YORU - Was die Nacht verrät von Dollface-Quinn ================================================================================ Kapitel 6: Grüne Eifersucht --------------------------- Leonardo blinzelte zur weit entfernten Decke der verlassenen U-Bahn Station hinauf. Das Blinzeln gelang ihm allerdings nur mit einem Auge. Ächzend zog er sich auf der Couch in die Senkrechte und betastete vorsichtig die Beule in seinem Gesicht wo Raphael zugeschlagen hatte. Er seufzte. „Morgen.“ Donatello lief hinter der Couch vorbei ins Badezimmer. „Morgen.“, murmelte Leonardo automatisch. Dann fiel ihm etwas ein, das Raphael gestern gesagt hatte und er beeilte sich Donatello zu folgen, bevor die anderen dazukamen. Der kluge Turtle hatte bereits die Zahnbürste im Mund, sah aber auf, als der Bruder herein kam. Leonardo konnte ihm am Gesicht ablesen wie er aussehen musste. Erst weiteten sich die roten Augen überrascht, dann zuckten die Mundwinkel und schließlich musste Donatello ausspucken, weil er sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. „Nettes Veilchen, Leo!“, prustete er und hielt sich am Waschbecken fest, um nicht vor Lachen in die Knie zu gehen. „Ist Raph etwa immer noch eifersüchtig wegen der Anführer-Sache?“ Mit ärgerlich gerunzelter Stirn trat der Mutant in Blau nun doch vor den Spiegel und besah sich den Schaden. Sein rechtes Auge war nur noch eine geschwollene lila Masse. „Sieht ganz danach aus.“, grummelte er. Donatello beruhigte sich langsam wieder und gestikulierte amüsiert mit der freien Hand als er kommentierte: „Ich weiß zwar, warum er so einen Aufriss deswegen macht, aber ich kann's nicht nachvollziehen. Ich beneide dich jedenfalls nicht um den Job.“ Er grinste und steckte sich die Zahnbürste wieder in den Mund, um dann fröhlich weiter zu plaudern, als ginge ihn die ganze Sache im Grunde gar nichts an. „Raph ist eben ein Hitzkopf und will sich ständig beweisen. Darum ist er ein guter Kämpfer. Aber als Anführer muss man ständig für alle anderen mitdenken. Man muss überlegen und tüfteln, sich immerzu weiterbilden und mal ehrlich...“, er seufzte theatralisch, „...das tue ich ohnehin schon die ganze Zeit. Meister Splinter hatte vollkommen Recht damit dir den Job zu geben. Und du hast ihn ja schließlich auch unbedingt gewollt.“ Dabei fiel sein Blick im Spiegel auf Leonardos Gesicht und nun war sein Grinsen gnadenlos schadenfroh. Der frisch gebackene Anführer verkniff sich die Frage, ob Donatello etwa auch eifersüchtig auf den Posten war. Dieser Verdacht kam ihm gerade zum ersten mal in den Sinn, aber jetzt saß er da fest und ließ sich nicht mehr vertreiben. Er beschloss das Thema zu wechseln und endlich die Frage zu stellen, wegen der er Donatello ins Bad gefolgt war. Als wäre er nur wegen der morgendlichen Zahnhygiene herein gekommen, nahm er sich seine Zahnbürste und strich etwas Colgate Zahncreme darauf. „Ja.“, begann er gedehnt. „Apropos Anführer. Ähm... Man angenommen, du hättest ein Problem. Angenommen, du wolltest mit jemandem reden. Zu wem würdest du dann am ehesten gehen?“ Um noch beiläufiger zu erscheinen steckte er sich die Zahnbürste in den Mund und begann zu schrubben, aber Donatellos Blick verriet ihm, dass er ihn längst durchschaut hatte. Eine peinliche Stille trat ein während der Leonardo in den Spiegel starrte. Seine Pupillen sprangen allerdings immer wieder zwischen dem Spiegelbild des Bruders und dem eigenen hin und her. „Mal angenommen ich tue so als verstünde ich deine Frage nicht als Eigenwerbung.