Unseen Souls von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: 6 ------------ Für kurze Zeit umgab uns nur das Zischen des Blattwerkes. Vereinzelte Äste, die uns streiften, während wir uns unseren Weg durch das Dickicht suchten. Wir liefen zügig, pirschten uns durch das Meer der Stämme und schienen einem sicheren Pfad zu folgen. Ich hielt mich hinter Kanda, nicht penetrant, eher so, dass ich ihm im Auge hatte und mir der Tatsache sicher sein konnte, dass er wusste, wohin er mich führte. Leicht und fließend bewegte er sich, schob sich an Stämmen vorbei, neigte sich unter tiefen Ästen und nur selten ertappte ich ihn dabei, wie er orientierende Blicke in alle Richtungen schickte. Ich spürte das trockene Knacken gefrorener Äste unter meinen Stiefeln, schob mich durch ein kahles Gebüsch und binnen kürzester Zeit überquerten wir einen breiten Waldweg. Von einer Seite hinaus aus dem Dickicht und augenblicklich hinein in das andere. Wie zwei flüchtende Schatten in dieser Welt aus Kontrasten. Ein einziges Gewirr aus Ästen erwartete uns auch weiterhin und beiläufig streifte ich einen zur Seite, ließ eine kleine Gruppe mit einem leichten Satz hinter mir und erblickte nicht weit entfernt einen steinernen Hügel, der aus dem Boden ragte. Er wirkte wie ein einziger, weißer Riese und mit einem Satz erreichte Kanda einen schmalen Vorsprung. Er fand sicheren Halt und nur ein knapper Blick war es, mit dem er sich von meiner Anwesenheit überzeugte, bevor er abermals in die Knie ging, leichthin den nächsten, sicheren Platz erreichte und sich über das kalte Gestein tastete. Weiß beschlug sein Atem, als er zur Seite trat, höher stieg und sich zur Spitze zog. Es war schnell geschafft und auch ich setzte hinauf, tat es mit zwei weiten Sprüngen und setzte schlitternd auf der Spitze des Hügels auf. Es war glatt und flatternd umspielte mich der Mantel, unterwarf sich den eisigen Böen, die uns hier oben erreichten. Weit konnte es nicht mehr sein. Nach wenigen, weiteren Schritten war auch Kanda stehengeblieben und in der klirrenden Kälte leise keuchend trat ich neben ihn, spähte an Tim vorbei und zu jenem Tal, das sich vor uns erstreckte. Wir waren weit hinaufgekommen und während ich den Kopf schief legte und jenes Tal durchforstete, wandte sich Kanda zu mir. Er spähte zur Seite, direkt an meinem Schopf vorbei und lehnte sich leicht zurück. Ein weiteres Mal verschaffte er sich einen Überblick und auch sein Atem erreichte mich als weißer Fetzen, brachte mich dazu, mich seinen Beobachtungen anzuschließen. Selbst Timcanpy schien sich dafür zu interessieren und während wir die Momente auch nutzten, um unsere vor Kälte schmerzenden Kehlen zu schonen, ließ er sich auf meiner Schulter nieder. Er verschaffte sich seinen Halt und beiläufig wischte sich Kanda seinen Flügel aus dem Gesicht, als er sich zurücklehnte. Ich vernahm nur ein Ächzen, während ich zu dem grauen, dämmernden Himmel auf spähte und bemerkte, wie erdrückend er wirkte. Vor allem hier an diesem hohen Platz. Wie ein dunkles, trostloses Tuch spannte er sich über die kahlen, ineinander verzweigten Baumkronen, die über unseren Köpfen empor ragten. Nebenbei nahm ich dabei Kandas Bewegung wahr. Wie er nach vorn trat, heran an den steilen Abhang und kurz darauf war er auch schon verschwunden. Er ließ sich hinab schlittern, schnell versiegte das Kratzen seiner Schuhsohlen auf dem Gestein und nachdenklich löste ich mich von diesem Himmel und folgte ihm. Es war so seltsam. Flatternd löste sich Tim von meiner Schulter und so ließ auch ich mich hinab rutschten und erblickte den weißen, schneebeladenen Boden des Waldes, dem ich mich schnell näherte. Selbst in dieser späten Stunde schimmerte er noch und mit einem leichten Satz umging ich verdächtige Kerben im Gestein, setzte im Schnee auf und spürte seinen sanften Widerstand. Kanda pirschte sich bereits weiter und von ihm aus spähte ich erneut nach oben, erhob mich aus der Hocke und setzte mich in Bewegung. Während sich die schwarzen Äste dort oben vor dem dunklen Himmel wie Totenfinger krümmten, war es hier unten so weiß, so rein. Permanent knackte es unter meinen Stiefeln, raschelnd löste sich zu meinen Seiten der Schnee von den Ästen und nicht selten spähte ich ihm nach, wie er zu Boden rieselte und diese weiße Wolke hinterließ, die ihm mit Verspätung folgte. Es waren seltsame Anblicke. Nicht ungewohnt und trotzdem bannten sie mich jedes Jahr aufs Neue. Beiläufig behielt ich Kanda im Blick. Es war nicht schwer. Unsere Uniformen verschmolzen geradezu mit den finsteren Stämmen der Bäume, während sie sich vollends von dem weißen, reinen Schnee abhoben, ja, beinahe abstießen. Als würden wir nicht wirklich