Counting Crows von Ixtli ================================================================================ Black █ Box -----------     ֍     One for sorrow Two for joy     Beide Hände auf dem schnörkellosen Elfenbeingriff seines Gehstocks abgestützt, stand der alte Mann vor dem durchsichtigen Zylinder und betrachtete sich nachdenklich dessen Inhalt. Sein von der Zeit zerfurchtes Gesicht zeigte dabei keine sichtbare Regung, wie der Rest seiner Haltung, die selbst in seinem Alter nichts an Erhabenheit verloren hatte. Ganz so, wie es sich für jemanden gehörte, der einen großen Konzern führte. Der Zylinder hatte einen ungefähren Durchmesser von etwa eineinhalb Metern und reichte vom Boden des Labors durchgehend bis knapp unter die Decke hinauf. In der klaren Flüssigkeit, die das Gefäß bis zum Rand füllte, stiegen winzige Luftblasen wie aneinandergereihte Perlen auf. Manche zerplatzten, sobald sie gegen das bewegungslose Hindernis im Zentrum des Zylinders stießen, das sich der Alte von draußen ansah. Er konnte noch immer kaum glauben, dass alles funktioniert hatte. Masakis Bemühungen hatten sich gelohnt und ausgerechnet er war es, der das nicht miterleben konnte. Motoharu Toujou umfasste den Griff seines Gehstocks fester, während er sich weiter nach vorne beugte, um einen besseren Blick auf das Wesen werfen zu können, das Äußerlich viel zu viel von einem Menschen an sich hatte, als dass man es direkt als die künstliche Kreation ansehen würde, die es war. Er musste es wissen, denn er hatte seine Entwicklung vom ersten Stadium an bis jetzt verfolgt, mitsamt den immer größeren Zylindern, die man für das Wachstum benötigt hatte. Er hatte mit eigenen Augen zugesehen, wie aus sich teilenden Zellen Glieder gewachsen waren, deren Form bald immer mehr denen eines Menschen glichen. Kopf, Arme, Beine, bis hin zu Feinheiten wie Fingernägeln, Wimpern und Augenbrauen. Als es das erste Mal seine Augen geöffnet hatte, war man im Labor völlig von der Rolle gewesen. Und wie man es von einem Kind erwartete, hatte es sich scheinbar neugierig und staunend umgesehen und versucht, zu begreifen, wo es war und was das bedeutete. Wunschdenken, wie er jetzt wusste. Dabei war es geblieben, denn anders als normale Kinder, hatte Nataku kein weiteres Interesse mehr an seiner Situation gezeigt. Es hatte akzeptiert, wo es sich befand. An jenem Abend hatte der alte Mann das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder geweint. Es war als hätte er in dem Moment, als sich Natakus Lider langsam öffneten und seine unbeeindruckten Blicke auf die des Menschen trafen, mit dem es verwandt war, endgültig begriffen, dass alles, was bis hierhin geschehen war und alles, was noch folgen würde, nie auf Natakus eigenem Willen basierte, sondern es einfach nur das nachahmte, was von ihm erwartet wurde. Selbst danach hatte Motoharu noch eine Weile krampfhaft daran festgehalten, dass Nataku ein Kind war. Dass es nur Zeit brauchte, sich seines Selbst und seiner Umgebung bewusst zu werden. Doch irgendwann hatte er aufgehört, sich einzureden, dass Nataku auch die letzte Grenze zum Menschen überwinden werde, indem es etwas in Frage stellte und sei es nur die Form der Erde, die Existenz der Sterne oder ob es richtig war, was es tat und was es dachte. In der Nährlösung vor ihm befand sich weder Kazuki noch Masaki. Nichts davon, was er kannte und liebte; lediglich Schatten dieser beiden Personen, die sich wie zwei halbtransparente Ebenen überlagerten und so ein völlig anderes Bild darstellten. Alles, was er seither empfand, war tiefes Mitleid mit diesem Wesen mit den blicklosen Augen, das man in einem undurchschaubaren Labyrinth ausgesetzt hatte, ohne dass es eine Ahnung von der Existenz eben jenes Irrgartens hatte. Auf dem Gesicht des Gründers von Toujou Pharmaceutical zeigte sich die erste Regung, seit er vor über einer halben Stunde das Labor betreten hatte, um sich das Vermächtnis seines Sohnes und seiner Enkelin zu betrachten. Motoharu Toujou lächelte.     