Weihnachtsgeschenk von W. von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Eine schier endlose Zeit war vergangen, seine Gefangenschaft wurde länger, die Tage kürzer. Henry saß am Fenster seines Wohnzimmers und schaute zu, wie der erste Schnee fiel. Das Loch in seinem Badezimmer war im Wachstum stagniert, nachdem es sich bis zum Waschbecken gefressen und den Großteil der Fliesen von den Wänden geblättert hatte. Ein feines Wurzelwerk aus Rost oder Blut breitete sich überall aus. Die Badewanne sah aus wie ein Schlachtpfuhl. Am liebsten hätte Henry diesen Raum nicht mehr betreten, wenn es nicht die einzige Pforte hinaus aus seiner komplett verriegelten Wohnung gewesen wäre. Seit geraumer Zeit jedoch führte ihn der Verbindungskanal lediglich zu einer Handvoll Gegenden, die er bereits in wiederkehrenden Abständen nach einem Ausweg durchstreift hatte. Bislang ohne Erfolg. Es schien sinnlos, als hätte er an irgendeiner Stelle einen wichtigen Hinweis oder Schlüssel übersehen. Noch hatte Henry nicht aufgegeben, die Tage zu zählen und jeden einzelnen in sein Gedächtnis zu ritzen wie Kreidezeichen an die Innenwände eines Kerkers. Darum wusste er auch, welches Datum heute war. Er wusste, wohin die Leute auf den Straßen eilten und warum zu dieser Nachmittagsstunde mehr Wohnungen warm erleuchtet waren als sonst. Es war der 24. Dezember. Heiligabend. Mit einem tiefen Seufzen wandte sich Henry vom Fenster ab, die Hände reglos und kalt auf den Armstützen seines Sessels. Der Raum lag im grauen Zwielicht, nicht einmal eine Kerze erhellte die Düsternis. An der Seite lehnte eine befleckte Rohrstange. Henry griff danach und wog sie nachdenklich in der Hand. Andere Menschen waren ihm schon lange nicht mehr begegnet. Abgesehen von einer einzigen Person, die ihm gleichzeitig zum lebensgefährlichen Verhängnis werden konnte. Schwerfällig erhob sich Henry. Die Außenwelt war eine Hölle, bevölkert von Monstern. Doch es war der einzige Ort, an dem er nicht allein war. Warum er so etwas Bescheuertes getan hatte, wusste er selbst nicht. Wenigstens heute hätte er sich in seiner Wohnung verschanzen und damit begnügen sollen, die anderen Leute aus der Distanz zu beobachten, wie sie hinter den Fensterscheiben ihre Bäume schmückten, Geschenke drapierten und in trauter Gemeinschaft ein Festmahl zu sich nahmen. Er konnte zwar kein Mitglied ihrer Runde sein, aber doch ein stummer Teilhaber. Stattdessen hatte Henry ein weiteres Mal seine Wohnung durch das Loch im Badezimmer verlassen und rannte nun orientierungslos durch dichtes Gestrüpp, in steter Panik vor dem Knallen einer Schusswaffe. Er rutschte auf dem frostglatten Untergrund aus, geriet ins Straucheln und fand gerade noch Halt an einer Backsteinmauer. Links erstreckte sich ein engmaschiger Zaun, rechts wucherten Büsche. Im nächsten Moment erkannte er, dass er sich in einer Sackgasse befand. Ein Lachen drang durchs Dickicht, Blätterrascheln, knirschende Schritte, das Knacken von Ästen. Henry holte mit der Rohrstange aus und schlug blindlings hinter sich. Ein Ruck ging durch seinen Arm, die Stange wurde ihm aus der Hand geschleudert. Den unverständlichen Druck einer Umklammerung spürte er, noch bevor er den Schmerz wahrnahm, als er hochgerissen und mit Wucht gegen die Mauer gestoßen wurde. Er war es. Walter Sullivan. Insofern überhaupt menschlich, dann war nach den Wochen der Einsamkeit Walter jene einzige Person, die Henry noch eine tödliche Beachtung schenkte. Sein Handgelenk wurde unnachgiebig festgehalten, ein Körper drängte sich gegen seinen eigenen und der Lauf einer Pistole wurde ihm gegen die Schläfe gedrückt. Henry hielt den Atem an. Bis die Waffe ein Klicken von sich gab und Walter in sein Ohr raunte: „Peng.“ Dann kicherte er verhalten, sodass sein Atem Henry am Hals kitzelte. „Glück gehabt“, flüsterte ihm Walter zu. Leichte Belustigung schwang in seiner Stimme mit und für einen kurzen Moment glaubte Henry sogar, der andere Mann würde ihm sanft ins Ohr beißen. „Das ist mein Weihnachtsgeschenk.“ Ruckartig schreckte Henry aus seinem Schlaf. Das Herz hämmerte heftig in seiner Brust, er hörte sein Blut rauschen und fühlte noch immer das Phantom einer Umklammerung an seinem Handgelenk. Aber er war in Sicherheit. Es war Morgen, ein von weißem Licht erhellter Tag. Draußen war der gestrige Schnee liegen geblieben. War alles nur ein Traum? Noch immer verwirrt wankte Henry aus der Tür seines Schlafzimmers, durch den Flur und ins Wohnzimmer. Verblüfft hielt er inne und traute seinen Augen nicht. Auf dem Tisch stand ein kümmerlicher Weihnachtsbaum, der bereits etliche Nadeln verlor und an dem nur ein paar Kugeln und Zuckerstangen hingen. Eine Karte war davor aufgestellt mit der Aufschrift: Frohes Fest. W. Henry entschied, dass dieses signierte W. für den Weihnachtsmann stehen musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)