VITANI von brightest-star (Die Geschichte der Schattenlöwin) ================================================================================ Kapitel 1: Leben ---------------- Die Löwin keuchte. Ihre Flanken bebten, ihre Schwanzspitze zuckte erregt. Ihren Ohren entging nichts. Noch einmal keuchte sie. Dann ließ sie sich erschöpft auf die Seite fallen. Der Boden der Höhle war hart und kalt. Die Löwin zitterte, sie spürte, wie sich die Kälte auf ihren ermatteten Körper übertrug. Sie wusste, sie würde nicht überleben, konnte nicht überleben…nein… Kraftlos schloss sie ihre Augen. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Sie nahm all ihre letzte Kraft zusammen und wartete auf das, was geschehen würde. Das Letzte, was sie spürte, war, dass sich ein kleiner, flauschiger Körper Schutz suchend an sie presste und klägliche Laute ausstieß. Dann verlor sie das Bewusstsein. Eisige Kälte und Dunkelheit umhüllte sie, Angst überkam die Löwin wie ein Schatten. Sie musste sich um ihr Junges kümmern, ihm zu trinken geben, sonst würde auch es nicht überleben! Langsam spürte sie, wie ihre Kräfte zurückkehrten. Ein Glück!, dache sie erleichtert. Sie hatte schon mit de Schlimmsten gerechnet. Vorsichtig blinzelte die Löwin und erblickte drei leuchtende Augenpaare. Reflexartig fuhr sie die Krallen aus - bereit, zu kämpfen! Doch sie spürte Erleichterung, als sie in die Augen von zwei sandfarbenen Löwinnen blickte. Zwischen ihren Beinen tauchte ein Löwenmädchen auf, das mit großen Augen auf das kleine Fellknäuel schaute. „Hallo Tama!“, begrüßte die ältere Löwin sie sanft. „Hallo Sarabi!“ Tama lächelte. Sie war unendlich froh, dass ihre Freundinnen den Weg zu ihr gefunden hatten. „Sarafina, schön, dass du Nala mitgebracht hast“, wandte sie sich nun an die Jüngere und warf einen Blick auf das immer noch staunende Löwenmädchen. Dann lenkte allerdings das winzige Junge alle Aufmerksamkeit auf sich, indem es herzzerreißend maunzte. „Das Kleine ist wunderschön!“, schwärmte Sarabi. „Wer ist denn der stolze Vater?“ Tama senkte traurig den Kopf. Nie könnte sie verraten, wer der Vater des kleinen, unschuldigen Jungen war… „Ist es ein Mädchen?“ Aufgeregt hüpfte Nala auf und ab. „Ja.“ Tama lächelte. „Ihr Name ist Vitani.“ Jetzt traten die beiden Löwinnen vor. „Sie sieht aus wie du!“, schnurrte Sarafina. Jetzt versuchte Vitani, die verklebten Augen zu öffnen. Sie waren blau, blau und wunderschön. Vorsichtig näherte sich Nala dem winzigen Wollknäuel und berührte es sanft mit ihrer Pfote. Glucksend drehte Vitani sich auf den Rücken und öffnete ihr winziges Mäulchen. Aber Tama spürte, dass das Junge noch sehr schwach war. Es musste trinken…Sie stupste das Löwenbaby mit der Schnauze in Richtung Milchquelle. Instinktiv begann die Kleine zu saugen und genussvoll zu schmatzen. „Ja, trink, trink, meine kleine Vitani, damit du groß und stark wirst“, flüsterte Tama und leckte ihr zärtlich über das Fell. Noch nie hatte sie sich glücklicher gefühlt als jetzt. Sie war Mutter! In ihren Pfoten lag das Schicksal dieser kleinen Löwin, und das fühlte sich großartig an. Großartig- aber auch beängstigend. Ein Brüllen durchbrach die Stille der Savanne. Die Löwinnen zuckten zusammen. Ängstlich drückte sich Vitani an ihre Mutter. Eine unheimliche Stille erfüllte die Höhle und keiner wagte es, auch nur eine Pfote zu bewegen. Erneut ertönte das mächtige Gebrüll. Ein Schatten verdunkelte den Mond, der sein schwaches Licht in die Höhle sandte. Und dann stand eine Löwin in der Höhle, mit gebleckten Zähnen, die Krallen ausgefahren. „Gib mir dein Junges, Tama!“ Kapitel 2: Tod -------------- Tama knurrte. Sie würde ihre Vitani verteidigen, koste es, was es wolle! „Zira! Was tust du hier?“ Die dürre Gestalt schlich näher und fixierte das Junge mit ihrem roten Blick. „Sie gehört mir. Vergesse nicht, wer deine Königin ist.“ „Sie ist immer noch mein Junges!“ Tama spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Aber sie durfte keine Schwäche zeigen- nicht vor Zira, die ihre Angst sofort ausnutzen würde. „Du kannst es nicht vor mir verbergen, Tama…aber ich weiß genau, welche Pläne du hattest! Du wolltest meinen Platz als Königin einnehmen und Scars neue Gefährtin werden- das Junge ist der Beweis!“ Geschockt sahen sich die anderen an. Das konnte nicht sein…Scar war der Vater? „Ich wollte kein Junges von ihm, aber Scar…“ „Lügnerin! Scar wäre mir gegenüber niemals untreu!“ Wieder brüllte Zira, und ihr Gebrüll hallte an den Wänden der Höhle wider. Der Boden erzitterte. Vitanis vor Angst geweitete Augen blickten zu Tama. „Dieses Junge hätte niemals geboren werden dürfen! Du hättest es umbringen müssen…“ Um Ziras Lippen spielte ein Lächeln. „Aber wie ich dich kenne, bist du viel zu gutherzig dafür. Vielleicht sollte ich diesen Part übernehmen. GIB SIE MIR!“ „Du bekommst Vitani nicht!“, knurrte Tama. „Ich werde kämpfen!“ „Wie du willst…“ Ziras scharfe Zähne blitzten im Mondlicht. Tama spannte ihre Muskeln an und sprang. „Nicht! Tama, nein!“ Entsetzt sahen Sarabi, Sarafina und Nala, wie sich die die beiden Löwinnen aufeinander stürzten. Doch sie konnten nichts tun. Wie gebannt starrten sie auf den Kampf, der sich vor ihnen abspielte- ein Kampf auf Leben und Tod. Tama spürte, wie sich Ziras Krallen tief in ihr Fleisch gruben. Sie duckte sich, um einem weieren Schlag auszuweichen, um dann ihrerseits ihre Zähne in Ziras Flanken zu schlagen. Diese brüllte vor Schmerz, Tama hatte eine empfindliche Stelle getroffen. Aber schon holte Zira zum Gegenschlag aus und warf sie von den Pfoten. Tama schnappte japsend nach Luft. Sie spürte, dass die Geburt sie geschwächt hatte, aber in ihr brannte auch der unbändige Wille einer Mutter, Vitani zu verteidigen. Schnell rappelte sie sich auf, noch bevor Zira einen weiteren Angriff starten konnte, und zerkratzte ihr die Schnauze. Blutschlieren liefen Zira nun das Maul hinunter, was ihr ein unheimliches, furchteinflößendes Aussehen verlieh. Leider. Schon wurde Tama wieder mit ausgefahren Krallen bearbeitet. Sie hatte einen Moment lang nicht aufgepasst… Aber das würde sie wieder wettmachen. Tama schüttelte Zira ab und wirbelte herum, um ihr einen weiteren Prankenschlag zu verpassen. Du wirst meine Tochter nicht so einfach bekommen, wie du glaubst!, dachte sie grimmig. Doch schon kam Ziras Schlag. Mitten in den Bauch. Tama konnte ihn nicht aufhalten. Dort, wo noch vor einer Weile ein kleiner Körper gelegen hatte, landete Ziras krallenbewehrte Pranke nun mit voller Wucht. Ein Schmerz, wie sie ihn noch nie zuvor verspürt hatte, durchzog ihren ganzen Körper. Sie brüllte vor Wut, verzweifelt und hilflos, während sie eine weitere Welle von Schmerzen überkam. „Du hast das genau gewusst!“, jaulte Tama, die Höhle verschwamm vor ihren Augen. Dann gaben ihre Beine nach und sie prallte auf den harten Boden. Vielleicht sollte sie lieber aufgeben. Zira war stärker, sie hatte keine Chance mehr…und vielleicht wäre es einfach besser… „Für dich vielleicht!“, hallte eine Stimme in Tamas Kopf. Aber dann sah sie ein Bild vor Augen, Vitani, wie sie hilflos maunzend zwischen Ziras blutigen Fängen baumelte, von ihren kräftigen Klauen zerfleischt wurde… Nein! Das konnte sie nicht zulassen! Tama nahm ihre letzte Kraft zusammen…sie wusste, dieser Schlag würde ihr letzter sein. Ihre Pranke wirbelte durch die kalte Luft, riss ein Stück aus Ziras empfindlichem Ohr, ein Schmerzensschrei hallte an den Wänden wider. Blut tropfte auf den Höhlenboden. Zira fauchte. „Das war´s schon?“ Tama hörte diesen unverkennbaren Sarkasmus in Ziras Stimme, den sie so sehr hasste. „Ich werde dich so oder so töten, ist dir das überhaupt bewusst?“ Sie schloss erschöpft ihre zerkratzten Augenlider…es half nichts mehr…sie war zu schwach… Zira stürzte sich auf sie, ihre todbringenden Zähne umfassten Tamas Kehle. Dann biss sie zu. Tama erwartete den Schmerz. Mit geschlossenen Augen, stumm, ließ sie das Leid über sich ergehen. Bitte lass es schnell gehen, flehte sie innerlich. Zira schlug fester zu. Blut ergoß sich wie eine rote, klebrige Welle über den Boden, füllte ihren Mund, ihre Lunge…sie konnte nicht mehr atmen… Schwärze, Dunkelheit und Schmerzen erfüllten ihren Geist und vernebelten ihre Sicht. Aus den Schatten trat eine Löwin, verschwommen erst, dann immer klarer. Sternenlicht funkelte silbern in ihrem Fell. Ihr Gang hatte etwas Stolzes, Anmutiges. „Komm mit mir“, flüsterte sie sanft. Und da wusste Tama, es war vorbei. Kapitel 3: Hoffnung ------------------- Hinter einem Felsen beobachtete eine kleine Löwin das Geschehen aus sicherer Deckung, sie konnte nicht glauben, was sie da gesehen hatte: Tama war tatsächlich von Zira getötet worden! Mit angehaltenem Atem sah sie, wie Zira das Junge unsanft zwischen die Zähne nahm und zum Höhleneingang schlich. Warme Tränen liefen ihr die Wange hinunter. Der unschuldigen Vitani würde wahrscheinlich das gleichen Schicksal widerfahren wie ihrer Mutter… Tama. Leise schlüpfte sie ins Freie. Es war eine sternenklare Nacht, der Mond warf sein silbernes Licht auf das trockene Land. Tiefe Risse zogen sich durch den Boden. Irgendwo kicherte eine Hyäne; Angstgeruch lag in der Luft. Hell zog sich ein Band von Sternen durch den Himmel. Hoffnungsvoll blickte Nala zu ihnen hinauf. Sie suchte den Himmel nach einem bestimmten Stern ab, ihre Blicke wanderten hin und her… “Simba, hilf mir! Was soll ich nur tun?” Keine Antwort. Die kleine Löwin machte sich auf den Weg zur Höhle ihrer Familie, rannte so schnell sie konnte an den im Schlaf knurrenden Hyänen vorbei. Verzweiflung brannte in ihrem Herz. Wer konnte ihnen jetzt noch helfen, wenn selbst die Großen Könige der Vergangenheit sie aufgegeben hatten? In der großen Höhle empfing sie Sarafina. Mit sorgenvoll geweiteten Augen schaute sie auf ihre Tochter hinab. “Was ist mit Tama geschehen? Oh Könige, es ging alles so schnell, wir konnten nicht- und dann warst du nicht mehr da- “ “Tama ist tot”, flüsterte Nala. “Tot…”, murmelte eine andere Löwin und erhob sich von ihrem Schlafplatz. Es war Sarabi, die ehemals stolze Königin des Geweihten Landes und Mufasas Gefährtin. Seit seinem Tod war sie wie ausgewechselt, redete kaum noch ein Wort und hielt sich abseits vom Rest des Rudels, den Kopf trauernd gesenkt. Nun schien wenigstens ein Teil ihres Verantwortungsbewusstseins als Königin wieder erwacht zu sein. “Dieser Ort ist nicht mehr sicher für uns”, begann sie. Ihre Stimme klang zittrig, aber Nala bemerkte, dass sie versuchte, ihr einen starken Klang zu verleihen. “Wie ich gerade gehört habe, ist Tama… von uns gegangen.” Unruhiges Gemurmel erfüllte die Höhle, bis sich die Erkenntnis vom Tod eines Rudelmitglieds wie ein Schleier über alles legte. Stille trat ein. Dann sprang eine zweite Löwin mit gesträubtem Fell auf. “Es reicht!”, fauchte Safira, Sarabis Schwester. “Zuerst dieses Unheil von Dürre, das Scar mit seinen dreckigen Hyänen über uns gebracht hat. Und jetzt mordet er noch, wahrscheinlich, damit niemand hinter das blutige Geheimnis seines Throns kommt!” Safiras Schwanz peitschte vor Zorn hin und her, während sie sich immer mehr in ihre Wut hineinsteigerte. “Aber wir werden es nicht so weit kommen lassen, dass er uns alle einzeln foltert, uns quält, bis wir um Gnade flehen und ihm die Treue schwören!” Nala merkte, dass sie unwillkürlich die Krallen ausgefahren hatte. Auch anderen Löwinnen ging es so, sie entblößten ihr Gebiss und knurrten leise. “Nein, wir werden uns wehren, wenn nötig, auch mit Gewalt! Dies ist der Anfang einer Rebellion!” Wie zur Unterstreichung ihrer Worte setzte sie zu einem mächtigen Gebrüll an, aber sie wurde aufgehalten. “Mufasa hätte das nicht gewollt.” Sarabi sprach leise, viel leiser als ihre jüngere Schwester, aber doch brachte die Kraft ihrer Worte alle zum Schweigen. “Er hätte niemals gewollt, dass wir seinen Bruder umbringen, wegen Verbrechen, von denen wir keine Gewissheit haben, dass Taka sie jemals begangen hat.” “Ich kann dir mit größter Gewissheit sagen, welche Verbrechen Scar begangen hat…”, begann Safira erneut, doch diesmal brachte Sarabi sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. “Das Wichtigste ist erst einmal die Sicherheit des Rudels. Ich schlage vor, die Verborgenen Höhlen aufzusuchen.” Nala schauderte. Ihre Mutter hattte ihr von dem ausgeklügelten Höhlensystem tief unter dem Geweihten Land erzählt, das schon die ersten