bonbonbombe. Genauso wie ich dich liebe, weil er so süß ist. Es ist ein schöner OS. Mission complete.


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