“, begann der kluge Turtle und spülte sich den Mund aus, um den Bruder noch eine Weile zappeln zu lassen. „Dann würde ich antworten, dass ich meine Probleme bei mir behalte, wo sie hin gehören. Abgesehen davon: Wenn ich ein Problem schon nicht gelöst bekomme, dann löst es keiner.“ Leonardo verdrehte die Augen über so viel Selbstbeweihräucherung. „Ja, du bist schlau. Das wissen wir. Aber du machst mir nicht weis, dass du nicht ab und zu mit jemandem redest!“, versuchte es der furchtlose Anführer weiter. Während sich Donatello das Gesicht abtrocknete und es dann in aller Ruhe beiseite legte. „Wenn du eine Selbsthilfegruppe für geschlagene Anführer suchst bin ich leider der falsche Ansprechpartner, Leo.“, entgegnete er mit kaum verhohlenem Spott in der Stimme, woraufhin der Ältere ärgerlich auf seiner Zahnbürste herumzukauen begann. „Es geht hier nicht um mich. Ich will es gut machen, versteh' das doch! Und jetzt will ich als Anführer von dir eine vernünftige Antwort!“, drängte er und vertrat Donatello den Weg nach draußen. „Na schön.“, lenkte der kluge Mutant endlich ein und überlegte, indem er den Zeigefinger an die Wange und den Daumen unter das Kinn legte. „Wenn du wissen willst mit wem ich am ehesten über emotionalen Stress reden würde...“, er machte eine Kunstpause und beobachtete, wie Leonardo gespannt die Zahnbürste aus dem Mund nahm. „...dann ist das tatsächlich Raphael.“ Leonardo fiel scheppernd die Zahnbürste ins Waschbecken. „Was?!“, fuhr er ungläubig auf, sodass der Turtle in Lila beschwichtigend die Hände hob. „Komm schon. Du weißt doch, dass er zu allem 'ne Meinung hat. Und gerne Ratschläge verteilt.“, verteidigte er sich, aber das machte die Situation nicht besser. „Und da gehst du zu IHM!“, empörte sich der kleinere Turtle und zeigte anklagend auf die Tür. Er verstand die Welt nicht mehr. „Er haut dich ständig grundlos!“ Aber Donatello ließ sich von dem Ausbruch seines Bruders nicht verunsichern und verschränkte die Arme, während er erklärte: „Das ist wahr, aber nicht alles was er sagt ist falsch. Und ich gehen nicht zu ihm! Er kommt zu mir.“ Noch während er das sagte konnte er im Gesicht mit der blauen Maske die unbegrenzte Fassungslosigkeit ablesen, in die er seinen Gesprächspartner gerade stürzte und obwohl das Veilchen diesen Ausdruck ins Lächerliche zog, hatte er nun doch ein bisschen Mitleid. Darum löste er die Arme wieder aus ihrer Verschränkung und legte Leonardo die Hand auf die Schulter. „Hör zu, Leo. Immer wenn ich mal längere Zeit bedrückt war, kam er an und hat gefragt wie es mir geht. Es ist manchmal leichter mit ihm zu reden, als mit dem Sensei, weil er niemals zugeben würde, dass das Gespräch stattgefunden hat. Geheimnisse sind bei ihm wirklich sicher. Ich denke, das macht er bei jedem von uns.“ „Bei mir nicht.“, nuschelte der Anführer nachdenklich. „Echt nicht? Mmh. Interessant.“ Donatello nahm seine Hand wieder zu sich und überlegte. Er brauchte allerdings nicht lange, um eine Erklärung dafür zu finden. „Wahrscheinlich weil du mit jedem Problem gleich zu Meister Splinter rennst.“, vermutete er. „Ist das so falsch?!“, brauste der Ältere mit plötzlicher Wut in der Stimme auf, woraufhin ihn der größere erstaunt ansah. „Das hab' ich nicht gesagt.