Könige als Schutzbunker für die Alten, Schwachen und Jungen genutzt hatten. Im Krieg. Wenn das Land nicht mehr sicher war und man außerhalb des schützenden Bunkers jederzeit angefallen werden konnte. Und genau das ist jetzt der Fall… dachte Nala verzweifelt. Inzwischen hatten sich die Löwinnen des Rudels um Sarabi versammelt. “Auch wenn wir dem Königsfelsen den Rücken gekehrt haben, werden wir noch stark sein. Stark wie der Fels in der Brandung und das Schilfgras im Sturm. Denkt immer daran: Wir sind eins!” Entschlossen sahen Sarabis Augen nach vorn, und Nala war es, als würde sie dort noch etwas anderes sehen, etwas, das ihr wieder Mut und neue Kraft gab. “Lasst uns gehen!” Kapitel 4: Familie ------------------ Alles war fremd. Der Geruch. Das Fell. Struppig, matt und verwahrlost. Krallen, die in der aufgehenden Sonne blitzten. Getrocknetes Blut klebte an den spitzen Zähnen. Gegen die Sonne erkannte Vitani die Silhouette einer Löwin. Ein eingerissenes Ohr, tiefe Wunden, der Strich, der ihr von der Stirn bis an die Schultern reichte. Es war Zira! Angstvoll blickte Vitani die Fremde an. Das war nicht ihre Mutter, aber trotzdem… Sie stieß leise, klagende Laute aus. Der Hunger quälte sie, sie brauchte Muttermilch! Vitani kroch über den kalten Boden bis zu den Zitzen der Löwin. Sie öffnete das Mäulchen, um zu saugen, doch dazu kam es nicht. Eine Pranke mit scharfen Krallen sauste auf ihren empfindlichen Körper hinab. Vitani wollte sich aufrappeln, sie wollte fliehen vor dieser Löwin, die sie so behandelte, aber ihr Körper hatte noch zu wenig Kraft. Immer wieder schlug Zira auf sie ein. Stechender Schmerz durchfuhr das Junge, und sie sackte zusammen. Zira holte aus. Ein Schlag noch, und Vitanis kurzes Leben wäre vorbei. “Lass sie leben!!!” Ein dunkler Umriss schob sich vor den Höhleneingang. Grüne Augen blitzten auf, als die Stimme ihres Retters donnernd durch die Höhle hallte. “Wie kannst du es wagen, Zira, meine Tochter zu verletzen? Ich vertraute dir, ich machte dich zu meiner Königin, und so dankst du mir das? Indem du meine Kinder tötest?” Der Löwe trat näher und das Letzte, was Vitani sah, bevor ihre Welt im Dunkeln versank, war die Narbe über seinem rechten Auge. Scar durchquerte die riesige Höhle mit ein paar Sprüngen. Schon war er an der Seite seiner Gefährtin angelangt, die unterwürfig die Ohren anlegte- wahrscheinlich erwartete sie eine weitere Zurechtweisung. Doch der König hatte nur Augen für seine Tochter. Wie ein Juwel lag sie in Ziras blutbefleckten Pfoten, rein und unschuldig. Wie konnte man so etwas Wunderschönes nur zerstören wollen? Vorsichtig nahm er sie hoch und wies Zira an, die Höhle zu verlassen. Sie hatte schon genug angerichtet. Er begann, die Wunden der Kleinen zu lecken. Dadurch wurde sie wieder wach und beäugte mit strahlend blauen Augen ihren Vater. Sie blinzelte ein paar mal, dann kuschelte sie sich in Scars Mähne und schlief erschöpft ein. Scar liebte sie vom ersten Augenblick an. Es gab nur wenige, die Liebe von ihm erfahren durften, doch dieses Junge schloss er sofort ins Herz. Er würde sie vor allem beschützen, was sie bedrohte… auch Zira. Zira. Er hatte sie auch geliebt. Auf andere Weise. War es Liebe gewesen? Nein. Das, was er jetzt verspürte, war Liebe. Und seltsamerweise auch… Schuld. Durch Mord war er an die Macht gekommen, seinen Neffen hatte er fortgejagt, und er hatte nicht gezögert, dem Rudel eine Lüge aufzutischen. Es war falsch. Er war nicht mehr als ein Lügner. Doch für dieses kleine Leben in seinen Pfoten musste er mehr sein, ein Vater, ein König, ein Vorbild. Damit sie irgendwann einmal in seine Pfotenstapfen treten konnte. Ohne Schuldgefühle. Er dachte auch an Tama. Oh, dieses dumme Mädchen… Nun, sie hatte den Preis zahlen müssen. Er trauerte ihr nicht nach. Wie hatte doch gleich der Name gelautet, die sie einer Tochter immer geben wollte? Ach ja… Vitani. Kapitel 5: Jagdversuche ----------------------- Es war ein heißer Tag. Die Sonne brannte von einem strahlend blauen Himmel und die Löwinnen suchten Schutz im Schatten einiger Felsen, pflegten sich gegenseitig das Fell und tauschten Neuigkeiten aus. "Hast du Scars Tochter schon gesehen?" "Dieser kleine Wirbelwind? Natürlich. Sie ist so süß. Scar muss unheimlich stolz sein. Und Zira auch." "Wo wir gerade von der Königin sprechen, Hasira: Sie ist in letzter Zeit etwas... seltsam." "Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, was mit ihr los ist. Vielleicht sollte ich mit ihr reden - auf ihre große Schwester hört sie bestimmt." "Oh, schau, da ist ja Vitani!" Ein goldfarbenes Löwenmädchen stürmte aus der Höhle. Eine Windböe erfasste das kleine Fellbüschel auf ihrem Kopf, und sie versuchte, den widerspenstigen Pony wieder geradezustreichen. Vitani blinzelte ins grelle Licht. Das Land vor ihr schien sich unendlich weit auszudehnen. Es kribbelte ihr in den Pfoten, einfach loszulaufen. Doch ihr Vater hatte ihr eingeschärft, sich nicht zu weit vom Königsfelsen zu entfernen. Und Papa hatte immer recht. Er war schließlich der König und sie eine Prinzessin.. Er wollte ja nur das Beste für sie. Doch trotzdem brannte in ihr der Wunsch, der rebellische Gedanke, die Grenzen zu ignorieren. Sie tapste den Felsen hinunter und setzte ihre Pfoten auf das gelbe Gras. Trocken fühlte es sich an. Es raschelte lustig, wenn man hindurchtollte. Eine Heuschrecke flog auf, Vitani jagte ihr nach. Ein leises Lachen aus dem Schatten ließ sie herumfahren. Nur einige Löwinnen, die sie amüsiert beobachteten. Vitani wurde heiß unter ihrem Fell. Da - ein Schatten huschte über den trockenen Boden. Eine Maus! Vitani konzentrierte sich auf ihre Sinne. Sie konnte die Maus spüren. Dort, im hohen Gras, hockte sie, ohne zu wissen, dass sich eine Jägerin gut getarnt anschlich... Das würde ihr erster Fang für das Rudel werden! Ihr erster Beitrag als zukünftige Königin! Aufgeregt peitschte ihr Schwanz hin und her und ließ das Gras rascheln. Schon war die Maus verschwunden! "Zebramist!", fluchte Vitani leise. Dabei hatte die Jagd so gut angefangen... Eine riesige Pfote krachte vor ihr auf den Boden. Vitani wich zurück - aber jetzt sah sie erst, dass diese Pfote Königin Zira, ihrer Mutter, gehörte. "Suchst du das hier?" Zira hielt ihrer Tochter lächelnd die Maus entgegen, die ihr gerade entwischt war. Quiekend zappelte sie in der Luft herum. Auf einmal tat Vitani das Mäuschen leid. "Eine Chance hast du noch", meinte Zira, doch Vitani schüttelte den Kopf. Sie wusste, sie konnte es nicht übers Herz bringen, die Maus zu töten. "Also gut." Zira schlug ihre Zähne in das kleine Tier und sofort verstummte das Quieken. Sie reichte die leblose Maus Vitani. "Sagen wir einfach, du hättest sie gefangen." "Danke!" Vitanis Augen leuchteten. Ihre Mutter war spitze! Sie hatte wirklich gute Ideen. Das heimtückische Lächeln, das Zira aufgesetzt hatte, bemerkte sie nicht. Die beiden liefen zurück zum Königsfelsen, an dessen Spitze nun Scar erschien. Seine schwarze Mähne wehte im Wind. Für Vitani war er der stolzeste und mächtigste König, den es je gegeben hatte! Voller Freude fing sie an zu rennen, kugelte einen kleinen Abhang hinab und sprang leichtfüßig den Felsen hinauf. Scar hatte Vitani bemerkt und begrüßte sie zärtlich. Sie strich zwischen seinen Beinen hindurch und schnurrte. "Ich habe heute eine Maus gefangen!", berichtete sie stolz. Sofort kroch schlechtes Gewissen unter ihr Fell. Eigentlich stimmte das nicht... "Gut gemacht!", lobte ihr Vater. "Ah, hallo Zira!" Die Königin grüßte mit einem Kopfnicken. "Unsere Tochter hat heute ihren ersten Fang gemacht, ist das nicht wundervoll?" Doch Zira fand das anscheinend gar nicht wundervoll. Bei Scars Worten verfinsterte sich ihr Blick - der geradewegs zu Vitani wanderte. "Lügen gehört sich nicht für eine Prinzessin." Vitani riss die Augen auf. Warum tat Zira das? "Was willst du damit andeuten?" Scar erhob die Stimme. "Sie hat die Maus nicht getötet. Sie hat sie noch nicht einmal gefangen." Ziras Stimme wurde immer schriller. "Ich musste es für sie tun. Weil sie schwach ist!" Am liebsten wollte sie weinen. Ihrem Vater sagen, dass Zira die Lügnerin war. Doch sie sah in seinem Blick, dass er den Worten seiner Gefährtin glaubte. Es machte keinen Sinn. Zira hatte Vitani doch gesagt, sie sollte so tun, als ob sie die Maus erlegt hätte... und jetzt stellte die Königin sie aus genau diesem Grund als Lügnerin dar. Zurecht, wie Vitani mit Scham erkannte. "Das hätte ich nicht von dir erwartet!", grollte der König. Sie wurde klein unter seinem Blick, senkte den Kopf. "Es tut mir leid." "Das sollte es auch. Vitani, ich bin enttäuscht von dir. Wie soll eine gute Königin aus dir werden, wenn du noch nicht einmal ehrlich zu deinem Vater sein kannst?" Mit Tränen in den Augen rannte sie in die Höhle. Ein leises Schluchzen entfuhr ihr. Sie wollte doch nur ihren Vater stolz machen und es war ja nicht ihre Idee gewesen, ihn anzulügen! Es war einzig und allein... Zira. Lautlos war die Löwin neben Vitani getreten. "Schsch, nicht weinen. Du kannst deinem Vater immer noch beweisen, dass du den Aufgaben einer wahren Königin gewachsen bist. Alles was du dafür tun musst, ist, an einen ganz besonderen Ort zu gehen." Die Prinzessin horchte auf. Sie war ihrer Mutter zwar immer noch etwas böse, aber wenn es einen Weg gab, dass Scar sie wieder lieb hatte... "Nur die Mutigsten wagen sich dorthin. Aber du bist doch mutig, nicht wahr? Du willst Papas mutiges Mädchen sein?" Vitani nickte. "Also gut." Zira beugte sich vor. "Weit im Norden liegt dieser Ort. Man nennt ihn auch... den Elefantenfriedhof." Das klang gruselig. Gruselig... aber auch aufregend! "Deal!", flüsterte die kleine Löwin. "Ich gehe. Und beweise allen, dass ich die Mutigste im Geweihten Land bin!" Kapitel 6: Friedhof ------------------- Vitani stand vor einem steilen Abhang. Unter ihr erstreckte sich eine Fläche, die über und über mit Knochen und Skeletten bedeckt war. Ein riesiger Elefantenschädel ragte unheimlich aus den Knochenresten hervor. Das war also der Elefantenfriedhof... nicht besonders einladend. Aber sie nahm all ihren Mut zusammen - und stieß sich ab. Sie schlug hart auf einem Felsvorsprung auf und rollte seitlich hinunter. Die kleine Löwin überschlug sich, versuchte, irgendwo Halt zu finden, aber vergeblich. Sie ließ sich einfach fallen. Hinein in die Finsternis. Sie schlug auf dem Boden auf, spitze Knochen bohrten sich in ihr Fell. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Doch Vitani zwang sich zum Aufstehen. Aus der Nähe sah der Elefantenschädel noch gruseliger aus. Aber sie wollte ihren Mut beweisen und ging mit festen Schritten auf den bleichen Schädel zu. Sie hatte keine Angst! Vitani spähte über die mächtigen Stoßzähne hinweg. "Wow!", entfuhr es ihr. Von hier aus konnte sie den ganzen Friedhof überblicken. Nebel waberte zwischen den Skeletten, hier und da sah sie noch mehr Elefantenschädel wie bleiche Grabmale aufragen. Ein bellendes Lachen zerriss die Stille. Sie schreckte auf. Waren da nicht gerade drei leuchtende Augenpaare zu sehen gewesen? Vitani schüttelte den Kopf. Wer sollte schon auf diesem unheimlichen Gebiet leben? Hyänen! ,schoss es ihr durch den Kopf. Die Untergebenen des Königs hatten vor Scars Herrschaft hier gelebt. Aber diese Idee verwarf sie gleich wieder. Warum sollten sich die Hyänen hier statt im Geweihten Land aufhalten, wo wenigstens hin und wieder ein Stück Fleisch für sie abfiel? Ehrlich gesagt mochte Vitani die Aasfresser nicht sonderlich. Sie waren genauso gruselig wie das Land, aus dem sie stammten und auch nicht besonders höflich. Glücklicherweise gab es eine hyänenfreie Zone für die königliche Familie. Das Lachen wurde lauter. Mit zitternden Pfoten folgte Vitani dem Geräusch und gelangte zu einem hohen Felsen, unter dem sich eine steinige Lichtung ausbreitete. Risse überzogen den trockenen Boden. Schattenhafte Gestalten huschten umher, ihr Lachen und Kichern war schon von weitem zu hören. Als sie im Schatten des Felsens näher herantrat, erkannte sie, dass es sich wirklich um Hyänen handelte! Es waren drei; sie balgten sich um ein Stück Fleisch. Vitanis Angst wich einer leichtsinnigen Neugier, und sie wagte sich näher heran. Die Tiere kugelten bedrohlich knurrend über den Boden. Eine Hyäne bekam das Fleischstück zu fassen und schleppte den Brocken von den kämpfenden Hyänen weg. Auf einmal änderten die beiden Kämpfer ihre Richtung. Die sich windenden Körper schienen den Halt verloren zu haben und kugelten einen kleinen Hügel hinunter. Dadurch wurden die beiden noch schneller und rasten mit ungeheurem Schwung auf die kleine Löwin zu. Unfähig, sich zu bewegen, stand Vitani da, die blauen Augen weit aufgerissen vor Schreck. Die Hyänen prallten mit voller Wucht gegen ihren Körper, und sie flog einige Schwanzlängen durch die Luft. Als sie sich wieder aufrappelte, um sich den Staub aus dem Fell zu schütteln, erblickte sie hinter sich die dritte Hyäne. „Na, wen haben wir denn da?