hier auf den Erdboden gehören. Mich durchzog eine flüchtige Regung, kurz fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Stirn und war kurz davor, Kanda einzuholen. Dass er seine Schritte verlangsamte, konnte nur davon zeugen, dass wir unser Ziel erreichten. Und ich sah es, als wir aus dem dichten Meer der Stämme auf eine große Lichtung hinaus traten. Gemeinsam ließen wir den Wald hinter uns und mit einem Mal begegnete uns wieder Leben. Der Schrein war ein einziger Komplex. Umzäunt und eingeschneit ähnelten die Gebäude dem Steinernen, das wir bei unserer Ankunft gesehen hatten. Nur größer und ich blickte auf, spähte bis zu den geschwungenen Dächern und folgte Kanda. Vor uns erhoben sich mehrere Gebäude, durch überdachte Gänge miteinander verbunden und umgeben von kleineren Bauten, steinern und hölzern. Kleine Schreine, zwischen denen sich vereinzelt Gestalten bewegten und wir uns gemächlich auf sie zu. In dicke, dunkle Mäntel gehüllt, folgten die Mönche den Wegen, zogen von einem Haus zum anderen und leise vernahm ich auch das Klacken vereinzelter Türen und das Kratzen eines Besens, mit welchem einer der Mönche den Eingangsbereich vom Schnee befreite. Es schien die geeignete Zeit zu sein und unweigerlich lenkte mich das schnarrende Geräusch einer Gebetsmühle ab, die in einem versteckten Winkel des Tempels geschwungen wurde. Es war einer der sonderbaren Orte dieses Landes. Ein stiller, wortloser Platz, den man erreichte, indem man aus dem Nichts des Waldes trat. Von einem der Schreine blickte ich zurück zu dem Mönch, der sich nahe den steinernen Pfosten des Eingangsbereiches bewegte. Er hielt sich gebeugt, führte den Besen trotz seines beachtlichen Alters entschlossen und schon hob sich meine Hand vor mein Gesicht und sicherte den Halt der Kapuze, als wir den Mönch erreichten. Er war auf uns aufmerksam geworden, stemmte sich auf den Besen, nutzte ihn als Stütze und in den ersten Momenten des Schweigens verfolgte ich eine knappe Verbeugung. Eine stille Begrüßung Kandas, der sich der Mönch anschloss. Eine kalte Böe drängte sich in unseren Rücken und verschluckte die ersten Worte, die Kanda an den Mönch richtete. Sobald dieses Pfeifen in meinen Ohren erstarb, spähte ich zu ihm. Es war ungewohnt und mir schon eher aufgefallen. Auch als er sein Essen bestellte. Aber in diesem Moment war es nicht mehr als ein beiläufiges Brummen gewesen, gehüllt in Worte, die ich nicht verstand. Die Augen auf den Mönch gerichtet, erhielt er dessen gesamte Aufmerksamkeit und unweigerlich drifteten meine Augen zu seinen Lippen. Sie bewegten sich fließend, wenige Augenblicke länger, bis sie verstummten und sich das Raunen des Mönches erhob. Es war eine seltsame Sprache, die ich nicht zum ersten Mal hörte. Aber das erste Mal von Kanda und während er zu den Worten des alten Mönches nur nickte, wandte ich mich ab. Als die Aufmerksamkeit des Mönches auch auf mich traf, kommentierte Kanda es nur mit wenigen Worten, mit denen sich der Alte zufrieden gab. Wenige Augenblicke später folgten wir ihm durch den Eingang und zu dem ersten großen Gebäude der Tempelanlage. Wir hielten uns hinter ihm, passten uns seinen schlürfenden, langsamen Schritten an. Unter der Kälte verschränkte ich die Arme vor dem Bauch und bewegte die Schultern unter dem dicken Stoff des Mantels. Scheinbar hatte man Zeit für uns und so hielt ich mich schweigend neben Kanda und trat kurz darauf in das warme Innere des Gebäudes. Die steinernen, dicken Fassaden versteckten hinter sich ein säuberliches, wenn auch simples hölzernes Innenleben. Es schien ein Mönch hohen Ranges zu sein, der sich Zeit für uns nahm. Wir wurden in einen kleinen, mit Holz ausgestatteten Raum geführt und wieder erhoben sich die unverständlichen Worte, als der Mönch uns seinem Genossen vorstellte. Nur ein kurzes Gemurmel, dem Kanda schweigend lauschte und keine lange Zeit verging, bis man uns mit dem Mönch, ebenfalls einem Mann hohen Alters, alleine ließ. Schlürfende Schritte verrieten, wie sich der andere entfernte und es blieb bei einem stillen Zunicken und einem seltsamen, wortlosen Verständnis, bevor Kanda den Mantel zurückschlug und vor dem Lager des Mönches niederkniete. Er bewegte sich ungezwungen und trotzdem meinte ich, seinen Regungen mehr Stolz zu entnehmen, als meinen, in denen ich es ihm gleichtat. Auch seine Haltung. Er hielt sich aufrecht und während ich die Schultern senkte und es mir einfach bequem machte, wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass es bei ihm eigentlich noch nie anders gewesen war. Er bewegte sich anders, verhielt sich anders als ich. Schon immer und in diese knappen Grübeleien vertieft, schenkte ich der Musterung