Herzenswille von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 23: Wie der Hauch eines Windes -------------------------------------- Sie stand vor dem erschreckendsten Gerät, das man je gebaut hatte – die Guillotine! Man hatte bereits im Januar dieses Jahres den König damit hingerichtet und nun, an einem düsteren und grauen Oktobertag war die Königin dran... Oscar konnte es nicht mehr länger mit ansehen. „Aufhören!“, schrie ihre Seele und sie selbst bahnte sich schon den Weg durch die eng aneinander stehenden Menschenmassen auf dem Place de la Révolution. Marie Antoinette hatte sie gesehen. Eigentlich war das in der Menge von tausenden Menschen unmöglich, aber Oscar war sich sicher, dass dieser noch immer unbeugsame, würdevolle Blick ihr gegolten hatte! Das hatte sie zu tiefst getroffen und nur mit einem Ziel, die entmachtete Königin zu erreichen, zwängte sie sich durch die Leiber der Zuschauer und versuchte immer schneller voranzukommen, bevor... Obwohl ihr bewusst war, dass sie die Hinrichtung nicht verhindern würde können, aber trotzdem – die langjährigen Dienste in dem königlichen Garderegiment und die Freundschaft, die sie früher Marie Antoinette entgegengebracht hatte, trieben sie dazu... Warum machten die Menschen so etwas Grausames?!   „Oscar, nein!“ André wollte nach ihr greifen, aber sie entschwand ihm und steuerte den Kurs direkt auf die Guillotine zu. Warum machte sie das?! Was wollte sie damit erreichen?! Als würde sie etwas ändern können! Sie sollte froh sein, dass man sie nicht entdeckt hatte, aber das war eben Oscar – unaufhaltsam und stur. In Arras mochten die Menschen sie schätzen und ehren, aber bestimmt nicht hier in Paris! In der großen Stadt rollten nämlich nur so die Köpfe... Von allen, die früher dem monarchistischen Regime gedient, auf Kosten des einfachen Volkes gelebt hatten und auch von denen, die gegen die Revolution waren...   André versuchte seine Frau einzuholen, bevor die hasserfüllten Menschen sie entdeckten. Aber auch das war zu spät! Das Schicksal schien sich gegen sie gewandt zu haben. Nur beiläufig nahm André wahr, wie die große Klinge niedersauste und das Leben der entmachteten Königin beendete. Eine augenblickliche Stille breitete sich aus und gleich darauf folgte ein markerschütternder Schrei: „Nein!!!“   Ein scheinbar junger Mann fiel auf die Knie und schrie sich die Seele aus dem Leib. Die Menschen um ihn herum traten zur Seite und umstellten ihn fassungslos. Er war bürgerlich gekleidet und sie verstanden nicht, warum er wegen der verschwendungssüchtigen Österreicherin so ein Theater machte. Bis der Wind kam und ihm den Strohhut vom Kopf riss. Goldblondes Haar wehte in aller Pracht nach hinten und jemand aus dem Volk schrie gleich entsetzt: „Das ist doch das verfluchte Mannsweib der Königin!“   „Ja, ich erkenne sie auch!“, bestätigte jemand anderes und der dritte spornte gleich darauf an: „Schnappt sie euch!“   Oscar wurde von allen Seiten grob gepackt, auf die Beine hochgerissen und mit heftigen Stößen vorangetrieben. Sie protestierte nicht einmal, sie war wie benommen. Es war zu viel geschehen, in den letzten vier Jahren: der Sturz der Monarchie, die Terrorherrschaft, die Hinrichtungen all diejenigen von Adel, die früher eine wichtige Position in Versailles hatten und nun auch noch das...   