“, fragte sie mit einem schiefen Grinsen. „Keine Ahnung, Shenzi, aber sie sieht lecker aus!“, meinte die zweite Hyäne, während die dritte wieder hysterisch zu lachen begann. Vitani sah sich unruhig nach einer Fluchtmöglichkeit um. Angst überkam sie wie ein kalter Schauer, Angst vor diesen Hyänen und dem unheimlichen Elefantenfriedhof. Die Hyänen umkreisten sie. Gleich würden sie angreifen. Hilflos knurrend duckte sich die Prinzessin. Wenn diese Biester angriffen, würden sie schon ihre Krallen zu spüren bekommen! Doch sie zogen weiter ihre Kreise um Vitani. „Können wir jetzt anfangen zu essen?“, fragte eine von ihnen und leckte sich die Lippen. Shenzi betrachtete Vitani eindringlich. „Noch nicht, Ed!“, flötete sie mit zuckersüßer Stimme. „Lassen wir unsere Beute noch etwas zappeln.“ „Oh, ich glaube, ich habe ein Deja-Vu!“, kicherte die dritte Hyäne. „Kannst du dich noch an das Prinzenbalg und seine kleine Freundin erinnern?“ Shenzi fiel in sein Gelächter ein. „Oh ja, Banzai. Da werde ich gleich sentimental. Die guten alten Zeiten!“ „Lass das bloß nicht Scar hören!“ Genervt verdrehte Ed die Augen. Sofort erkannte Vitani ihre Chance und schlüpfte flink zwischen Eds Beinen hindurch. „Schnell, unser Mittagessen brennt durch!“, schrie Shenzi. „Hinterher!“ Kapitel 7: Flucht ----------------- Vitani rannte. Ihre Pfoten schmerzten, aber sie achtete nicht darauf. Ziellos lief sie über den Friedhof. In einiger Entfernung sah sie einen mächtigen Schädel aus dem Dunst aufragen... In ihrem Kopf formte sich ein Plan. Jetzt hieß es schnell handeln! Vitani drehte sich um, ihre Verfolger waren ihr dicht auf den Fersen. Sie schoss los, verringerte ihr Tempo aber nicht, als sie sich dem großen Schädel näherte. Ihre Krallen benutzte sie wie Spikes auf dem unebenen Boden. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, jede einzelne Muskelfaser war gespannt. Dann sprang sie. Vitanis ausgefahrene Krallen bohrten sich in das Elfenbein der Stoßzähne. Schnurrhaarlänge für Schnurhaarlänge zog sie sich höher hinauf. Vitani biss die Zähne zusammen. Wenn der Plan gelingen würde und sie es auf den Elefantenschädel schaffen würde, könnte sie den Hyänen entkommen. Wenn nicht... Immer weiter arbeitete sie sich voran. Aber ihre Kräfte ließen nach. Vorsichtig blickte die kleine Löwin hinab. Shenzi, Banzai und Ed schienen tatsächlich ihre Spur verloren zu haben, fluchend schlichen sie um den Schädel herum. Vitani spürte ihr Herz pochen. Nur noch ein kleines Stück... dann wäre sie in Sicherheit. Da hörte sie es. Ein unheilverkündendes Knacken. Das konnte nur eines bedeuten. Im nächsten Moment bildeten sich erste Risse in der Schädeldecke. Panisch versuchte Vitani den Abstieg, doch dabei drohte sie am glatten Elfenbein abzurutschen. Inzwischen hatten sich die Risse vergrößert und breiteten sich immer weiter aus. Voller Angst sah die kleine Löwin ihre letzte Chance. Sie stieß sich ab – und stürzte in die Tiefe. Reflexartig gelang es Vitani, ihren Körper um die eigene Achse zu drehen, aber trotzdem war die Landung ziemlich unsanft. Als sie sich stöhnend wieder aufrichtete, sah sie gerade noch, wie der Elefantenschädel in sich zusammenstürzte. Vitanis rechte Schulter schmerzte. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Flucht sie ziemlich mitgenommen hatte. Eine kleine Wunde klaffte an der Brust, und das linke Ohr war zerkratzt. Hungrig und müde schlich sie durch das Knochenfeld. Nun wollte sie nur noch eins: Nach Hause zum Königsfelsen! Plötzlich wirbelte sie herum. Da war doch was! So, als hätte sich jemand angeschlichen... nur dass dieser Jemand nicht so gut schleichen konnte. In diesem Moment sprang sie eine dunkle Gestalt von hinten an. Vitani hatte kaum Zeit, sich zu verteidigen, denn schon kamen die beiden anderen Hyänen dazu. Vergeblich versuchte sie sich zu befreien, sie bleckte die Zähne und schlug immer wieder mit den Krallen auf ihre Angreifer ein. Wäre doch bloß Vater hier!, dachte sie verzweifelt. Doch sie wusste, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Geschwächt von der Flucht, hatte sie keine Chance gegen die drei ausgewachsenen Hyänen. Schon fletschte Shenzi die Zähne für den letzten Biss. Doch da wurde sie gewaltsam zurück gerissen. Banzai drehte sich blitzschnell herum – und erstarrte. Diesen Moment nutzte Vitani, um sich seinem Griff zu entziehen. Nun sah auch sie, was Banzai so erschreckt hatte: Eine junge Löwin mit hellem, cremefarbenen Fell kämpfte tapfer gegen die drei Hyänen. Mit ausgefahrenen Krallen griff sie an. Shenzi und Banzai sprangen auf den Rücken der Löwin, aber diese beförderte sie mit einem gekonnten Tatzenschlag wieder herunter. Knurrend und zähnefletschend attackierte sie Ed, der panisch kichernd zu flüchten versuchte. Nun bekam es Vitani mit der Angst zu tun. Was, wenn die Löwin auch sie angreifen würde? Sie hätte keine Chance gegen eine so starke Gegnerin. Langsam stahl sie sich davon, nicht ohne hin und wieder einen Blick auf die immer noch kämpfende Löwin zu werfen. Leise winselnd zogen Shenzi, Banzai und Ed die Schwänze ein und schlichen mit gesenktem Kopf davon. Die Löwin stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, das Vitani einen Schauer über den Rücken jagte. Sie duckte sich tiefer auf den Boden, damit die Fremde sie nicht entdecken konnte. Nun aber sah diese sich suchend um. Bloß nicht in meine Richtung sehen!, flehte Vitani innerlich. Bloß nicht in meine Richtung, sonst ist es aus! Vorsichtig hob sie den Kopf und blinzelte direkt in zwei türkisblaue Augen. Kapitel 8: Nala --------------- „Aha, hier hast du dich also versteckt!“, sagte eine sanfte Stimme. Die Löwin lächelte – und entblößte dabei ihre scharfen Zähne. Ängstlich wich Vitani einige Schritte zurück. „Wer... wer bist du?“, fragte sie zitternd. „Nala“, erwiderte die Löwin. „Und du?“ „Vitani...“ Nala schien einen Augenblick zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf, wie um einen lästigen Gedanken loszuwerden. „Komm. Ich bringe dich nach Hause. Das hier ist kein Ort für ein Löwenmädchen.“ Als sie sah, wie Vitani zögerte, wurde ihr Blick weicher. „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Vitani überlegte. Konnte sie dieser Nala wirklich trauen, einer wildfremden Löwin? Aber immerhin hatte sie ihr das Leben gerettet. Nala trat an sie heran und berührte sie leicht mit der Schnauze. „Komm schon.“ Vitanis Angst schwand. Im Blick der Löwin lag nichts Böses; nur Freundlichkeit und eine gewisse Sturheit. Ohne sie würde sie sicherlich nicht mehr nach Hause finden. Gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg in Richtung Königsfelsen. Vitani hatte Nala nicht genau gesagt, wo sie lebte - sie traute der Fremden immer noch nicht ganz. Als sie die ausgetrocknete Steppe überquerten, machten sie am Wasserloch halt, das nur noch eine Pfütze war. Während sie sich stärkten, versuchte sich Nala an einem Gespräch. „Hast du Geschwister?“ „Nein.“ Vitani schaute auf. „Aber ich hätte gern welche. So ganz alleine macht Spielen keinen Spaß.“ „Und was ist mit deinen Eltern?“ „Sc- äh, Papa spielt manchmal mit mir. Aber er hat oft zu tun. Und Mama...“ Vitani konnte sich Zira beim besten Willen nicht spielend vorstellen. Zum Glück fing jetzt Nala an zu reden. „Ich habe einen Bruder. Mheetu. Er ist viel jünger als ich... etwa in deinem Alter. Ihr würdet euch bestimmt gut verstehen.“ Sie lächelte. „Ich helfe meiner Mutter bei der Jagd. Jetzt, wo es so trocken ist, wird es schwieriger. Die Herden ziehen davon.“ Aufmerksam hörte Vitani zu. Sie hatte nicht erwartet, dass Nala so freizügig von ihrer Familie redete. „Mein Vater ist immer mein Held gewesen. Er beschützt uns vor diesem Hyänenpack, dass der König ausschickt, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Von ihm habe ich auch das Kämpfen gelernt.“ Scar schickte Hyänen aus, um für Recht und Ordnung zu sorgen? Das war neu für Vitani. „Überhaupt, ich weiß nicht, warum der König das Land so verkommen lässt. Hast du dich je schon mal gefragt... was wäre, wenn ein neuer König auf dem Thron sitzen würde? Einer, der dem Land wieder neuem Glanz bringt?“ Vitani wich langsam zurück. Was hatte Nala gegen ihren Vater? Das Leuchten in ihren Augen, als sie von einem neuen König gesprochen hatte, war unheimlicher als der gesamte Elefantenfriedhof.„Stattdessen werden wir terrorisiert von diesem Hochstapler, diesem Verräter...“ Nala schien sich immer mehr in ihre Wut hineinzusteigern, sie fuhr ihre Krallen ein und aus, bis der Boden knirschte. „...von SCAR!“, brach es aus ihr heraus. Das letzte Wort sprach sie so verächtlich aus, als hätte sie ein Stück Dreck ausgespuckt. Vitani wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Scar war doch so fürsorglich und kümmerte sich um sein Königreich! Und die Dürre war nicht seine Schuld. Scar hatte ihr erzählt, dass Trockenzeiten und Regenzeiten sich abwechselten. Nala deutete Vitanis Schweigen anders. „Du hast auch Angst vor ihm, stimmt´s? Er bedroht alle, die nicht zu ihm halten. Viele Löwen und Löwinnen leiden unter ihm. Aber wenn er dir droht, werde ich dich und deine Familie beschützen!“ Vitani sah Nala einen Moment fassungslos an. „Aber ich bin Scars Tochter“, sagte sie leise. „Was...“ Ungläubig schüttelte Nala den Kopf. Jetzt war es raus. Jetzt würde Nala sie für die Tochter eines Verräters halten. Und sie hatte sehr deutlich klar gemacht, was sie von Scar hielt. Was würde sie dann mit Scars Tochter anstellen? Vitani rannte blindlings drauflos. Den Königsfelsen fest im Blick, sprintete sie über die ausgetrocknete Savanne. „Vitani! Warte doch!“, rief Nala. Vergebens. Vitani dachte nicht daran, ihr Tempo zu verringern, sie wurde sogar noch schneller. Kurz entschlossen rannte Nala der Prinzessin hinterher. Durch ihre langen Beine hatte sie einen Vorteil, aber Vitanis Vorsprung war zu groß. Kapitel 9: Konfrontation ------------------------ Scar war auf der Suche nach seiner Tochter. Immer wieder blickte er sich um, seine grünen Augen wanderten über die Savanne. Auf einmal sah er das helle Fell von Vitani aufblitzen. Seine Tochter rannte durch das Geweihte Land und blickte sich immer wieder nach hinten um, als würde sie jemand verfolgen. Hinter ihr lief eine cremefarbene Löwin, mit langen Sprüngen jagte sie hinter Vitani her. Ein leises Knurren entwich Scars Kehle. Er begann zu rennen, um die Löwin aufzuhalten, bevor sie Vitani erreichen konnte. Nala hatte inzwischen aufgeholt und lief nun eine Schwanzlänge hinter ihr. Keuchend rannte Vitani eine Steigung hinauf, aber auf einmal hörte diese abrupt auf. Sie kugelte hinab und blieb dort benommen liegen. Auch Scar bemerkte, dass seine Tochter nun wehrlos war. Er steigerte das Tempo noch mehr und fletschte die Zähne. Das einzige, was er jetzt noch verspürte, war sein Beschützerinstinkt und der unbändige Wille, seine kleine Löwin zu verteidigen. Gerade als Nala an der Steigung ankam, sprang Scar sie von der Seite an und warf sie zu Boden. Doch so leicht gab sie sich nicht geschlagen! Die Löwin holte mit der Pfote aus und schlug Scar ihre Krallen ins Gesicht. Er brüllte, als sie sich geschickt aus seinem Griff entwand und sich auf ihn stürzte. Doch Scar ließ sich zur Seite rollen, sodass Nala unsanft auf dem Boden aufkam und sich überschlug. Noch ehe sie sich aufrappeln konnte, hatte Scar sich auf Nala geworfen und hielt sie fest. „Pfoten weg von meiner Tochter!“, knurrte der König. „Was hast du hier zu suchen?“ „Im Geweihten Land darf ich gehen, wohin ich will. Du kannst mir nichts befehlen!“, erwiderte Nala furchtlos. „Ach wirklich?“ Scar verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Du hast wohl vergessen, dass ich jetzt der König bin!“ „Du, Scar?