des Mönches kaum Beachtung. Erst als er erneut die Stimme erhob, blickte ich auf und es schien bei einer kurzen Frage zu bleiben. Sie wurde eher an Kanda gerichtet und was auch immer er sagte, wie er den Verlauf auch bog, damit hier und jetzt kein Misstrauen entstand, unser Gegenüber hörte aufmerksam zu und bald senkte er den Kopf unter einem langsamen, andächtigen Nicken. Wieder spähte ich zu Kanda, der dem Mönch keine Zeit für eine Antwort ließ. Fließend fuhr er fort und obwohl über seine Lippen ein Strom aus seltsamen Ausdrücken kam, war mein Interesse geweckt. Mich jetzt um die Fakten zu kümmern, die hier besprochen wurden, hätte mir herzlich wenig gebracht und so saß ich nur weiterhin dort, die Reaktionen des Mönches studierend und ebenso die ruhige, jedoch forschende Tonlage, der Kanda verfiel. Es war so anders. Ganz anders, als in dem tagtäglichen Geschehen, in dem wir steckten und meine Muttersprache nutzten. Ich hatte gelernt, seine Stimmlage einzuordnen. Die verschiedenen Facetten, die sie in ebenso verschiedenen Situationen aufwies. Im Eifer des Gefechtes. Ich wusste, wie er sich anhörte, wenn er schrie. Daheim. Manche seiner sarkastischen Untertöne schien er eigens für mich entwickelt zu haben. Andere Lagen, andere Zustände und immer war da das offenkundige Murren und die deutliche Unzufriedenheit über Dinge, an denen man so oder so nichts ändern konnte. Nur hier und jetzt offenbarte sich mir eine völlig unbekannte Stimmlage. Ein sauberer, klarer Redefluss, ohne dass er den Mönch zu beleidigen oder zu bedrohen schien. Und ich lauschte aufmerksam, hörte zu und doch wieder nicht. Es war wohl egal, an welcher Sprache er sich bediente, auch egal, ob er seine Entschlossenheit tarnte oder sie offen und barsch vor fremde Füße warf. Letztlich verrieten mir seine Augen in jedem Moment, dass er sicher auf eine zufriedenstellende Antwort hinarbeitete. Konzentriert ließen sie sich keine Reaktion des Mannes entgehen und flüchtig hob er die Hand zu einer seltsamen Geste, bevor er verstummte und dem Mönch das Wort überließ. Ein Nicken und kurz saßen wir in nachdenklicher Stille dort, bevor sich die raue Stimme des Alten erhob und er zu erzählen begann. Ich fühlte, spürte oder glaubte zu wissen, dass diese Worte von großer Wichtigkeit waren. Es mussten Antworten sein, Erklärungen, die wir brauchten und von dem Gesicht des Priesters spähte ich nicht selten zu Kanda. Was auch immer er hörte, er regte sich kaum und nur einmal ertappte ich ihn dabei, wie er den Blickkontakt zu dem Mann unterbrach und flüchtig zu Boden sah. Seine Lippen schürzten sich, doch kurz darauf fand er zur alten Aufmerksamkeit zurück. Es waren nur wenige, weitere Worte, bis es sich nach dem Ende des Gespräches anhörte. Man schien zu einem Punkt gekommen zu sein, an dem auch Kanda nicht mehr viel zu sagen hatte. Eine kurze Stille brach über uns herein, in der wir von den erfahrenen Augen des Mannes gemustert wurden und die Kanda offensichtlich mit wenigen weiteren Grübeleien füllte. Es war nicht umsonst gewesen, es existierte eine Einsicht, die ich kennenlernen wollte. Der Inhalt des Gespräches und die Früchte, die dieses trug. Aber ich hatte mich zu gedulden. Während Kanda sich von dem Priester verabschiedete und auch während wir den Raum verließen und uns den Rückweg zum Eingang des Schreins suchten. Kanda schien es nicht mehr eilig zu haben. Gemächlich hielt er sich vor mir und kurz bevor wir zurück in die eisige Kälte der Nacht traten, schien er sich von einigen Gedanken zu befreien. Seine Bewegungen zeugten von der alten Zielstrebigkeit und als uns die erste, kalte Brise begrüßte, zogen wir die Mäntel enger, stets auf den Waldrand zusteuernd, von dem wir gekommen waren. Und ich wartete, hielt mich neben ihm und spähte kurz zurück zu jenen Mauern, bevor wir in das Meer der Stämme eintauchten. Sein Schweigen währte lange und ich tat mir keinen Zwang an, als ich neben ihm durch das Unterholz stieg. Ich stellte jene Frage und die dunklen Augen auf den vor uns liegenden Weg gerichtet, erhob er dann endlich die Stimme. „Der Guji besaß ein Relikt, das für heilig erklärt wurde.“ Ich spähte zu ihm, umging einen verdorrten, kahlen Strauch. „Ein Relikt, das in seiner Generation weitergegeben wurde. Da er keine Nachkommen hatte, wurde es mit ihm begraben.“ „Was ist das für ein Relikt?