Reminiszenz von Maginisha ================================================================================ Kapitel 10: Wahrheit -------------------- Er erwacht mit klopfendem Herzen und einem Schrei auf den Lippen. Ruckartig setzt er sich im Bett auf. Sein Körper klebt von kaltem Schweiß, er atmet stoßweise und sein Mund ist trocken. Erst nach und nach nimmt er die Geräusche um sich herum wahr. Das Geschirr klappert in den Schränken wie bei einem Erdbeben und die Vorhänge bewegen sich, obwohl das Fenster geschlossen ist. Neben dem Bett schwebt sein Wecker und der Faden der Glühlampe an der Decke glimmt schwach, so als hätte jemand gerade erst das Licht gelöscht. Nagi atmet einmal tief durch und zieht seine Kräfte wieder in sich zurück. Endlich verstummt das leise Lärmen und lässt nur drückende Stille zurück. Er beginnt zu frieren und schält sich umständlich aus den klammen Laken. Halbherzig zieht er den beschmutzten Stoff vom Bett. Sein Blick fällt auf den Wecker, der jetzt wieder auf dem Nachttisch steht. Es ist 4.33 Uhr. Viel zu früh, um aufzustehen. Viel zu früh, um irgendetwas zu machen.   Er schleppt sich unter die Dusche und steht wie betäubt unter dem heißen Wasserstrahl. Es ist lange her, dass er solche Alpträume hatte. Sehr lange. Er weiß nicht einmal mehr genau daran, worum es in dem Traum ging. Alles, an was er sich erinnert, ist formlose, alles erstickende Angst. Vielleicht eine Nachwirkung der E-Mail. Er schließt die Augen und lässt das Wasser über sein Gesicht laufen, hält den Atem an und taucht tief in das Gefühl ein, bis er das den Eindruck hat, dass die Wärme bis in sein Innerstes vorgedrungen ist. Dann erst dreht er den Hahn wieder zu und greift nach einem Handtuch. Er verspürt wenig Lust, das Bett neu zu beziehen. So greift er nur nach einer bequemen Hose und einem T-Shirt und zieht sich auf das Sofa zurück, um dort noch ein paar bitter benötigte Stunden Schlaf nachzuholen. Als er die Decke über sich ausbreitet, kommt ihm der Gedanke, wie gut es wäre, jetzt nicht allein zu sein.       Nagi hat gerade den Stapel frische Bettwäsche abgelegt, als er die Schlüssel in der Wohnungstür hört. Er zieht kurz in Erwägung, seine Arbeit zu unterbrechen, bevor er beginnt, das neue Laken aufzuziehen. Mamoru tritt hinter ihm in die Tür und Nagi fühlt seinen Blick, der auf ihm ruht. Er wartet ab und weiß, er wird sich nicht lange gedulden müssen, bevor der andere ihm erzählt, warum er hier ist. „Störe ich dich?“, fragt Mamoru plötzlich. Nagi wird bewusst, dass es vermutlich unhöflich ist, den anderen dort nur so stehen zu lassen. Er wendet den Kopf und wirft ihm einen Blick über die Schulter hinweg zu. „Wie kommst du darauf?“ Mamorus Hände schließen sich um den Wohnungsschlüssel, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Er presst die Kiefer aufeinander und sieht zu Boden. „Ich sollte vielleicht besser gehen.“ Er wendet sich ab und will das Zimmer verlassen, aber Nagi lässt das nicht zu. Es braucht nicht mehr als einen Gedanken, um den anderen an Ort und Stelle festzuhalten. Langsam dreht er Mamoru wieder zu sich herum. Auf dessen Gesicht liegt ein eigenartiger Ausdruck. Ist es Wut? Angst? Verzweiflung? Nagi löst die unsichtbaren Fesseln augenblicklich wieder und Mamoru atmet sichtbar auf. Er schluckt. Seine Augen wandern zu dem immer noch nicht fertig bezogenen Bett. „Soll ich dir damit helfen?“, fragt er mit gesenktem Blick. „Gerne“, erwidert Nagi. „Wenn wir die Matratze gemeinsam anheben, geht es besser.“ Mamoru öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, schließt ihn jedoch wieder. Stattdessen akzeptiert er das Friedensangebot, legt den Schlüssel beiseite und greift nach der anderen Seite des Lakens.   