Yoshikawa von Vanillaspirit ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Anko starrte ihr Spiegelbild im Schaufenster an und zog beschämt den viel zu knappen Rock mit einer Hand herunter, während die andere den Stapel an Flyern balancierte. Frustriert musste sie sich eingestehen, dass ihre Bemühungen umsonst waren. Sofort rutschte der Saum mit dem billigen Kunstfell nach oben und gab ihr das Gefühl viel zu nackt zu sein. In Gedanken musste sie sich eingestehen, dass sie vielleicht doch nicht so erwachsen und souverän war, wie sie sich gern eingestehen wollte. Den Schein konnte sie gerade genug wahren, um den schmierigen Cafébesitzer zu überzeugen, dass sie alt genug für diesen Job und dieses Kostümchen sei. Angewidert verzog sie das Gesicht. Der Ausschnitt war so tief, dass er Operationen am offenen Herzen zuließ, das billige Kunstfell an Rocksaum, Kragen und Handschuhen zerzaust und das Geweih auf dem viel zu engen Haarreif war zu breit und schwer. Alles in allem sah sie eher aus wie ein dürrer Elch, als ein entzückendes, flauschiges Weihnachtsrentier. Mit Sicherheit hatte der Designer keinerlei Ahnung gehabt, Hauptsache, es sah hirschähnlich aus. Dafür besaß er einen Fetisch für kitschige Glöckchen, die an jedem freien Flecken Saum baumelten. Anko ließ Kopf und Schultern noch etwas weiter hängen. Am liebsten würde sie sofort nach Hause gehen und hoffen, dass niemals jemand davon erfuhr, aber sie brauchte das Geld. Ihre Mutter war überaus unnachgiebig, seit der Geschichte mit Yoshikawa. Im Nachhinein bereute Anko jede einzelne Minute davon und hatte sich längst eingestanden, dass sie grausam, nahezu sadistisch gewesen war, aber ewig wollte sie auch nicht dafür gerade stehen. Es war schon schlimm genug das Gefühlschaos zu überstehen, wenn sie auf Yoshikawa traf. In ihr Schicksal ergeben, setzte sie ein zuckersüßes Lächeln auf, drehte sich um und hielt den Passanten wieder knallbunte Zettel hin, welche wenige Meter weiter ohnehin im Mülleimer landeten. Etwas stieß sie in den Rücken und fluchend über dumme Menschen, die gefälligst die Augen aufmachen sollen, blickte sie über die Schulter, um wenigstens ein Stück des Übeltäters sehen zu können. Sie stutzte. Ein Grinsen, so breit, dass es sich dreimal um den Kopf wickeln wollte und der unverkennbare Duft von viel zu viel Moschusherrenparfüm. "Fuck!", quetschte das Mädchen heiser hervor. Wie in Trance beobachtete sie eine Hand, die nach einem der Flyer griff und diesen gespielt interessiert hin und her schwenkte. "Was haben wir denn hier?" Kaum zu glauben, aber das Grinsen schaffte es noch breiter zu werden. Hastig schnappte Anko nach dem Zettel und ging auf Sicherheitsabstand. "Nichts", zischte sie und drückte ihren Papierstapel schützend an sich. "Und nun gehen sie weiter!" "Was ist das denn?" Bevor Anko reagieren konnte, zog jemand an dem Kunstpelzschwänzchens ihres Kostüms und lachte. Ein Lachen, welches sie als Auslebung absoluter Dummheit einschätzte. Dieser Typ war unmöglich und gesegnet mit den Reflexen eines Ninja. Sie hatte nur kurz geblinzelt und nun hockte er hinter hier und zog interessiert an dem Kunstfellschwänzchen des Kleides. "Recht heißes Kostüm für eine Minderjährige." Anko verdrehte die Augen. Es klingelte und viel zu spät registrierte das Mädchen, dass es eine der kleinen Glöckchen an ihrem Kopfputz war. Mit einem genervten Zungeschnalzen wischte sie die große Hand weg und funkelte den Verursacher an. Onizuka grinste nur weiterhin von oben herab und stupste ein weiteres Glöckchen an. Dieser Typ war einfach der Bodensatz der Menschheit. "Wirklich ein niedliches Cosplay." Seine Worte rieselten wie Puderzucker auf Kuchen, oder Arsen, je nachdem auf