Rhythmisches Klopfen tröpfelte wie Regen aus einer löchrigen Dachrinne in das Unterbewusstsein des Schlafenden und weckte ihn schließlich nach einigem unwilligen hin- und herwälzens von der einen Seite auf die andere. Nataku blinzelte vorsichtig und schloss seine Augen gleich wieder, als das helle Sonnenlicht auf sie traf. Es musste Mittag sein, was bedeutete, dass er länger geschlafen hatte, als gewollt. Was wiederum hieß, dass er sie verpasst hatte. Hastig warf er die Decke von sich und setzte sich auf. Seine Blicke glitten angstvoll zu dem Tisch hinüber, der neben seinem Bett stand. Er war, bis auf eine einsame, ungefüllte Obstschale, leer. Sie war also doch noch nicht hier gewesen. Erleichtert atmete Nataku aus. Er schwang die Beine aus dem Bett und ließ sich vorsichtig nach unten gleiten, bis seine nackten Füße den kalten Boden berührten. Ohne den dünnen Bademantel überzuziehen, der am Fußende des Bettes hing, tappte er mit unsicheren, erschöpften Schritten zu dem großen Fenster hinüber. Nataku schob einen der Besucherstühle zum Fenster und kniete sich auf die Sitzfläche. Draußen auf dem Fensterbrett saß sein Wecker: eine Krähe mit glänzend schwarz-blauem Gefieder. Der Vogel, der bis eben mit seinem leicht gebogenen Schnabel unbeirrt gegen die Fensterscheibe gepickt hatte, bis Nataku aus seinem traumlosen Schlaf erwacht war, legte nun den Kopf schief und betrachtete sich gebannt sein breit grinsendes Gegenüber. Die tintenschwarzen Augen maßen jeden Millimeter des fremden, blassen Kindes ab, das staunend hinter der Scheibe saß und die Hände gegen das Glas gedrückt hatte. Nataku streckte einen Zeigefinger aus und klopfte damit gegen das Fenster. Die Krähe zuckte kurz zusammen, legte dann den Kopf in den Nacken und klopfte auf ihrer Seite antwortend mit dem Schnabel gegen das Glas. Nataku lachte hell auf. Die Krähe plusterte das Gefieder auf und stieß ein heiseres, kehliges Krächzen aus. Dann schüttelte sie die Flügel, winkelte sie an, bevor sie sie wieder spreizte und mit kräftigen Flügelschlägen davonflog. „Bleib hier!“, rief Nataku enttäuscht. Er klopfte gegen das Fenster, doch der Vogel beschrieb einen weiten Bogen in der Luft und war kurz darauf aus Natakus Blickwinkel verschwunden. Die Stuhlbeine glitten polternd über den Boden, als Nataku tatendurstig aufsprang. Er rannte aus dem Zimmer auf den langen Flur hinaus und folgte der Richtung, in die die Krähe um das Haus herum geflogen sein musste. So lange ihn niemand erwischte, war es gut. Die Schwestern waren sicher noch mit dem Austeilen des Essens beschäftigt und die Visite war auch nicht vor dem Abend. Genug Zeit, um in jedes der etwa zwanzig Zimmer auf der rechten Seite des Flurs zu schauen.   Ohne einen Laut zu verursachen schob er die Tür auf. Ein leichter Luftzug streifte das Kindergesicht mit den vor Spannung weit aufgerissenen Augen, die durch den Spalt der sich langsam öffnenden Tür lugten. Er traute sich kaum, zu atmen, vor Angst, den schwarzen Vogel, der vor dem Fenster gegenüber der Tür saß, wieder aufzuschrecken. Fuß um Fuß betrat Nataku das fremde Zimmer, während die Krähe wie erstarrt vor dem Fenster saß und dem kleinen Kind entgegen sah. Nataku freute sich schon darüber, dass der Vogel ihn noch nicht bemerkt hatte, als etwas Dunkles in seinem Augenwinkel seine Konzentration auf sich zog. Auf der linken Seite des Zimmers stand ein Bett, das man erst sah, sobald man das Krankenzimmer ein paar Schritte weit betreten hatte. Ein blickdichter Vorhang umgab das Bett, aus