Als das Bett bezogen ist, setzen sie sich nebeneinander an das Fußende. Mamoru kratzt an einem unsichtbaren Fleck an seiner Hose herum. „Wir haben sie“, sagt er mit einem Mal. „Wir haben den Standort der Z-Klasse lokalisiert. Das Mädchen, das Abyssinian angegriffen hat, entkam mit einer Diskette, die alle wichtigen Informationen enthielt. Sie übergab die Daten an eine der Lehrkräfte. Oder sie hat es zumindest versucht, bevor beide von einer anderen Lehrerin, Mayumi Tsuji, getötet wurden. Offensichtlich ist sie für die Erschaffung der Z-Klasse verantwortlich. Vielleicht steckt sie sogar hinter Epitaph. Wir hatten sie die ganze Zeit direkt vor unsere Nase, haben sie aber nicht festnageln können, obwohl...“ Er seufzt tief. „Ich...ich mache mir Vorwürfe deswegen. Die Lehrerin, die gestorben ist, Miss Asami, ist kein Mitglied von Weiß. Sie war eine Unbeteiligte, eine nette Frau, die nur versucht hat zu helfen. Wenn wir nur schneller gewesen wären...“ „Du kannst nicht jeden retten“, antwortet Nagi. Er weiß, dass es eine Floskel ist und nichts, an das er Mamoru hätte erinnern müssen.   „Ich weiß!“, schnappt Mamoru mit einem Mal und springt auf. Er beginnt im Zimmer auf und ab zu laufen. „Trotzdem! Wenn ich nicht so lange gezögert hätte. Wenn ich mich meinem Großvater entschlossener entgegengestellt hätte. Wenn ich nicht so schwach wäre. Wenn ich...“ Er sinkt kraftlos wieder auf das Bett, seine Schultern beben. „Er hat mich einfach rauswerfen lassen. Ich habe ihm geschrieben, habe ihn aufgesucht, um ihm alles zu erklären. Aber mein Großvater hat mich wie einen Bettler von seinen Sicherheitskräften vor die Tür setzen lassen. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt ein Takatori sein will, wenn meine Familie...“ Er bricht ab und etwas wie ein Schluchzen kommt aus seiner Kehle.   Nagi sieht den Schmerz im Gesicht des anderen und es berührt ihn auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten hätte. Er würde jetzt gerne etwas sagen, aber ihm fehlen die Worte, um das auszudrücken, was er selbst nicht ganz versteht. Dieses Stechen in seiner Brust und der Wunsch, dem anderen ganz nahe zu sein. Plötzlich trifft ihn die Erkenntnis, dass das, was er dort sieht, Einsamkeit ist. Es ist, als würde er in einem Spiegel blicken. Einen Spiegel, der ihn durch Zeit und Raum trägt zurück zu dem Jungen, der er einst war.   Er lehnt sich vor und seine Lippen verschließen Mamorus mit einem Kuss. Seine Hände suchen den Körper des anderen, gleiten daran hinab und halten ihn fest. Mamoru versteift sich zunächst; weiß wohl nicht, wie er auf diesen plötzlichen Ausbruch reagieren soll. Ob er die Fluchtmöglichkeit ergreifen soll, die ihm angeboten wird. Finger, die seine Haut berühren. Hände, die seine Seele streicheln. Nagi spürt die Angst des anderen, sich fallen zu lassen. Und gleichzeitig ist da dieses tiefe Verlangen. Der Wunsch alles abzustreifen und für einen Augenblick zu genießen, was er hat. Auch wenn es nicht viel ist. Auch wenn er es nicht verdient.   Mamoru schließt irgendwann die Augen, sein Mund öffnet sich und ihre Zungen gleiten zögernd umeinander. Nagi spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht, das Kribbeln, das sich in seinem Körper ausbreitet, und die Hitze, die in ihm aufsteigt. Begehren pulsiert mit einem Mal durch seine Adern und brennt heiß, wo immer ihn der andere berührt. Er will Mamoru hier und jetzt. Langsam drückt er ihn auf die Matratze und schiebt sein Bein zwischen Mamorus Oberschenkel, während ihre Küsse leidenschaftlicher werden. Er merkt genau, dass er nicht der Einzige ist, der das hier will. Es ist nur die Frage, wie weit Mamoru gehen wird.   Entschlossen stemmt Nagi sich hoch. Er sieht auf Mamoru herab, dessen Wangen gerötet sind. Seine Lippen glitzern feucht und einladend. Sein Atem geht schnell. Seine Haare sind zerwühlt. Die Augen groß und dunkel. Nagi kann nicht anders, als sich erneut auf ihn zu stürzen. Ihre Körper reiben aneinander, Hände suchen nackte Haut und entzünden kleine Feuer auf ihrem Weg. Er fühlt Mamorus Reaktion auf seine forschenden Finger nur allzu deutlich, als sich dieser unter ihm aufbäumt und ein leises Stöhnen seine Lippen verlässt. Nagi lässt seine Küsse an Mamorus Hals herab zu seinem Ohr wandern. Er knabbert kurz an dem Ohrläppchen, bevor er atemlos flüstert: „Ich will mit dir schlafen.