Herzenswille von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 18: Scheideweg ---------------------- „12. Juli 1789. Oscar und ich sind seit etwa mehr als einer Woche bereits untergetaucht und leben bei Rosalie und Bernard. Vor drei Tagen haben wir uns das Jawort gegeben – natürlich heimlich und in einer kleinen Kirche. Alles musste schnell vonstattengehen. Rosalie und Bernard waren unsere einzigen Trauzeugen. Das wir den Ehebund schließen konnten, verdanken wir Bernard, er hat für uns alles organisiert. Meine Großmutter gab uns auch den Segen, nachdem sie zuvor mir die Leviten gelesen und bedauert hatte, dass sie kein Hochzeitskleid für Oscar nähen konnte. Sie hat sich mittlerweile bei Rosalie und Bernard gut eingelebt und sich mit der Situation abgefunden, so wie meine Oscar und ich. Aber das ist halb so wichtig. Es herrschen unruhige Zeiten und wer weiß, was schon morgen passieren wird. Gestern wurde der Finanzminister seines Amtes enthoben. Seine Absetzung war das Signal für den Aufstand der Bevölkerung. Paris gleicht einem Pulverfass. Tag und Nacht ziehen bewaffnete Menschen durch die Straßen und das Volk ist nicht mehr länger bereit, sich mit den Machtverhältnissen abzufinden. Über hunderttausend Soldaten, die zum Schutz des Königshauses nach Paris beordert worden sind, drangsalieren und bespitzeln die Bevölkerung. Die Lage ist verworren. Sie ist gekennzeichnet von Orientierungslosigkeit, Misstrauen und Brutalität. Soll es denn der Beginn des neuen Zeitalters sein? Ich weiß es nicht... Wie viele Opfer würde es noch geben, bis das große Ziel erreicht ist?“   „Was machst du da, André?“   „Wie?“ André fuhr leicht erschrocken seinen Kopf hoch – er hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand von seiner blinden Seite sich ihm angenähert hatte und ihn beobachtete. „Ach, nichts, Großmutter!“ Er tat unbekümmert und versuchte peinlich berührt sein Schreiben mit einem Arm zu verdecken, ohne dass die frische Tinte dabei verschmiert wurde.   Sophie beäugte ihn misstrauisch. Seit sie über das Liebesgeheimnis ihres Enkels und ihres Schützlings wusste, achtete sie sorgsam auf alle beide und dass sie bloß nicht vor ihr etwas verheimlichten! „Gib es mir!“, verlangte sie gleich von ihm, stemmte eine Hand dabei in die Seite und die andere zog sie schon besitzergreifend vor. „Ich will wissen, was du da schreibst!“ Es könnte ja sein, dass dort etwas stand, was Oscar in Aufregen bringen könnte und das wäre nicht gut für ihren Umstand. André verdeckte noch mehr das kleine, aufgeschlagene Büchlein während seine Großmutter beinahe bedrohlich immer näher kam. Warum war sie nur so neugierig und wissbegierig? Er hoffte inständig, sie möge nachgeben und als wurde er erhört, kam schon die Erlösung.   „Lass ihm doch sein Geheimnis, Sophie.“ Oscar trat unbemerkt an die beiden heran und lugte flüchtig über Andrés Schulter. „Seit wann schreibst du ein Tagebuch?“ Das kleine Büchlein, mit einem dicken und stabilen Einband, hatten Rosalie und Bernard ihnen zu Hochzeit geschenkt. Oscar wusste nichts damit anzufangen, aber André offensichtlich schon und das machte sie auf eine Weise neugierig.   „Ähm... ich...“ Ihr Gemahl suchte nach passenden Worten und lächelte sie verlegen an. Wie sollte er ihr das erklären? Sie würde das bestimmt albern finden und als kindisch betrachten. Oscar nutzte seine Ablenkung aus und schnappte ihm das Buch vor der Nase weg. „Hey, lass das!“, rief er, aber Oscar lief schon in die Kammer, die sie mit André bewohnte und überflog am Fenster die Zeilen.   „Das ist nicht gerade schicklich von dir.“ André folgte ihr auf dem Fuße und umfasste sie von hinten um ihre Mitte.   „Wir sind verheiratet und es gibt keine Geheimnisse zwischen uns.“, gab sie ihm keck zurück und schien im nächsten Augenblick voll und ganz in die niedergeschriebenen Zeilen eingetaucht zu sein.   