“ Nala lachte kurz auf. „Mein König wirst du niemals sein. Der wahre Herrscher ist immer noch Mufasa -“ Doch der Rest ging in Nalas schmerzerfülltem Brüllen unter. Scar fuhr ihr mit der krallenbewehrten Vorderpranke über das Gesicht. „Du wagst es tatsächlich, diesen Namen in meiner Gegenwart zu nennen?“, fuhr er die Löwin an, die ihn völlig verängstigt anstarrte. Scar fletschte sie Zähne und näherte sich langsam Nalas Kehle. „Du... du...“, keuchte Nala nach Atem ringend. Scars kräftige Tatzen pressten ihr jegliche Luft aus den Lungen. „Du falscher König!“, stieß sie hervor. In ihrer Stimme lag jetzt nur noch purer Hass und Wut. „Das wirst du noch bereuen, Nala!“, knurrte Scar. Seine Stimme war ruhig. Viel zu ruhig... „Jetzt ist niemand mehr da, der dich beschützen kann“, flüsterte er so leise, dass nur Nala es hören konnte. „Niemand...“ Scar hob seine Pranke. Die Krallen blitzten in der Sonne wie silberne Messer. Nala schloss ihre Augen. Doch der Todesschlag blieb aus. Stattdessen warf sich eine kleine Gestalt zwischen die streitenden Löwen. „Vitani!“, rief Nala. Scar lockerte seinen Griff, sodass Nala sich wieder aufrappeln konnte, und funkelte Vitani wütend an. Sie spürte, wie die Blicke ihres Vaters sie durchbohrten. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Was habe ich nur falsch gemacht? Warum war mein Vater so zornig auf Nala? Wer ist dieser „Mufasa“? Und warum denkt Nala, Papa ist ein schlechter König? Sie schüttelte ihren Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. „Es ist nicht so, wie du denkst“, begann sie. Scar knurrte. Was ist nur mit ihm los?, fragte sich Vitani. Sie konnte sich die Stimmungsschwankungen ihres Vaters nicht erklären. „Nala hat mich vor drei Hyänen gerettet“, fuhr sie fort. „Sie griffen mich auf dem Elefantenfriedhof an...“ „Auf dem Elefantenfriedhof?“ Scars Stimme war ungewohnt streng.“Ich habe dir doch oft genug gesagt, du sollst in Sichtweite des Königsfelsens bleiben!“ „Aber ich wollte doch nur...“ „Versprich mir, dass du dich ab jetzt von diesem Ort fern hältst!“, fauchte Scar. „Lass sie doch in Ruhe!“, knurrte Nala. Scar drehte sich um und sah die Löwin mit seinem stechenden Blick an. Fast sah es so aus, als wollten sich die beiden wieder aufeinander stürzten. „Verschwinde!“, fuhr er Nala an. „Und lass dich bloß nicht mehr blicken!“ Sofort machte sie kehrt und rannte über die vertrocknete Steppe davon. Vitani blickte ihr nachdenklich hinterher. Irgendwie tat ihr die junge Löwin leid. Sie hatte es nicht verdient, so ungerecht behandelt zu werden. Vielleicht hatte Nala ja recht und Scar war gar nicht der wahre König... Ich darf gar nicht darüber nachdenken. Scar ist der König – und ich werde später seine Nachfolgerin, dachte Vitani im Stillen. „Komm jetzt, Vitani!“, riss die Stimme ihres Vaters sie aus ihren Gedanken. Mit einigen Sprüngen hatte sie Scar eingeholt. Gemeinsam liefen sie dem Königsfelsen entgegen, der in der untergehenden Sonne rot schimmerte. Vitani ließ müde ihren Kopf hängen. Der Friedhof, die Hyänen... und Nala... Sie öffnete ihr Mäulchen zu einem Gähnen. Scar hielt an und wartete auf seine Tochter. „Was ist los, meine Kleine?“ „Ich bin müde“, murmelte Vitani schläfrig. Sie merkte gerade noch, wie Scar sie sanft am Nackenfell packte und hochhob. Dann schloss sie die Augen und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf. Kapitel 10: Sterne ------------------ Vitani blinzelte. Silbriges Mondlicht schimmerte in die Höhle und bedeckte ihr Fell mit hellem Glanz. Sie schlug die Augen auf. Auf leisen Pfoten schlich sie aus der Königshöhle. Der Felsen sah aus, als bestünde er aus purem Silber. Ehrfürchtig betrat Vitani den kalten Stein und ließ ihren Blick über die zahllosen Lichtpunkte am Himmel schweifen. Sterne, nichts als Sterne... Ihre Gedanken wanderten zu Nala, der jungen Löwin mit den türkisblauen Augen Wo sie jetzt wohl war? Bestimmt streifte sie irgendwo alleine durch die Savanne, ohne Familie, ohne Freunde... Aber warum hasst sie Scar so? Diese Frage kreiste unablässig in Vitanis Kopf. Was hat er ihr getan? "Du siehst aus, als hättest du Sorgen." Erschrocken drehte Vitani sich um und erkannte ihren Vater, der ebenfalls auf den Felsen gestiegen war. Vitani holte tief Luft. Am liebsten hätte sie Scar alles erzählt, aber sie wusste, dass dies jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Stattdessen hob sie wieder den Kopf und blickte zu den Sternen hinauf. "Es... es ist wegen Nala, nicht wahr?" Vitani drehte sich um. "Woher weißt du...?" "Ich merke es es eben." Auf Scars Gesicht stahl sich ein kleines Lächeln. "Vitani... ich spüre es doch... du magst diese Löwin, nicht wahr?" Vitani riss die Augen auf. Woher wusste ihr Vater das? “Du darfst diesen Fremden nicht trauen, meine Kleine.” Scars Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. “Sie wollen mich stürzen. Sie hassen mich, Vitani. Sie wollen einen neuen König.” “Aber wer...” Scar antwortete nicht mehr. Er hob den Kopf ebenfalls zu den Sternen empor, als würde er dort etwas sehen, was Vitani verborgen blieb. “Vitani, vor langer Zeit hat meine Mutter mir etwas sehr Wertvolles erzählt.” Scar wandte sich zu ihr um. Das Sternenlicht funkelte in seinen Augen und ließ sie wie zwei Smaragde strahlen. “Sieh hoch zu den Sternen.” Vitani folgte dem Blick ihres Vaters hinauf zu dem sternfunkelnden Nachthimmel. “Ich habe nie gewusst, dass es so viele gibt”, flüsterte sie fasziniert. “Wenn wir sterben”, fuhr der König fort, “wandern unsere Seelen in den Himmel und erstrahlen dort als Sterne.” Vitani lauschte den Worten ihres Vaters gebannt. “Wenn du dich einsam fühlst, denke an meine Worte, Vitani. Die Geister der Vergangenheit werden dich nie verlassen. Egal was du tust, sie begleiten dich.” Nach diesen Worten herrschte einige Zeit Stille. “Papa?”, fragte Vitani nach einer Weile. “Mama und du, ihr werdet mich doch auch nie verlassen, oder?” Keine Antwort. “Mein Bruder ist da oben...”, sagte Scar leise. Vitani erkannte den traurigen Unterton in seiner Stimme. “Wie ist er denn da hingekommen?”, fragte sie vorsichtig. Eigentlich rechnete sie damit, dass Scar sich knurrend zu ihr umdrehen würde, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen schaute er immer noch schweigend in den Sternenhimmel. “Er stürzte von einer Klippe... direkt unter die Hufe einer in Panik geratenen Gnuherde... ich konnte nichts mehr tun...” Scar senkte den Kopf und Vitani sah Tränen in seinen Augenwinkeln glitzern. Tröstend kuschelte sie sich in seine pechschwarze Mähne. Er fühlte sich schuldig am Tod seines Bruders, sie spürte es genau. “Mufasa ist König gewesen... in seiner Jugend eingebildet und arrogant, und ich nur der kleine Bruder... aber nach seinem Tod war alles anders.” Scars Blick wurde kalt und stumpf. Mufasa. Beim Klang dieses Namens zuckte Vitani zusammen. Noch einmal hallte Nalas zornbebende Stimme durch ihren Kopf: „Du bist noch nicht einmal halb so gut wie Mufasa... du falscher König...“ „Bitte erzähl mir noch mehr!“, bettelte Vitani. Sie wollte unbedingt mehr über Mufasa und Scars Vergangenheit erfahren. Vielleicht hatte das alles auch mit Nala zu tun? Aber Scar wuschelte ihr nur mit der Pfote über den Kopf. „Nein, meine kleine Prinzessin. Geh jetzt schlafen.“ „Aber Papa...“ Vitani versuchte, ihren widerspenstigen Pony wieder gerade zu streichen. Sie sah ihren Vater bittend an. Doch genauso gut hätte man versuchen können, Steine zu erweichen – Scar war in diesem Punkt unerbittlich. Sie trottete mit hängendem Kopf zurück in die Königshöhle, vorbei an Jiraha und Uzuri, vorbei an Zira... „Vitani, warte!“ Scar stand immer noch am Eingang der Höhle. „Ich werde dir alles erzählen. Nur nicht jetzt.“ Vitani neigte den Kopf. Nun kam Scar in die Höhle und die beiden rieben zärtlich ihre Schnauzen aneinander, ein Verbindungsritual zwischen Vater und Tochter. „Ich werde bei dir bleiben“, flüsterte Scar und Vitani hörte, dass er es ehrlich meinte. Kapitel 11: Verlust ------------------- Weit, weit entfernt stand eine Löwin im ausgedörrten Savannengras, den Blick in die Sterne gerichtet. Ihre Rippen stachen aus ihrem einst schönen, sandfarbenen Fell hervor und in ihren Augen schimmerten Tränen. „Oh, Pride...“, murmelte sie. „Warum musstest du uns nur verlassen?“ Eine Bewegung hinter ihr ließ sie zusammenzucken und sie drehte sich um. Eine zweite Löwin tauchte aus dem hohen Gras auf. „Nala?“ Ungläubig sah Sarafina auf ihre Tochter hinab. „Du bist zurück...“ Die beiden begrüßten sich zärtlich und Nala schnurrte vor Glück. Sie war wieder bei ihrer Familie – das war alles was zählte. „Wie geht es Vater? Und Mheetu?“, erkundigte sie sich. Sarafina senkte den Blick. Wieder spürte sie, wie Tränen ihre Augen füllten. „Es tut mir leid, Nala. Dein Vater... Pride... er ist tot.“ „Nein“, flüsterte Nala. Geschockt starrte sie auf die Leiche ihres Vaters, der reglos vor ihr lag. Tiefe Narben zeichneten seinen Körper und der Hunger hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen. Warum musste ausgerechnet er sterben? In Zeiten wie dieser brauchten sie Schutz – und genau das hatte Pride gewusst. Er hatte dem Rudel wieder Kraft und Hoffnung gegeben, nachdem sie dem Königsfelsen entflohen waren, hatte es gegen diese schrecklichen Hyänen verteidigt. Er hätte Scar vom Thron stoßen können... aber nun war er tot. Nala schmiegte sich in die schwarze Mähne ihres Vaters, Tränen rannen ihr unaufhaltsam die Wange hinunter. Nalas kleiner Bruder Mheethu schlich um Pride herum und und stupste ihn immer wieder mit seiner kleinen Pfote an. Nala brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass es umsonst war. Dass er nie wieder aufstehen würde. „Komm jetzt, Nala“, flüsterte Sarafina. „Er ist immer noch bei uns. Oben im Sternenreich sieht er auf uns herab und wacht über uns. Die hellsten Sterne am Himmel sollen immer die Seelen derer sein, die wir liebten und die uns nahestanden, immer und für alle Zeit.“ Nala blickte hinauf. „Der hellste Stern des Himmels...“, murmelte sie. In diesem Moment kam ein leichter Wind auf und fuhr durch ihr Fell. Der Wind trug ihr einen bekannten Geruch zu... doch das konnte nicht sein... „Vater?“ Sie wandte ihren Kopf herum. Da stand er, nicht mehr als ein Schatten, seine Mähne wehte im Nachtwind. „Papa! Du lebst...“ Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten. Sie rannte, rannte durch das Gras auf Pride zu. Ich bin bei dir, Nala. Sie konnte seine Stimme hören, aber seine Lippen bewegten sich nicht. Ich weiß. Pride lächelte. Er berührte Nala zärtlich mit der Schnauze und stupste sie mit der Pfote an. Das hast du immer gemacht, als ich noch klein war... Sei nicht traurig. Sie sah auf. Vater hatte recht. Sie war kein Junges mehr. Sie musste stark bleiben, um das Rudel zu verteidigen. Und sie würde weiterkämpfen. Ich muss gehen. Mach´s gut... Nala blickte ihrem Vater ein letztes Mal in die Augen. Dann drehte sich Pride um, und mit einigen kräftigen Sprüngen erhob er sich in den Nachthimmel. Sein Fell verschmolz mit den Sternen, er wurde eins mit der Nacht. Pride ließ ein letztes stummes Brüllen ertönen. Dann war er verschwunden. Nalas Blick wurde entschlossen, als sie ihrem Vater nachsah. Ich werde den anderen erzählen, was heute auf dem Friedhof geschehen ist, dachte sie. Papa hat recht – ich darf nicht länger trauern. Das Rudel braucht mich! Nala jagte über das trockene Gras zu der kleinen Höhle zurück, die versteckt zwischen einigen Akazien lag. Sie markierte den Eingang zu den Verborgenen Höhlen. Gerade steckte Sarabi ihren Kopf aus der Höhle. „Nala!“, rief sie überrascht, als die Löwin an ihr vorbeirannte und auf einen großen Felsen am Ende der Höhle sprang. Nala wusste, dass hier der Platz war, an dem alle Löwinnen ihr zuhören würden. Sie brüllte einmal laut. Sofort drehten sich alle zu ihr um, alle Blicke waren auf sie gerichtet. Auf einmal fragte sie sich, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war... „Löwinnen des Rudels! Ich habe etwas zu berichten.“ Ein Gemurmel war zu hören. Nala entdeckte in der Menge Sarafina, die hoffnungsvoll zu ihr aufschaute. Sie nahm all ihren Mut zusammen. „Auf dem Elefantenfriedhof ist mir eine kleine Löwin über den Weg gelaufen. Sie behauptete, die Tochter des Königs zu sein...“ Von den Hyänen erzählte sie wohlweislich nichts. Das Rudel sollte sich nicht noch mehr Sorgen machen. „Sie behielt Recht. Scar selbst tauchte auf und beschuldigte mich, Pfote an seine Tochter gelegt zu haben!