welcher Seite man gerade stand. Anko schluckte den bitteren Geschmack und das Bedürfnis zu schreien und um sich zu schlagen, herunter. "Oi, Yoshikawa, was sagst du dazu?" Ankos Blicke bewegten sich langsam umher und blieben erst stehen, als sie einen schmächtigen Jungen näher kommen sahen. Sein gesamtes Erscheinen machte deutlich, dass er von Stil und Mode entweder nichts verstand oder eine verschrobene Art von Rebell war. Er wirkte verblüfft und obwohl er ihr lediglich kurz ins Gesicht blickte und blinzelte, fühlte Anko sich nackt und ausgeliefert. Instinktiv schlang sie die Arme um ihren Körper. Raschelnd fielen die Flyer zu Boden und verteilten sich auf dem Boden zwischen ihr und Onizukas Begleiter. Heiß stieg die Scham auf und brachte Ankos Gesicht zum Erröten. Sie hörte das Gekicher von Kanzaki und Murai, welches noch lauter wurde, als sie sich bückte und bemerkte, wie das entsetzliche Kostüm ein ganzes Stück weiter hochrutschte. Verzweifelt versuchte sie, auf den Knien krabbelnd, mit einer Hand die Flyer einzusammeln und mit der anderen den Rock nicht weiter hoch rutschen zu lassen. Sie wusste, es würde ein Desaster werden, als sie das Kostüm das erste Mal erblickte. „Yoshikawa, steh da nicht so rum!“ Onizuka schaffte es kaum seine helle Freude zu verbergen, als er den schmächtigen Jungen mit dem Ellenbogen anstieß. Dieser wirkte verwirrt und unentschlossen. „Sensei?“ „Hilf ihr!“ Bitte, bloß das nicht! Jegliche Kälte wurde aus Ankos Körper vertrieben und machte einem unangenehmen Glühen Platz. Mit zusammengepressten Lippen starrte sie auf den Boden und hoffte auf ein Wunder – ein Loch im Boden eventuell. Onizuka, ein Yankee, der Lehrer spielte und den sie nur ganz insgeheim und an Feiertagen ein bisschen mochte, legte seine Hand in Yoshikawas Nacken und drückte diesen herunter, bis der Junge Stück für Stück in die Knie ging. Anko fluchte, da Onizuka seinen einzigen Trumpf ihr gegenüber ausspielte. Es war schwer einzuschätzen, ob er es aus Amüsement oder einem Faible für romantische Verwirrungen tat. Nein, Anko war sich sicher, er machte es, um sich über sie lustig zu machen. Es war sein kleines Stück Revanche im Namen Yoshikawas, zu welchem sie so grausam gewesen war. Ein Elend, dass ausgerechnet Eikichi Onizuka, ein Typ dümmer und kindischer als all seine Schüler, ihr größtes Geheimnis kannte: Gefühle gegenüber Noburo Yoshikawa - den Nerd, den Außenseiter, den Jungen von der hintersten Bank, der zu schwach war, sich gegen drei Mädchen zu wehren - die sie selber kaum verstand. Sie kaum beachtend, sammelte Yoshikawa die Zettel ein und hielt ihr letztendlich einen verknitterten Stapel hin. Es war das erste Mal, dass er sie direkt anschaute. Ein unsicheres Lächeln lag auf seinen Lippen, welches seine Augen kaum erreichte. In Ankos Magen zog sich ein Knoten zusammen. Bis heute verstand sie nicht, warum er sie so ansah, voller desinteressierter Höflichkeit. Alles andere wäre in Ordnung gewesen: Vorsicht, Abneigung oder sogar Wut. Etwas, was zumindest erahnen ließ, dass sie eine Rolle spielte. Kurz kämpfte sie mit sich selbst, wollte ihm die Papiere aus den Händen reißen und ihm dieses elende Lächeln aus dem Gesicht schlagen. Letztendlich ignorierte sie die Kälte und ließ sich auf den Asphalt plumpsen. Zum ersten Mal widmete ihr der Junge ehrliche Aufmerksamkeit. Er wirkte verwirrt. Genau betrachtet wirkte er immer verwirrt und vorsichtig, vor allem ihr gegenüber. Verübeln konnte sie es ihm nicht. „Uehara?“ Sogar seine Stimme erschien schmächtig und dünn. Unsicher schwebte seine Hand zwischen beiden. Anko runzelte die Stirn, schnaubte verächtlich und entriss ihm die Flyer. „Du bist ein Idiot.