Herzenswille von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 22: Zwischen Leben und Tod ---------------------------------- Der Sommer ging vorüber, aber die Revolution dagegen nicht. Viele Bauern marschierten in die große Stadt und hofften auf Mithilfe ihrer Mitmenschen, denn durch das schlechte Wetter war die Ernte verdorben.   Unsanft und kühl streifte der Wind im Oktober über die kahle Erde in Arras und ließ die Menschen darauf hinweisen, wie grausam und gnadenlos der kommende Winter sein würde. Durch mangelnde Nahrungsvorräte, Hungersnot und eisige Kälte würde es noch mehr Todesopfer geben. So, als wäre die zurzeit herrschende Revolution nicht schon schlimm und entsetzlich genug...   Oscar seufzte in den Armen ihres Mannes schwer und André drückte sie sachte an sich. Sie beide standen auf einem Hügel nicht weit von Oscars Haus, das so ähnlich wie in der Normandie zu ihrem Besitz gehörte, und beobachteten den Sonnenaufgang. Es war einerseits erleichternd, die übertriebene Fürsorge von Sophie entkommen zu sein, aber andererseits vertrieb es nicht die eigentliche Sorge: Sorge um die Zukunft von ihnen allen.   „Lady Oscar?“   „Was ist, Gilbert?“ Oscar schob sich etwas aus den Armen ihres Mannes und sofort wurde es um ihre Schultern etwas kühler. Sie hüllte sich in den Wollmantel ein, bedeckte ihren fassrunden Bauch damit und sah den jungen Bauer an. Vor etwa zwanzig Jahren, als er noch ein kleiner Junge war, hatte sie ihm das Leben gerettet und vielleicht war genau diese Tat von damals den Bauern so sehr in Erinnerung geblieben, dass Oscar und ihre kleine Familie deshalb hier in Arras ohne Hass und Verachtung empfangen wurden. Oder vielleicht weil sie André geheiratet hatte, seinen Namen trug und seit dem Sturm auf die Bastille endgültig dem Adel abgeschworen hatte. Es war auch bewundernswert, dass aus Paris und Versailles keine Abordnung kam, um sie zu verhaften und sie dem Militärgericht zu übergeben. Oder dachte man etwa, dass sie bei dem Sturm auf Bastille ums Leben gekommen war und sie deshalb dort in Vergessenheit geriet? Vorstellbar wäre es. Denn sie hatte ja mit eigenen Augen gesehen, was die wütenden Bürger in ihrer Siegeseuphorie mit der Besatzung der Festung angestellt hatten...   „Ihr habt Besuch.“, entriss Gilbert sie aus der grausigen Erinnerung und ging ihnen schon voraus. Er und seine Familie waren Lady Oscar wirklich von Herzen dankbar, denn sie hatte wirklich ein gutes Herz und behandelte jeden Menschen gleich. Schon damals hatte sie das bewiesen, als sie sich für den todkranken Bauernjungen eingesetzt und ihm das Leben gerettet hatte. Wenn alle Adligen wie sie wären, vor allem die Königin und der König, dann wäre die Welt in Ordnung und es gäbe keine Revolution.   Seit sie im Juli nach Arras gekommen war, besserte sich zwar nicht die wirtschaftliche Lage, dafür half sie aber den Bauern wie und wo sie konnte. Und mit jedem Tag bereitete sich Oscar auf den Tag ihrer Niederkunft vor. Sophies übertriebene Fürsorge versuchte sie tagtäglich zu entkommen, indem sie sich um das Wirtschaftliche kümmerte und einen festen, geschäftlichen Kontakt zu dem Wirtshaus „Zum alten Allas“ pflegte. Der Wirt kannte sie ja seit klein auf und erklärte sich freundschaftlich bereit mitzuhelfen. André und Alain gehörten selbstverständlich auch mit dazu.             „Rosalie!