“ Ein Raunen ging durch die Versammelten. Einige knurrten bei der Nennung des Königs. „Er ließ mich gehen, aber viel hätte nicht gefehlt...“ Nala brauchte den Satz nicht zu vervollständigen. Ein Knurren und Fauchen erfüllte die Höhle. Es war ein einziges Chaos, wütendes Gebrüll hallte an den Wänden wider, irgendjemand rief: „Worauf wartet ihr? Töten wir die Prinzessin!“ Immer mehr Löwinnen schlossen sich dem Schlachtruf an „Tötet sie! Tötet sie!“ Geschockt sah Nala den Felsen hinunter. Was hatte sie nur getan? „Folgt mir!“, rief Safira, Sarabis jüngere Schwester. „Bereitet euch auf einen Kampf vor – es ist genug!“ Nala riss die Augen auf. Sie musste handeln, sonst würde Vitani... Lieber malte sie sich nicht aus, was die wütenden Löwinnen Vitani antun würden, wenn sie sie in die Krallen bekämen. „Halt!“, schrie Nala. „Was tut ihr da?“ Safira sah sie mit ihren leuchtend gelben Augen an. „Wir nehmen Rache!“, fauchte sie. „Das Geweihte Land gehörte Mufasa, er ist der rechtmäßige König!“ Auf ihr Gesicht stahl sich ein freudloses Lächeln. „Und nun haben wir endlich einen Weg gefunden, ihn auf die gleiche Weise leiden zu lassen wie wir! Nichts verletzt einen Vater mehr, als sein Kind zu verlieren.“ Das nahm Nala für einen Moment die Sprache. Natürlich – Safira hatte auch eine Tochter verloren. Als das Rudel den Königsfelsen verlassen hatte, blieb sie, um für Ablenkung zu sorgen. Sie war nicht zurückgekehrt. Aber das gab ihr noch lange keinen Grund, Vitani zu töten. „Das könnt ihr nicht machen!“, brach es aus ihr heraus. „Und warum nicht?“ Safira musterte Nala eindringlich. „Möchtest du Scar lieber ewige Treue schwören?“ Bei dem Wort „Scar“ erfüllte ein Raunen die Höhle, viele Löwinnen knurrten und sahen Nala misstrauisch an. Jetzt reichte es ihr. Es ging hier um ein Löwenleben, begriffen die anderen das etwa nicht? Doch, einige ihrer Rudelgefährtinnen hatten sich von der mordlustigen Gruppe abgespalten, darunter auch Nalas Mutter und die ehemalige Königin Sarabi. „Tut doch etwas!“ Beinahe flehend sah Nala die Älteren an. Sarafinas Blick traf den ihren. „Stopp!“, rief sie auf einmal. „Wir befinden uns gerade auf dem gleichen Weg wie... Scar. Wollt ihr etwa genauso mordsüchtig werden wie er?“ Die Löwinnen stoppten in ihren Pfotenschritten und lauschten ihren Worten. Dann kehrten sie, eine nach der anderen, teilweise mit beschämt gesenktem Kopf, in die Höhle zurück. Nala atmete auf. „Diesmal hast du gewonnen!“, zischte Safira ihr im Vorübergehen zu. „Aber wenn ich diese kleine Prinzessin zu fassen kriege...“ Sie schlug ihre Krallen in die Felswand und zog sie mit einem hässlich kreischenden Geräusch herunter. Nala wusste, was Safira damit meinte. Bei der nächsten Gelegenheit würde sie zuschlagen – und Vitani töten. Kapitel 12: Dürre ----------------- Einige Tage waren seit dem Zwischenfall auf dem Elefantenfriedhof vergangen. Vitani wuchs heran und bekam Unterricht im Jagen, Kämpfen und Regieren. Nachts beobachtete sie stundenlang die Sterne. Vielleicht würde sie irgendwann auch da oben sein und auf das Geweihte Land hinab blicken... Bis dahin war es allerdings noch ein weiter Weg. „Du hast eine große Zukunft vor dir!“, hatte Scar einmal gesagt. „Als Königin musst du gerecht urteilen können. Sieh deine eigenen Fehler ein... und verurteile keinen anderen dafür.“ Manchmal konnte Vitani wieder diese Schuld in Scars Gesicht sehen. Aber was hatte er getan? Wieder einmal dachte die Löwin über diese Frage nach, als sie mitten auf einem Felsen in der Savanne döste. Wenn sie wenigstens jemanden hätte, mit dem sie über all dies reden könnte... In der Ferne erkannte Vitani die Jagdpatrouille, die einem jungen Gnu hinterherhetzte. Der Beutemangel sorgte dafür, dass die Löwinnen auch junge und damit stärkere Tiere angreifen mussten. Schon sah sie, wie Hasira, eine der Jägerinnen, von einem der muskulösen Hinterbeine getroffen wurde und zu Boden stürzte. „Hasira!“, schrie Zira und ließ von dem Gnu ab. „Jirana, Kifari und Sari, ihr verfolgt dieses verdammte Gnu!“, knurrte sie. „Kivuli, lauf zum Königsfelsen und hol Hilfe! Ich bleibe inzwischen hier!“ Vitani beobachtete die Szene mit aufgerissenen Augen. Sie musste doch auch etwas tun können! Schnell sprang sie von ihrem Felsen und lief zu Zira, die sich besorgt über Hasiras Wunde beugte. Jetzt hatte sie auch Vitani bemerkt. „Die Wunde muss gestillt werden. Hol Weißmoos!“, befahl die Königin barsch. Aber Vitani wusste, dass Zira es eigentlich nicht so meinte. Sie machte sich nur Sorgen um ihre Schwester. Gehorsam lief sie los, um das Weißmoos zu holen, das sie schon bald an einem Felsen am Flussbett leuchten sah. Vitani pflückte einige Büschel Moos mit den Zähnen und rannte zu der Verletzten. „Hier.“ Zira deutete auf eine klaffende Wunde am Bauch, die stark blutete. Hasira stöhnte auf, als Vitani das weiße Moos auf die Wunde presste. In wenigen Herzschlägen färbte es sich tiefrot. Schnell wechselte sie den Moosballen aus, bevor noch mehr Blut aus der Wunde strömen konnte. „Schaffst du es bis zum Königsfelsen?“, fragte Zira besorgt. „Ich denke schon.“ Hasira biss die Zähne zusammen, während Vitani einen Moosballen nach dem anderen auswechselte. „Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Vitani, das reicht jetzt!“ In diesem Moment kam Kivuli atemlos angerannt. „Er kommt!“ Da sah Vitani Scar. Seine schwarze Mähne und sein Fell glänzten in der Sonne, die Narbe am rechten Auge verlieh ihm ein verwegenes, fast schon majestätisches Aussehen. Seine leuchtend grünen Augen wanderten zu der verletzten Hasira. „Was ist passiert?“, fragte Scar. „Hasira wurde von einem Gnu verletzt“, berichtete Zira knapp. „Der Rest der Jagdpatrouille müsste jeden Moment hier auftauchen.“ Jetzt bemerkte Scar auch Vitani, die etwas abseits stand. „Gut gemacht!“, lobte er, als sein Blick auf die blutgetränkten Moosbüschel fiel. „Als Königin musst du deine Pflichten wahrnehmen und dich um die kümmern, die in Not sind.“ Sah Vitani da einen Funken Neid in Ziras Augen aufblitzen? Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und nickte nur. Hasira versuchte gerade vorsichtig aufzustehen. Gestützt von Zira und Kivuli, gelang es ihr, ein paar Schritte zu gehen. Nun halfen auch Scar und Vitani mit und gemeinsam gelang es ihnen, die verletzte Löwin zum Königsfelsen zu transportieren. Mit hängenden Köpfen warteten dort schon Sari, Kifari und Jirana, der Rest der Jagdpatrouille. Auch sie sahen arg mitgenommen aus: Alle hatten kleinere Kratzer und Wunden von der Verfolgung des Gnus davongetragen. Beute hatten sie keine dabei. „Die Dürre hat bereits die meisten großen Herden vertrieben. Viele Tiere sind erkrankt und... viel bleibt nicht mehr übrig...“, berichtete Sari. „Diese Trockenzeit muss doch irgendwann ein Ende haben. Seit vielen Monden habe ich keine schlimmere erlebt!“, stöhnte Jirana. „Wir sind alle hungrig, müde und geschwächt, so kann das nicht weitergehen!“, beschwerte sich Kifari. Erst jetzt bemerkte Vitani, wie ihr Magen knurrte. Seit mindestens zwei Tagen hatte sie keine Frischbeute mehr gesehen. Die Löwinnen werden von Tag zu Tag schwächer. Was ist, wenn sie nicht mehr jagen können? „Dann müssen wir wohl verhungern!“, sagte eine kalte Stimme in ihrem Kopf, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte. „Ich schlage vor, noch eine Jagdübung mit Vitani zu machen. Sie ist, genau wie ich, eine der wenigen Unverletzten und vielleicht erbeuten wir genügend kleine Beutetiere für das gesamte Rudel.“, meinte Kivuli. „Eine ausgezeichnete Idee!“, lobte Scar, während Zira etwas skeptisch drein blickte. Vitani hingegen war hellauf begeistert. Jetzt konnte sie endlich ihre Jagdkünste unter Beweis stellen und noch dabei einen wichtigen Beitrag für das Rudel leisten! Kapitel 13: Neuigkeiten ----------------------- Die Sonne verschwand langsam hinter den Hügeln der Westlande, als Vitani zusammen mit Kivuli aufbrach. Zuerst wollten sie die Treibjagd üben: Vitani sollte die Beute, einen Steppenhasen oder ein Erdmännchen, zu Kivuli treiben, die das Tier dann erlegte. Nichts einfacher als das!, dachte sich Vitani. Sie prüfte die Luft. Dreckiger Hyänengestank stieg ihr in die Nase, vermischt mit dem Geruch der gestrigen Jagdpatrouille. Doch es gab auch noch eine andere Duftspur. Steppenhase! Sie folgte dem Geruch bis zu einem kleinen Erdbau und ließ sich in Kauerstellung fallen. Schon steckte der Hase seinen Kopf aus der Höhle. Sobald er bemerkt hatte, dass die Luft rein war, hoppelte er nach draußen und wuselte im Gras herum. Vitani bemühte sich inzwischen, so nahe wie möglich an das leichtsinnige Tier heran zu kommen und kein Geräusch zu machen. Schließlich war sie nahe genug. Fauchend schoss sie aus dem Gras hervor. Der Steppenhase quiekte überrascht auf und rannte davon. Allerdings nicht in Richtung offenes Grasland, sondern direkt wieder zurück zum Eingang des Baus! So war das nicht geplant gewesen. Schnell flitzte Vitani vor den Hasenbau und vertrieb seinen Bewohner mit einigen Pfotenschlägen. Jetzt sprang der Hase in die Savanne hinaus, in der Hoffnung, seine hartnäckige Verfolgerin abschütteln zu können, und Vitani jagte hinterher. Gleich würden sie an den Felsen gelangen, hinter dem Kivuli lauerte. Staub wirbelte auf und hüllte alles in eine sandige Wolke. Ihre Pfotenschritte waren genau auf die des Hasen angepasst, Adrenalin strömte durch ihren Körper... Da! Vitani erkannte Kivulis dunkle Silhouette, die aus dem Schatten auf sie zuschoss. Dann ging alles ganz schnell. Eine Tatze mit ausgefahrenen Krallen schlug das Tierchen zu Boden, ein zweiter Prankenhieb zerfetzte die Halsschlagader. Als die Dunstwolke sich gelegt hatte, baumelte die Beute bereits in Kivulis Maul. „Dasch war schuper!“, nuschelte sie. Vitanis Augen leuchteten. Wenn sie weiterhin so viel Jagderfolg hatten, würden sie bald genügend Nahrung für das gesamte Königsrudel haben! Und Nalas Familie? Sofort nagte das schlechte Gewissen an ihr, aber sie verdrängte es schnell wieder. Kivuli rief zur nächsten Jagd. Hinter einem Hügel hatte sie eine ganze Erdmännchenkolonie ausgemacht! Den ganzen Abend lang jagten sie zusammen, und Vitanis Gedanke schien sich zu bestätigen: Am Ende hatten sie für jeden im Rudel genügend Frischbeute. Als sie am Königsfelsen ankamen, sahen sie zuerst nur die Jägerinnen, die sich auf dem Felsplateau versammelt hatten. Das war recht ungewöhnlich, denn um diese Zeit lagen alle auf ihren Schlafplätzen in der Höhle. Aber dann eilte plötzlich Sari auf die beiden zu. „Vitani, Kivuli, gut, dass ihr da seid!“ Sie machte eine kleine Verschnaufpause. Vitani fiel auf, dass Sari sehr aufgeregt war und schnell sprach. War etwas Schlimmes passiert? Mit Scar? Mit Zira oder den anderen Löwinnen? Sari schien Gedanken lesen zu können. „Keine Sorge.“ Plötzlich strahlte sie und schien noch aufgeregter zu sein als ohnehin schon. „Es gibt gute Nachrichten!“ „Nun sag schon!“, drängte Vitani, langsam wurde sie ungeduldig. Warum spannte Sari sie denn so auf die Folter? Schließlich war sie die zukünftige Herrscherin! Sari grinste nur. „Kommt mit!“ Sie folgten der Löwin zum Felsen, wo inzwischen auch Scar zum Rudel gestoßen war. Er erblickte seine Tochter und sein Blick wurde weich. „Zira und ich müssen euch etwas mitteilen.“ Na endlich! Gespannt blickte Vitani zum Königspaar hinüber. Kapitel 14: Saris Geschichte ---------------------------- „Wir erwarten erneut Nachwuchs!" Was?! Freude durchströmte Vitani wie ein silbriger Blitz, wärmte ihre angespannten Pfoten und kroch bis zu ihrem Herzen hinauf. „Das ist ja wundervoll!" Übermütig hüpfte sie auf dem Felsplateau herum, wobei sie sich einige belustigte Blicke der Löwinnen einfing. Sie würde ein Geschwisterchen bekommen! Endlich wäre sie nicht mehr allein – sie sah es schon vor sich, wie sie ihrem Brüderchen das Geweihte Land zeigte oder ihrer Schwester Jagen beibrachte. „Wird es ein Mädchen oder ein Junge?", fragte Vitani Scar, während sie um seine Beine herumstrich. Er lachte schnurrend. „Das weiß jetzt noch keiner, Liebling." Da entdeckte er die Beute, die Kivuli und seine Tochter erlegt hatten.