“   Ein Schauer läuft durch den Körper unter ihm. Er kann förmlich spüren, wie sich der Herzschlag des anderen beschleunigt. Wie einen Augenblick lang die Panik versucht, die Oberhand zu gewinnen, bevor die Lust sie wieder in den Griff bekommt. Ein kurzes Nicken ist die einzige Antwort, die er braucht. Mit einem zufriedenen Lächeln beginnt er, ihre störende Kleidung aus dem Weg zu schaffen, um kurz darauf in den anderen einzutauchen.             Es dauerte einen Augenblick, bis sich Nagis Augen an das Halbdunkel innerhalb des Zimmers gewöhnt hatten. Hinter ihm brannte die Augustsonne erbarmungslos auf den hellen Sandstein, obwohl es erst kurz nach halb zehn war. Über ihm verteilte ein großer Ventilator die kalte Luft der Klimaanlage gleichmäßig in dem abgedunkelten Raum. Nagi spürte, wie sich die Haare an seinen Unterarmen aufrichteten. Gegen die draußen herrschende Hitze war es hier drinnen geradezu kalt. „Schuldig?“, rief er in die fächernde Dunkelheit. „Du verpasst das Frühstück.“   Als er keine Antwort bekam, schloss er langsam die Tür hinter sich und trat ein wenig weiter in den Raum. Es war jetzt noch dunkler, auch wenn zwischen den Vorhängen und hölzernen Läden immer noch einige, vorwitzige Strahlen der sengenden Sonne hindurch stachen. Mit leicht gerunzelter Stirn betrachtete er das Chaos, das den Teil des Zimmers beanspruchte, in dem sich normalerweise eine Sitzecke befand. Jetzt sah es eher aus, als wäre dort ein gut gefüllter Koffer explodiert. Der Besitzer des besagten Koffers lag immer noch unter den Laken des breiten Doppelbettes verborgen, das sich auf einer kleinen Empore auf der anderen Seite des Raumes befand. Mit einem leisen Seufzen stieg Nagi aus seinen Schuhen und trat über den kühlen Marmorboden zum Bett. Mitten in der zerknitterten Landschaft aus weißem Baumwollstoff ergoss sich Schuldigs orangerote Haarmähne auf eines der Kissen. Das zweite hatte er irgendwo zu Boden gestoßen bei einem Positionswechsel, der ihn schließlich quer auf der Matratze zurückgelassen hatte. Interessiert bemerkte Nagi, dass sich das Laken über einem seiner Beine so weit hochgeschoben hatte, das es fast vollständig entblößt war. Wenn Schuldig sich jetzt umdrehen würde, dann... 'Wenn du deine schmutzigen Gedanken nicht unter Kontrolle hast, solltest du nicht so nahe neben dem Bett stehen', war die einzige Warnung, die Nagi noch bekam, bevor Schuldig ihn gepackt und zu sich ins Bett gezerrt hatte. Schon spürte er die Lippen des anderen auf seinen, die Hände, die sich unter seine lockere Kleidung schoben, und schmeckte...Zahnpasta? Entschieden schob er Schuldig von sich. „Du bist schon länger wach“, sagte er anklagend. Im Halbdunkel funkelten ihn zwei hellblaue Augen belustigt an. „Und wenn?“, fragte Schuldig und schob sich wie eine Raubkatze näher an Nagi heran, der daraufhin die Flucht nach hinten antrat, bis sein Rücken gegen das gitterartige Kopfteil des Bettgestells stieß. Grinsend kam Schuldig näher. „Du solltest frühstücken“, versuchte Nagi noch einmal sein Anliegen anzubringen. „Sie werden das Essen gleich abräumen.“ „Mhm, keinen Hunger“, meinte Schuldig. „Obwohl, vielleicht esse ich heute mal japanisch. Was meinst du?“ Er biss spielerisch in Nagis Fuß. „Etwas knochig, aber mit ein bisschen Sojasoße bestimmt genießbar. Obwohl...vielleicht finde ich ja noch ein fleischigeres Stück.“   Er fing an, sich langsam über Nagi zu schieben. Als er an der Stelle ankam, an der sich seine Oberschenkel trafen, grinste er nur noch breiter. „Bist du neuerdings bewaffnet oder freust du dich nur, mich zu sehen?