dessen Richtung leises Piepen zu Nataku klang, der nun endgültig die Krähe vor dem Fenster vergessen hatte. Nahezu von alleine wechselte er den Kurs und steuerte auf das Bett zu, von dem nichts außer den Rollen unter dem dichten Stoff zu sehen war. Im nächsten Moment zogen seine Hände den Vorhang auseinander. Die Ringe, an denen der Vorhang hing, glitten ratternd über die Schiene an der Decke, und der Stoff blähte sich auf, so heftig hatte Nataku den Vorhang aufgerissen. Seine Augen wurden noch ein bisschen größer bei dem Anblick, der sich ihm nun bot. Unzählige Kabel zogen sich von der Person in dem Bett, die den Kopf von ihm weggedreht hatte, hin zu unterschiedlichen Monitoren und Maschinen. Von den bleichen Händen aus führten dünne Schläuche wie Girlanden zu Ständern neben dem Bett, die wie Garderobenständer aussahen, die aber statt mit Kleidern mit Beuteln voller Flüssigkeit behangen waren. Einer der Beutel war bereits zu zwei Dritteln leer und zog sich wie ein schlapp werdender Luftballon zusammen. Gespannt sah Nataku zu, wie die unbekannte Flüssigkeit aus dem Beutel in den Schlauch darunter tropfte. Seine Augen verfolgten fasziniert den Weg bis hin zu dem Handrücken und von dort weiter zum nächsten interessanten Blickfang. Ein durchsichtiger Schlauch verband den immer noch von ihm abgewandten Kopf mit einer rhythmisch schnaufenden Maschine. Nataku stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Hand aus, um die hellen Haarsträhnen wegzustreichen, die den Blick auf das Gesicht der Person verdeckten. Im gleichen Moment drehte sich der Kopf des Unbekannten zu ihm hin und Nataku erschrak zu Tode. Statt in ein Gesicht, sah er in einen Spiegel, der sein eigenes panisch erstarrtes Selbst wiedergab.     Es war heißer als sonst. Die Sonne schien stärker zu brennen und der ganze Sand war dadurch aufgeheizt und reflektierte die Hitze wie ein einziges, riesiges Brennglas. Auch die Wellen schienen heute träger gegen die Felsen zu rollen, die wie Berge im Miniformat den Strand säumten. Der tosende Ozean von sonst, war zu einem müde plätschernden Wasser geworden. Kakyou streckte eine Hand Richtung wolkenloser Himmel, um seine Augen vor der Sonne zu schützen. Nach kurzer Zeit kribbelte seine Handfläche und er ließ sie wieder sinken. Durch die Zwischenräume seiner Finger hindurch erblickte er eine Gestalt, die etwas weiter von ihm entfernt saß, und Kakyou hielt erschrocken inne. Auf einem der niedrigeren, flachen Felsen hockte still und ohne sich zu bewegen ein kleines Mädchen und sah zum Meer hinaus, auf dem die Sonne glitzernde Schaumkronen tanzen ließ. Die Kleine trug einen hellen Strohhut und ein dünnes Strandkleid, ganz so, als gehöre sie selbstverständlich hierhin an diesen Ort, den nur er und Hokuto kannten. Nachdem sich Kakyou wieder gefasst hatte, setzte er sich langsam in Bewegung, um seine kleine Besucherin zu begrüßen, die auf einem ihm unbekannten Weg hierher gefunden haben musste. Der Saum seines Gewands zog Spuren in den Sand und verwischte seine Fußabdrücke. Als er bis auf wenige Meter an das Mädchen, das mittlerweile damit beschäftigt war, kleine spitz nach oben gewundene Muscheln aus dem Felsen zu lösen, herangegangen war und darauf wartete, dass sie ihn endlich bemerken und sich zu ihm umdrehen würde, flimmerte die Luft und Kakyou sah für ein paar Wimpernschläge jemand anderes. „Wer-“, setzte Kakyou zu seiner Frage an, als das Kind mit dem Sonnenhut auch schon verschwunden war.     