“, erkundigte ich mich. Es war nicht so, dass es nicht Vermutungen in mir gab. Die Worte ließen auf eine gewisse Sache schließen und sobald ich darüber nachzudenken begann, erkannte ich die Schwierigkeit, die dahintersteckte. Dieses Relikt schlummerte gemeinsam mit dem Verstorbenen unter der Erde des Friedhofes. An einem Ort, der heilig war. Ich hatte es mir gedacht. Seit langem und seit ich mir diese gefrorene Erde betrachtete, die den Grabstein umgab. Eine eisige Böe erfasste uns und ließ mich blinzeln. Neben mir tastete sich Kanda an einem Baumstamm vorbei. „Es handelt sich um einen Kristall, der von innen heraus leuchtet“, vernahm ich seine Stimme. „Seit zweihundert Jahren.“ Ich begann den Inhalt des Gespräches zu begreifen, zu grübeln und mich einem Punkt zu nähern, der mich auf unangenehme Einsichten stoßen ließ. Das alte Schweigen brach über uns herein und für kurze Zeit begleitete uns nur das Knacken der Äste, die wir unter unseren Stiefeln begruben. Mehr gab es dazu nicht zu sagen? Ich zog die Nase hoch, verbarg mich fröstelnd in meinem Mantel und ich stellte mir die Frage, ob ich der einzige war, der mit diesem unguten Gefühl lebte und mit dem bitteren Vorgeschmack zu ringen hatte. Es war ein heiliger Friedhof sowie die Ruhestätte eines heiligen Mannes. Ein Ort des Friedens, so wie es alle Begräbnisstätten waren. Wie man es drehte und wendete, wie man es auch schön redete und sich die Notwendigkeit vor Augen führte, was wir vor uns hatten, war Grabschändung in besonders schwerem Fall. Wir hatten den letzten Frieden zu stören, Hand an einen Stein zu legen, der bis in alle Ewigkeit unangetastet hätte bleiben sollen und sofort kamen mir Kandas Worte in den Sinn. Seine Überzeugung, mit der er den Finder zurechtwies und ihn aufforderte, dem Ort den angemessenen Respekt zu zollen. Und es waren nur Worte gewesen, die er für zu laut hielt. Versteckt fanden meine Augen abermals zu ihm, doch bei jedem seiner Schritte, bei jeder seiner Gesten fiel mir auf, dass er so war wie immer. Wie konnte er damit zufrieden sein? War er es? Es war seine Kultur, die wir verletzen würden. Was für einen inneren Konflikt musste all das heraufbeschwören? Er nahm den Rückweg auf sich, als fürchte er sich nicht vor den Vorgehensweisen, die wir an unserem Ziel ergreifen mussten. Sein Einsatz für den Orden war rigoros. Ich hatte ihn noch nie zögern gesehen. Nicht binnen all der Monate, die wir uns kannten oder zumindest glaubten, es zu tun. Mir offenbarte sich hier eine interessante Situation, ein Ausnahmezustand, in dem Kanda doch nicht vom gewohnten Weg abwich. Er war ein Mensch, blieb menschlich und wie zielstrebig er sich auch bewegte und wie eisern seine Mimik auch blieb, es war ausgeschlossen, dass es nicht zumindest ein Zögern in ihm gab. Ich musste nur warten. Auf diesen einen Moment, an dem sich sein Unmut an die Oberfläche kämpfte. „Wir öffnen das Grab.“ Er sagte es, kaum dass wir vor Crowley und dem Finder standen und natürlich verfielen sie sofort der angemessenen Bestürzung. Ich musterte Kanda. Die Bewegungen, mit denen er den Sitz seiner Handschuhe festigte. Nervös blickte der Finder um sich. Wir standen inmitten dieses stillen Friedens und weiterhin blieb ich stumm und in meine Gedanken vertieft. „Das Grab öffnen?“, wiederholte Crowley und kurz darauf lenkten sich unsere Augen auf jenen Fleck. Wir wandten uns um, spähten hinüber und Kanda blieb mit seinen Handschuhen beschäftigt. „Hier werden die Toten eingeäschert“, fuhr er fort. „Die Urne liegt nicht tief. Das Innocence wurde ihr beigelegt, also wird es nicht schwer.“ Fast hörte ich das trockene Schlucken Crowleys. Wer in dieser Situation an einem Aberglauben hing, hatte es schwer. Der Finder machte den Anschein, sich in genau dieser Lage zu befinden. Er stand zögernd dort und sobald sich Kanda in Bewegung setzte, lenkte sich die gesamte Aufmerksamkeit auf ihn. Wir sollten es hinter uns bringen und er machte den Anfang. Es war ein hölzerner Schuppen außerhalb des Friedhofes, auf den er zusteuerte und auch ich machte mich auf den Weg dorthin. Es ging schnell. Mit einem Ruck wurde die von dem Schnee feuchte, hölzerne Tür geöffnet und kaum hatte auch ich den Schuppen erreicht, zog Kanda schon einen Spaten ins Freie und an mir vorbei. Wann kam es - sein Zögern? Seine Schritte blieben so zielstrebig wie zu Beginn und ich kam nicht umhin, ihm nachzusehen, bevor auch ich mir einen Spaten nahm und auf das Grab zusteuerte. Crowley und der Finder hatten sich scheinbar von dem Zögern befreit. Wenn sie es auch nicht so eilig hatten, sie besorgten sich ebenfalls die Geräte, als Kanda und ich schon vor dem Grabstein standen. Die Nacht wurde kälter und kratzend bewegte sich der Spaten auf dem gefrorenen Boden, als ich mich auf ihn stützte. Wir waren allein und diese finsteren Stunden die einzigen, die wir nutzen konnten. Bevor die Sonne aufging und es die Trauernden des Dorfes zurück zu diesem Ort zog. Neben mir schlug Kanda den Mantel zurück, versenkte den Spaten mit einer raschen