„Gratuliere", er schnurrte noch lauter. „Das Rudel wird nicht mehr hungern müssen, wenn du so weiter jagst." Vitani spürte Stolz in sich aufwallen, doch dann übermannte sie die Müdigkeit. Schließlich hatten sie den ganzen Abend gejagt! Sie torkelte zur Höhle und ließ sich zum Schlafen nieder. Der nächste Morgen war heiß. Nur widerwillig verließ Vitani die angenehme Kühle der Schlafhöhle, um ihre Eltern zu begrüßen. Ziras Bauch war merkwürdig aufgebläht und Scar musterte sie mit auffällig besorgtem Blick. Sie schienen ihre Tochter nicht zu bemerken. „Zira, du solltest in deiner Verfassung nicht jagen. Das Kleine behindert dich doch nur!" Vitani wunderte sich. Verwirrt schlich sie an den immer noch diskutierenden Löwen vorbei und den Königsfelsen hinunter. An den Sonnenfelsen traf sie auf Sari. Vielleicht wusste die junge Löwin ja, was mit Zira war. Schließlich war auch sie die Tochter des Königspaars,hatte aber nie das Verlangen danach gehabt, einmal Königin zu werden. So war Vitani Thronfolgerin geworden. „Hallo Sari!" Die Löwin wandte sich um, die rotbraunen Augen funkelten freundlich. „Ah, Vitani. Was führt dich denn zu mir?" „Weißt du, was mit Zira los ist?", sprudelte es aus Vitani heraus. „Ist sie krank? Warum hat sie so einen dicken Bauch und wieso darf sie nicht jagen?" Sari lachte. „Das hat alles mit deinem Geschwisterchen zu tun. Es wächst gerade in Ziras Bauch heran und wenn sie etwas Anstrengendes macht, zum Beispiel Jagen, könnte das dem Jungen schaden." „Ach so!" Vitani kletterte nun ebenfalls auf die Felsen und legte sich neben Sari. Von hier aus überblickte sie das trockene Flussbett und einige Gazellen, die auf der Suche nach letzten Grasbüscheln über das Land zogen. Bei der Vorstellung, sie würde einmal über all dies herrschen, kribbelte es in ihrem Magen vor Aufregung und auch Furcht, aber sie wusste, dass dies ihr Schicksal war. Ihre Bestimmung. Und irgendwann würde sie bereit dafür sein. Aber warum war es nicht Saris Bestimmung gewesen? Immerhin war sie die Erstgeborene und hatte damit ein Geburtsrecht auf den Thron. Ohne überhaupt nachzudenken, fragte sie: „Warum wolltest du eigentlich keine Königin werden?" Sari schaute sie an; ihr Blick schien sie förmlich zu durchleuchten. Sie hatte Ziras Augen, Ziras stechende Augen. Es war Vitani einfach so herausgerutscht. Hatte sie etwas Falsches gesagt? „Es ist eine traurige Geschichte." Die Löwin wandte den Blick ab. „Willst du sie trotzdem hören?" „Ja!" Vitani liebte Geschichten. Sari seufzte. Dann wandte sie sich der kleinen Löwin zu und begann: „Es passierte vor ungefähr drei Monden." „Ich bin drei Monde alt! Was für ein Zufall!" „Leise, lass mich weiter erzählen." In Saris Gesicht schlich sich ein undefinierbarer Ausdruck. Sie sah irgendwie traurig aus. „An diesem Tag verlor ich meine beste Freundin. Ihr Name war Tama... sie war zwar schon eine ausgewachsene Löwin, aber trotzdem immer für einen Spaß zu haben. Einmal haben wir Rindenboote auf dem Fluss fahrenlassen, bedeckt mit Blumen, und uns ausgemalt, dass der Löwe unserer Träume sie finden würde." Abwesend blickte sie in sie Ferne; ein leises Lachen perlte von ihren Lippen wie Tautropfen in einen endlosen See. „Er würde sie finden und sich auf die Suche nach der machen, der ihm diese Botschaft geschickt hatte." Auch Vitani lächelte. Sie stellte sich eine Sari in ihrem Alter vor, wie sie mit ihrer Freundin kleine Blüten auf einem Rindenschiffchen auf dem Fluss platzierte, es dann mit der Pfote anstupste und es über die Wellen davon schaukelte... „Es war ein Tag wie jeder andere, als es passierte. Die Sonne schien rot wie ein blutender Feuerball vom Himmel, ich genoss die leichte Kühle des Morgens und den Gesang der Vögel. Ich wollte mich wie immer mit ihr treffen, doch..." Saris Stimme brach urplötzlich. Vitani spürte, wie Wellen der Trauer die Löwin übermannten. Sanft legte sie ihre kleine Pfote auf die Schulter ihrer Rudelgefährtin. „Ich konnte sie nicht finden", flüsterte Sari. „Ihr Lieblingsplatz war eine kleine Höhle in der Nähe der Sonnenfelsen, ich machte mich also auf den Weg dorthin. Doch mir kamen langsam Zweifel. Ob etwas passiert war? Sie ließ mich sonst nie warten..." Hier brach ihre Stimme abermals und sie seufzte. „Du musst es mir nicht erzählen", meinte Vitani mitfühlend. „Doch, muss ich!", brach es aus Sari heraus. „Nur so kann ich es endlich vergessen." Die roten Augen der Löwin bohrten sich in ihr Herz und jetzt verstand die Prinzessin endlich. Sari hatte noch nie zuvor mit jemandem über den Tod ihrer Freundin geredet. „Ich fand sie leblos auf dem Höhlenboden, bedeckt mit Blut. Ich... ich konnte nichts mehr tun... In den Tagen danach war ich kaum wieder zu erkennen.Ich dachte nach, über das Leben, den Tod, den Ewigen Kreis und wie ungerecht das alles doch war. Und ich fragte mich, wie ich denn Königin werden sollte, wenn doch das Leben, auch das meiner Liebsten, vergänglich war. Ich konnte dem Druck nicht standhalten,der Verantwortung, die als zukünftige Königin auf meinen Schultern lastete. So ging ich zu meinem Vater und teilte ihm meinen Wunsch mit, eine einfache Jägerin zu werden." Vitani lauschte aufmerksam Saris Geschichte. All das hatte sie nicht gewusst, obwohl sie Nacht für Nacht mit der Löwin eine Höhle teilte! Es schien,als hätte jeder sein kleines Geheimnis, das er vor ihr verbarg:Papa, Mama, Sari und natürlich... Nala. Die geheimnisvolle Löwin. Sari hatte wohl bemerkt, dass die Gedanken ihrer kleinen Zuhörerin abgeschweift waren. „Was ist, Vitani?" „Weißt du zufällig etwas über eine Nala?" Saris Gesicht wurde zu einer Maske, die keine Emotionen hindurch scheinen ließ. „Sie ist eine Abtrünnige. Halt dich fern von ihr und glaub ihr kein Wort,egal, was sie dir sagt." Vitani senkte enttäuscht den Kopf. Sie hatte eine solche Reaktion zwar erwartet,aber trotzdem... Alle sagten ihr, sich von dieser Löwin fern zuhalten, aber niemand erzählte ihr, warum. Saris Blick wurde weicher. „Ich möchte dich nur schützen." Sie legte eine Pfote um ihre kleine Schwester. „Jetzt geh spielen. Und bleib in Sichtweite des Königsfelsens!" Kapitel 15: Geheimgang ---------------------- Vitani verabschiedete sich und rannte ins Land hinaus. Der Königsfelsen ragte vor ihr auf wie ein imposanter, steinerner Thron. Bisher hatte sie nie einen Gedanken an die beeindruckende Größe dieses Felsens verschwendet, ihn für selbstverständlich gehalten, aber jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn noch nie gründlich erkundet hatte! Aufmerksam umrundete sie den Königsfelsen, aber schnell wurde ihr die Sucherei langweilig. Scar war heute am Wasserloch, um einen Streit um das letzte verbliebene Wasser zu schlichten, und würde deshalb erst in der Dämmerung zurückkehren. Wenn sie doch jetzt schon ein Geschwisterchen hätte! Alleine machte das alles keinen Spaß. Auf einmal fiel ihr etwas auf. Ein kleiner Spalt im Felsen, gerade groß genug, dass eine Löwin ihrer Größe hindurch schlüpfen konnte... Nur einen Moment später stand Vitani in einem steinernen Gang, der sich in den Felsen hinein grub, immer weiter in die Tiefe. „Wow!", flüsterte sie, und das Echo ihrer Worte hallte im Tunnel wider. „Ein Geheimgang!" Na, das war mal etwas, was es zu entdecken gab! Sie lief den Tunnel hinab, ihre Ohren zuckten aufgeregt. Überall hörte man gedämpfte Geräusche, einmal meinte Vitani sogar, das Trompeten eines Elefanten zu vernehmen. Es war, als wäre man unter Wasser, weit weg von der Oberfläche, die so unwirklich erschien. Je tiefer sie ging, desto kälter wurde es. Der Fels wich feuchter, von Wurzelflechten durchzogener Erde. Pfützen bildeten sich am Boden. Seltsam, dachte Vitani, dass es hier unten so nass ist, obwohl oben Trockenheit herrscht! Kleine Erdklumpen lösten sich von der Decke, als eine Herde über das Land donnerte. Ihre Hufe klangen gedämpft und weit entfernt. Wie tief sie jetzt wohl schon unter der Erde war? Der Gang verengte sich; sie musste jetzt tief am Boden geduckt weiter schleichen. So fühlt sich ein Maulwurf! Sie lachte. Sie hatte keine Angst. Sie war schließlich ein Maulwurf und der fürchtete sich nicht im Dunkeln! Mit leuchtenden Augen arbeitete sie sich weiter voran. Da! Was war das für ein Licht? Kurz musste Vitani die Augen zusammenkneifen. Einige Löwenlängen vor ihr lag der Ausgang. Sonnenlicht strahlte durch das Loch im Fels und beschien das Innere der geräumigen Höhle, in die der Gang mündete. Vitani kletterte weiter den jetzt steil ansteigenden Tunnel hinauf und lugte hinein. „Ich sage, wir tun es jetzt." Vor Schreck purzelte die kleine Löwin fast in den Gang zurück. Die Höhle war nicht leer. Vorsichtig, darauf bedacht, auch nicht ein Steinchen zu bewegen, beugte sie sich vor. In einer Ecke tigerte die wohl größte Löwin, die Vitani je gesehen hatte. Ihr räudiges Fell klebte ihr an den Rippen und die Augen waren von einem stechenden Orange. Das markanteste Merkmal waren aber wohl die schwarzen Spitzen ihrer Ohren. Allein ihre Anwesenheit verströmte etwas Unbehagliches, etwas, das Vitani kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Es wäre wohl besser,sie bliebe im Geheimgang. Dennoch überwog die Neugier der Prinzessin und ihre blauen Augen spähten wieder hinaus. In den Schatten bewegten sich weitere Löwinnen, auch sie sahen mager und ungepflegt aus. Mit Schrecken erkannte Vitani eine Löwin, die Nala ähnelte. Was ging hier vor? „Wir schlagen zu, bevor sie es bemerken." Die große Löwin erhob erneut die Stimme. „Der König wird noch vor Sonnenaufgang tot sein!" Vitani hatte nicht bemerkt, wie sie aufgeschrien hatte. Sie spürte nur die losen Steine unter ihren Pfoten, dann den Aufprall und die Krallen, die sich in ihren Rücken bohrten. Kapitel 16: Dunkle Zeiten ------------------------- „Wen haben wir denn da?" Stechende Bernsteinaugen blickten auf ihre Beute hinab. Vitani zitterte; schmerzhaft pressten die Krallen der Löwin sie auf den Steinboden. Sie wusste, Flucht war zwecklos. Das Maul der Fremden verzog sich zu einem Lächeln. Wie ein riesenhafter gelber Fels ragte sie vor Vitani auf, und trotz ihres ausgemergelten Zustands war sie doch kräftig. „Wieso?", brachte Vitani keuchend heraus. Diese kleine Frage hätte so viel bedeuten können, aber die Löwin wusste, worauf sie hinaus wollte. „Wieso wir Scar stürzen wollen?" Ein Lachen ohne Freude. „Du müsstest es wissen, kleine Prinzessin.Siehst du denn nicht das Land? Die Herden ziehen fort. Das Wasserloch ist nicht mehr als eine Pfütze. Löwen sterben. Ach, das kannst du ja nicht wissen... deinesgleichen muss nicht hungern." Die kleine Löwin wollte widersprechen, doch alle Luft wurde aus ihren Lungen gequetscht. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Nichts wünschte sie sich lieber, als in den Tanz mit einzustimmen... „Safira, halt! Du bringst sie um!" Stimmen, weit entfernt. Wie durch Nebel kamen sie näher... Dann, urplötzlich, Luft. Strömte in ihre Lungen, ließ sie aufkeuchen. Die schwarzen Punkte verschwanden. Ein Brüllen. Eine Löwin stürmte in die Höhle. Auch ihr waren die Strapazen der Trockenzeit deutlich anzusehen, doch strahlte sie etwas Majestätisches aus. „Schwester! Was hast du dir gedacht?" Ihr Blick wanderte zu Vitani. „Du kannst von Glück reden, dass Sarafina Mitleid mit dir hatte. Nun verschwinde!" Ihr Blick wurde weicher, als Vitani mit gesenktem Kopf ins Sonnenlicht humpelte. „Und... gib acht. Es sind dunkle Zeiten." Sie rannte. Ihre Pfoten schmerzten, es war egal. Nur weg von diesem schrecklichen Ort, dieser schrecklichen großen Löwin, von allem, einfach nur weg... Das Land zog an ihr vorüber, trostlos und kahl. Nein, das Schreckliche war nicht, dass Safira plante, den Königsfelsen anzugreifen, oder dass sie Vitani fast getötet hätte... es war die Tatsache, dass sie recht hatte. So unglaublich ihre Worte auch erschienen, sie waren wahr. Vitani dachte an die Geschichte, die Sari ihr erzählt hatte. Löwen sterben. War Tamas Tod ein Unfall gewesen oder... Mord? Sie durfte gar nicht erst daran denken. Sie schob ihre Gedanken zur Seite, bis auf den einen. Sie wollen meinen Vater töten. Ihre Schritte lenkten sie in Richtung Wasserloch. „Papa!!!" Urplötzlich stieß sie gegen dunkles Fell. Augen wie Smaragde schauten sie teils besorgt, teils belustigt an. „Vitani, was ist denn los?" „Löwinnen!", keuchte sie, erschöpft vom Rennen. Scar legte ihr beruhigend eine Pfote auf. „Erzähl mir alles." „Da war eine Höhle", begann Vitani, nun etwas ruhiger, „und die Löwinnen dort... sie planten einen Angriff." Sie holte tief Luft. „Auf den König." Scar knurrte, tief