“ Was für eine Überraschung! Beherzt drückte Oscar die junge Frau an sich und sogleich keimte ein ungutes Gefühl in ihr. Das war das erste Mal, dass sie Besuch von Rosalie und Bernard bekamen. Aber musste das unbedingt etwas Schlechtes bedeuten? Oscar versuchte ihre dunkle Vorahnung zu verdrängen, schob Rosalie sachte von sich und reichte Bernard die Hand zum Gruß, der bereits von André begrüßt wurde. „Seid bei uns willkommen.“   „Es uns eine Freude, Euch wohlauf zu sehen.“ Bernard warf einen kurzen Blick auf Oscars Bauch und schmunzelte anerkennend. Lady Oscar in einem Umstandskleid zu sehen, war zwar ungewöhnlich, aber vergrub auch damit ihre wahre Existenz und die Vergangenheit eines Offiziers. „Wo ist eigentlich Alain?“, fragte er und um nicht die ganze Zeit Oscar anzusehen, schaute er sich in dem Empfangssalon des Hauses um, als suche er wirklich nach Alain.   „Er ist geschäftlich unterwegs.“ Besser gesagt, er war in dem Wirtshaus „Zum alten Allas“ in ihrem Auftrag und sollte ein paar wichtige Geschäftsideen für den nahendes Winter besprechen. Das war aber in dieser Runde nicht wichtig und Oscar gingen sowieso andere Gedanken im Kopf einher. „Lasst uns lieber an den Tisch setzen.“, lud sie das Ehepaar ein und Sophie machte sich schon auf den Weg in die Küche, um den Tee vorzubereiten.   „Was tut sich in Paris?“, wollte Oscar wissen, nachdem alle vier den Platz an dem kleinen Tisch im Salon einnahmen und merkte sofort, wie die Blicke der Gäste sich verdüsterten. Das hieß nichts Gutes! „Erzählt mir alles!“, verlangte Oscar in etwas erhöhtem Ton.   Rosalie kaute nervös auf der Lippe und warf ihren Mann einen unsicheren Blick zu. Bernard dagegen war keine Emotion oder Gefühlsregung anzusehen. Seiner Meinung nach hatten Lady Oscar und André schon das Recht die aktuelle Lage in Paris zu erfahren. „Tausende Frauen sind nach Versailles marschiert und auf dem Weg dorthin hatten sich ihnen noch mehr Bürger angeschlossen, darunter auch Männer. Sie alle forderten den Kopf der Königin.“   „Wie bitte?“ Auch wenn Oscar ihre Verbannung dem König und der Königin zu verdanken hatte, traf sie das hart.   „Lady Oscar...“ Rosalie ergriff sogleich das Wort und versuchte damit ihre Schutzpatronin zu beruhigen. Auch wenn sie selbst noch etwas nervös war und das Erlebte von gestern ihr noch graute, durfte sich Lady Oscar in ihrem Zustand nicht aufregen. „Ihre Majestät hat sich auf den Balkon gezeigt und das Volk besänftigt.“   „Wie hat sie das geschafft?“, fragte André und schielte zu seiner Frau. Es war ihr nichts anzusehen, was sie dabei empfand und wie sie sich fühlte, aber er kannte sie schon zu gut und wusste über den nahenden Ausbruch. Ihre vorgetäuschte Gelassenheit war meistens die Ruhe vor dem Sturm und er legte ihr deshalb sachte seine Hand auf den Unterarm. Oscar spürte das, erkannte die Bedeutung seiner Berührung darin, aber reagierte nicht darauf. Ihr fordernder Blick fixierte sich nur auf die Gäste und verlangte auf jede noch so kleine Frage eine Antwort!   „Sie hat sich verbeugt.“, murmelte Rosalie mit gesenkter Haltung, als wollte sie damit die Königin nachahmen und Bernard fügte gleich ausdruckslos hinzu: „Man verbannte danach die königliche Familie in den Tuilerienpalais.“   „Aber das Schloss wurde schon seit hundertfünfzig Jahren nicht bewohnt!“, empörte sich Oscar und stand aufgebracht auf. Es ging ihr nicht um das Schloss, sondern zu was die wütenden Menschen fähig waren – das hatte sie ja letztes Jahr am eigenen Leibe erfahren dürfen und stellte sich schon die aller schlimmsten Bilder vor. „Ich muss sofort hin und ihnen beistehen!“   „In Eurem Zustand?“, protestierte Sophie im Hintergrund. Der Tee war zwar nicht fertig, aber es war anscheinend der passende Gedanke, hierher zu kommen und nach ihrem Schützling zu sehen, bis das Wasser für den Tee aufkochte.   „Das ist mir egal!“, knurrte Oscar und setzte ihre Füße in Bewegung. Plötzlich durchfuhr ein heftiger Schmerz ihren Unterleib, ihre Hände fassten mechanisch an den Bauch und sie krümmte sich. André war sofort bei ihr und gab ihr den nötigen Halt. „Was ist denn das?!“, brachte Oscar zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und hörte schon Sophies Ausruf aus der Nähe: „Die Wehen!“ Die alte Dame eilte sofort zu ihrem Schützling, stützte sie von der anderen Seite und führte sich sogleich auf, als wäre sie jetzt die Herrin im Hause. „Ihr müsst jetzt auf Euer Zimmer! André, du hilfst mir sie dorthin zu bringen!“ Flüchtig warf sie auch auf die Gäste einen Blick hin: „Rosalie, schau nach dem Wasser und Tücher in der Küche! Monsieur Bernard, Ihr...“ Wo sollte er denn hin? Es gab keine Zeit zum Überlegen! Ihr Schützling war jetzt wichtiger! Sie überließ daher Bernard sich selbst und half mit ihrem Enkel Lady Oscar auf ihr Schlafzimmer.   „Willst du nicht lieber eine Hebamme holen?“ Oscar mühte sich auf dem Weg dorthin um einen sarkastischen Tonfall. Zugegeben, ihr war Sophie nicht geheuer, dass diese bei der Niederkunft dabei sein würde. Besonders, wenn man bedachte wie alt sie schon war.   „Papperlapapp!“ Sophie ließ sich natürlich nicht davon abbringen. „Ich habe Euch und Eure Schwestern auf die Welt kommen sehen!“   Oscar wusste nicht, was sie davon halten sollte und versuchte nicht daran zu denken. Sie konzentrierte sich lieber, was ihr bevorstand und versuchte ihre Ängste im Keim zu ersticken. Ja, sie hatte Angst davor und dass sie dabei vielleicht etwas falsch machen könnte... Denn Geburten waren nicht ungefährlich – so wie für die Mutter, so auch für das Kind... Und wenn man noch dazu eine Krankheit hatte, bei der man nicht wusste, wie lange ihr das Leben noch vergönnt war, machte das es nur noch schlimmer... Obwohl sie der Bluthusten in letzter Zeit verschont hatte und seit sie in Arras war, zurückgegangen und kaum noch vertretbar war, hieß das trotzdem noch lange nicht, dass es nicht zurückkommen könnte... Oscar bekam ein dumpfes Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, dass etwas Schreckliches passieren würde und in ihrer Lunge begann es zu rasseln...   „Vorsichtig, Liebste.“, versuchte André Oscar und sich selbst zu beruhigen, während er seine Frau auf das Bett absetzte. Er wusste natürlich nichts über Geburten, aber er hatte schon genug darüber gehört, dass es nicht ungefährlich war und die Frauen dabei meistens eine Tortur mit sich machten. Dieses Wissen machten ihm deshalb umso mehr Sorgen um seine Frau. Oscar legte sich rücklings in die Kissen, stellte ihre Beine gebeugt auf und hielt dabei fest die Hand ihres Mannes. „Bleibe bei mir...“, flüsterte sie und verkrampfte sich für einen kurzen Augenblick. „Nur wenn du da bist... werde ich das durchstehen können...“, meinte sie, nachdem die Schmerzen etwas nachließen und versuchte sich gar an einem Lächeln.   André lächelte matt zurück. „Wo sollte ich denn sonst hin? Ich habe mir geschworen, immer bei dir zu sein und das werde ich auch tun.“ Nur für eine kurze Zeit ließ er ihre Hand los, um einen Stuhl zu holen und sich an das Kopfende des Bettes zu setzen. Obwohl er Sorgen und Angst um Oscar hatte, war er dennoch über ihre Bitte erleichtert. Zwar würde er ihr nicht helfen können, aber ihr beistehen und das war gewissermaßen beruhigender, als sich irgendwo anders weit entfernt von ihr die bestimmt quälende und unerträgliche Wartezeit zu vertreiben.   