Bewegung in der Erde und ließ ihn stecken, um die Abgrenzung zu übertreten. Ich blieb auf meinen Spaten gestützt, regte die Hände auf dem hölzernen Knauf und verfolgte, wie er das Grab von allen Gefäßen befreite. Von Kerzen, den Halterungen der Räucherstäbchen sowie wenigen Blumen. Er war so fixiert wie bei jedem Auftrag und ich stand dort und beobachtete ihn. Bei ihm waren es nur wenige Emotionen, die nach außen drangen. Zu selten konnte man seine Gedanken erahnen und ebenso verschlossen zeigte er sich auch diesmal. Sein striktes Handeln versetzte mich mit jeder Sekunde mehr in die Nähe gewisser Zweifel. Man wusste es bei ihm nie. Regte sich etwas in ihm, das man nicht sah oder sah man nichts, weil sich nichts in ihm regte? Ihn zu durchschauen war unmöglich und kaum riss er den Spaten aus der gefrorenen Erde, um sich an dem Grab zu schaffen zu machen, presste ich die Lippen aufeinander. War er so gehorsam und auf seine Pflichten fixiert, dass es ihm wirklich nichts ausmachte? Überschritt er diese Grenze problemlos? Er fühlte sich ernüchternd an, dieser Gedanke. Verlor man sein Mitgefühl, wenn man dem Orden so lange diente, wie er es tat? Würde auch ich bald über nichts mehr nachdenken, was heilig war? Und er rammte den Spaten in die Erde, jagte ihn mit dem Fuß tiefer und scherte sich nicht um meine anhaltende Zurückhaltung. Schon hebelte er die erste Erde heraus und dumpf landete sie neben mir auf dem Weg. Möglicherweise war er wirklich so. Ich riss mich los, gesellte ich mich zu ihm und versenkte auch meinen Spaten im harten Untergrund. Ich konnte es mir nicht erklären aber ich befürchtete, enttäuscht von ihm zu sein. Er zeigte so oft Regungen, die ihn menschlich machten. Macken, Schwächen und eine unzumutbare Launenhaftigkeit. All das hatte ihm in meinen Augen immer eine Humanität geschenkt, die ich hier und jetzt nicht erlebte. Mir gegenüber arbeitete womöglich jemand ohne Gewissen an einer fragwürdigen Aufgabe und ich half ihm, rammte den Spaten hinab und jagte ihn mit dem Fuß tiefer. Was war die versteckte Zuneigung zu Linali, wenn er sich in Gebieten wie diesen so benahm? Vor mir tat sich ein schierer Zwiespalt auf und kopfschüttelnd löste ich mich von diesem Denken. Jede Ausnahmesituation, in der ich ihn erlebte, verwirrte mich. Ein klares Bild hatte ich von ihm nie gehabt und vermutlich würde es von hier an nur weiterhin verschwimmen. Er war undurchschaubar, mir völlig unbegreiflich, und würde es wohl auf ewig bleiben. Bald schaufelten wir zu dritt. Mehr Platz blieb nicht und so stand der Finder tatenlos neben uns, die Augen aufmerksam in der Umgebung. Er schien Besuch zu befürchten und wenn man es recht bedachte, wäre das Auftauchen eines Menschen in diesen Momenten beinahe katastrophaler als das eines Akuma. Wir kamen schnell tiefer. Sobald die obere, gefrorene Schicht abgetragen war, wurde die Erde weicher. Wie Kanda es sagte, die Urne konnte nicht zu tief liegen und wirklich hielten wir alle abrupt inne, als Crowleys Spaten auf einen Widerstand traf. Einen halben Meter, tiefer waren wir kaum gekommen und mit einem knappen Wink scheuchte Kanda uns zurück und warf den Spaten zur Seite. Wir hatten es geschafft und während er neben dem Loch in die Knie ging, beugten wir uns nach vorn. Es war so leicht gewesen. In dieser Kürze hatten wir nur selten ein Innocence gefunden und fast erhellte diese Zufriedenheit die Finsternis dieses verbotenen Aktes. Die ersten Handgriffe waren das Schwerste gewesen und nun, da das Grab ohnehin geöffnet war, fiel ein spürbarer Teil der Hemmung von uns. Abermals auf den Spaten gestützt, verfolgte ich, wie Kanda sich in das Loch beugte. Seine Finger gruben sich in die gelockerte Erde und tasteten, bis sie das Gefäß zu fassen bekamen. Es war steinern und leicht als Urne zu identifizieren. Umschlossen wurde sie von einem kunstvollen Band, auch von einem Siegel, das dafür sorgte, dass sie nimmer mehr geöffnet wurde. Und das musste sie auch nicht. Das Relikt sollte beiliegen. So hatte es Kanda gesagt und so stellte er die Urne neben sich und tauchte wieder in die Finsternis der Grube ein. Er tastete erneut, seine Hand durchkämmte die Erde und je länger er es tat, desto seltsamer wurde die Situation. Es war nicht da. Nachdenklich beugte ich mich über die Grube, Crowley murmelte etwas und Kanda beendete die Suche. Er stemmte sich hinauf, schüttelte die Erde vom Handschuh und rümpfte die Nase. Nichts an diesem Ort hatte den Anschein erweckt, als wäre jemand schneller gewesen. Vor uns war alles unangetastet geblieben und flüchtig rieb ich mir das Kinn. Meine Augen verloren das Interesse an dem Grab, drifteten höher und genau wie ich wandte sich