“, verteidigte sich der Mutant in Lila mit erhobenen Händen. In diesem Moment steckte Michelangelo den Kopf zur Tür hinein. „Hey Bros. Was geht denn hier ab?“ „Leonardo betreibt Feldstudien.“, erklärte Donatello. Dies brachte ihm einen mahnenden Blick über die Schulter von Leonardo und ein komplett leeres Gesicht bei Michelangelo ein. Der kluge Mutant schmunzelte überheblich. Als der Jüngste der Turtles lange genug zwischen seinen älteren Brüdern hin und her gesehen hatte um sicher zu sein, dass ihn niemand aufklären würde, füllte sich sein leeres Gesicht mit dem Ausdruck des dringenden Bedürfnisses, das ihn ursprünglich ins Bad geführt hatte und er begann zu quängeln. „Geht das auch woanders? Ich muss mal. Dringend!“ Donatello floh augenblicklich aus dem Raum, aber Leonardo spülte sich noch den Mund aus und wollte gerade seine Zahnbürste sauber machen als von fern Raphaels wütender Ruf erklang. „MIKEEEY!“ Michelangelo bekam dieses panische Grinsen, das ihm eigen war. Schnell nahm er Leonardo die Zahnbürste aus der Hand und schob ihn nach draußen. „Das kannst du auch später noch machen. Ich habs eilig!“, erklärte er nervös und mit einem satten RUMMS knallte er die Tür hinter seinen Brüdern zu und schloss ab. Da stand er nun und schüttelte den Kopf. Was hatte er sich da nur für eine Truppe aufgehalst. Donatello stand neben ihm und boxte ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Komm. Ich geb' dir was für dein Auge.“, bot er an und führte den Bruder in die Küche, wo er ihm einen Eisbeutel reichte. Raphael war aufgewacht und hatte in der Ecke seines Zimmers einen Kraang sitzen sehen. Reflexartig hatte er sich auf Spike geworfen, ihn an sich gepresst und den Kraang zitternd mit einem seiner Sais bedroht, bevor ihm aufgegangen war, dass es sich nur um die Attrappe handelte, die er gestern für Michelangelo gebastelt hatte. Nun brachte er seine Schildkröte wutentbrannt mit in die Küche und setzte sie auf dem Tisch ab. „Wo ist Mikey?“, fragte er die beiden anderen eine Spur zu laut. Dass Leonardo am Tisch saß und einen Eisbeutel an sein Auge hielt, quittierte er mit einem zufriedenen Lächeln. „Versteckt sich im Bad.“, antwortete Donatello trocken. „Wahrscheinlich würdest du ihn eher erwischen, wenn du ihn nicht immer durch dein Gebrüll vorher warnen würdest.“, riet er. Raphael hob die Faust und Donatello sprang rasch hinter den Tisch. „Ach ja? Und vielleicht würdest du nicht so ein …. neunmalkluger … Nerd sein, wenn... wenn du einfach mal die Klappe hältst!“, stammelte Raphael nicht besonders einfallsreich, aber mit genug Nachdruck in der Stimme, um Donatello den Mund zu verbieten. Dann holte er ein paar Blätter Salat aus dem Kühlschrank, setzte sich Leonardo gegenüber an den Tisch und begann damit Spike zu füttern. Die beiden Turtles sahen sich über die Tischplatte hinweg grimmig an und schwiegen. Beide wussten, dass Leonardo fragen wollte was für ein Problem der Sai-Kämpfer heute mit Mikey hatte und ebenso wussten beide, dass Raphael nur darauf wartete dem Bruder ein gepfeffertes „Das geht dich nichts an!