Herzenswille von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 2: Zusammenbruch ------------------------ Kurz vor Morgengrauen setzte der Regen ein – zuerst fielen langsam die Tropfen auf den Boden, dann wurde der Regen immer stärker und stürmischer. In Strömen goss er über die Erde, überflutete Straßen und peitschte tosend gegen die Fensterscheiben der Häuser. Kein vernünftiger Mensch würde sich jetzt nach draußen wagen, geschweige denn bei diesem Unwetter Überfälle auf adlige Kutschen veranstalten. Oder waren die Bürger bereits so stark verzweifelt und wütend, dass ihnen solch ein grausiges Wetter nichts mehr anhaben würde? Wäre möglich, denn zu lange hatte der dritte Stand unter dem monarchistischen Regime gelitten und Unterdrückung ausgehalten...   Wenn Oscar zurück dachte, wie knapp André und sie dem wütenden Mob vor wenigen Stunden mit dem Leben davon gekommen waren, dann lief ihr jedes Mal ein eisiger Schauer über den Rücken. Nicht einmal das prasselnde Feuer im Kamin und die vertraute Wärme in ihrem Salon oder die Gewissheit, dass es Ende Sommer war, vermochten diese Kälte zu verjagen.   Unter dem dünnen Stoff ihres Hemdes spürte Oscar den fest angelegten Verband um ihre Körpermitte und den leicht brennenden Schmerz ihrer Blessuren und Wunden, während sie tiefsinnig bei diesen düsteren Gedanken ein- und ausatmete. Um ihre Stirn und auf ihren Händen und Armen trug sie auch Bandagen, die ihr unmissverständlich verrieten, welche Verletzungen sie darunter trug und wie gewaltig und erbarmungslos Menschen sein konnten, wenn sie entschlossen und hasserfüllt waren...   Und da war noch André – ihr Begleiter und Gefährte seit Kindertagen...   Der Familienarzt des Hauses hatte sich um sie beide sofort gekümmert, sie beide verarztet und medizinisch versorgt, nachdem man sie auf das Anwesen ohne weitere Zwischenfälle von Paris bis hierher gebracht hatte. Jetzt saß Oscar an einem Tisch in ihrem Salon und versuchte die Geschehnisse zu verarbeiten. Sie sollte sich hinlegen und ausruhen hatte der Doktor gesagt. Aber wie konnte man an Erholung und Schlaf nach so einem Vorfall nur denken?! Die wütenden und hasserfüllten Menschenmassen hatten dafür gesorgt, dass sie keinen Schlaf in dieser Nacht mehr fanden.   Jemand öffnete die Tür und Oscar sah hin. Ihr einstiges Kindermädchen ging mit beladenem Tablett herein und stellte es auf dem Tisch ab. „Ich bringe Euch eine heiße Tasse Schokolade - das wird Euch gut tun.“, redete sie dabei in einem besorgten Ton, „Ich kann mir vorstellen, wie Euch zumute ist... Was sind das nur für Zeiten?! Man kann sich nicht mehr nach Paris trauen!“   Das hatte man nun davon, wenn die Verhältnisse im Land sich nicht änderten, sich weder verschlechterten noch besserten. Oscar nahm derweilen die besagte Tasse und trank einen kleinen Schluck von der Schokolade. Sie wollte nicht darauf eingehen und mit der alten Haushälterin darüber sprechen. „Wie geht es André inzwischen?“, fragte sie, um von dem Thema abzulenken.   „Zum Glück hat er keine schweren Verletzungen. Und Ihr wisst, er ist ein sehr tapferer Junge. Er kommt schon wieder auf die Beine.“, sinnierte Sophie und kam wieder auf das Thema zurück: „Aber denkt erst mal an Euch. Ihr solltet mal einfach aufs Land fahren...“   Eigentlich ein gutgemeinter Ratschlag, das wusste Oscar, aber... „Aufs Land?“ Sie lachte freudlos auf. „Du willst mich wohl dem Pöbel zum Fraß vorwerfen?!“   Die alte Haushälterin verzog missverstanden ihr rundes und faltiges Gesicht. „Also macht bitte keine Witze! Ich habe schon genug Sorgen mit Euch!“ Sie wandte sich sogleich ab und ging beleidigt aus dem Salon.   „Entschuldige, Sophie! Vielen Dank! Die Schokolade ist vorzüglich!“, rief ihr Oscar versöhnlich nach, aber Sophie war schon weg. Oscar nahm noch einen Schluck des Getränkes und als sie die warme Tasse von ihren Lippen absetzte, kehrte sie in ihre Gedanken zurück. Bilder des Geschehens verfolgten sie ununterbrochen und erneut musste sie an ihren Freund denken: „André! Wo ist André! Lasst mich los, mein André ist in Gefahr!“, hatte sie von Fersen angeschrien und diese Szene kreiste ihr immer wieder durch den Kopf. Und da war noch der Ritt mit ihm auf einem Pferd. Sie hatten kaum Wörter auf dem Weg hierher miteinander gewechselt und dennoch spürte Oscar seine Nähe noch immer an ihrem Körper. Ihr Herz hämmerte wieder schneller gegen ihre geschundenen Rippen und stach dabei schmerzlich. Oscar schloss ihre Augen, um ihr Herz zu beruhigen und die aufkeimende Empfindung niederzuringen. Aber nicht für lange. Wieder hörte sie, dass jemand die Tür öffnete und ihr Salon betrat. Oscar machte die Augen auf und schaute hin.   