Du bist nicht hier von Sanaki1 (Im Wandel der Jahreszeiten) ================================================================================ Kapitel 1: Winter ----------------- Winter Du bist nicht hier. Das weiß ich. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln. Ich suche den Weg mit den Augen ab. Eine weiße Pulverdecke, umringt von verschneiten Bäumen, kahlen Ästen und Zweigen, dunklen Sträuchern. Verschiedenste Fußspuren begegnen mir. Manchmal bleibe ich stehen und betrachte sie, versuche zu bestimmen, wer hier entlanggegangen ist. Mensch und Tier gleichermaßen. Ich erkenne die Schritte eines Huftieres, dann die Pfotenabdrücke eines Hundes. Tränen verschleiern meinen Blick. Es könnte der Wind sein. Die eisige Luft, die mir ins Gesicht bläst. Aber sie ist es nicht. Ein erneutes Knirschen zerschneidet die Stille, als ich weitergehe. Du bist nicht hier. Doch ich wünschte, du wärest es. Ich stelle mir vor, wie du durch den Wald läufst. Freudig. Sorglos. Kein Mensch hätte unbekümmerter als du sein können. Das ist nicht nur irgendein Weg. Das ist unser Weg. Wir kannten ihn wie unsere Westentasche. Das erste Stück verlief immer gleich. Du bliebst stehen, wartetest, bis ich kam und liefst erst los, als ich dir zunickte und hinterherhetzte. Dein Blick voller Vorfreude brachte mich so oft zum Lachen. Deine Energie steckte mich an, durchströmte mich, ließ mich Dinge tun, die mir vor jedem anderen peinlich gewesen wären, nur nicht vor dir. Wir waren ein Team. Du kanntest alle meine Geheimnisse, Ängste und Vorlieben, so wie ich deine kannte. Du machtest mir Mut, andere Leute kennenzulernen. Du wusstest, dass ich schüchtern war und mich unscheinbar fühlte, doch in deiner Gegenwart wurden Menschen auf mich aufmerksam. Es entwickelten sich nette, herzliche Gespräche, manche länger, manche kürzer. Dank dir gewann ich Freunde. Du hast mir gezeigt, was es heißt, zu leben. Ich lasse mich fallen. In den Schnee. Die Flocken verfangen sich in meinen Haaren, benässen mein Gesicht. Dieser Winter hätte dir gefallen, wie jeder andere zuvor. Kälte machte dir nie etwas aus. Ungestüm wärest du durch den Schnee gepflügt, hättest gefrorene Stöcke und zerrissene Blätter gesammelt. Du liebtest die Natur. Du liebtest diesen Wald, diesen Weg. Und mehr als alles andere liebtest du mich. Plötzlich durchzuckt mich ein weiterer Blitz der Furcht, des Unglaubens, des Entsetzens wie an jenem Tag, als ich deine Augen für immer schloss. Du kannst nicht weg sein. Nach all diesen Jahren kannst du nicht einfach verschwunden sein. Wie soll ich das alles schaffen ohne dich? Ich brauche dich, deine Zuversicht, deine Wärme. Es war ein Traum. Es ist nicht wirklich. Du versteckst dich nur. Mit einem Mal erscheint es mir so glaubwürdig, dass ich mich gezwungen sehe, meine Umgebung erneut abzutasten. Die knorrige Eiche zu meiner Linken; hinter dieser könntest du kauern mit einem schelmischen Ausdruck, stolz, weil du mich so lange zu täuschen wusstest. Ich springe auf, stolpere um den Baum herum, halte inne. Da ist keiner. Unfähig, aufzugeben, haste ich den schneebedeckten Hang hinauf, rutsche an einem Ast aus. Den Aufprall spüre ich kaum, ebensowenig die Kälte, die sich in meine Glieder frisst; krieche weiter zu der dünnen Fichte. Der Moment der Verleugnung stirbt. Du bist nicht hier, stelle ich zum dutzenden Male in so wenigen Augenblicken fest. Die Tränen, die mit dem Schnee verschmelzen, laufen stumm meine Wangen hinunter. Ich weine tonlos, ohne ein Wort, ohne auch nur den Hauch eines Schluchzens. Aber innerlich tobe ich, schreie, kreische, stürze mich auf den Tod, der dich hinfortnahm. Dein glückliches Jauchzen fehlt, dein Grinsen, als du mich anstupstest und mir selbst ein Lächeln entlocktest, unsere Schatten, die zwischen uns tanzten. Denn