“ Nagi konnte nicht verhindern, dass ihm eine leichte Röte ins Gesicht schoss. Seit der Sache am Strand war Schuldig quasi immerzu um ihn herum; streifte ihn wie zufällig, legte den Arm um ihn oder stellte sich so nahe neben ihn, dass sie sich bei der kleinsten Bewegung berührten. An das schamlose Interesse, das der andere an seinem Körper zeigte, hatte er sich trotzdem noch nicht so recht gewöhnt. Es war nicht unbedingt unangenehm, aber aufregend. Etwa so wie das Kribbeln, das man bei einer Achterbahnfahrt verspürte, wenn man nicht genau wusste, wann der nächste Looping kam. „So so, ich bin also eine Achterbahn“, murmelte Schuldig amüsiert und ließ sich neben Nagi fallen, damit er eine Hand frei hatte. „Eine mit Sitzbänken oder eine, wo die Füße in der Luft hängen?“ „W-was?“, keuchte Nagi. Schuldigs Hand lang inzwischen auf seinem Bauch und wanderte langsam tiefer. Nagi fand es daher etwas schwierig, seinen Ausführungen noch weiter zu folgen. „Schuldig, wir sollten wirklich....“ „Was sollten wir?“, schnurrte der in sein Ohr, als er die Hand an Nagis Hosenbund vorbei zwischen seine Beine schob. „Ich meine, ich wüsste eine ganze Menge, was ich jetzt gerne mit dir anstellen würde. Und damit meine ich nicht einen einfachen Handjob.“   Schuldig Lippen wanderten an seinem Hals entlang, während seine Hand sich jetzt wieder in Richtung Oberkörper bewegte. Eine Tatsache, die Nagi dazu brachte, sich frustriert auf die Unterlippe zu beißen. Kühle Finger strichen über seine erhitzte Haut, streichelte seine Brustwarzen, die sich daraufhin aufrichteten, als sich eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper zog. „Ist dir kalt?“, fragte Schuldig in sehr unschuldigem Ton. „Ich wüsste da etwas, das sich bestimmt wieder aufwärmt.“ „Das liegt nur an der Klimaanlage“, antwortete Nagi und schaltete sie mit einem Gedanken ab. Schuldig stöhnte neben ihm. „Wenn du die ausmachst, kochen wir hier in einer halben Stunde. Ich hätte wissen müssen, dass ein Haken daran ist, wenn Crawford meinen Vorschlägen zu schnell zustimmt. Ägypten ist momentan einfach die Hölle.“ „Aber es war deine Idee“, imitierte Nagi Crawfords amüsierten Ton, als sie vor zwei Tagen angereist waren. „Mini-Bastard“, knurrte Schuldig und ließ sich auf den Rücken fallen. „Dieses Hotel hat nicht mal Zimmerservice. Das ist bestimmt seine Rache für die Sache mit dem Ferrari.“ „Du meinst, weil sie uns mit dem geklauten Ding erwischt haben und du mich ohne Führerschein hast fahren lassen?“ „Ich war müde!“, verteidigte sich Schuldig. „Immerhin war ich die ganze Nacht lang wach und dann ist auch noch ein kleiner Vampir über mich hergefallen und hat mir die letzte Energie abgesaugt. Ich brauchte ein wenig Schlaf. Genauso wie jetzt. Also los, verzieh dich.“   Der Telepath kniff die Augen fest zu und tat, als ob er schlafen wolle. Nagi grinste, schwang sich nun seinerseits auf Schuldig und rieb seinen Unterkörper an dessen Lendengegend. Er erntete ein unwirsches Grunzen. „Versprich nichts, was du nicht halten willst, du kleiner Kobold.“ Nagi beugte sich über Schuldig und sah ihn ernst an. „Und wenn ich nicht nur leere Versprechungen machen würde?“ Schuldig öffnete die Augen. Der Ausdruck darin ließ das Flattern in Nagis Magen nur noch stärker anschwellen. Er wollte es eigentlich schon eine ganze Weile, aber die Umstände hatten es erforderlich gemacht, dass sie das Land und sogar den Kontinent schnellstmöglich verließen. Es war schlichtweg keine Zeit gewesen.   Schuldig kam ihm jetzt so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Vertraust du mir?“, fragte er leise. Nagi nickte. Natürlich tat er das. Er würde dem anderen sein Leben anvertrauen. Schuldigs Lippen streiften seine. „So viel verlange ich gar nicht. Ich möchte nur, dass du dich entspannst. Hab keine Angst. Ich merke, wenn dir etwas nicht gefällt.