auch Kanda der Urne zu. Die Situation wurde noch unliebsamer. Es konnte nur eine Lösung geben und kurz darauf starrten wir alle auf diese Urne. Sie war so fest versiegelt, sie barg etwas Wertvolles und ein Seufzen drang aus Crowleys Richtung. Wir alle dachten dasselbe und Kanda handelte ernüchternd schnell. Seine Hände fanden die Urne und zu dem harten Siegel aus Wachs. Zischend zog er ein kleines Messer aus einer versteckten Scheide, wendete es in der Hand und keine Sekunde verging, da setzte er die Klinge auch schon an das Band und durchschnitt es. Ich verfolgte diese gnadenlosen Handgriffe, mit denen er das Band von der Urne löste und das Messer wieder verschwinden ließ, bevor er den Deckel des steinernen Gefäßes umfasste und ihn abhob. Mit einem Räuspern machte der Finder auf sich aufmerksam, mit großen Augen neigte sich Crowley nach vorne und Kanda legte den Deckel neben sich ab. Kein Leuchten drang durch die helle Asche und kaum war mir in den Sinn gekommen, was es als nächstes zu tun gab, da tat Kanda es bereits. Er versenkte die Finger in der Asche des heiligen Mannes und begann zu tasten. Das Behältnis war nicht groß und er brauchte nur einen Augenblick, um fündig zu werden. Seine Finger hielten etwas umfasst und wirklich wurde die nahe Umgebung in einen leichten Schein gehüllt, als er das Relikt ins Freie zog. Das grünliche Leuchten verbarg sich inmitten eines Kristalls. Wir hatten es. Ich fing es auf, als Kanda es mir zuwarf. Es war vollbracht und wie betrachteten wir uns das Fundstück, während Kanda bereits nach dem Deckel der Urne griff. Seine Bewegungen verloren mein Interesse. Die Überwindung hatte sich gelohnt und als ich den Kristall an Crowley weitergab, hatte Kanda die Urne bereits wieder im Grab verstaut. Das Band, wenn auch zerschnitten, hatte seinen alten Platz gefunden und flüchtig befreite er sein Gesicht von vereinzelten Strähnen, bevor er auf die Beine kam und sich nach seinem Spaten umsah. „Was steht ihr hier noch herum?“, hörte ich ihn fragen. Sein Fuß setzt sich auf die gefrorene Erde, die wir aus dem Grab geholt hatten. „Geht zurück und erstattet Meldung.“ Es waren Worte, die Crowley mit einem Nicken abtat, mich jedoch in ein abruptes Zögern stürzten. Von Kanda spähte ich zu Crowley, auch zu dem Finder. Sie hatten sich an diesem Ort nie wohlgefühlt. Sicher verstaute Crowley das Innocence unter einer Falte seines Mantels und der Finder nahm die Spaten an sich, während Kanda seinen zurück in die Erde rammte. Und abermals versuchte ich in ihm zu lesen, in seinem Gesicht oder seinen Bewegungen den Grund für diese Worte zu finden. Dies war ein weiterer Punkt, an welchem ich nicht verstand, worauf er aus war, wie er dachte und ich konnte ihn so verstohlen mustern wie ich wollte, seine Worte waren deutlich und vor allem das Unverständnis war es, das mich dazu brachte, dieser Direktheit zu folgen. Ich tat es nur langsam, als der Finder zurückkehrte und unsere Spaten sich als verstaut betrachten konnten. Kanda blieb zurück und auch als wir uns in Bewegung setzten, stand er nur dort, regte die Hand auf dem Griff des Spatens und blickte sich um. Seine Augen schienen den Boden abzutasten, nach etwas zu suchen und ich presste die Lippen aufeinander, bevor ich ihm den Rücken kehrte und Crowley und dem Finder durch die Reihen der Gräber folgte. Ich schaute nicht zurück, tastete nur nach Tim und zog ihn zu mir. „Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass dieser Auftrag so leicht wird.“ Seufzend schlug sich Crowley in das Dickicht, hatte mit so einigen Ästen zu ringen, die sich ihm entgegen neigten. Er hatte Recht und auch der Finder war erleichtert. Es hatte kaum ein Gefecht gegeben. Der Kampf war nicht als ein solches zu bezeichnen. Es war so schnell gegangen und jetzt, kaum zwei Stunden, nachdem Kanda und ich den Schrein verließen, war es getan. Ich spürte die harten Äste unter meinen Stiefeln, verschränkte im Schutz des Mantels die Arme vor dem Bauch und senkte das Gesicht. Meine Schritte gefielen mir nicht. Vor allem nicht die Tatsache, dass ich mich von einem Ort entfernte, wo etwas geschah, das nicht für unsere Augen bestimmt war. Weshalb Kanda darauf bestand, das Grab alleine zu schließen, ohne Hilfe und ungesehen. Natürlich bekamen mich die alten Grübeleien zu fassen. Erwartungen, die sich doch nur in seltsame Gefilde erstreckten. Ich konnte ahnen, konnte schätzen, aber ich wollte es sehen. Verstohlen blickte ich auf und musterte die Rücken meiner Vordermänner. Unbesorgt führten sie Gespräche und bemerkten nicht sofort, dass die Geräusche meiner Schritte hinter ihnen verstummten, dass ich innehielt und zurückblickte. Wir waren weit genug entfernt. Eine breite Mauer von Stämmen trennte uns von Kanda. „Allen?