Zitternd lag Nataku in seinem Bett und hatte sich die dünne Decke bis über den Kopf gezogen. War ihm die Person mit dem Spiegelgesicht gefolgt? Nataku horchte in die Stille seines eigenen Krankenzimmers und atmete so flach, dass sich die Decke über ihm kaum hob. Hier würde ihn niemand finden, da war er sich absolut sicher. Er hielt beide Hände fest vor seine Augen und versuchte zu verstehen, was er eben in dem Zimmer gesehen hatte. Er kam immer nur zu dem einen Ergebnis, dass es sein Geist gewesen sein musste. Er würde nie mehr wieder dieses Zimmer verlassen!     Er würde nie mehr wieder dieses Zimmer verlassen! Kakyous Hand, die neben ihm auf der Decke seines Krankenbetts ruhte, ballte sich zur Faust, um sich dann kurz darauf mit zitternden Fingern an den Schläuchen entlangzutasten, die seinen ganzen Körper wie ein Spinnennetz zu umgeben schienen und ihm die Luft zum Atmen abdrückten. Es kostete ihn unmenschliche Kraft, seinen betäubten, zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein schwankenden Geist zu dieser Handlung zu zwingen. Der benommene Teil in ihm wollte einfach weiter in Ruhe gelassen werden, während der wache Teil mit jedem Tag, der verging, diesen zwischen Leben und Tod hin- und herpendelnden Zustand endgültig beenden wollte. Endlich hatte Kakyou den dicksten der Schläuche in dem Gewirr gefunden. Seine kalten Finger schlossen sich um das geriffelte Plastik, das unter dem unnachgiebigen Druck einknickte. Ein einziger fester Ruck, zu dem er seinen ganzen noch verbliebenen Willen aufbringen musste, genügte und der Schlauch riss mit einem seufzenden Geräusch aus der Halterung der Atemmaske, die von Kakyous lächelndem Mund rutschte.     Natakus Hand schwebte über dem Fremden mit dem Spiegelgesicht, nur dass es jetzt keine einzige glatte Fläche mehr war, sondern aus unzähligen scharfkantigen Scherben bestand. Er hatte den Menschen kaputt gemacht und wusste nicht, wie. Wahrscheinlich war das die Strafe dafür, dass er doch wieder aus seinem Zimmer geflüchtet war. Nach einigem atemlosen Zögern berührte Nataku vorsichtig die Splitter, die nun statt eines einzigen Gesichts mehrere Blickwinkel einer einzigen Person zeigten. Die Scherben waren warm und pulsierten und Nataku strich sachte darüber. Einige wurde von einem Schleier überzogen und als er die Hand hob, sah er die Schnitte, die seine Fingerspitzen überzogen. Blut quoll daraus hervor und tropfte auf das weiße Bettlaken, auf der rote Knospen wuchsen, die schon bald aufblühten, je mehr Blut nachsickerte und sich in den Fasern der Decke ausbreitete.     Der abgetrennte Beatmungsschlauch lag wie eine wütend zischende Schlange auf dem Krankenbett, während die Überwachungsmonitore ihren schrillen Alarm in das riesige Zimmer hinausschrien. Ihm blieben nur wenige Sekunden, bis man hier war und alles wieder ordentlich anschloss, um ihn für den Rest seines Lebens an eben jenes verhasste Leben zu ketten. Kakyou hob die Hand, mit der er eben noch den Beatmungsschlauch herausgerissen hatte. Im äußeren Winkel seines sich gerade klärenden Blickes sah er winzige, rote Punkte, die auf dem langen Ärmel seines Gewandes auftauchten und zu großen roten Mohnblüten wurden. Er drehte den Kopf weiter zu dem dürren bleichen Etwas hin, das einer seiner Arme sein sollte, und sah ohne jegliche Angst zu verspüren zu, wie er sich langsam auflöste und   Korn für . . . . . Korn . . . . für Korn . . . für Korn . .   herabrann, um sich in seiner erwartungsvoll ausgestreckten Handfläche zu sammeln. Nataku konnte seine Hand kaum noch schließen, die voll von warmem Sand war. Er hob sie hoch über seine nun leere Handfläche und ließ die winzigen Körnchen wieder langsam nach unten rieseln. Der sanfte Wind erfasste ein paar der goldfarbenen Quarzkörner und wehte sie aus dem Strom, um sie weiter mit sich mit zu tragen. „Ich habe dich erwartet. Gut, nicht ganz.