“ Mit klopfendem Herzen ließ Nagi es zu, dass Schuldig ihn entkleidete. Dass dessen Hände und Lippen über seinen Körper wanderten, ihn außen und innen auf jede erdenkliche Weise erkundeten und auf das vorbereiteten, was folgte. Zitternd vor Erregung ließ er sich schließlich über den anderen in eine Vereinigung ziehen. Er hielt kurz den Atem an, ob des unbekannten Gefühls. Es war neu, gut und aufregend. Seine Hände stützten sich auf Schuldigs Brust ab, als er begann, sich zu bewegen. Er keuchte und griff instinktiv nach dem Geist des anderen. Als er die fremden Gedanken fand, klammerte er sich daran fest, wühlte sich hinein und hörte nur am Rande den leicht gequälten Laut, den der andere unter ihm von sich gab.   Er war gefangen in den Empfindungen, die durch ihn hindurch wuschen. Eine Kreatur aus reinem Gefühl, dessen Lust ihn zu immer höheren Sphären trug. Er beschleunigte den Rhythmus, spürte das Blut in seinen Adern kreisen, seine Gedanken weiter ausgreifen, die Kraft die ihn durchfloss. Immer weiter, immer höher trug es ihn über die Grenzen seiner Vorstellungskraft hinaus, bis er schließlich an den Höhepunkt seiner Flugbahn gelangtet. Einen kurzen Augenblick verharrte er in der Schwerelosigkeit, bevor er sich sehenden Auges und mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe stürzte. Er fiel. Er raste. Die Kraft wich in leuchtenden Bahnen aus ihm, ein Stern in dunkler Nacht, dessen Aufprall die Welt in zwei Hälften spalten würde. Doch stattdessen zersplitterte er, löste sich auf, ein Moment vollkommener Loslösung, der sich wie Balsam über ihn legte, ihn einhüllte und wieder zurück brachte an den Ort, an dem er die Reise begonnen hatte.   Das erste, was Nagi wahrnahm, war sein eigener Atem, sein rasender Puls, seine Brust die sich in tiefen Zügen hob und senkte. Erst nach und nach kehrten die restlichen Sinneseindrücke zurück. Der warme Körper unter ihm, der Geruch von Moschus und Sex, das leicht klebrige Gefühl an seinen Händen. Er fühlte sich nicht in der Lage, die Augen zu öffnen. Seine Sinne waren roh und wund und er fürchtete, wenn er sie noch mehr überlastete, würde er ohnmächtig werden. Er leckte sich über die trockenen Lippen, schluckte. Er brauchte etwas zu trinken. Seine Kehle fühlte sich rau an. Hatte er geschrien? „Sch...Schu...“ Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Als er keine Antwort bekam, riss er nun doch die Augen auf. Der Telepath lag mit geschlossenen Augen da. Auch er atmete heftig und sein Körper war schweißbedeckt. 'Gib mir eine Minute', hörte er endlich wieder Schuldigs mentale Stimme und atmete auf. 'Du hast mir Angst gemacht', schimpfte er erleichtert. 'Ich dir? Darüber müssen wir uns nochmal unterhalten. Wenn ich herausgefunden habe, was das gerade war. Du hast deine Krallen in mich geschlagen wie ein tollwütiges Raubtier.' Nagi blinzelte und betrachtete Schuldigs Brust. Es stimmte, er hatte dort ein paar Kratzer hinterlassen. 'Ich spreche von deinen mentalen Krallen. Ich dachte, du zerfetzt mich gleich. Zum Glück bin ich ja kein Anfänger. Du hast mich ganz schön kalt erwischt.' Nagi blinzelte überrascht. „Du meinst, ich habe dich angegriffen?“, fragte er schließlich, als sein Gehirn endlich verarbeitet hatte, was Schuldig gerade gesagt hatte. Der andere öffnete die Augen und schubste ihn ein wenig unsanft von herunter, nur um sich gleich darauf wieder neben ihn zu legen. Seine Finger glitten an Nagis Seite entlang. „Es war schon immer besonders leicht, eine geistige Verbindung zu dir herzustellen. Ich hatte gedacht, das liegt einfach daran, dass du dafür empfänglich bist. Ich habe nicht bemerkt, dass anscheinend telepathische Kräfte in dir schlummern. Das würde erklären, warum alle meine Versuche, deine geistige Barriere zu beseitigen, bisher fehlgeschlagen sind. Wenn wir daran arbeiten, dass du diese Gaben entwickelst, könnte das deine Telekinese um ein Vielfaches potenzieren.