“ Yoshikawa wich zurück. Weniger ängstlich als früher. Ihre Worte waren längst nicht mehr die Peitschenhiebe von einst und mittlerweile erlaubte sich der Junge Verärgerung. Anko spürte diese deutlich. Seine Hand krampfte sich kurz zu einer Faust zusammen. Immerhin etwas, was sie aus ihm herauslocken konnte. „Es gibt keinen Grund unfreundlich zu werden“, bemerkte er mit einem drohenden Unterton. Instinktiv wischte Anko sich über die Augen. Sie brannten und sie fühlte sich dumm. In ihrem Hals bildete sich ein Knoten, der das Atmen schwer fielen ließ. Nun saß sie hier auf dem kalten Boden, in einem dummen Rentierkleidchen, mit dem sie es ohne Probleme auch in Herrenmagazine schaffen würde, gegenüber dem Jungen, der sie hassen musste. Es war schwer zu beurteilen, was schlimmer war, sich gefallen zu fühlen oder dabei von den falschen Leuten gesehen zu werden. Ihre Unterlippe zitterte und das erste Schluchzen konnte sie sich kaum selber zuordnen. Ihr Verstand registrierte hektische Bewegungen. Onizuka hatte sich neugierig näher gebeugt und stieß mehrmals gegen Yoshikawas Schulter. „So tu doch was! Mach doch was!“ Typisch, dachte Anko. Kam es hart auf hart, würde dieser Lehrerverschnitt die Verantwortung abgeben. Yoshikawa reagierte nicht sofort. Desinteressiert kramte er in seiner Hosentasche und zog schließlich ein zerknülltes Stofftaschentusch hervor. Das so etwas überhaupt noch existierte. Altmodisch und unhygienisch, das passte zu ihm. Mit einem zurückhaltenden Lächeln hielt er ihr den Fetzen entgegen. Sie blinzelte. „Das ist eklig“, stellte sie fest. Sein Lächeln blieb unerschütterlich. „Jetzt stell dich nicht so an“, mischte Onizuka sich ein. „Du schnäuzt jetzt einmal richtig aus, stehst auf und kommst dann mit auf einen heißen Kaffee!“ Er drückte den Rücken durch und schlug sich demonstrativ auf die Brust. „Was wäre ich für ein Lehrer, wenn ich meine Schüler so herumlaufen lassen würde? Nebenjobs dieser Art sind für die Oberstufe.“ Fasziniert von der offensichtlichen Ernsthaftigkeit seiner Aussage, starrten beide Schüler ihn an und schüttelten synchron den Kopf. Gemächlich erhob sich Yoshikawa. Sein Blick huschte kurz zu seiner Mitschülerin und sofort zur Seite. Verwirrt musterte sie ihn. Seine Ohren glühten rot und er räusperte sich einmal verlegen. Ohne sie anzusehen, bot er seine Hand zur Hilfe an. Anko zögerte, griff schließlich doch danach und ließ sich hoch ziehen. Seine Haut war warm und sehr weich, der Griff fester, als sie erwartet hatte. „Das Kostüm steht dir“, murmelte er. „Bitte?“ Sie beugte sich etwas zu ihm, um sein Genuschel verstehen zu können und zuckte zurück, als er sich direkt zu ihr drehte, sie fest ansah und lauter als nötig erklärte: „Ich hab gesagt, das Elchkostüm steht dir.“ Onizuka ließ seine Hände auf die Schultern seiner Schüler fallen und schob diese vorwärts. Er plapperte etwas von Kaffee, Videospielen und Erdbeerkuchen. Menschen hetzten an ihnen vorbei und der Rock rutschte bei jedem Schritt höher. „Ich bin ein Rentier“, stellte Anko richtig. Yoshikawa kicherte. „Sind das nicht auch nur Elche?“ „Nein!“ Ihre Wangen plusterten sich empört auf. „Du weißt aber auch gar nichts.“ Er grinste breit, dümmlich und unwiderstehlich. „Rentier, Elch … am Ende alles nur große Tiere mit Geweih.“ Er verstärkte seinen Griff und erinnerte Anko daran, dass er ihre Hand noch immer hielt. Knapp suchte ihr Blick bekannte Gesichter. „Du bist wirklich ein Idiot. Rentiere sind Rentiere und keine Elche“, erklärte sie trotzig und drückte seine Hand. Garantiert würde er gleich peinlich berührt oder ängstlich loslassen und bis dahin gehörte seine Wärme ganz ihr, für diesen einen, kurzen Augenblick. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)