dieser Weg ist nicht mehr derselbe. Nichts ist es mehr. Kapitel 2: Frühling ------------------- Frühling Als die Kälte schwindet, scheint es, der Wald erwache zum Leben. Der Schnee ist geschmolzen, die Bäume erhalten langsam ihr Blätterkleid zurück. Dieser ewige Kreislauf der Natur rührt mich. Zum ersten Mal seit jenem Tag spüre ich, wie sich der Anflug eines echten Lächelns auf meine Lippen schleicht. Obwohl es nicht lange währt, glaube ich, mich einen kleinen Schritt fortbewegt zu haben, fort von der Schwärze. Aber ich will nicht fort von dir. Ein kühler Luftzug überzeugt mich, meine Hände in den Jackentaschen zu vergraben. Ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte. Jeder sagt es mir. Es sind die Erinnerungen, die das Herz zerschneiden, in tausend winzige Einzelteile, die sich nur schwer wieder zusammensetzen lassen. Nirgends brennen die Erinnerungen stärker als hier, in diesem Wald, entlang unseres Weges. Doch das ist in Ordnung. Ich möchte dir so nah wie möglich sein. Weißt du noch, als ich dich aus den Augen verlor? Genau an dieser Stelle? Du warst so in die Schönheit und den Duft der Natur vertieft, dass du nicht gemerkt hast, wie weit du dich von mir entferntest. Besorgt rief ich deinen Namen, bekam jedoch keine Antwort. Schon damals fürchtete ich, dich zu verlieren, wenngleich ich nie erahnen konnte, wie schmerzhaft sich der wahre Verlust Jahre später anfühlen sollte. Ich lief einige Schritte vor, hielt Ausschau nach dir. Auf halbem Wege kamst du mir bereits entgegen. Es hatte keinen Sinn, dich zu tadeln, das wusste ich, und bei deinem vergnügten Gesichtsausdruck hätte ich es auch nicht gekonnt. Lachend schloss ich dich in meine Arme. Deine Lebensfreude machte mich ganz. Ich versuche, bei dem Gedanken zu lächeln, genau wie ich es zuvor seltsamerweise geschafft habe, aber von einem Moment auf den anderen gelingt es mir nicht mehr. Wieder bricht mein Herz auf, blutet, zerfließt. Nach Luft schnappend bleibe ich stehen, kneife die Augen zusammen. Die Frage nach dem „Warum“ drängt sich ein weiteres Mal in den Vordergrund. Warum bist du gegangen? Es ist nicht meine Schuld. Natürlich nicht. Ich habe alles versucht, um dich am Leben zu halten. Aber letzten Endes waren deine Schmerzen zu unerträglich, als dass du wie sonst lächelnd durch den Tag schreiten konntest. Ich sah es in deinen Augen, in deinen schwerfälligen Bewegungen. Trotz allem, trotz dem Wissen, dass ich mir nichts zuschulden kommen ließ, suche ich nach Fehlern, kratze an dem Schorf meiner Wunde wie ein Masochist. Was wäre, wenn... Was wäre, wenn ich noch gewartet hätte? Noch ein Jahr? Eines, zwei – was macht das schon für einen Unterschied? Vielleicht hättest du dich wieder erholt. Vielleicht, womöglich, eventuell. Ein Schluchzen entfährt mir. Falls du mir für irgendetwas die Schuld geben möchtest – Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid. Verlass mich nicht. Bleib bei mir. Ich rufe dich. Ich horche. Der Wald bleibt still bis auf das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter. Ich werde verrückt, möchte ich sagen, bevor ich mir erneut vor Augen halte, dass mich niemand hören wird. Es ist unser Weg, aber ich bin die einzige, die ihn noch geht. Und in diesem Moment scheine ich es erstmals zu verinnerlichen. Du bist nicht hier. Du kommst nicht wieder. Kapitel 3: Sommer ----------------- Sommer Ich tauche unter das Blätterdach und genieße den Schatten der Bäume. Der Sommer ist angebrochen. Kein Regen, keine Kälte, nur strahlende Sonne. Selbst in mir scheint sich ein Teil des Nebels zu lichten. Mit wachem Blick betrachte ich die Intensivität der Farben um mich herum. Das Grün der Bäume glänzt stärker denn je, das Blau des Himmels besticht mit seiner Reinheit. Es ist, als ob die Natur ihren