“ Schuldig zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Ich habe, nachdem ich den ersten Ansturm überstanden hatte, einen Blick auf dein Innerstes Selbst werfen können. Tiefer, als ich bei allen vorherigen Versuchen gekommen bin. Ich habe deine Kraft gespürt, Nagi, und sie ist gewaltig. Gewaltiger als alles, was ich bisher gesehen habe. Wenn du tatsächlich Zugang dazu hättest, wäre das vielleicht der Schlüssel zu unserer Freiheit.“ Nagi schluckte. In seinem Kopf drehte sich alles. Er hatte...? Er war...? Aber wie...? Irritiert bemerkte er, wie Schuldig neben ihm zu grinsen begann. „Was ist los?“ Der Telepath wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Wie es aussieht, komme ich am besten an dich heran, wenn du rollig bist. Also werden wir in nächster Zeit wohl jede Menge Sex haben müssen.“ Nagi sah ihn einen Augenblick lang verblüfft an, bevor er plötzlich zu lachen begann. Er lachte und lachte, bis ihm der Bauch wehtat und Schuldig ihn aus dem Bett schmiss, damit er sich unter die Dusche trollte, unter der er ihm kurz darauf Gesellschaft leistete.   Während sie sich anzogen, kam Nagi ein neuer Gedanke. „Wir werden es Crawford sagen müssen, oder?“ Schuldig sagte nichts dazu. Nagi runzelte die Stirn. Normalerweise würde es sich der Telepath nicht nehmen lassen, eine flapsige Antwort oder etwas einen lockeren Spruch von sich zu geben. Dass er jetzt nicht antwortete, ließ Nagi aufhorchen. Er überlegte kurz und versuchte dann, Schuldigs Gedanken zu erfassen. Er erntete einen wütenden Blick aus blitzenden, blauen Augen. „Versuch das ja nicht ohne meine Erlaubnis“, knurrte Schuldig. „Du magst vielleicht telepathische Kräfte haben, aber ich habe weit mehr Erfahrung darin, sie zu benutzen. Das ist ein Duell, dass du nicht gewinnen kannst.“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Noch nicht.“ „Also werden wir es Crawford sagen“, stellte Nagi ernüchtert fest. Es war irgendwie ein komisches Gefühl und er hatte keinerlei Ahnung, wie Crawford reagieren würde. Es sei denn... „Er weiß es schon, oder?“ Schuldig gab erneut keine Antwort. „Wie lange?“ „Länger als du ahnst“, bekam er nun endlich die Antwort, die er gefürchtet hatte. Nagi hatte das Gefühl, das ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. „Was? Warum? Wann?“ Schuldig ließ sich mit einem Seufzen auf das Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Er weiß es schon, seit es angefangen hat. Im Grunde länger als du, wenn man so will. Ich...ich habe es ihm erzählt.“ Nagi konnte nicht in Worte fassen, was er gerade fühlte. Es kam ihm vor, als wäre er geschlagen worden. „Habt...habt ihr das geplant?“, fragte er und merkte, dass seine Stimme immer lauter wurde. „Habt ihr euch gedacht, es wäre doch toll, wenn ich mich in dich verliebe, damit ihr meine Kräfte aktivieren könnt. War das der Plan?“ Er bebte vor Wut und um ihn herum begannen die Bilder an den Wänden zu zittern. Eine kleine Blumenvase rutschte von einem Regal und zerschellte mit lauten Klirren auf dem Boden. Nagi widerstand dem Drang, die Scherben auf Schuldig zu schleudern. Der Telepath hob den Kopf und sah ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. „Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen? Es ihm verschweigen? Er ist unser Anführer, Nagi. Er macht die Pläne, kalkuliert die Risiken, sorgt dafür, dass alles glatt läuft. Er muss so etwas wissen.“ „Und warum hast du mir nichts gesagt?“ Nagis Stimme war jetzt zu einem Flüstern geschrumpft. „Was genau hätte ich denn sagen sollen? Dass ich weiß, dass du mich attraktiv findest? Hätte ich dich einfach verführen sollen? Dich in eine dunkle Ecke ziehen und mit dir Dinge tun, für die du nicht bereit warst? Und glaub nicht, dass Crawford das nicht begrüßt hätte. Je schneller, desto besser. Aber so bin ich nicht, Nagi. Nicht immer. Nicht zu dir. Ich...“ Er brach ab und überbrückte die Entfernung zwischen ihnen mit zwei schnellen Schritten. Er legte die Hand an Nagis Kinn und hob es an, sodass er ihm in die Augen sehen konnte. „Du bist nicht einfach irgendjemand. Du bist kein Spielzeug für mich, auch wenn du das jetzt glauben magst. Ich gebe zu, die Aussicht auf einfachen Sex mit dir war verlockend. Aber ich habe dem Drang nicht nachgegeben. Ich wollte, dass es von dir ausgeht. Egal welche Pläne Crawford für dich hatte.