“ Nataku hob den Blick und hielt inne, als die Stimme neben ihm erklang. Er wusste nicht, was er sagen sollte und wartete einfach darauf, dass der lächelnde Mann, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war, von selbst preisgeben würde, wen er denn tatsächlich erwartet hatte. „Ich hatte ein Kind erwartet“, setzte der auch prompt seine Rede fort. „Etwa so groß“, er hielt seine Hand auf Höhe seiner Hüfte. „Hier bin nur ich“, sagte Nataku. Er säuberte seine Hand vom Sand und erhob sich aus seiner gehockten Haltung. „Ich soll hier auf Mama und Papa warten.“ Kakyou folgte der erklärend ausgestreckten Hand seines Besuchers, doch außer ihnen beiden war weit und breit kein anderer Mensch zu sehen. Und der junge Mann vor ihm machte auch nicht gerade den Eindruck, als müsste er noch auf seine Eltern warten, immerhin war er sogar ein kleines Stückchen größer als Kakyou. „Mama und Papa?“, hakte Kakyou dennoch etwas ungläubig nach. Nataku nickte. Die leicht verwunderten Blicke des Fremden verunsicherten ihn nun doch. Er hatte Muscheln sammeln wollen, um damit die Sandburg zu verzieren, die er mit seinem Papa gebaut hatte, das wusste er noch ganz genau, aber gleichzeitig fehlte in seiner Erinnerung der Moment, dass er überhaupt schon einmal an einem Ort wie diesem gewesen war. Der Geruch und die Geräusche waren ihm auf eine unangenehme Art bekannt und wieder nicht bekannt. Alles, was er zu wissen meinte, waren Bruchstücke, die sich nicht zu einer Einheit mehr zusammenfügen lassen wollten. Ganz so wie der zerbrochene Spiegel. In einigen Scherben hatte er sich selbst gesehen, das, was er von sich kannte – und in anderen ein kleines Mädchen, das den Teil von ihm zu kennen schien, der ihm bis jetzt ein Rätsel war. Erschöpft hielt sich Nataku die Hände gegen die Schläfen. Hinter ihm toste das Meer und schlug in großen Wellen auf die Felsen. Kakyous Lächeln wurde sanfter. Sein Gast wirkte verzweifelt. „Ich war noch nie hier.“ Nataku flüsterte fast. „Ich war noch nie draußen.“ Er suchte weiter nach Worten, die seinen Zwiespalt beschreiben würden, fand aber keine. Kakyou kannte dieses Gefühl nur zu gut. Das erste Mal, dass er draußen gewesen war, hatte auch anders geendet, als er es sich gewünscht hatte. „Und gefällt es dir hier?“ Der Unbekannte mit dem hellen kurzen Haar dachte ausführlich nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Kakyou streckte seine Hand aus. „Es gibt noch einen Ort, einen, der nicht so verwirrend voll von Eindrücken ist“, erklärte er seinem Gast. Seine feingliedrigen Finger schwebten einen Augenblick reglos vor Natakus Gesicht, ehe sie herabsanken und sachte wie ein Schmetterling auf seiner Brust landeten. „Komm mit.“   Nataku setzte sich in Bewegung und hielt, kaum dass er den ersten Schritt tun konnte, auch schon wieder inne. Das Komm mit war scheinbar nicht als Aktion gemeint, denn er befand sich kurz nach diesen zwei Worten schon ganz wo anders, ohne dass er überhaupt einen Fuß vor den anderen hätte setzen müssen. Der Fremde, der Bewohner dieses Ortes, wie Nataku annahm, hatte recht behalten. Sie waren jetzt an einem Ort, der tatsächlich nicht im Geringsten mit dem Strand zu vergleichen war. Es war still. Jedenfalls bis auf das leise Rascheln der Kleider des vor ihm Gehenden, der nun stehenblieb und darauf wartete, dass Nataku ihm weiter folgte. Was sein Ziel war, konnte sich Nataku beim besten Willen nicht vorstellen, denn überall um sie herum war alles dunkel und ohne einen einzigen Anhaltspunkt. „Es ist nicht weit“, klang die sanfte Stimme durch die Stille zu Nataku. Natakus Füße setzten sich von ganz alleine in Bewegung, bis er neben dem jungen Mann stand, der wieder seine Hand hob und mitten in der Luft eine Geste machte, als wolle er etwas zur Seite schieben. Eine bis dahin unsichtbare Schiebetür glitt auseinander und Nataku sah sich einem weiteren Raum gegenüber, der nicht mehr ganz so düster war, wie der, in dem er noch immer stand. „Mein Name ist Kakyou“, sagte Natakus Begleiter lächelnd. Er machte eine einladende Handbewegung zur offen Tür. „Herzlich Willkommen, Nataku“, fügte er hinzu und lächelte schnell die Zweifel seines Besuchers weg, ehe der sich darüber wundern konnte, woher Kakyou seinen Namen kannte.   „Was ist das?“ Fasziniert strich Nataku mit einer Hand über den ungewöhnlichen, glänzenden Boden, der wie das Meer wirkte, nur dass die Oberfläche glatt und hart war. Verwundert sah er das dunkle Spiegelbild seiner Hand, die über den ebenfalls dunklen Boden huschte. „Es ist nicht echt“, antwortete Kakyou, der vor Nataku auf dem Boden kniete und dem jungen Mann amüsiert dabei zusah, wie der eine Welt entdeckte, von deren Existenz er bisher noch gar nicht gewusst hatte. „Nicht echt?“ Nataku suchte in seinem Wortschatz nach etwas passendem. „Es existiert nur hier in deinem Traum.“ Nataku hob den Kopf. Er sah Kakyou eine Weile geistesabwesend an. Seine Augenbrauen zogen sich etwas zusammen, bis sich in deren Mitte eine nachdenkliche Falte bildete. „Und was ist ein Traum?“ Kakyou war etwas verwundert über den jungen Mann, der den Eindruck machte, als sei er gerade erst geboren worden und versuche nun die Erde mitsamt ihren sichtbaren und unsichtbaren Bestandteilen zu begreifen. Was wie eine kaum lösbare Aufgabe erschien, noch nicht einmal für jemanden, der bereits hunderte von Jahren gelebt hatte. „Wenn Tiere oder Menschen schlafen, dann träumen sie und-“ „Ich bin aber kein Mensch“, unterbrach Nataku Kakyou. Er war- ist-     „Es ist eine Black Box, haben Sie davon schon einmal gehört, Makiko?“ Motoharu Toujou wartete darauf, dass die Frau, die neben ihm saß und auf die flimmernden Monitore sah, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenkte. „Wenn ich ehrlich bin, kenne ich diesen Begriff nur aus dem Flugverkehr“, antwortete sie und bemühte sich, ihre Stimme nicht so erschöpft klingen zu lassen, wie sie tatsächlich war. Sie schob die Brille kurz hoch und rieb sich über ihre müden Augen. Seit drei Tagen versuchten sie schon herauszufinden, weshalb das Wesen – das ihr Vorgesetzter vor ihrem Team nie Mensch nannte – nie wie erhofft auf die ihm gebotenen Reize reagierte. „Wir kennen die Impulse, die es bekommt und normalerweise müssten wir seine Reaktion darauf kennen, aber wir wissen nicht, was dazwischen passiert. Wie verarbeitet es die Dinge, die wir ihm bieten? Wie kommt es, dass nach dem Input dann doch keine Reaktion erfolgt?“ Der Alte stützte die Arme in die Hüften. Seine Stirn zog tiefe Furchen und er biss die Kiefer fest aufeinander. Warum nur war Nataku so teilnahmslos? „Etwas fehlt. Etwas, was in dieser Black Box zwar ankommt, aber nicht weitergeleitet wird...“ „Wie eine Puppe“, murmelte Makiko. „Bitte?“ Motoharu sah zu seiner jüngeren Assistentin hin, die ihre Brille nun endgültig abgenommen hatte und ihren Nebenmann mit einem leichten Lächeln betrachtete. „Kennen Sie diese Puppen, deren Augen sich schließen, sobald man sie waagerecht hält?“ Sie wartete nicht auf Motoharu Toujous Antwort, sondern sprach gleich weiter. „Welches Kind weiß schon, wie das funktioniert? Sie glauben daran, dass die Puppe lebt, dass sie wie ein echtes Baby reagiert und die Augen schließt, sobald es hingelegt wird, weil es meistens das ist, was sie von Geschwistern oder sonst woher kennen. Haben Sie jemals ein Kind erlebt, das die kleine Klappe auf dem Rücken der Puppe öffnet, um nachzuschauen? Nicht? Weil Kinder überhaupt nicht daran zweifeln, wie es funktioniert. Für sie ist es Wirklichkeit, statt Drähte und Schnüre.“ Makiko machte eine kurze Pause, ehe zu ihrem endgültigen Punkt kam. „Wir müssten die Puppe also nur öffnen und reinschauen und die Schnüre reparieren, die gerissen sind.