Höhepunkt erreicht habe, als ob sie allen verkünden möchte, dass die Jahresmitte gefeiert werden muss. Beständig dringt die Wärme durch meine aufgestellten Mauern, umschmeichelt mein Herz, doch vermag es trotz allem nicht, jenes zu schmelzen. Ich liebte den Sommer, mein ganzes Leben lang. Jetzt kann ich ihm nur noch ein seichtes Lächeln abgewinnen. Ich weiß nicht, warum ich diesen Weg weitergehe, warum ich so sehr an diesem Ritual festhalte. Vielleicht genieße ich den Schmerz, weil er mich an dich erinnert. Vielleicht möchte ich auch nur zeigen, dass ich dich nicht vergessen habe. Die Stimme einer Frau schreckt mich aus meinen Gedanken. Verdattert bleibe ich stehen und merke, dass ich bereits am Ende des Weges angekommen bin. Rechts von mir, ein Stück die Böschung hinunter, ist der Bach, in den du jedes Mal gesprungen bist. „Mach dich bereit!“, ruft die Frau wieder. Sie steht am Ufer und hält einen Stock in die Höhe für ihren vierbeinigen Begleiter. Ein Bellen ist die Antwort, während der Hund aufgeregt im Wasser tänzelt. Ich sehe ihnen eine Weile zu. Der Stock fliegt in hohem Bogen in den Bach, bis er platschend aufkommt; währenddessen läuft der Hund schon hinterher und bekommt seine Beute Sekunden später zu fassen. „Bring es her, Tino! Na, komm!“ Die Frau klopft auf ihre Schenkel und lacht. Irgendwann muss ich schmunzeln, als sich meine Mundwinkel fast schmerzhaft heben. Ich weiß genau, wie sehr du das Wasser geliebt hast. Voller Tatendrang bist du in den Bach gewatet und suchtest nach den schönsten Steinen unter der Oberfläche. Und wie du nachher aussahst! Pitschnass. Über und über mit Schlamm bedeckt. Ich schimpfte vor mich hin, wie man sich nur so schmutzig machen konnte, bevor du mich mit deinem unschuldigen Blick wieder zum Lachen brachtest. Mein Lächeln wird breiter. Irgendwie tut es gut, sich zu erinnern. Irgendwie drängt sich nicht sofort die Gewissheit des Todes in den Vordergrund. „Oh, hallo!“ Die Frau. Peinlich berührt wird mir klar, dass ich noch immer hier stehe und die beiden von oben herab anglotze. Zum Glück scheint es die Fremde nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie winkt mir zu und fährt unbeirrt fort: „Du kennst mich wahrscheinlich nicht, aber ich hab‘ euch schon oft den Weg gehen sehen. Zugegeben, Tino hatte ich nicht mit, sonst würdest du dich sicher an mich erinnern. Aber schön, dass wir mal plaudern können. Wie heißt du denn?“ Ich blinzle. Dunkles Haar, kleine Augen, älter – wohl um die 50. Ihr Labrador betrachtet mich mit Neugier im Blick. Sie hat Recht. Ich kenne sie nicht, doch sie scheint nett zu sein. Zögernd antworte ich: „Sarah.“ Die Frau nickt. „Sarah also. Ich bin Elisabeth. Wir haben vor kurzem einen Hund – Tino - aus dem Tierheim übernommen.“ Einen Moment hält sie inne. „Wo ist denn die kleine Sandy? Ihr geht doch immer zu zweit.“ Mein Herz krampft sich zusammen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas sagen kann mit dem Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat. Ich weiß nichts mehr. Das Lächeln der Frau schwindet. „Oh, was ist denn... Hab ich etwas Falsches ge-“ „Sie ist tot.“ Die Welt steht still. Ich halte den Atem an, zögere die Sekunden, die endlosen Augenblicke hinaus, bis ich bemerke, dass ich es gesagt habe. Ein Krächzen; drei jämmerliche, stockende Worte, die so schwer mit Bedeutung gefüllt sind. Jeder kennt die Bedeutung. Ich sehe es in den Augen der Frau, die sich weiten, in ihrem Gesicht, das sich voller Schrecken verzieht. „Das... das tut mir so Leid. Was ist denn passiert?