“ ins Gesicht zu schreien. Aber weil beide das wussten, schwiegen sie. Zu hören war nur Spike, der in aller Seelenruhe sein Frühstück verspeiste und Donatello, der im Medizinschränkchen nach einer Kühlsalbe für Leonardos Auge suchte. Pünktlich wie immer rief Meister Splinter seine Söhne zum Training. Donatello hatte keine passende Salbe gefunden. Durch den Eisbeutel war das Auge des Schwertkämpfers schon ein wenig abgeschwollen, aber es konnte immer noch nicht sehen. Raphael setzte Spike auf den Boden und wortlos gingen die Brüder zusammen ins Dojo. Michelangelo kam zwei Minuten später ebenfalls und schlich sich möglichst unauffällig an Leonardos Seite, weit weg von Raphael. Der ältere Bruder in Blau sah ihn verwundert an. Gehörte das jetzt zur Tagesordnung, dass sich Raph und Mikey morgens stritten? Meister Splinter sah die Turtles der Reihe nach an und meinte dann fröhlich. „Schön. Da einer meiner Söhne heute nur ein funktionstüchtiges Auge mitgebracht hat...“ Raphael grinste selbstzufrieden. „Sorge ich für Chancengleichheit, indem alle ein Auge verbunden bekommen. Es sei denn, jemand will mir verraten wie das passiert ist.“ Raphaels Grinsen war verschwunden, stattdessen versuchte er nun krampfhaft nicht nervös zu den anderen hinüberzusehen. Er war sich ziemlich sicher, dass Splinter ihm ebenfalls ein Veilchen verpassen würde, wenn Leonardo oder Donatello ihn verrieten. „Wir üben heute das Kämpfen auf den Stämmen.“, teilte Splinter in verlockendem Tonfall mit. Beim Training auf den Stämmen ging es darum auf lose aufgestellten Holzstämmen das Gleichgewicht zu halten. Diese Übung war schon schwierig, wenn man nur darauf stehen sollte, aber darauf kämpfen ohne mitsamt dem Stamm zu fallen war ihnen noch nie gelungen. Und nun sollte dabei auch noch ihr Sichtfeld eingeschränkt werden? Jetzt war sich Raphael vollkommen sicher, dass ihn irgendjemand an Splinter verraten würde. Aber noch blieb alles still. „Na gut.“, meinte der Sensei fröhlich und begann damit einem nach dem anderen mit einem zusammengefalteten Taschentuch und Klebeband jeweils das rechte Auge abzukleben. Sogar vor Leonardo machte er nicht Halt. Jetzt bin ich geliefert!, dachte Raphael. Jetzt petzt ganz sicher gleich einer.Aber niemand sah Raphael auch nur an. Brav absolvierten sie ihre Aufwärmübungen und begannen schließlich die Stämme hereinzutragen und vorsichtig aufzustellen. Während Donatello und Michelangelo je einen Stamm zu zweit trugen – was durch den Größenunterschied gar nicht so einfach war - und Leonardo seinen über den Boden zog, lud sich Raphael das Holz auf die Schulter. Mit jedem Stamm wurde der Trainingswald dichter und der Turtle in Rot nervöser. Nun sah er seinen Brüdern jedes mal wenn er an ihnen vorbei ging ins Gesicht ohne genau zu wissen was er darin suchte, doch die konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Schließlich stand der Wald und die Ratte gab das Zeichen hinaufzusteigen. Raphael spürte nun keinen Funken Wut mehr in sich. Er war sich sicher, spätestens wenn der erste Bruder fiel würde ihn jemand verraten und dann bräuchte er sich nicht mehr so schäbig zu fühlen. Sie erklommen die Stäbe und Raphael stand Donatello gegenüber. Er versuchte hinter der lila Maske irgendeine Spur von Tadel oder Wut zu erkennen, aber der Bruder bezog ganz geschäftsmäßig und konzentriert Aufstellung, wie in jedem Kampftraining. Es war tatsächlich schwerer das Gleichgewicht zu halten, wenn man nur mit einem Auge sah. Alle wankten ein wenig und hatten Mühe ihre Stämme am Kippen zu hindern. Donatello fühlte sich zunehmend gezwungen seinen Bo-Stab als Balancierstange zu benutzen und auch Michelangelo konnte seinen Nunchakus auf diesem Grund nicht richtig trauen. Jeder Schwung der Kette brachte den Stamm zum wackeln. Leonardo stand beinahe bewegungslos mit einem Schwert in der Hand und hielt die Augen geschlossen, um sich ganz auf sein Gleichgewicht zu konzentrieren. Raphael brachte sich ständig selbst aus dem Gleichgewicht, durch seine Versuche die anderen zu beobachten. „Hajime.