“ Motoharu Toujou nickte verstehend. Er sah zu dem durchsichtigen Zylinder hinüber, in dem ein etwa fünfjähriges Kind, von dem er nicht wusste, wie er es bezeichnen sollte, in einer Lösung schwamm, die es mit allem versorgte, was es für sein Wachstum brauchte. „Öffnen wir die Puppe und schauen uns die Black Box an.“     Er wusste nicht mehr alles, was in der Zeit im Labor von Toujou Pharmaceuticals alles vorgefallen war, aber manche Dinge waren wie Fixpunkte in Natakus Gedächtnis gespeichert. Unverrückbar wie Berge hatten sie ihren Platz in seiner Erinnerung eingenommen. Das Gluckern der Nährlösung und die Schläuche, die sich wie Schlangen um ihn gewunden hatten. Die Gesichter, die vor ihm auftauchten und verschwanden, und von denen er lange gedacht hatte, dass er das sei. Dass die verschwommenen, verzerrten Fratzen auf der anderen Seite des Zylinders andere Menschen waren, hatte er erst realisiert, als er die Reflektion eines weiteren Gesichts auf der Innenseite seines Behältnisses entdeckt hatte, die ihm ihre Hand entgegenstreckte, im gleichen Moment, als er das auch tat. Und genau das war er immer noch: eine Reflektion eines anderen Lebens, das er nie gelebt hatte. Er war tatsächlich eine Puppe, der nur ein anderer Leben einhauchen konnte. Schweigend hatte Kakyou Nataku beobachtet. Kein noch so kleiner Wechsel von dessen Mimik war ihm entgangen. Diese unglaublichen Augen, unerreichbar weit entfernt wie zwei Monde, die noch nie ein Leid hatten mitansehen müssen. Der Mund, über dessen Lippen vermutlich noch kein einziges böses Wort gekommen war. Ein Wesen rein von sämtlichen Empfindungen wie Hass, Trauer und ja, auch Liebe. Nataku war etwas vollkommen anderes als ein Mensch. Er war ein Universum kurz nach seiner Entstehung. Alles rotierte. Alles war möglich und wartete nur darauf, dass es sich finden und einander Formen geben konnte. Nataku war- „Eine Puppe“, zerschnitt die leise Stimme Kakyous wirbelnde Gedanken und holte den Traumseher augenblicklich wieder auf die Erde zurück. Ja, er war eine Puppe. Er war wie die Puppe in Herrn Toujous Schublade. Das letzte bisschen, was von Kazuki übrig geblieben war, über die sich alle im Labor unterhielten. „Eine Puppe?“, wiederholte Kakyou schmunzelnd. Nataku mochte wie eine Puppe erscheinen mit seinem etwas abwesend wirkenden Blick und seiner starren Mimik, die wahrscheinlich daher kam, dass er die Welt um sich herum wohl erst am entdecken war, aber er war kein lebloser Körper ohne Seele. „Und warum bist du dann hier?“ Nataku verstand die Frage nicht sofort. Fand Kakyou, dass er nicht hier sein sollte? Nataku wollte aufstehen, als Kakyou nach seiner Hand griff und ihn wieder nach unten zog. „So meinte ich das nicht“, beruhigte Kakyou sein Gegenüber. Er wartete, bis Nataku wieder vor ihm auf dem Boden kniete und auf Kakyous Erklärung hoffte. „Wenn du kein Tier bist – und du siehst wirklich nicht wie eines aus –, und auch kein Mensch, warum kannst du dann träumen?“ Beinahe hätte Kakyou über Natakus Gesicht lachen müssen. Er hatte ihm diese Frage absichtlich gestellt, denn Nataku schien tatsächlich davon überzeugt zu sein, ein leeres Gefäß darzustellen.   „Wenn du träumen kannst, dann bist du viel mehr, als nur eine Puppe“, versicherte Kakyou seinem Zuhörer. „Ich habe noch nie erlebt, dass Puppen träumen.