Rosalie kam mit Tüchern und Wasser ins Zimmer und Sophie scheuchte ihren Enkel sogleich hinaus. „Du darfst nicht hier sein!“   „Nein, André, verlass mich nicht...“ Oscar befürchtete, er würde dem Befehl seiner Großmutter Folge leisten und hielt mit noch mehr Druck seine Hand – sie wusste ja, wie die alte Dame war und was für einen großen Respekt André vor ihr hatte.   André erwiderte ihr den Druck und hauchte ihr gar einen Kuss auf den Handrücken. „Ich werde dich nie in meinem Leben verlassen, egal was kommen mag. Wir stehen das gemeinsam durch, Liebste.“   „Das schickt sich nicht!“, protestierte Sophie und machte Anstalten, ihren Enkel vom Stuhl zu schieben und ihn auf diese Weise aus dem Zimmer ihres gebärenden Schützlings zu verbannen. „Die Männer dürfen nicht bei der Niederkunft dabei sein!“   „Das ist mir egal... Wenn er geht, dann werde ich sterben...“, sagte Oscar mitten in den qualvollen Schmerzen der heftig auftretenden Wehen und Sophie musste sich widerwillig dem Willen ihres einstigen Schützlings beugen.       In den nächsten Stunden litt André zusammen mit seiner Frau. Trotzdem und auch wenn er ihr die Schmerzen nicht lindern konnte, so tröstete er sie wenigstens mit sanften Worten und erzählte über glückliche Momente ihres gemeinsamen Lebens. Das gab Oscar die Kraft, die Tortur überstehen zu können. Dennoch gab es Komplikationen, von denen er beinahe in eine Schreckensstarre versetzt wurde! Aber das durfte er nicht! Seine Oscar durfte nichts davon mitbekommen, was seine Großmutter und Rosalie miteinander sprachen! Sophie erwähnte etwas von einem engen Gang und dass das Kind zu groß ist, um durchkommen zu können... Rosalie hatte auch ihre Vermutung erschrocken hinzugefügt, dass das Kind oder die Mutter womöglich... Weiter hatte sie sich nicht geäußert, aber André hatte sie verstanden und ihm wurde bang ums Herz. Er wollte keinen von beiden verlieren!   Oscar hörte seiner belegten Stimme zu und presste. André setzte ein falsches Lächeln auf, aber auch das merkte sie – nur sagte sie nichts dazu. Sie wusste ja, dass etwas nicht stimmte und dass heute eine Seele in das Reich des Himmels steigen würde... Es dürfte aber nicht die Seele ihres Kindes sein! „Ich liebe dich, André... mein Geliebter...“, flüsterte sie in einer Verschnaufpause zwischen den Wehen und musste dann gleich mit schmerzlichen Aufstöhnen wieder pressen.   Ihre Worte waren nicht mehr wie der Hauch eines Windes, aber André hatte sie verstanden. „Meine Oscar...“, hauchte er mit einem dicken Kloß im Hals und mit glasigen Augen beugte er sich zu ihrem Ohr vor. „Ich liebe dich über den Tod hinaus... für immer und ewig... meine Geliebte...“ Tod... Nein! Er hätte am liebsten aufgeschrien, aber das konnte er nicht! Er konnte nicht über Tod und Leben entscheiden... Niemand konnte das!   Oscar spürte die Nässe auf ihren Wangen, die nicht ihre war... Das waren Andrés Tränen, die nun ihre Haut benetzten, als er sich aufrichtete und weiter über glückliche Erlebnisse ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend erzählte. Das war so entsetzlich, wenn er sich verstellte, aber in diesem Moment war Oscar froh darüber. Er wollte sie nicht gehen lassen, dass wusste sie, aber es gab keinen anderen Ausweg. Das war der letzte Kampf und das war ihnen beiden bewusst... Aber welches Leben war wichtiger, bedeutender und stand an ersten Stelle, um gerettet zu werden: Das Leben des Kindes oder das der Mutter? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)