“, gab Splinter das Zeichen anzufangen, aber niemand wollte seinen unsicheren Stand für einen Angriff aufgeben und so passierte erst einmal gar nichts. Dann wagte sich der von Natur aus experimentierfreudige Michelangelo in die Offensive. Frei nach dem Motto 'Probieren geht über studieren' nahm er seine Nunchakus vom Gürtel und ließ je ein Ende fallen. Leonardo hatte sein freies Auge geöffnet und sah zu, wie Michelangelo seine Waffen kreisen ließ. Durch den Schwung der Waffen brachte der kleine quirlige Kindskopf in Orange versehentlich auch seinen Holzstamm ins Kreiseln. Unter lautem Geschrei und Armerudern versuchte er sich und den Stamm wieder zur Ruhe zu bringen. Dabei verlor er, durch das abgeklebte Auge, seine rechte Waffe aus dem Blick, wodurch sie sich verselbständigte und Michelangelo schließlich selbst ins Gesicht schlug. Ein irritierender Anblick für den großen Bruder, denn das war dem Jüngsten seit fast zehn Jahren nicht mehr passiert. Es gelang ihm wie durch ein Wunder sich und seinen Stamm wieder unter Kontrolle zu bringen und daraufhin packte er seine Nunchakus weg, um nun mit der Kusarigama sein Glück zu versuchen. Donatello hatte inzwischen ein paar standhafte Momente ausgenutzt, um mit dem Bo nach vorn zu stoßen und Raphael hatte die ersten Stöße mit bloßen Händen abgefangen, um dann beherzt zuzugreifen und seinem jüngeren Bruder den Stab wegzunehmen. Dieser ließ los, bevor ihn Raphael damit vom Stamm zog und änderte anschließend seine Strategie, indem er sich im Folgenden auf Wurfsterne verlegte. Nun hatte Raphael einiges damit zu tun Donatellos Wurfsterne mit dessen Bo-Stab abzuwehren ohne dabei vom Stamm abzurutschen. Einem auf seine Brust gezielten Geschoss konnte er nur entgehen, indem er einen Ausfallschritt wagte und so in geduckter Haltung mit jedem Fuß auf einem Stamm stand. Der muskulöse Turtle stellte erstaunt fest, dass ihm das Stehen auf zwei Stämmen viel angenehmer war. Darüber passte er einen Moment lang nicht auf und ein Wurfstern traf ihn an der Hand. Er zuckte nur minimal zusammen, aber das reichte, um ihn wieder aus dem Stand zu bringen und im Versuch sich wieder zu fangen, entglitt ihm der Stab. Donatello wagte einen Salto vorwärts, fing seinen Bo im Fallen auf und landete neben seinem Bruder tatsächlich wieder auf einem Stamm, glitt aber mit dem Fuß ab und schaffte es gerade noch sich mit den Armen an Raphaels Bein festzuhalten, während seine eigenen Beine den Stamm umschlangen, von dem er abgerutscht war. Auf diese Weise erinnerte er an eine gepanzerte Hängebrücke. Nur seine Körperspannung verhinderte, dass alle drei belasteten Stämme umfielen. Bei diesem Manöver musste er den Bo wieder loslassen, der sogleich von Raphael geistesgegenwärtig mit einem Fuß aufgefangen wurde. Nun tat der Mutant in Rot sein Bestes, dem Bruder wieder hoch zu helfen, indem er vorsichtig in die Knie ging und den Stab, indem er ihn auf dem Fuß balancierte, über vier Stämme legte, sodass sich Donatello daran hinaufziehen konnte. Was sie hier