Unter grollendem Gejohle, Schlägen und Beschimpfungen schleppte man sie zu Guillotine. Der Rumpf der hingerichteten Königin wurde weggeschafft, um für sie Platz zu machen. Oscar versuchte nicht auf die Menge des Blutes zu sehen, die sich dort gebildet hatte – und nicht in den Korb, wo noch der starre Kopf lag. Was machte sie denn hier?   „Jetzt wirst du deiner Österreicherin folgen!“, höhnte der Henker hinter ihr und dessen Gehilfen drückten sie gewaltsam auf Knien zu Boden. Man verdrehte ihr die Arme am Rücken, packte ihr Haar zu einem Zopf und säbelte ihr es mit einem scharfen Messer ab. Es wurde kühl und frisch in ihrem Nacken... Oscar hob den Blick und schweifte über alle Köpfe der Bürger, die nichts außer Hass, Verachtung und Mordlust ihr entgegen brachten – wie damals vor etwa fünf Jahren bei dem Kutschenüberfall...   Plötzlich, ganz hinten am Rande des Place de Révolution, entdeckte sie einen vermummten Reiter und erstarrte. Wie ein kalter und eiserner Griff umhüllte dessen Anblick ihr Herz – sie hatte den Mann erkannt und er sie ganz bestimmt auch... Er war also auch hier... Oscar war nicht fähig, sich zu regen und verharrte reglos, als wäre sie in einen Stein verwandelt worden...   Wie eine Trophäe hielt der Henker währenddessen ihre goldene Pracht vor allen Menschen und dann warf er es wie Abfall durch die Luft. Oscar war immer noch wie benommen und nahm kaum wahr, was man mit ihr machte. Dennoch war es ihr bewusst, dass sie an der Schwelle des Todes stand. Und das war ihr eigenartigerweise nicht einmal von Bedeutung... Der Reiter, auf dem ihr ausdrucksloser Blick die ganze Zeit ruhte, wendete sein Pferd und ritt fort... Oscar schluckte hart und in dem Moment nahm sie eine tiefe Stimme wahr, die sie hellhörig werden ließ und ihre Lebensgeister wieder erweckte. „Nein! Lasst sie los! Lasst mich durch!“, schrie jemand immer lauter und dann sah sie ihn sich durch die Menge den Weg zu ihr bahnen.   „Nein, André, tu es nicht!“, wollte Oscar ihm entgegen schreien, aber dann überkam sie ein heftiger Husten. Nicht schon wieder! Zwar trat der Bluthusten nur selten auf und sie hatte ihn größten Teils unter Kontrolle, aber es kam auch meistens in den unpassendsten Momenten. Sie wurde vor Schreck abrupt losgelassen, als sie Blut hustete. Der Anfall dauerte zum Glück nicht lange und war nicht so gravierend, aber dennoch schaffte er gewissen Zeit, dass André zu ihr schneller gelangen konnte. Zu überrascht und perplex waren die Herumstehenden für einen Moment, um ihn daran zu hindern.   „Oscar!“ André erreichte sie, warf sich vor ihr auf die Knie und gebot ihr mehr Halt. Er wusste über ihre Krankheit Bescheid, als sie vor vier Jahren kurz nach Niederkunft einen ähnlichen Anfall bekam und ihm die Wahrheit offenbart hatte – an der Schwelle des Todes und nachdem ihr gemeinsames Kind zur Welt gekommen war...   Der Husten ebbte ab. Oscar wischte die Reste des Blutes um ihre Mundwinkel mit dem Zipfel ihres Umhanges ab. „Es geht schon.“, flüsterte sie rau. „Du hättest nicht kommen sollen...“   „Aber, Oscar...“ André schmerzte ihre starrsinnige Wortwahl, aber sie einfach so gehen lassen würde er nicht. Nicht noch einmal! „Wenn du gehst, dann gehe ich auch...“ Er erhob sich und zog sie in die Höhe. Sofort wurden sie von allen Seiten gepackt und voneinander getrennt. „Wer bist du?!“, verlangte der Henker von André zu wissen. Erinnerten sie sich denn gar nicht mehr, wem sie eigentlich den Sturm auf die Bastille vor vier Jahren verdankten? Waren die Bürger etwa durch den Hass auf den Adel und die Monarchie so verblendet, dass sie deshalb zwischen Feind und Freund nicht mehr unterscheiden konnten?   