“ Crowley war stehen geblieben und kaum spürte seinen fragenden Blick, da schnellte ein Lächeln über meine Lippen. „Ich denke, ich gehe noch etwas spazieren und komme nach“, sagte ich und wies mit einer knappen Kopfbewegung zur Seite. Wir hatten den Auftrag erfüllt. Bericht erstatten konnte auch einer von uns und so kamen keine Fragen auf. Nur Verständnis gegenüber dieser selbstverständlichen Sache. So setzten sich die beiden wieder in Bewegung und ließen mich inmitten der Bäume zurück. Aufmerksam behielt ich mein Lächeln bei und wirklich, Crowley ging nur wenige Schritte, bevor er sich umdrehte und entspannt hob ich die Hand und winkte. Es war alles in Ordnung und kaum sah ich wieder die Rücken der beiden, wie sie in der Finsternis des Waldes allmählich verblassten, da verblasste auch der Ausdruck auf meinen Lippen. Langsam schloss ich die erhobene Hand, ließ sie sinken und schöpfte tiefen Atem. Ich hätte nicht weitergehen können. Keinen Schritt, ohne zu wissen, was hinter mir lag. Es war ein seltener Moment, in dem ich eine Seite an Kanda eventuell durchschauen konnte. Mich interessierte, was er tat. Natürlich interessierte es mich, genau wie jede Möglichkeit, ihn besser zu verstehen, mich seinem wahren Charakter zu nähern und alles hinter mir zu lassen, womit er diesen gewöhnlicherweise tarnte. Ich wollte ihn sehen. So wie er wirklich war. Vermutlich blieben die einzigen Möglichkeiten die, in denen er sich nicht beobachtet fühlte. Ich drehte mich um. Fragen wollte ich genauso wenig beantworten wie er und so ging ich leise und an verräterischen Stöcken vorbei. Selbst das Flattern meines Golems unterdrückte ich, indem ich ihn seiner Freiheit beraubte und unter meinem Mantel verstaute. Lautlos zog ich auch die Kapuze über meinen Schopf, passte mich der Dunkelheit an und es brauchte nicht viele Schritte, bis ich das Ende der Bäume vor mir sah und einen winzigen Teil der Lichtung, auf der sich jener Friedhof erstreckte. Ich schob mich an einem Gebüsch vorbei, wollte nur soweit gehen, bis sich mir eine etwas bessere Sicht bot. Schon jetzt waren es Geräusche, die zu mir drangen. Ich hörte das Kratzen des Spatens in der Erde, das Zischen, als er tiefer in sie drang und den dumpfen Laut, mit welchem sie an einem anderen Platz landete. Langsam hob ich die Hand, tastete mich zum nächsten Baum und tat den letzten Schritt so zaghaft, dass meine Bewegung zwischen den Bäumen nicht auszumachen war. Wie ein Tier, das sich anpirschte, um einen Erfolg zu erleben. Und ich hatte ihn vor mir, als meine Augen ungehindert zwischen zwei Stämme dringen konnten. Meine Hand blieb auf die Rinde des Baumes gebettet und stockend lehnte ich mich gegen sie. Kalt drang die Luft an meine Augen. Ich spürte dieses Brennen und blinzelte dennoch nicht. Beiläufig wurde der Spaten fallen gelassen. Kanda warf ihn zur Seite, als sich die Grube vor ihm mit der alten Erde gefüllt hatte. Die Oberfläche war beinahe eben und trotzdem nicht eben genug. Er ging in die Knie und drückte die Erde glatt. Gemächlich und mit den Händen und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals den Fuß auf diesen Fleck gesetzt hätte. Nein, auch jetzt kauerte er keineswegs auf der Erde, die zu dem Grab gehörte. Lieber beugte er sich weit nach vorn, strich über die bald ebene Fläche und schien zufrieden. Es war nur ein kurzer Moment, in welchem er das Resultat begutachtete und für gut befand. Jedoch nicht perfekt. Es waren die kleinen Gefäße und Blumen, die fehlten und nur selten hatte ich bei ihm solch ruhige Bewegungen gesehen. Er griff nach den Gefäßen, als bestünden sie aus dem fragilsten Glas und ich war mir dessen nicht sicher, doch es wirkte, als wurden sie auf dieselben Stellen zurückgesetzt, von denen sie genommen worden waren. Er hatte darauf geachtet. Eine Aufmerksamkeit, die sich gekonnt hinter seinem Tatendrang versteckte. Sie musste so kurz gewesen sein und doch so intensiv. Vorsichtig wurden sie auf die Erde zurückgesetzt, leicht in den Untergrund gedrückt und kurz sah ich ihn auch an den Blumen hantieren. Sie wurden tiefer in die Vase geschoben und kurz und präzise zurechtgerückt. Meine Lippen wurden trocken und meine Augen machten mich darauf aufmerksam, dass ich noch immer nicht geblinzelt hatte. Ich tat es schnell, befürchtete auch nur eine Sekunde dieses abstrusen Schauspiels zu verpassen. Es war so einzigartig. Unvorstellbar. Doch ich wurde Zeuge und ohne dass ich es bemerkte, sank mein Körper gegen den Stamm. Nur stockend schürzte ich die Lippen und befeuchtete sie mit der Zunge. Bald waren alle Stücke wieder am alten Platz. Hie und da wurde