Andrés Arme glitten ihr an den Seiten entlang und hielten an ihrem Bauch. Sein Kinn legte er auf ihre Schulter ab und seine Finger streichelten ganz zärtlich an der harten Wölbung. „Das schon, aber eben hast du gesagt...“   „Das hast du gut geschrieben.“ Oscar klappte das Buch zu und wandte sich in seinen Armen zu ihm um – seine Hände ruhten nun an ihrer Hüfte und ihr Bauch drängte sich gegen ihn. Die Zeit, die sie hier mit ihm in einer gewissen Harmonie, wenn man das übertriebene Gezeter von Sophie ausschloss, verbracht hatte, hatte ihren Zustand gebessert: Es trat kein Brennen und Rasseln in ihren Lungen mehr auf. Und Bluthusten kam zur Folge nicht mehr vor, was Oscar einerseits fröhlicher stimmte. Sie schmunzelte, als sie das Tagebuch zu machte und es an Andrés Brustkorb legte, als wollte sie es ihm auf diese Weise zurückgeben. „Es ist unwichtig, was ich gerade gesagt habe, wichtig ist, dass wir uns in allen Sachen vertrauen.“   André konnte ihrem hinreißenden Blick nicht widerstehen und lächelte ihr liebevoll zurück. „Da hast du voll recht... und ich vertraue dir voll und ganz.“   „Genau wie ich dir...“   „Ich würde dich jetzt so gerne küssen...“   „Worauf wartest du dann?“ Oscar reckte schon selbst ihren Hals, legte ihre Arme mitsamt dem Tagebuch ihm um den Nacken und zog sich auf ihren Zehenspitzen zu ihm. „Ich bin deine Frau und du hast Anrecht darauf.“   „Aber wenn du nicht willst...“   „Ich will...“, hauchte Oscar und presste ihm schon selbst ihre Lippen auf den Mund.   „Lady Oscar? André?“ Keine Ruhe für die beiden, verdammt...   „Was ist, Rosalie?“ Ungewollt trennte sich Oscar von ihrem Mann und gab ihm beiläufig sein Tagebuch zurück.   „Bernard schickt mich, um Euch in sein Versteck zu bitten.“ Im Keller dieses Wohnhauses veranstaltete Bernard des Öfteren seine Untergrundbewegungen und das war das erste Mal, dass er Oscar und André darum bat, daran teilzunehmen. Ein ungutes Gefühl stieg in allen beiden hoch. „Ist etwas passiert?“, fragten sie fast gleichzeitig.   Rosalie schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Aber einer dieser zwölf freigelassenen Soldaten hat ihn aufgesucht und möchtet euch beide sprechen.“   „Wir kommen!“ Oscar marschierte schon los, André steckte noch sein Tagebuch in die Innentasche seiner Ausgehjacke und folgte ihr. Im Keller des Hauses, als sie dort ankamen, war nichts von einer Bewegung und Anhängern von Bernard zu sehen, stellten sie leicht überrascht fest. Dafür wartete aber ein altbekanntes Gesicht auf sie. „Alain, was machst du hier? Warum bist du nicht im Dienst?“ Wenn Alain sie hier aufsuchte, dann war etwas Schreckliches vorgefallen – Oscar war in Alarmbereitschaft und André stellte sich auch auf alles ein.   Alain salutierte, bevor er sein Gesuch erklärte: „Wir haben heute alle dienstfrei bekommen, Oberst.“   „Ich bin kein Oberst mehr, falls du es vergessen hast.“, erinnerte ihn Oscar, aber Alain beeindruckte es nicht. „Ich gebe zu, Ihr habt für einen schönen Wirbel gesorgt, als es hieß Kommandant Oscar Francois der Jarjayes sei schwanger und ist deshalb mit einem einfachen Stallburschen durchgebrannt. Aber nicht für uns. Eure Männer sind Euch noch immer treu verpflichtet.“ Alain grinste unverhohlen, als sein Blick auf Oscars Leibesmitte glitt. Es beglückte ihn, dass es sein Freund doch noch geschafft hat ihr Herz zu gewinnen. Das war auf einer Weise ein seltsamer Anblick, den kühlen und unnahbaren Oberst de Jarjayes in Umständen zu sehen. Jedoch änderte es nichts an ihrem starken Charakter und unbeugsamen Willen – das wusste Alain, er kannte sie mittlerweile gut genug und deshalb war er hierhergekommen. „Ihr seid mir nichts schuldig.“, hörte er sie sagen und sah ihr wieder ins Gesicht. „Aber lass hören, weshalb du hier bist.“   „Die Lage in Paris hat sich weiterhin verschärft.“, berichtete er sogleich wie auf Befehl: „Die Unruhen nehmen zu. Es kam zu ersten Zusammenstößen mit der Armee.