aus der Kehle. „Haben sie dich entdeckt?" Vitani nickte schuldbewusst. „Sie waren... nicht nett." Der König begann, auf- und abzulaufen. „Wir müssen zurückschlagen, bevor sie angreifen können." Vitani musste bei seinem Anblick unbewusst an Safira denken. Gab es nicht einen anderen Weg, als sich immer gegenseitig zu bekriegen? Außerdem... die beiden Löwinnen, die ihr geholfen hatten, sollten nicht verletzt werden.Sie waren nicht böse. „Bitte, Papa!", rief sie ihrem Vater zu. „Ich möchte keinen Kampf..." Überrascht drehte sich Scar zu ihr. „Was haben wir denn für eine Wahl...", knurrte er leise. „Sollen wir sie etwa freundlich bitten, sich unserem Rudel anzuschließen?" „Wieso nicht?" Vitani kam da plötzlich ein Einfall. „Sie sehen dich und unser Rudel als eine Bedrohung... was, wenn wir sie vom Gegenteil überzeugen können? Dass man nur gemeinsam eine Chance gegen die Trockenzeit hat. Ein größeres, vereintes Rudel erlegt mehr Beute und niemand muss mehr hungern! Das überzeugt sie bestimmt." Ihr Vater setzte eine unbewegliche Miene auf. Fand er die Idee etwa nicht gut? Doch dann erhellte sich sein Gesicht, ein Grinsen zog seine Mundwinkel weit nach oben. „Vitani, meine Tochter. Das ist eine geniale Idee! Hätte von mir stammen können." Scar zog die kleine Löwin zu sich heran. „Ich werde sofort die Königin informieren. Sie wird eine Patrouille zudem Rudel anführen. Das hast du gut gemacht!" Liebevoll streichelte der König seiner Tochter über den Schopf. Vitani fragte sich, womit sie diese plötzliche Zuneigung verdient hatte. War ihre Idee wirklich so sensationell? Andererseits war sie froh, dass Scar ihr anscheinend das Ereignis auf dem Elefantenfriedhof vergeben hatte. Sie schmiegte sich an ihn. „Versprichst du mir auch, dass keiner Löwin etwas zuleide getan wird?" „Das verspreche ich dir." Scar schaute sie lächelnd an. „Das Rudel wird widerstandslos zu uns übertreten. Zira kann sehr überzeugend sein..." Kapitel 17: Unterwerfung ------------------------ Sie schlichen durch die Tunnel, Schatten im Schatten. Geräuschlos glitten ihre Körper durch das Schwarz. Das Rudel wusste nicht, dass sie kamen. Und das war ihr Vorteil. Sie zischte ihren Schwestern Befehle zu. Zielt auf ihre Kehlen. Kein Blut. Lasst sie spüren, dass wir die Stärkeren sind. Licht blitzte in einiger Entfernung auf. Sie pressten sich auf den Boden, warteten. Der Staub tanzte auf ihrem Fell. Sie warteten. Jägerinnen machten das so. Dann, ein Rumoren in der Höhle. Die Zwillinge waren mit Sari eingetroffen. Sie hätte fast geschnurrt beim Knurren ihrer Tochter. Sie machte ihre Sache gut. Eine Löwin, auf die man stolz sein konnte. Sie hätte eine gute Königin abgegeben... besser als Tamas vorlaute Tochter. Aber nein, sie wollte nicht. Und sie als Mutter hatte die Wünsche ihrer Tochter zu respektieren. Lautes Brüllen ertönte in der Höhle. Das Signal. Sie knurrte tief aus der Kehle,lauschte dem Echo, dass hin und her geworfen wurde, bis es ohrenbetäubend seinen Weg in die Höhle fand. Alles wurde schlagartig still. Dann trat Königin Zira aus dem Tunnel. Ihre stechend roten Augen wanderten über das Szenario vor ihr. Sie fand ihr Ziel schnell. Die gelbe Löwin bleckte die Zähne,die Ohren mit den markanten schwarzen Spitzen zurückgelegt, doch schon war Zira über ihr. „Schaut doch, wer hier ist!", spottete Safira. "Die Streunerin!" Sie spuckte Zira ins Gesicht. Die Königin widerstand dem Drang, ihrer Gegnerin die Kehle aufzureißen. Stattdessen lächelte sie. „Du weißt schon, dass ich ihnen jederzeit den Befehl geben kann, deine Freundinnen nacheinander einen qualvollen Tod sterben zu lassen? Daran willst du ganz bestimmt nicht schuld sein." Safira keuchte und sie schnurrte zufrieden. „Nun, da das geklärt ist... kommen wir zum eigentlichen Punkt." Sie ließ ihren Blick erneut über die Löwinnen schweifen. Safiras Mitstreiterinnen wurden von krallenbewehrten Pranken auf den Boden gedrückt, ihre Kehlen entblößt. Sarabi. Diiku. Dwala. Naanda. Sarafina... wo war Nala? „Wo ist dieses kleine Miststück? Sarafinas Tochter?", herrschte sie die Löwinnen an. Auf Safiras Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Eine Löwin in ihrer Lage sollte nicht so grinsen können. „Sie ist weg. Weggelaufen. Schon vor vielen Sonnenaufgängen. Ihr könnt sie nicht mehr einholen." Ziras Pfoten zitterten. Der Plan verlief in eine Richtung, die ihr gar nicht gefiel. „Und wisst ihr was?", feixte Safira, „vielleicht hat sie ja Erfolg. Vielleicht findet sie ein Rudel, dass bereit ist, mit uns den Kampf gegen den König aufzunehmen. Vielleicht ist er schon längst tot." Nein. Nein, nein. NEIN! „Wenn ja, dann werdet ihr mit ihm sterben!", jaulte Sari. Zira unterdrückte ihre aufkeimende Angst. Sie durfte nicht verzweifeln. Nicht jetzt, nicht hier. Ihre Tochter hatte recht. „Oh ja", knurrte die Königin. Langsam gewann sie ihre Fassung wieder. „Schließt euch uns an – oder sterbt!" „Nie-", setzte Safira an, aber dann begriff sie. Ihre Augen verengten sich. „Ich unterwerfe mich dir, Königin Zira." Langsam lockerte Zira ihren Griff, sodass die Löwin sich aufrichten konnte. „Eine falsche Bewegung und deine Rudelgefährtinnen werden getötet", warnte sie. Dann wandte sie sich an die restlichen Löwinnen. „Wollt ihr ihrem guten Beispiel folgen?" Natürlich wollten sie. Alle miteinander. Schworen Zira ihre Treue, und sie hätte zufrieden sein können. Aber etwas in Safiras Worten hatte sie verunsichert. Ihr Angst gemacht. Hier zeigte sich, wo sie wirklich verletzlich war, nicht durch Krallen, nicht durch Zähne, sondern in ihrem Herzen, ihrer unerbittlichen Liebe zu Scar. Kapitel 18: Vereinigung ----------------------- Sie kamen in der Dämmerung. Magere Gestalten, die jegliche Hoffnung aufgegeben hatten. Begleitet von den Jägerinnen, allen voran Zira. Vitani stand bei ihrem Vater; er würde die fremden Löwinnen offiziell im Rudel willkommen heißen. Die Stimmung war trüb wie der Himmel über dem Königsfelsen. Niemand schien glücklich über die Umstände und Vitani fragte sich, ob sie nicht vielleicht einen Fehler gemacht hatte. Die Löwinnen der verschiedenen Rudel knurrten sich gegenseitig an, warfen sich stechende Blicke zu. In der Menge erkannte sie Safira und ihr Nackenfell sträubte sich kurz, als sich ihre Blicke kreuzten. Diese Löwin wollte Vitani ganz offensichtlich tot sehen. Doch auch wenn sie jetzt, was Vitani nicht hoffte, eine Höhle teilten, würde immer jemand ein Auge auf die große Löwin haben. Das hatte Scar ihr versprochen. Die Gruppe war nun am Fuße des Felsens angekommen. Der König sprang hinab, Vitani dicht hinter ihm. Einstimmiges Fauchen war zu hören,sobald die Löwinnen Vitanis Vater erblickten. Das Königsrudelantwortete mit einem tiefen Grollen, dass die Fremden sofortverstummen ließ. „Lasst den König sprechen!", verlangte Zira mit gebieterisch erhobener Stimme. Sie wirkte nervös. Vitani konnte sich das nicht erklären – so kannte sie ihre Mutter gar nicht. Nun hob Scar an, zu sprechen. „Ich stehe heute vor euch als ein König, den ihr hasst, den ihr verabscheut. Doch fragt euch einmal: Warum? Warum hasst und verabscheut ihr mich?" Vitani lauschte den Worten ihres Vaters. Sie kannte sie – denn sie selbst hatte Scar geholfen, die richtigen Worte zu finden, damit seine Rede auch überzeugend wirkte. „Können wir nicht in Harmonie zusammenleben? Können wir nicht unsere Vorurteile beiseite schieben...", hier warf er Zira und Safira einen Blick zu, „und die Streitigkeiten zwischen uns vergessen?" Stille senkte sich über die Löwinnen. „Wenn wir zusammenarbeiten, können wir so viel erreichen. Niemand muss mehr leiden. Niemand muss mehr zurückbleiben. Denn wir sind – eine – große Familie! Wir sind ein Rudel!" Stille. Die Luft vibrierte. Vor Spannung oder vor Hitze vermochte Vitani nicht zu sagen. Unten tauschten die Löwinnen tuschelnd ihre Meinungen aus, unter den strengen Blicken von Ziras Gefährtinnen. Man sah Safira mit einer Löwin streiten. Vitani erkannte sie – es war diejenige, die in der Höhle für sie eingestanden war. Ihr Blick war ernst, die Haltung stolz. In ihren Augen brannte kein dunkles Feuer, sie schien gelassen, ein Ruhepol inmitten der hitzigen Diskussion. Vitani mochte sie. Die meisten Löwinnen schlossen sich ihr an, bis schließlich auch Safira knurrend nachgab. „Sarabi", sprach der König, „haben deine Löwinnen eine Entscheidung getroffen?" „Wir werden uns deinem Rudel anschließen", erwiderte die stolze Löwin und senkte den Kopf. Vitani lächelte. Ihr Vater hatte es tatsächlich geschafft, die Rudel zu vereinen! Am liebsten hätte sie gejubelt, aber da niemand anderes das tat, hielt sie es (besonders weil sie ja eine Prinzessin war) für unangemessen. Stattdessen gab sie sich mit einem freundlichen „Willkommen im Königsrudel!" zufrieden. Nein, willkommen waren die Neuen nun wirklich nicht. Und das ließ die Mehrheit des Rudels sie auch deutlich wissen. Einzig Sari stand Vitani im aussichtslosen Kampf gegen die Diskriminierung bei. Mal gaben sie ein Stück von ihrer Beute ab, mal luden sie die Neuen zu den Sonnenfelsen ein. Doch Misstrauen war meist die Antwort. Und Vitani konnte es ihnen nicht verübeln. Zira würde bald ihre Jungen bekommen, auch ihre Schwester Jiraha war hochschwanger. Die beiden konnten die Höhle kaum noch verlassen, geschweige denn jagen gehen. Auch deshalb war es gut, dass sich neue Löwinnen dem Rudel angeschlossen hatten. Und, noch nicht einmal Zira konnte das bestreiten, sie waren exzellente Jäger. Ihre Bäuche füllten sich, und nach einiger Zeit glänzte ihr Fell und die Rippen stachen nicht mehr so stark hervor. Der Tag kam, der alles verändern sollte. Die ruhige Sari versuchte, ein Gespräch mit Naanda anzufangen. Und siehe da, wenig später breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht der jungen Löwin aus. Das Misstrauen blieb, doch das Eis war gebrochen. Langsam näherten sich die beiden Rudel an. Es schien, als wäre endlich Frieden eingekehrt... ***** Doch tausende Pfotenstapfen entfernt kämpfte eine junge Löwin gegen einen Löwen mit roter Mähne. Blätter wirbelten auf, mächtiges Brüllen tönte durch den Dschungel, als die Löwin ihren Gegner auf den Boden pinnte, so wie sie es vor so langer Zeit schon getan hatte. Der Löwe riss die Augen auf, als er sie erkannte. „Nala?" Kapitel 19: Wunder ------------------ „AAAHH! ES TUT SO WEH! MACH, DASS ES AUFHÖRT! LASS ES AUUFHÖREN..." Zira krümmte sich auf dem Boden zusammen. Ihre Schwester Hasira und weitere vertraute Rudelmitglieder waren bei ihr, murmelten ihr beruhigende Worte zu. Doch es schien die Sache nicht besser zu machen. Zumal Scar nervös in der Höhle hin und her tigerte. „Wann ist es denn soweit?" Schließlich reichte es den Jägerinnen und sie schickten den König fauchend hinaus. „Das ist Löwinnensache!" Vitani beobachtete die Höhle mit großen Augen. Tat die Geburt ihres Geschwisterchens denn wirklich so weh? Sari stürmte in die Höhle mit einem stabilen Ast im Maul. „Du musst das nicht mit ansehen", flüsterte sie Vitani zu, aber diese schüttelte nur stumm den Kopf. „Ich will dabei sein!" Sari reichte ihrer Mutter den Ast. „Hier. Wenn die Schmerzen zu groß werden, beißt du so fest wie möglich darauf." Sie stöhnte nur. Noch nie hatte Vitani Zira so schwach gesehen. Ihre Augen waren glasig, ihr ganzer Körper zitterte. Doch sie blieb. Auch als die Königin wieder anfing zuschreien, auch als Blut den Höhlenboden benetzte. Hier geschah ein Wunder. Ein kleines, verklebtes Wunder zwar, aber es lebte. Sari hob das blutige Fellbündel vorsichtig am Nackenfell hoch und legte es zwischen Ziras Pfoten. Sie atmete flach und schnell, doch beim Anblick ihres Jungen lächelte sie. Vitani trat näher und blickte auf den winzigen Körper, den Zira nun mit kräftigen Strichen ableckte. Das Junge maunzte leise. Nun, da sein Fell trocken war, schien es Vitani wie das Kostbarste der Welt. „Es ist ein Mädchen!", schnurrte Zira. „Ich werde sie Damu nennen." Als hätte das Junge genau auf diesen Moment gewartet, öffnete es die Augen. Scars Augen. Zira quiekte erfreut und stupste ihre Tochter sanft an. „Du bist wunderbar." Sie liebkoste das Junge weiter, während die Löwinnen um sie herum Rufe des Entzückens hören ließen. Wirklich, Damu war etwas Besonderes.Die dunklen Augenringe umrahmten elegant die smaragdgrünen Augen, die leuchtend in eine neue Welt blinzelten. Gekrönt wurden sie von kleinen