taten war kein Kampftraining, sondern Schikane. Eine Disziplinarmaßnahme wegen Leonardos Veilchen. Das wussten alle, vor allem weil Meister Splinter gerade eine Zeitung entfaltete und zu schmökern begann, aber immer noch machte niemand Anstalten Raphael als den Täter zu entlarven. Wahrscheinlich weil sie sich gegenseitig im Streit, oder aus Unachtsamkeit, schon oft Schrammen zugefügt hatten. Wegen so etwas petzte man nicht beim Vater, das war unter Brüdern ganz normal. Leonardo hatte sich inzwischen mit dem tückischen Untergrund vertraut gemacht. Mit angewinkelten Knien, die Körpermitte darüber gebeugt, begann er über die Stämme auf Michelangelo zuzuspringen. Der war davon so überrascht, dass er einen Moment lang nur wie angewurzelt stehen blieb. Als er sich schließlich unter dem Schwertangriff seines Anführers wegduckte, warf er die Kusarigama-Kette, die sich zielsicher um Leonardos rechten Schwertarm schlang. Ab da ging alles schief. Michelangelo glitt aus und hing kurz darauf an seinem Stamm wie ein Laubfrosch am Ast. Sein Geschick war ihm allerdings weniger hold als Donatello, denn der Stamm kippte, streifte in seinem Fall einen anderen und löste eine Kettenreaktion aus, wie beim Domino. Da er die Kette nicht los ließ, zog er Leonardo mit sich, der sich im ersten Moment noch reflexartig dagegen stemmte, dann aber mitsamt seinem Holz nach vorne fiel. Nacheinander stürzte der halbe Trainingswald ein und begrub Michelangelo unter sich. Donatello hatte sich gerade am Bo wieder hoch ziehen wollen, da wurden Raphael die Beine von einem fallenden Stamm weg geschlagen und er riss den Bruder mit sich. Ein Stamm traf ihn schmerzhaft an der Schulter, einen anderen konnte er gerade noch mit der Faust aus seiner Bahn schlagen, bevor er Donatello am Kopf erwischt hätte. Ächzend und stöhnend richteten sich drei Turtles auf und suchten nach dem vierten. Meister Splinter blätterte genüsslich eine Seite um und bemerkte trocken: „Worauf wartet ihr? Stellt die Stämme wieder auf und gleich nochmal.“ Mit Hilfe der anderen war Michelangelo schnell wieder ausgegraben. Leonardo zog den jammernden Chaoten schließlich ganz unter den verbliebenen Hölzern hervor. „Bist du verletzt?“, fragte er, woraufhin sich der Kleine den Kopf rieb. „Ich glaube nicht. Aber ich verstehe nicht wieso wir das machen müssen? Hab ich was angestellt, oder...?“, er brach ab, weil ihm gerade eine Erkenntnis kam. „Hey. Hat das was mit deinem Veilchen zu tun?“ Leonardo schlug sich die Hand vor die Stirn, traf dabei das ramponierte Auge und schrie kurz auf. Michelangelo hatte ein angeborenes Talent dafür einfach nicht mitzubekommen was vor seinen Augen ablief. „Erkläre ich dir später.“, versuchte er den Bruder abzuspeisen, aber Splinter hatte es über den Lärm hinweg gehört, den Raphael und Donatello beim erneuten Aufstellen des Trainingsparcours machten. „Erkläre es ihm doch jetzt, dann können wir alle frühstücken gehen.“, schlug die Ratte hinter seiner Zeitung vor. In diesem Moment trat Raphael frustriert den Stamm um, den Donatello gerade aufgestellt hatte und während Donatello noch empört fluchte, riss dieser auch noch den restlichen Trainingswall mit sich. Als der Lärm verklungen war, trat der Rote unter den wachsamen Blicken seiner Brüder vor und murrte: „Ich hab Leo das Veilchen verpasst.