André stand in der Tür – in einem Hemd und einer Hose bereits umgezogen. Genauso wie sie trug er einen Verband um seinen Kopf und an seinem Körper. Einziger Unterschied war, dass sein rechtes Arm, der ihm beim Übergriff gebrochen wurde, in der Schlinge ruhte. Sophie hatte recht, er hatte ebenso wie sie keine schweren Verletzungen davon getragen – welch ein Trost. „Oscar, ich habe soeben erfahren, dass Graf von Fersen sicher nach Versailles zurückgekehrt ist“, berichtete André ihr gleich von der Türschwelle und in seinem typischen, freundlichen Ton. Er versuchte sich dabei sogar an einem Schmunzeln.   „Das ist gut.“ Oscar konnte die Erleichterung in ihrer Stimme nicht unterdrücken und zwang sich zu einem, kaum merklichen Lächeln. Sie betrachtete André ausgiebig, entdeckte keine weitere Auffälligkeiten, dass es ihm schlechter gehen könnte und ihre Mundwinkel zogen sich mehr nach oben. „Möchtest du dich zu mir setzen?“   André merkte ihr kaum merkliches Lächeln und das schmerzte ihn zu tiefst. Sie freute sich bestimmt wegen von Fersen und das hieß, dass sie ihre Gefühle zu diesem Mann noch nicht überwunden hatte! Aber was hatte er denn anderes erwartet? Oscar hatte doch geschworen, diese weibliche Gefühle nie mehr wieder zuzulassen, weil sie von der Liebe verletzt wurde. Von der Liebe, die sie vor einiger Zeit zum Grafen von Fersen, der ohnehin für immer und ewig zu der Königin gehörte, empfunden hatte... In Oscar sah von Fersen nur eine Freundin und Kameradin – mehr nicht. Das war der Grund, weshalb Oscar die Freundschaft zu ihm beendete und versuchte krampfhaft das Leben eines Mannes weiter so zu führen, wie ihr Vater sie dafür von ihrer Geburt an erzogen hatte. Und deshalb antwortete André ihr beherrscht, ohne das es überhaupt stimmte: „Verzeih, aber ich habe keine Zeit.“ Er wartete nicht, bis sie etwas sagte und verließ ihren Salon auf der Stelle.   Oscar hielt ihn nicht auf. Hauptsache sie hatte gesehen, dass es ihm gut ging - im Gegensatz zu ihr. Zumindest nicht, was ihren Gefühlen betraf. Seufzend stand sie von ihrem Stuhl auf und ging ans Fenster. Der Regen draußen trommelte weiterhin in Strömen und Oscar konnte kaum noch etwas erkennen. Das war ihr jedoch einerlei. In ihr herrschte ein Gefühlschaos und ihr kam so vor, als bräche um sie herum alles zusammen! Was war nur mit ihr los?!       André seinerseits hätte Oscar gerne den Gefallen getan und wäre bei ihr geblieben. Aber das konnte er nicht. Nicht nach dem sie ihm ein kleines Lächeln gezeigt hatte, das offensichtlich für von Fersen galt! Das konnte er nicht ertragen! Deshalb hatte er eine Ausrede gefunden und sie verlassen. Warum hatte er ihr überhaupt berichtet, dass von Fersen sicher angekommen war? Er fügte doch sich selbst damit die Schmerzen zu! Sein Herz litt dabei immer mehr...   Aber André kannte die Antwort: Er tat es für Oscar! Weil er sie liebte und weil er sie glücklich sehen wollte. Sie würde ihn nie lieben können wie er sie. Wieso war sie dann so besorgt um ihn und wollte nicht ohne ihn nach Hause reiten?   Auch darauf fand André die Antwort: Er war ihr Freund, mit dem sie aufgewachsen war und den sie sehr schätzte. Mehr nicht. André erinnerte sich noch deutlich an die vergangene Zeit vor etwa fünfzehn Jahren, als Oscar sich für ihn vor dem damaligen König, Ludwig XV, eingesetzt hatte. Damals hatte sie ihn gerettet und vor dem sicheren Tod bewahrt. Auch von Fersen hatte sich für ihn eingesetzt. Den Grund dafür wusste keiner und niemand hatte damals geahnt, was viele Jahre später auf sie alle zukommen würde...   André schleppte sich den langen Gang entlang und dann passierte es wieder: Seine Sehkraft schwand! Systematisch bedeckte er sein Auge mit dem gesundem Arm und rieb mit seinem Handrücken darüber - jedoch seine Füße bewegte er trotzdem weiter. Das würde gleich vergehen und er würde wieder sehen können! In letzter Zeit war es schon ein paar Male passiert, dass die Sehkraft auf dem gesundem Auge sich urplötzlich verschlechterte und es um ihn herum alles dunkler wurde... Blindlings und auf wackeligen Beinen schwankend erreichte André das Ende des langen Ganges, ohne es zu merken... Somit merkte er auch nicht die Treppe, die am Ende des Ganges in das untere Stockwerk führte... Der Boden verschwand plötzlich unter seinen Füßen und er fiel wie in einen tiefen Abgrund. Mit einem überraschten Aufschrei purzelte er nach unten und blieb am Fuße der Treppe reglos liegen...   „André!“ Der entsetzte Schreckenslaut von seiner Großmutter hallte schrill durch das ganze Anwesen und drang somit bis in den Salon von Oscar. Sophies Schützling eilte unverzüglich herbei und ein eiskalter Schauer überlief ihren Rücken, als sie ihren Freund grotesk und reglos liegend bei den letzten Stufen sah. „Um Gotteswillen, André!!!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)