noch gerückt und die nächste Bewegung schien ein Fremder auszuführen. Seine Hand hob sich, strich mit solch einer Vorsicht über die eingemeißelte Schrift des Grabsteines, um sie von der Erde zu befreien, dass es nicht Kanda sein konnte. Er wischte, streifte das Gestein nur leicht und anschließend hockte er dort, schien das Bild abermals zu kontrollieren und neigte sich zur Seite. Worauf seine nächsten Bewegungen aus waren, konnte ich kaum erkennen. Er griff nach einem der Gegenstände, beschäftigte sich mit ihm und erst als die Flamme eines Streichholzes aufloderte, bot sich meinen Augen das genaue Bild. Sachte hielt er es, schützte es mit der anderen Hand vor dem Wind und langte kurz darauf nach einer hölzernen Schachtel. Ein Stäbchen war es, das er hervorzog und über die Flamme hob. Sie zitterte, bebte aber sie hielt durch und schon stieg Rauch von dem Stäbchen auf. Eines der Utensilien des Grabes. Unablässig stieg der hellgraue Rauch auf und ich bemerkte kaum, wie ich den Kopf reckte, als er das Stäbchen flüchtig vor dem Grab bewegte. Verspielt umfing der Rauch das Gestein, folgte dem Stäbchen, als es sinken gelassen und sachte in einer Halterung postiert wurde. Stockend bewegte ich die Fingerkuppen an der Rinde und nahm ihre Rauheit doch kaum wahr. Ich stand unter einem seltsamen Bann, nahm diesen Anblick in mir auf wie den frischen Sauerstoff dieser kalten Nacht und vergaß das Blinzeln erneut, als Kanda sich zurückschob. Er brachte Distanz zwischen sich und das Grab und dann verfolgte ich, wie er tiefer sank und auf die Knie. So demütig. Noch nie hatte er sich vor meinen Augen so klein gemacht. Und dann verbeugte er sich tief. Ein unentschlossener Ausdruck zerrte an meinen Lippen. Er bat um Vergebung und zollte dem Toten den größten Respekt. Ich spürte, wie trocken mein Hals war. Das Schlucken fiel mir schwer. „Was soll der Priester für eine Rolle spielen?“ Abrupt kamen mir seine herzlosen Worte ins Gedächtnis. „Er ist tot und somit nicht mehr von Bedeutung.“ Das hatte er gesagt. Ich sah, wie er sich bald darauf aufrichtete, meinte auch, seine Stimme zu hören. Ich sah es und doch wieder nicht. Wie er sich ein weiteres Mal tief hinab beugte, sich verneigte, sich unterwarf. Es drang kaum in meine Wahrnehmung. Auch die Bewegungen nicht, mit denen ich mich vom Stamm löste. Ich hatte genug gesehen und kehrte der Lichtung den Rücken. Stockend fand meine Hand zu meinen Lippen und ich rieb sie mir, als ich die ersten Schritte tat. Mich beherrschte purer Unglauben. Ich wusste nicht, was ich auf dieser Lichtung erwartete, als ich Crowley und den Finder alleine weitergehen ließ. Ich ahnte nicht, dass es eine solche Demut in Kanda gab. Dass er einen Verstorbenen hoch genug achtete, um ihm gegenüber Schuldgefühle zu verspüren. Diese Eile, mit der er das Grab aushob. Mein Körper bewegte sich von allein. Still an einem Gebüsch vorbei. Gleichgültigkeit und der von ihm gewohnte Ansporn oder der Wunsch, es schnell hinter sich zu bringen? Wäre ihm die langsame Arbeit als zu quälend erschienen? Dieses neue Licht, in dem ich ihn sah, blendete mich. So wie ich selbst so geblendet gewesen war, so naiv gläubig seinem Verhalten gegenüber. „Wir öffnen das Grab.“ Natürlich. Mit diesen Worten hatte er etwaige Diskussion über dieses Vorhaben unterbunden. Weil er jede Kritik verstanden und nachempfunden hätte? Wäre es ihm noch schwerer gefallen, hätten wir Worte über diesen Entschluss verloren? Es musste schwer genug gewesen sein und trotzdem hatte er es getan. Vor allem er. Jeden Handgriff, für den er sich nun entschuldigte. Laut brach der Atem aus mir heraus. Ich war weit genug entfernt. Wieder fuhr meine Hand über mein ungläubiges Gesicht. Was tat er nur? Woraus bestand sein Grund, sich vor mir, nein, vor uns allen zu verstellen? Weshalb zeigte er sich von seiner finsteren Seite, um nicht in dieses Licht gerückt zu werden? Meine Schritte wurden sicherer, größer, fanden die alte Zielstrebigkeit und während ein stummes Lachen über meine Lippen kam, befreite sich Tim. Schimmernd flatterte er aus der Falte des Mantels. Wie absurd. Gerade von ihm hatte ich nicht erwartet, mich zu überraschen. So unverständlich mir seine Art auch war, sie war so beständig, dass ich alles in ihr sah, was ihn ausmachte. Unter einem erneuten Kopfschütteln rieb ich mir die Mundwinkel und blinzelte verstohlen zu Boden. Vermutlich hatte ich ihm gegenüber aufmerksamer zu sein. Soviel mehr als bisher. Sein Geschick, sich zu verstellen, grenzte an Perfektion. Genau wie ich war auch er nicht das, was er vorgab zu sein. Seine verborgene Seite war interessant, meine nur finster. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)