“ Splinter faltete ordentlich und in aller Ruhe seine Zeitung zusammen und fragte dann gelassen nach dem Grund für Raphaels rüdes Benehmen seinem Bruder gegenüber. „Er nervt mich. OK? Er geht mir auf die Nerven mit seinen ständigen Anweisungen! 'Tu dies nicht. Tu das nicht. Wo gehst du hin? Wo kommst du her? Du bist nicht teamfähig.' - Laber, laber, laber! platze er heraus. Splinter stand auf und strich sich nachdenklich über die dünne Bartsträhne an seinem Kinn. „Damit erfüllt er aber doch die Aufgaben eines Anführers. Er passt auf sein Team auf. Findest du dein Verhalten etwa loyal dem Team gegenüber?“, fragte er an seinen jähzornigen Sohn gewandt und musterte ihn von oben herab. „JA!“, schrie Raphael heraus, sah dann zum Sensei auf und murmelte dann etwas kleinlaut: „Also... Vielleicht bin ich ein bisschen zu hart gewesen. Aber er soll aufhören sich wie mein Vater zu benehmen!“, forderte er und deutete auf Leonardo. Splinter musterte ihn etwas eindringlicher und Raphael dachte automatisch noch einmal über das Gesagte nach. „Ihr dürft euch wie mein Vater benehmen. Er nicht!“, verbesserte er sich und nun war ihm das Unbehagen deutlich anzusehen. „Komm mal mit, Raphael.“, meinte Splinter bedrohlich gelassen. Raphael schluckte und quittierte dann das schadenfrohe Grinsen der anderen mit einem Knurren, bevor er sein Auge von dem Klebeband befreite und dem Sensei in sein Zimmer folgte. Angespannt schloss er die Schiebetür hinter sich und blieb dort noch einen Moment stehen, um Mut zu sammeln. Splinter hatte sich auf dem Boden in den Diamantsitz niedergelassen und Raphael folgte seinem Beispiel, sah aber demütig zu Boden. Er war nicht der Meinung, dass er falsch gehandelt hatte, als er Leonardo mit der Faust in seine Schranken wies, aber er hatte Respekt vor seinem Sensei. „Was glaubst du ist deine Rolle in eurem Team?“, fragte die große Ratte. Die Frage traf genau ins Schwarze. Darüber hatte sich Raphael seit Tagen den Kopf zerbrochen. Wenn Leo der Anführer war, was war er selbst dann? Die zweite Geige? Noch gestern hatte er gedacht, seine Aufgabe bestünde drin alle anderen daran zu hindern eine Gefahr für das Team zu werden. Er trainierte mit Mikey gegen seine Angst, hielt Donatello klein, damit er nicht größenwahnsinnig wurde und stutzte Leo zurecht, wenn er seine Anführerrolle übertrieb. Aber jetzt, da er Splinters weisem Blick gegenüber saß, merkte er wie verloren er sich fühlte. „Ich weiß es nicht.“, gab er schließlich murrend zu. „Wirklich nicht?“, fragte Splinter in diesem Tonfall, der bedeutete, dass man die Antwort sehr wohl kannte. Irgendwo in Raphael sah die Ratte eine Antwort, die ihm selbst noch verborgen blieb. Aber der junge Turtle konnte vor lauter schlechter Gefühle nicht nachdenken. Seine Brüder gingen ihm auf die Nerven! Für sie und Splinter schien alles immer so einfach zu sein und er hatte diese ganze Wut in sich. Er wollte nicht aussprechen was er in diesem Moment von sich selbst dachte. Sein Gefühl sagte ihm, dass er eigentlich alles richtig machte, aber trotzdem war er unzufrieden. Splinter schien seinem Sohn den inneren Kampf anzusehen und gewährte ihm eine Hilfestellung. „Besinne dich auf deine Stärken.“, gab er vor. Der Sturm in Raphael tobte um Splinters Worte und wollte sie zerfetzen, aber dann sanken die Flammen des Zornes plötzlich in sich zusammen und gaben die Antwort frei. „Ich bin stark. Ich bin der beste Kämpfer von uns.