“ Mehr Worte liegen auf meiner Zunge; plötzlich verspüre ich den Drang, ihr alles zu erzählen. Alles hinauszulassen. Aber meine Stimme versagt. „E-Entschuldigen Sie“, presse ich hervor und gehe hastig weiter. Du bist tot. Das weiß ich. Kapitel 4: Herbst ----------------- Herbst Ein Jahr. Fast ein ganzes Jahr ist es her, seit du gegangen bist. Die Bäume werfen ihre Blätter ab, die meinen Weg bunt färben. Der Herbst hat etwas Lustiges, etwas Chaotisches an sich. Ich habe immer scherzhaft gesagt: Wenn du eine Jahreszeit wärest, dann wohl eine Mischung aus Sommer und Herbst. Bei dem Gedanken muss ich lachen. Es fühlt sich noch ein wenig ungewohnt an, aber tatsächlich pocht mein Herz lauter als all die Wochen zuvor. Zum ersten Mal in dieser Zeit, seit ich den Weg alleine bestreite, habe ich ein Ziel vor Augen. Das gibt mir Trost. Mein Ziel ist eine alte Buche, bei der wir oft Rast machten. Wortlos schultere ich den Rucksack ab und lasse ihn ins farbenfrohe Blättergewühl fallen. Dann setze ich mich mit dem Rücken zum Stamm der Buche. Die Luft ist angenehm kühl, die Rinde hart und knorrig. Ich nehme einen tiefen Atemzug und schließe die Augen. Und da sehe ich dich. Vorsichtig wanderst du über die leuchtende Brücke, staunst über den blauen Himmel, der sich vor dir erstreckt. Du wirfst einen Blick zurück, aber weißt, dass du weitergehen musst. Es ist okay. Schritt für Schritt näherst du dich der warmen Lichtkugel auf der anderen Seite; nach einer Weile beginnst du zu laufen, erfüllt mit Freude und Erwartung. Die Umgebung verschwimmt in einem Meer aus Farben. Im nächsten Moment bist du auf der schönsten Wiese, die du je gesehen hast. Sie ist bestickt mit Blumen, Beerensträuchern und Klee und verströmt einen überwältigenden Duft. Du atmest tief ein. Erst dann siehst du die anderen, so viele andere, die dich mit einem Lächeln begrüßen und einladen, mitzuspielen. Beinahe lehnst du dankend ab, in dem Gewissen, dass deine alten Knochen für eines ihrer Spiele kaum geeignet sein würden. Doch gleich darauf erkennst du es: Deine Energie aus Jugendtagen ist zurückgekehrt. Du bist nicht mehr alt; du bist wieder jung und kannst laufen, springen, toben. Irgendwann nach der wilden Hatz und den witzigen Versteckspielen denkst du an mich. Dein Blick trübt sich. Du wünschtest, wir könnten beide hier sein. Zusammen. Deine neuen Freunde nicken verständnisvoll. Sei nicht traurig, sagen sie. Wir werden mit unseren Lieben bald wieder vereint sein. Bis dahin warten wir auf sie. Ja. Warten konntest du schon immer mit einer erstaunlichen Ausdauer. Du warst mir immer treu ergeben, nicht wahr? Ich verspreche dir, ich werde kommen und dich holen. Und bis dahin werde ich auch lernen, geduldig zu warten. Lächelnd öffne ich die Augen. Die Vorstellung, dass du irgendwo da oben auf einer Wiese herumtollst, erwärmt mein Herz. Dir geht es gut. Wir werden uns wiedersehen. Ich glaube fest daran. Mein Blick schweift über die Herbstlandschaft. Du bist nicht hier. Doch das stimmt nur zum Teil. Dein Körper fehlt, aber dein freudiges Jauchzen, dein ungestümes Wesen, dein erwartungsvoller Ausdruck, mit dem du mich so oft ansahst – All das bleibt. Die Erinnerungen verblassen nicht. Ein Teil von dir wird immer bei mir sein. Wie die Bäume im Herbst ihren Griff um die Blätter lockern, so werde auch ich den Winter überstehen und den Frühling mit Freude erwarten. Das verstehe ich endlich. Beruhigt greife ich nach meinem Rucksack, ziehe die Wasserflasche hinaus und nehme einen Schluck. Nach einer Weile stehe ich auf. Ich erwische mich dabei, wie ich flüchtig zum Himmel hinaufsehe. Bis wir uns wiedersehen. Ich schlucke, aber die Erinnerung an deinen kecken Gesichtsausdruck, die Art, wie du den Kopf stets schief legtest, wenn du meine Worte nicht verstanden hast, vertreibt die Tränen. In Gedanken bist du bei mir. Nichts wird mich je dazu bringen, dich zu vergessen. Danke... Danke für die schöne Zeit. Ich gehe. Die Leine baumelt in meiner Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)