“ „Heißt das...heißt das, du liebst mich?“ die Frage hatte Nagis Mund verlassen, bevor ihm klar wurde, was er da gesagt hatte. Schuldig gab einen amüsierten Laut von sich. „Du kennst mich. Ich glaube nicht an die Liebe. Es ist eine Illusion, etwas das sich die Leute einreden. Ich weiß, was wirklich in ihren Köpfen vorgeht. Da ist Wollust und Habgier und Eitelkeit. Mische das mit ein wenig Körperchemie und Fortpflanzungstrieb und du hast das, was man im Allgemeinen Liebe nennt. Aber ich respektiere dich, Nagi. Du faszinierst mich und ich verbringe gerne Zeit mit dir. Mehr kann ich dir nicht anbieten.“ Nagi wollte am liebsten weglaufen und sich irgendwo vor dem verstecken, was er gerade gehört hatte. Er konnte das nicht glauben. Wollte das nicht glauben.   Von einer plötzlichen Schwäche übermannt lehnte er sich an Schuldig, der seine Arme um ihn schloss, ihn hochhob und zum Bett trug. Er fühlte die Wärme des anderen neben sich, seine sanften Berührungen, roch den Geruch der frisch gewaschenen Haut, die Spuren ihres Liebesspiels auf den Laken. Er spürte, wie Schuldig ihn festhielt und fühlte die heiße Feuchtigkeit auf seinem Gesicht, die sich einfach ihren Weg bahnte, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten. Und er spürte die Kraft in seinem Inneren pulsieren. Eine Kraft, die neu erwacht zu sein schien und ihn ihm brannte wie blaues Feuer. Irgendwann hob er schließlich den Kopf und seine Lippen fanden Schuldigs. Der Telepath erwiderte den Kuss und zog langsam das Laken, in das er ihn gewickelt hatte, von Nagis Körper. Wie es aussah, würde Crawford noch ein wenig warten müssen. Zuerst wollte Nagi ausprobieren, ob er noch einmal an dieses Leuchten tief in sich herankam. Es machte nichts, dass Schuldig seine Gefühle nicht erwiderte. Sie würden sich gegenseitig benutzen, um etwas Großes zu erschaffen. Etwas sehr Großes.             Mamoru liegt neben ihm. Sie haben die dünne Decke über sich gezogen und Nagi ist sich sicher, dass sie beide einen Augenblick lang eingeschlafen sind, nachdem sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder voneinander gelöst haben. Er hat noch die Laute in seinem Ohr, die der andere von sich gegeben hat. Das Seufzen, das Wimmern, das Stöhnen. Er hat noch seinen Geruch in der Nase, seinen Geschmack auf den Lippen, die sich roh und rau anfühlen. Die Erinnerung an das Gefühl, als sie völlig eins waren. Die Geräusche, die Bewegungen, der uralte Rhythmus, dem sie sich beide ergeben haben. Die Erinnerung daran lässt ihn fast wieder hart werden. Er seufzt lautlos und sieht auf. Sein Blick trifft auf große, blaue Augen, die ihn aufmerksam mustern.   „Ich muss jetzt gehen“, sagt Mamoru mit leiser Stimme. „Es wird Zeit, Weiß die Einsatzbefehle zu überbringen.“ Er zögert kurz, bevor er hinzufügt: „Und Omi Tsukiyono auf eine letzte Mission zu schicken. Ich werde heute Abend selbst mit in die Kathedrale gehen.“ Nagi sieht ihn ein wenig irritiert an und ein trauriges Lächeln erscheint auf Mamorus Gesicht. „Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Dass ich nicht jeden retten kann. Mein Problem ist, dass ich es immer noch versuche. Dass da immer noch Omi in mir ist, der naiv genug ist zu glauben, dass das geht. Der sich danach sehnt, eine Familie um sich zu haben. Einst war Weiß meine Familie, aber ich habe sie verlassen, als ich die Gelegenheit dazu hatte, weil...weil es keine gute Familie mehr war. Weiß brach auseinander und es war Aya, der damals zu mir sagte, dass ich gehen solle, wenn ich noch eine Chance auf ein normales Leben haben wolle. Also bin ich geflüchtet. Aber ich habe es nicht geschafft. Ich bin nie wirklich in meinem neuen Leben angekommen. Ich habe die Aufgabe von Perser übernommen, weil ich meine alte Familie nicht loslassen konnte. Weil ich auf diese Weise hoffte, immer noch ein Teil von Weiß sein zu können, wenngleich auch nur ganz am Rande. Weil ich gehofft habe, sie retten zu können. Aber das kann ich nicht. Nicht, wenn sie Weiß bleiben.