“ Die Worte brachen aus ihm heraus, als hätten sie ewig auf ihren Einsatz gewartet. Raphael war sich jetzt sicher, dass das seine Rolle war. Leo war vielleicht Anführer geworden, Donnie hatte den meisten Grips und Mikey war ihre wild card, aber wenn es hart auf hart kam, dann brauchten sie ihn! Er boxte sie aus allem raus! Entschieden hob er den Blick, um seine neu gefundene Rolle vor Splinter zu verteidigen, aber zu seiner Verblüffung lächelte die Ratte liebevoll auf ihn herab. „Du bist so viel mehr als das. Aber es ist ein guter Anfang.“, erklärte er und stand auf. Mit der Linken wies er zur Tür, um Raphael zu bedeuten, dass er gehen konnte. Der kampfstärkste Turtle verneigte sich vor dem Sensei, stand auf und ging ein paar Schritte, da sprach ihn Splinter erneut an. „Raphael.“ Er drehte sich zu Splinter um und bekam im nächsten Moment einen schmerzhaften Hieb mit dem Jadestab gegen die Schulter, auf die vorhin der Baumstamm gefallen war. Mit einem Aufschrei zuckte er zurück und rieb sich die schmerzende Stelle. Der Sensei beugte sich vor und drückte ihm eine seiner spitzen Rattenkrallen in das weiche Gewebe des Unterkiefers, ein äußerst unangenehmes Gefühl, das der Ratte die volle Aufmerksamkeit ihres Schülers garantierte. „Außerhalb des Trainings werden keine Brüder bekämpft.“, stellte Splinter klar und sah Raphael herausfordernd in die tränenden Augen. „Hai Sensei.“, beeilte sich der gepeinigte Turtle zu sagen, damit Splinter ihn wieder los ließ. Als Raphael wieder auf die Tür zu trat war ihm, als würden drei verdächtige Schatten rasch von dort verschwinden und als er hinaus ins Dojo trat, standen seine Brüder verdächtig unschuldig inmitten der umgestürzten Holzstämme. Inzwischen hatten sie sich ebenfalls von dem Klebeband über ihren Augen befreit. „Hey, Raph. Fass mal mit an.“, rief ihm Leonardo grinsend zu und zog einen der Stämme hinter sich her in den Lagerraum des Dojos. Donatello und Michelangelo hoben gemeinsam einen Stamm auf. Als sie damit aber an Raphael vorbei kamen fragte der kleine Kindskopf im Rückwärtsgehen schadenfroh: „Na, hast du Ärger gekriegt?“ Sein breites Grinsen verging ihm, als er über Donatellos herumliegenden Bo stolperte und den schweren Stamm so ungeschickt fallen ließ, dass er auch dem zweiten Träger aus den Händen rutschte und auf dessen Zehen schlug. Donatello schrie, nahm den ramponierten Fuß in beide Hände und hüpfte auf einem Bein fluchend durch das Dojo. „Sorry Don.“, entschuldigte sich Michelangelo lachend und rieb sich den Kopf, den er sich bei seinem Sturz erneut angeschlagen hatte. Und auch Raphael hatte die Hände auf die Oberschenkel gestützt und lachte herzlich. Später saßen sie alle beim Frühstück: Leonardo mit dem Veilchen, Raphael mit einem blühenden Hämatom an der Schulter, Donatello mit blauen Zehen und auf Michelangelos Kopf waren zwei dicke Beulen gewachsen. Der jüngste und der älteste der Turtles hielten sich Eisbeutel an den Kopf, während Donatello mehr mit der Untersuchung seiner Quetschungen beschäftigt war, als mit seinem Haferbrei. Splinter versteckte sich hinter seiner Zeitung um das Elend nicht mit ansehen zu müssen. Nur Raphael beachtete seine geschwollene Schulter nicht. Er sah in die Runde. Vier ramponierte Krieger an einem Tisch. Und plötzlich hatte er wieder das Gefühl wichtig zu sein und dazuzugehören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)