“ „Wenn das träumen ist, dann ist es nicht schön“, stellte Nataku sachlich fest. Es hatte ihn verwirrt. Er hatte Sachen empfunden, die er nicht kannte. Nicht einmal, dass man verwirrt sein konnte, hatte er bis dahin gewusst. Als er die seltsame Person mit dem Spiegelgesicht das erste Mal entdeckt hatte, hatten sich die Härchen an seinen Armen aufgerichtet und er hatte daran gedacht, dass er jetzt wegrennen musste. Und als der Spiegelmensch zerbrochen war, hatte er jemand anderes in den Scherben gesehen, als nur sich selbst. Da war wieder dieses kleine Mädchen gewesen, das er schon öfter gesehen hatte – Kazuki. Kazuki, die immer wieder in seinen Gedanken auftauchte, wie ein Schatten, der ihm ständig folgte und nur manches Mal aus dem Augenwinkel heraus vor ihn hin trat. Er war nie in einem Krankenhaus gewesen und dennoch hatte er Bruchstücke davon in seinen Erinnerungen. Kakyou bekam Mitleid mit seinem Gegenüber. Nataku wurde immer stiller. „Weißt du, was für mich schlimmer ist, als zu träumen?“ Nataku hob sein gesenktes Gesicht und sah zu Kakyou, dessen aufmunterndes Lächeln wie eine langsam erlöschende Flamme um seine Mundwinkel zuckte. Zögernd schüttelte Nataku den Kopf. Er wusste nicht, was schlimmer sein könnte, als zu träumen. Für ihn waren diese Träume bisher das schlimmste, was er sich vorstellen konnte. „Zu wissen, was Einsamkeit ist“, fuhr Kakyou fort. Seine Stimme klang brüchig wie altes trockenes Laub und das erste Mal seit ihrer Unterhaltung wich er Natakus Blicken aus. Er hatte Angst vor der Spiegelung in Natakus Augen, die ihm zeigen würden, was er wirklich war. „Weil man erst weiß, was Einsamkeit ist, wenn man jemanden gehabt hatte, der einem zeigte, wie es ist, wenn man nicht alleine ist.“ „Dann will ich weiter träumen“, platzte es aus Nataku heraus. Er würde lieber wieder mit Kazuki in diesem Krankenhausbett liegen und ihre Angst vor dem langen unheimlichen Flur mit den flackernden Deckenlichtern und der Zugluft, die einem kühl um die Knöchel wehte, teilen, als das zu erleben, was selbst Kakyou als noch viel schlimmer empfand. Ergriffen sah Kakyou, zu Nataku. Er selbst hatte tausende Wörter, das zu umschreiben, was er meinte, aber Nataku hatte die hilfreichsten darunter gefunden und ausgesprochen. „Dann zeige ich dir, dass Träume auch schön sein können.“ Kakyous Satz hörte sich wie eine Einladung an und Nataku reichte ihm seine Hand. Seine Finger kribbelten als sie die des Traumsehers berührten, der ihn zu sich zog, bis er dicht vor ihm kniete.     „Kazuki!“ Nataku, der auf der niedrigen Fensterbank am Ende des ewig langen Flur kniete und nach draußen in den Garten schaute, wo zwei Krähen im Gras umher stolzierten, drehte sich zu der Stimme um und lächelte, als er seine Mutter erkannte, die in der Mitte des Gangs stand und den Henkel eines Korbs mit frischen Pfirsichen in ihren Händen hielt. Endlich war sie hier! Er hatte so lange warten müssen. Nataku musste nicht lange überlegen und rannte auf sie zu, direkt in ihre ausgebreiteten Arme. Er roch die Pfirsiche, die sie ihm wie jeden Tag vorbei brachte und fühlte den seidig weichen Stoff ihrer Bluse an seinem Gesicht. „Mama! Mama!“     Nataku schrak auf. Er wollte sich aufsetzen, aber etwas hielt ihn in der halbsitzenden Position. Er lag in Kakyous Armen, eine Hand des Traumsehers ruhte auf Natakus Stirn. „Ich habe geträumt, richtig?“ Nataku sah auf und blickte in Kakyous goldene Augen. Kakyou nickte. „Mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“ Seine Finger glitten sachte über Natakus Stirn und wischten dort die nachdenklichen Furchen weg. Kakyou beugte sich zu dem jungen Mann in seinen Armen hinab, der wieder die Augen geschlossen hatte und sich an den Traumseher schmiegte, und küsste dessen Stirn. Anders, als an erzwungene Einsamkeit, gewöhnte man sich auch an schlechte Träume.     Nach und nach verklangen die schrillen Warntöne der Maschinen wieder, die den blassen Körper am Leben erhalten sollten. Sorgsam wurde die Beatmungsmaske wieder über die halbgeöffneten Lippen gezogen und die verschwitzten Haarsträhnen beiseite gestrichen.       ֍ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)