“   Sein Blick wird auf einmal unstet, irrt ein wenig umher. „Ich...Du hast gesagt, dass ich Hilfe brauche. Das ist jetzt wohl der Augenblick, um dich darum zu bitten. Ich...ich habe noch ein Geschenk für dich. Na ja, nicht wirklich ein Geschenk. Es ist eher ein Angebot.“ Nagi runzelt die Stirn, während er Mamoru dabei zusieht, wie sich dieser ein wenig langsamer als sonst erhebt. Kurz darauf landet eine große Schachtel neben ihm auf dem Bett. Mamoru setzt sich neben ihn und bedeutete ihm, sie zu öffnen. Er hebt den Deckel ab und findet... „Eine Uniform?“, fragte er ein wenig verwundert. Seine Hände gleiten über den weichen, grauen Stoff, silberne Knöpfe und an den Ärmeln rote Kreuze? Er stutzt und sieht Mamoru an.   Der andere beißt sich auf die Lippe und schaut ihn fragend an. Nagi sieht erneut in die Schachtel. „Sie ist schön“, sagt er vorsichtig. „Aber ich gehöre nicht zu Weiß. Das werde ich nie. Verstehst du das?“ Mamoru atmet hörbar aus, bevor er nickt. „Das würde ich nie verlangen. Es ist nur so, dass ich mir mit dem, was ich vorhabe, nicht nur Freunde machen werde. Ich brauche jemanden, der für meine Sicherheit sorgen kann. Jemand, dem ich vertrauen kann.“ Nagi erwidert nichts. Er wartet ab, was der andere zu sagen hat.   Mamoru sieht auf seine Hände. „Ich weiß, dass es vermutlich dumm ist. Aber ich denke, dass du, wenn du mir schaden wolltest, schon viel früher die Gelegenheit dazu gehabt hättest. Ich...ich weiß, was du kannst, aber du hast es nicht genutzt. Im Gegenteil. Du hast mir geholfen, mir zugehört, mir ehrlich die Meinung gesagt. Deswegen vertraue ich dir. Auch wenn es vermutlich sehr leichtsinnig ist, wenn man bedenkt, was mit deinen früheren Auftraggebern geschehen ist. Ich kann einfach nur hoffen, dass es bei uns anders sein wird.“ Nagi legt den Kopf schief. „Ich verspreche dir, dass ich dich vorwarnen werde, wenn unsere Interesse in verschiedene Richtungen laufen. Ich werde dich nicht anlügen.“ Mamoru nickt langsam. „Ich denke, damit kann ich leben.“ Er lächelt. „Und ich hoffe, dass unsere Interessen noch eine ganze Weile in die gleiche Richtung laufen können. Werden wir einen Vertrag brauchen?“ Nagis Mundwinkel ziehen sich nach oben. „Natürlich werden wir das. Und du wirst sehen, dass ich nicht billig bin. Schwarz hat da schon immer gewisse Standards gehabt.“ „Ich denke, das ist eine Ausgabe, die das Takatori-Vermögen verkraften wird. Immerhin geht es hier um meine Sicherheit. Die Sicherheit des letzten und einzigen Erben der Familie. Dafür sollte nichts zu teuer sein, habe ich recht?“ Er lacht und Nagi erwidert das Lächeln, obwohl ihm nicht danach ist. Immerhin weiß er nicht, ob Mamoru diese Nacht überleben wird. Oder ob er sie überleben wird. Zu diesem Zeitpunkt ist alles ungewiss.   Er sieht Mamoru zu, wie dieser sich anzieht. Als er Nagis Blick bemerkt, lächelt er ihn an. In seinem Blick liegt eine Wärme, von der Nagi das Gefühl hat, dass er sie nicht verdient. Er sieht zu seinem Laptop. Kurzentschlossen steht er auf, schaltet es an und zieht einige Daten auf eine Diskette. Er übergibt die Mamoru, der ihn fragend ansieht. „Sieh es dir an, bevor ihr zu der Mission aufbrecht. Es könnte wichtig sein. Eszett hat noch mehr Projekte als die Z-Klasse. Ihr solltet vorbereitet sein.“ Er verschweigt, dass Mamoru dort auch Aufnahmen von ihm sehen wird. Von seiner Art zu arbeiten. Er weiß nicht, wie der andere darauf reagieren wird. Aber er will ihm nichts mehr verschweigen. Mamoru soll wissen, worauf er sich einlässt. Das ist das Einzige, was Nagi ihm anbieten kann.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)