“   „Das haben wir schon in Erfahrung gebracht, Alain“, meinte André, dem das ungute Gefühl immer mehr bestieg.   „Und weiter?“, verlangte Oscar, in der die gleiche, dumpfe Vorahnung wuchs wie in ihrem Gemahl.   „Ich erlaube mir zu melden, dass heute Früh die Abteilung A unter Waffen nach Paris ausgerückt ist. Es wird berichtet, dass Ausnahmezustand herrscht. Selbst Frauen und Kinder haben sich bewaffnet. Die Zustände sind chaotisch.“   Also doch! Alain bezweckte etwas damit und weckte in Oscar den Drang, für Gerechtigkeit sich einzusetzen und das verriet sie, indem sie angespannt die Frage stellte: „Und hat es bereits Opfer gegeben?“   „Nein, bisher noch nicht.“ Alain spürte den mahnenden Blick von André auf sich, dass er nichts erzählen sollte, was Oscar zu einem tollkühnen Entschluss führen würde und bemühte sich daher oberflächlich zu bleiben. „Schließlich sollen über hunderttausende Soldaten für Ruhe und Ordnung sorgen. Die wenigen Waffen, die die Aufständischen haben, sind meistens alt. Damit sind sie ohne Chance gegen uns. Deshalb hatten sie noch keinen Angriff gewagt. Abteilung A ist lediglich für den Notfall ausgerückt.“   „Wenn die Lage sich weiterhin zuspitzt, wird es dann sein, dass auch eure Abteilung nach Paris geschickt wird?“ Oscar merkte selbst nicht, wie sie immer mehr und tiefer in ihr altes Wesen des überlegten Offiziers zurückkehrte.   Das merkte auch Alain. „Das ist sehr wahrscheinlich. Und deshalb hat das Hauptquartier auch angeordnet, die regelmäßige Patrouille der Abteilung B ab heute einzustellen.“   „Ich verstehe. Das heißt Alarmbereitschaft.“, schlussfolgerte Oscar und Alain bestätigte das mit einem knappen „So sieht es aus.“   „Vielen Dank.“ Oscar legte eine Hand auf ihre Bauchwölbung – sie musste über einiges nachdenken und eine wichtige Entscheidung treffen. Dicht hinter sich spürte sie Andrés Anwesenheit und hörte seine Worte, die er allerdings an Alain richtete: „Woher hast du eigentlich diese Informationen?“, wollte er von ihm wissen. Die Nachdenklichkeit von Oscar behagte ihm ganz und gar nicht – er würde mit ihr unter vier Augen noch einmal darüber sprechen und ihr bei der Entscheidung helfen. Aber egal wie und wofür sie sich entscheiden würde, er würde nicht von ihrer Seite weichen und ihr beistehen, was auch passieren mag...   „Von Oberst Dagous, von wem denn sonst. Er ist ja jetzt unser Kommandant“, meinte Alain und sah wieder Oscar an. „Was gedenkt Ihr zu tun?“   „Ich muss darüber nachdenken...“ Oscar deutete ihm damit an, dass das Gespräch zu Ende war und bestätigte das mit den nächsten Worten: „Komm in ein paar Stunden wieder.“   „Jawohl, Oberst.“ Alain verstand und verabschiedete sich. Abends kam er jedoch wieder - mit der gesamten Söldnertruppe. „Es ist soweit!“, meldete er gleich, kaum das Oscar und André zu ihnen in den Untergrund von Bernard kamen. „Wir haben Order vom Hauptquartier des Regiments bekommen. Morgen früh um acht Uhr, Abmarsch der Abteilung B, der französischen Garde unter den Waffen zu den Tuilerien. Der Befehl lautet, die Aufständischen niederzuschlagen!“   „Aber ohne uns!“, rief ein Söldner, Lassalle, für den Oscar sich letztes Jahr beim obersten General eingesetzt hatte und der dann von der Militärpolizei freigelassen wurde. Oscar schob diese Erinnerung beiseite, zurzeit gab es Wichtigeres zu klären. Auch wenn sie ahnte, was jetzt folgen könnte, wollte sie es dennoch wissen: „Was habt Ihr vor?“   „Wir haben uns entschieden.“, erklärte Alain – ganz der Gruppenführer und Fürsprecher seiner Kameraden. „Wir sind uns einig. Wenn es zum Kampf kommt, werden wir unser Regiment verlassen und uns auf die Seite der Aufständischen schlagen!“   „Ja, so ist es!“, bekräftigte die raue Truppe von Söldnern entschlossen und fast im Chor.   „Eine kluge Entscheidung.“, fügte Bernard anerkennend hinzu. Die Freilassung der zwölf Soldaten hatte sich also doch gelohnt und gerade jetzt brauchten sie eine Militärische Unterstützung am meisten.   „Und wer führt euch?“ Oscar blieb sachlich, obwohl sie mehr und mehr ein Kribbeln unter ihrer Haut bekam. „Ich glaube nicht, dass Oberst Dagous damit einverstanden sein wird.“   „Der ist ja auch nicht eingeweiht, Oberst.“ Alain grinste und Oscar verstand mit einem Mal, was er damit meinte... André verstand das mit Entsetzen auch. „Du willst doch nicht etwa sagen, dass Oscar euch führt? Seid ihr deshalb hier?“   „Ganz richtig, André. Wir sind doch alle gleich.“, sagte Alain und schaute zu Oscar. „Also, wenn Ihr ebenso fühlt, dann führt uns. Befehlt uns, auf der Seite des Volkes zu kämpfen, und wir setzen unser Leben ein. Dann seid Ihr auf der richtigen Seite. Das ist besser, als sich herauszuhalten.“   Oscar war hin und her gerissen – zwischen dem Drang, ihre Soldaten zu führen und der Verantwortung, die sie unter ihrem Herzen trug. Nach Alains Besuch von heute früh hatte sie ein langes, vertrauliches Gespräch mit ihrem Mann geführt, alle Möglichkeiten erwogen und nach einer Lösung gesucht, die weder ihnen noch dem Ungeborenen würde schaden können... „Ich will ganz offen zu euch sein.“, begann sie klar und deutlich am Tisch zu sprechen, „Ich befinde mich an einem Scheideweg. So wie es bisher gewesen ist, kann es nicht weitergehen. Aus diesem Grund bin bereit, euch wieder zu führen. Ich kann es nicht mit meinen Gewissen verantworten, wenn auf unschuldige Menschen geschossen wird. Nicht mit meinen Gewissen und nicht vor dem Mann, den ich liebe und dem ich vertraue. Wenn er es für richtig hält, auf der Seite des Volkes zu kämpfen, dann werde ich das auch tun. Es gibt keinen anderen Weg für mich, ich werde an seiner Seite das Leben einer Frau führen – ich wollte, dass ihr alle wisst, woran ihr alle bei mir seid.“ Sie schaute zu ihrem Mann, nahm seine Hand und lächelte ihn matt an. „André, du bist mein Mann, zeig mir den richtigen Weg und ich werde dir folgen.“   „Oscar...“ André war für einen kurzen Moment baff, seine Finger erwiderten den Druck ihrer Hände und er überlegte schnell nach einer passenden Antwort. „Wenn es nach mir ginge, dann würde ich dich bitten, nicht zu kämpfen – schon alleine deines Umstandes wegen.“, entschied auch er sich, „Aber ich weiß, wie es um dein Herz bestellt ist und dass du keine Ruhe mehr finden würdest. Deshalb werde ich an deiner Seite kämpfen und dich beschützen.“   „Ja, führt uns!“, johlten die Soldaten in einem Chor im Hintergrund und die Entscheidung war somit endgültig gefallen. Alain reichte Oscar unvermittelt und über Tisch hinweg seine Hand. „Wir stehen immer zu Euren Diensten, Oberst.“ Und während er Oscars Hand schüttelte, zwinkerte er ihr mit einem Lächeln zu. „Und wenn das geklärt ist, wünsche ich euch beiden viel Glück.“   „Danke.“ Oscar und André waren gleichermaßen zu tiefst berührt. Dann wurde Oscar wieder ernst. „Wir treffen uns morgen früh um acht hier und brechen auf! Wir müssen der königlichen Armeen zuvorkommen und sie von der Toulirien fernhalten!“ Sie schaute zu Bernard. „Während wir sie in Kämpfe verwickeln, werdet ihr auf den Straßen zu den Tuilerien Barrikaden errichten.“   Dieser verstand es nicht so recht. „Barrikaden?“   „Ja, richtig.“, betonte Oscar ganz der alter Offizier vorausschauend und militärisch vorangehend. „Nur dann sind wir in der Lage, es mit der Armee aufzunehmen. Sonst wird unser Kampf aussichtslos sein.“   „Ihr habt recht!“, leuchtete es Bernard ein und war schon selbst Feuer und Flamme. „Ich werde noch heute Nacht meinen Männern Bescheid geben und damit beginnen.“   „Gut.“ Oscar wandte sich zum letzten Mal für heute an ihre Soldaten: „Jetzt geht alle nach Hause und bereitet euch vor.“ Dann verließ sie zusammen mit André den Keller und in ihrer gemeinsamen Schlafkammer suchte sie ihre gut verstaute Uniform, die sie noch nicht abgegeben hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)