André sah nur Oscar an, soweit es ihm möglich war. „Mein Name ist André Grandier! Ich gehöre zu euch, ich bin nicht vom Adel! Ich bin nur im Hause de Jarjayes aufgewachsen und habe dort vor vielen Jahren als Stallbursche gearbeitet!“   „Und warum mischst du dich ein, wenn du zu uns gehörst?!“, spie der Henker und spuckte abfällig zur Seite.   „Ich biete mein Leben für diese Frau!“, sagte André klar und deutlich.   „Nein!“ Oscar wollte sich aus dem Griff der Männer entreißen und zu ihrem Mann losrennen, aber wurde noch fester gehalten.   „Und warum?“, befragte Henker ihn ungerührt weiter: „Was hast du mit der zu schaffen?!“   „Ich liebe sie!“ Andrés Stimme trug diese drei Worte wie eine Botschaft über viele Köpfe der Herumstehenden und ließ sie für einen kurzen Moment still werden.   „Ein Verräter!“, schrie jemand doch noch aus dem Volk und warf ein Stein nach ihm. „Nieder mit ihm!“   Der Stein traf André auf die Schläfe und dessen Sicht verdunkelte sich. Er stöhnte auf und wurde eigenartigerweise nicht mehr festgehalten. Oscar schaffte es sich loszureißen und eilte zu ihm. „Bitte nicht!“ Gerade rechtzeitig fing sie ihn auf und André schloss sie sogleich in seine Arme. Seine Sicht klärte sich etwas auf und der Blick in ihre himmelblauen Augen erzeugten eine beruhigende Wirkung auf ihn.   Die Menschen beobachteten dieses Szenarium, ohne richtig zu wissen, was sie davon halten sollten. André holte tief Luft und hob erneut seine Stimme: „Ist es etwa Verrat, jemanden zu lieben, der für dich durch das Feuer und durch die Hölle gehen wird, um nur dich glücklich zu machen? Der sogar über sein eigenes Leiden hinwegsieht und bereit ist, sein eigenes Leben zu opfern, aus Liebe zu dir? Oscar hat das gemacht! Sie hatte nie etwas für sich beansprucht! Sie ist der gleiche Mensch, wie wir alle und sie hat schon immer für die Gerechtigkeit gekämpft! Sie ist die wunderbarste Frau, die ich je gesehen habe! Deswegen tötet auch mich, wenn ihr so darauf versessen seid! Denn sie ist mein Leben und ich liebe sie über den Tod hinaus...“   „André...“ Oscar schluchzte ungewollt. „Ich liebe dich aus tiefstem Herzen...“ Sie zog sein Gesicht langsam zu ihr. „Nur einmal... Nur noch einmal möchte ich deine Lippen spüren dürfen... Das ist mein letzter Wunsch, bevor wir im Tod vereint sein werden...“   André berührte ihre Lippen zärtlich mit den seinen und verschmolz mit ihr in einem innigen Kuss. Niemand störte sie. Niemand wagte es sie zu trennen. Dieser Kuss der beiden, ungeachtet davon wer sie waren, verewigte sich in allen Köpfe der Zuschauer. Vielleicht war das ihre reine und bedingungslose Liebe, die alle Menschen die Luft anhalten ließ - für einen Augenblick, der ewig dauerte. Die Welt schien für Bruchteile weniger Minuten aufgehört haben sich zu drehen. Denn die Liebe überdauerte Leid und Tod. Sie lässt alles um sich vergessen und hüllt die Herzen mit der Wärme der Geborgenheit ein.   Die Totenstille breitete sich auf dem Place de la Révolution aus und nur den Wind hörte man pfeifen. Er wehte an den Menschen vorbei, wirbelte die zerstreute goldblonde Haarsträhne von Oscar auf und trug sie fort. Fort von dem Platz, wo zwei liebende Menschen in einer tiefen Umarmung vor tausenden Augenpaaren ihre Liebe bekundeten. So klar und beschwingt, wie der Hauch eines Windes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)