dunklen Punkten. Damu erblickte Vitani und miaute leise. „Ich bin deine Schwester!", wisperte die Ältere. „Und ich werde immer auf dich acht geben. Hab keine Angst!" Das Junge blickte sie weiter mit großen, wissenden Augen an. Als hätte sie diese Worte tatsächlich verstanden... Vitanis Herz schien vor Stolz zu platzen. Damu miaute erneut und Zira stupste sie leicht mit der Schnauze an. „Hast wohl Durst?" Sanft platzierte sie ihre Tochter an ihrem Bauch, wo sie sofort begann, ihre ersten Schlucke Milch zu trinken. Ihr Leben hatte gerade erst begonnen und schon wurde sie geliebt. Ein nagendes Gefühl machte sich in Vitanis Brust breit. Müsste sie sich nicht auch an diese überwältigende Liebe erinnern? Aber nein... da war nichts. Nur ein stummer Schatten. Vielleicht ging die Erinnerung an die ersten Momente des Lebens einfach so verloren, dachte sich Vitani, so wie die Samen des Löwenzahns, die der Wind verweht. Traurig, dass so viel Liebe verloren ging. Scar betrat die Höhle auf leisen Pfoten. „Das ist sie?" Täuschte sich Vitani oder war das Enttäuschung im Blick ihres Vaters? Nein, sie musste sich geirrt haben. Niemand konnte von so etwas Wunderbarem wie Damu enttäuscht sein! „Das ist Damu!", erklärte sie freudestrahlend. „Sieh nur, wie klein sie ist! Und ihre Augen sind genau wie deine, Papa!" „Sie ist hübsch", bemerkte ihr Vater und schnurrte. „Genau wie ihre Mutter. Zira, wie geht es dir?" „Gut genug, um dich hochkant wieder aus der Höhle zu werfen, wenn du zu aufdringlich wirst!", grollte Zira, doch man hörte, dass sie es nicht wirklich ernst meinte. Sie rieb ihren Kopf an dem ihres Gefährten. „Vitani, sei doch so lieb und hol etwas frisches Moos für das Kleine, ja?" Verwirrt machte sich Vitani auf in Richtung Höhlenausgang. Es schien so, als wollte Zira sie unbedingt loswerden... warum? Na ja, wenn die Erwachsenen etwas allein besprechen wollten, hatten sie nicht mit Lauschpfote Vitani gerechnet! „Was erwartest du von mir?" Scar. „Dass ich dieses Fellbündel hier zur Königin kröne?" „Nein. Dass du dein rechtmäßiges Erbe anerkennst", antwortete Zira fauchend. Was meinten sie damit? Vitani hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn Schritte ertönten hinter ihr. Die kleine Löwin wirbelte herum. Sarabi lächelte sie an. „Ist es schon so weit?" „Uhm..." Vitani war sich unsicher,was sie der Löwin sagen sollte. Immer noch blieb das Verhältnis zwischen alten und neuen Rudelmitgliedern gespannt, und die Königin in so einem schwachen Zustand wäre ein leichtes Ziel... Was dachte sie da! Sarabi war eine stolze und wohlgesonnene Löwin. Sie würde niemals eine Mutter und ihr Neugeborenes angreifen! „Ja. Es ist ein Mädchen!", berichtete Vitani. „Scar und einige Löwinnen sind bei ihr",fügte sie sicherheitshalber hinzu. Sarabi nickte nur zustimmend und betrat die Höhle, während sich Vitani nun ihrer eigentlichen Aufgabe widmete: Moos für Damu sammeln. Doch das erwies sich als schwieriger als gedacht. Die Trockenheit hatte die Steppe fest im Griff und Vitanis Ausbeute bestand nur aus ein paar struppigen Moosbüscheln. In einiger Entfernung sah sie eine Gruppe Neuzugänge bei dem Versuch, einen Bock zu reißen. Die Rippen des Tieres stachen heraus und es lahmte – es würde wohl nur eine karge Mahlzeit für das Rudel abgeben. Als sie die staubigen Stufen des Königsfelsens hinaufkletterte, ließ ein Brüllen sie fast den Halt verlieren. „Wie kannst du es wagen!", schrie Zira. Ihr zitternder Körper hatte sich über der winzigen Gestalt Damus aufgebaut. Sarabi senkte den Kopf. Kein Anzeichen von Angst spiegelte sich in ihrer Haltung. „Es war nicht meine Absicht, Ihre Majestät und ihre Tochter in irgendeiner Weise zu verletzen." Sie meinte es ernst. Vitani blieb im Höhleneingang stehen und starrte auf die Löwinnen. Ziras Gefährtinnen bauten sich schützend um die Königin auf, Scar hielt sich aber überraschenderweise im Hintergrund. „Ich sage es nur einmal: Verschwinde." Zira schien zu schwach für einen Kampf. „Es tut mir leid", erwiderte Sarabi, ohne noch einmal zurückzublicken. „Ich wünschte nur, du wärst noch dieselbe. Doch manchmal macht Liebe blind..." Zira brüllte noch einmal bedrohlich auf, dann schienen ihre Kräfte sie zu verlassen und sie brach zusammen. Sie hielt das Junge in ihren Pfoten und wiegte es langsam hin und her. Niemand beachtete Vitani, die ihr Moos neben sich geworfen hatte und außerhalb der Höhle, an den harten Stein gepresst, stille Tränen weinte. Kapitel 20: Zweifel ------------------- "Tani? Tani! TANI!" Ein paar kleine, jedoch energische Pfoten trommelten gegen Vitanis Bauch. Noch schläfrig öffnete sie die Augen. Damu erschien urplötzlich in ihrem Blickfeld. „BUH!" Sie lachte auf, als Vitani ihren Kopf schüttelte, um den kleinen Plagegeist los zu werden. Wärme durchströmte sie wie in jedem dieser glücklichen Momente. Sie rollte sich spielerisch auf den Rücken und schlug mit den Pfoten nach Damu. „Rausgehn!" Damu hüpfte auf Vitanis Bauch, was trotz ihrer geringen Größe nicht besonders angenehm war. „Rausgehn. Tani!" „Psst, nicht so laut!" Die ältere Schwester schubste Damu sanft von sich herunter. „Wir wollen doch Mama und Papa nicht aufwecken." Sie deutete auf das schlafende Königspaar. „Rausgehn?" Mit großen Augen blickte die Kleine zum Höhlenausgang. Die Sonne blinzelte über die Spitze des Königsfelsens. In einigen Momenten würde ihr rotes Licht die Höhle fluten. Vitani seufzte und rappelte sich auf. Diesen Anblick durfte sie Damu natürlich nicht vorenthalten! Damu quiekte leise und rannte los. Lächelnd trabte Vitani hinterher. Sie kamen gerade rechtzeitig. Wie ein gleißend roter Feuerball erhob sich die Sonne und der Fels glühte in ihrem Schein. Ehrfürchtig stand Damu da. Vitani stupste sie an. „Na, ist das schön?" Das Junge nickte heftig. Ihr Strahlen hätte gut mit dem der Sonne mithalten können. „Guten Morgen, meine Kleinen." Scar kam, flankiert von Zira, aus der Höhle geschritten. „Ich bin nicht klein!", erwiderte Vitani protestierend und krallte sich mit einem gewagte Sprung in die Mähne ihres Vaters. Dieser ließ sich theatralisch zur Seite fallen. Zira seufzte. „Zeit, die Jagdpatroullien einzuteilen." „Mama!", jubelte das Junge und stürmte, so schnell es seine kurzen Beine trugen, zur Königin. „Hunger!" War das der Anflug eines Lächelns auf Ziras Gesicht? In Scars Mähne vergraben beobachtete Vitani ihre Mutter und ihre kleine Schwester, die vereint zur Höhle schlenderten. „Ich habe zu tun, Vitani. Warum gehst du nicht spielen?" Scar rappelte sich auf und seine Tochter rutschte herunter. Seufzend verließ sie den Königsfelsen. Damu war zwar um einiges gewachsen seit ihrer Geburt, doch sie war dennoch ein schutzloses Junge und noch nicht bereit, das Geweihte Land mit ihrer Schwester zusammen zu erkunden. In Gedanken verloren, wäre sie fast in den jungen Löwen vor ihr hineingelaufen. "Hallo!" Überrascht blickte Vitani auf. Sie hatte noch nie zuvor einen anderen Löwen außer Scar im Geweihten Land gesehen... sie betrachtete ihn eingehend, versuchte, ihn einzuschätzen. Er war etwa in ihrem Alter und seine braunen Augen leuchteten freundlich. Keine Bedrohung. Vitani fuhr ihre Krallen wieder ein, fixierte den Fremden aber immer noch misstrauisch mit ihrem Blick. Er verengte die Augen. "Hallo? Kannst du mir sagen, wo ich mich befinde?" "Im Geweihten Land", knurrte sie zurück. "Hey, kein Grund, gleich unfreundlich zu werden!", rief der Löwe beschwichtigend. "Ich habe mich einfach nur verlaufen." Irgendetwas an ihm schien seltsam vertraut. Die Art, wie er sprach. Die Farbe seines Fells. Vitani wollte nur nicht einfallen, woher... "Wer bist du?" Sie legte den Kopf schief. "Mheetu. Und du, Prinzessin?" "Nenn mich nicht Prinzessin!" Schneller als er auch nur blinzeln konnte, hatte Vitani ihn auf den Boden gepinnt. Sie hatte den Namen schon einmal gehört... "Woher kommst du... und warum bist du wirklich hier?" "Ich schwöre bei den Königen, ich habe mich verlaufen!" "Du redest wie jemand, der aus dem Geweihten Land kommt. Ich glaube dir nicht." Sein Blick verfinsterte sich. Auf einmal erschien er Vitani klein und verletzlich und sie zog sich zurück. Er war klein, tatsächlich. Und abgemagert. "Ich stamme von hier, ja. Aber es wurde zu gefährlich, zu bleiben... du weißt schon. Wegen dem König. Er duldet keine männlichen Junglöwen in seinem Land." Darüber hatte Vitani noch gar nicht nachgedacht. Aber es stimmte: Scar war der einzige Löwe, den sie je kennengelernt hatte. Aber lag es wirklich daran, dass... Sie schüttelte den Kopf. "Also gut. Weißt du, aus welcher Richtung du gekommen bist?" "Hmm... du hilfst mir jetzt?" "Sieht so aus." "Als ich ankam, war die Sonne direkt vor mir. Sie strahlte ganz rot und war gerade dabei, aufzugehen..." "Wenn du in Richtung Sonnenaufgang gekommen bist, musst du... in der Richtung des Sonnenuntergangs zurück", schlussfolgerte Vitani. "Dann muss ich bis zum Abend warten?!" Mheetus Augen waren entsetzt weit aufgerissen. Vitani nickte. "Aber ich kann nicht noch länger hier bleiben!" Ein Kichern ließ die beiden verstummen. Einige Hyänen traten aus dem Schatten eines Felsens und begannen, die Löwen einzukreisen... "Lauf!" Mheetu fuhr die Krallen aus und warf sich vor Vitani. "Ich lenke sie - " "Halt. So funktioniert das nicht." Sie musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Aber irgendwie war es auch süß, dass er sie verteidigen wollte. "Der Löwe steht unter dem Schutz des Königs", meinte Vitani so herablassend wie möglich. "Und wenn ihr euch eine große Menge Ärger ersparen wollt, lasst ihr ihn besser in Ruhe." "Ärger? Von dir etwa?", kicherte einer der Aasfresser. "Nein", erwiderte Vitani ruhig, "von meinem Vater. Dem König." Hinter ihr zuckte Mheetu kaum merklich zusammen.. "Wir wollen natürlich keinen Ärger mit dem Boss", grinste die Hyäne und winkte die restliche Gruppe zu sich. "Hauen wir ab." Nachdem das Gelächter der Hyänen verklungen war, atmete Vitani auf. "Komm, ich zeige dir - " In Mheetus Blick lag blankes Entsetzen. "Lieber lasse ich mich von denen fressen, als dass ich dir traue!", fauchte er. "Wer sagt denn, dass du mich nicht direkt zu Scar führst? Schließlich bist du seine Tochter!" Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. "Mheetu, warte!", rief Vitani. Doch es half nichts - der junge Löwe war schon hinter den Hügeln verschwunden. Noch einige Zeit stand Vitani da und starrte in Richtung Horizont. Ein nagendes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit - oder war es immer schon da gewesen? Zweifel. Schreckliche, nicht zu leugnende Zweifel an dem System, am König selbst. Wenn so viele sich gegen ihren Vater stellten... konnte das, was er tat, dann tatsächlich noch richtig sein? Kapitel 21: Erkundungstag ------------------------- Irgendetwas lag in der Luft. Vitani konnte nicht benennen, was es war, aber sie war nicht die Einzige, die spürte, dass etwas bevorstand. Auch die anderen Löwinnen schienen nervös. Damu hingegen tollte unbeschwert wie immer umher. Heute durfte sie endlich den Königsfelsen verlassen, unter Vitanis wachsamen Augen zwar, aber das schien ihr egal zu sein. Ungeduldig lief das Junge zwischen den Beinen der Löwinnen herum, bis Zira eingriff. "So, Schluss jetzt mit der Spielerei." Sie nahm Damu hoch und setzte sie neben Vitani. "Löwinnen, seid ihr bereit?" Das Rudel nickte entschlossen. Mit der Königin an der Spitze stürmten sie aus der Höhle. Damu maunzte ihnen begeistert hinterher. Schon seit einigen Tagen plante das Rudel diese Mission. Zira und einige ihrer engsten Vertrauten wollten losziehen, um die verschwundenen Herden ausfindig zu machen und neue Wasserstellen zu finden. Am Königsfelsen blieben lediglich Jiraha und ihr Junges, Sirina, außerdem Sarabis Löwinnen, Vitani, Damu und Scar. Zuerst hatte Zira sich vehement geweigert, Scar mit den "Neuen" ohne wirklichen Schutz zurück zu lassen, aber der König hatte sofortige Maßnahmen ergriffen und zusätzliche Hyänentrupps um den Königsfelsen stationiert. Die hatten zwar kein Hirn, konnten aber kämpfen, wenn's drauf ankam. Und solange ihr Vater sicher war, nahm Vitani auch Hyänengestank in Kauf. Aber was soll schon passieren?, dachte sie sich, während sie Damu den Königsfelsen hinunter trug. Ich mache mir nur unnötig Sorgen. Damu blieb dicht an Vitanis Seite, während die beiden an den Hyänen vorbei eilten. Doch schon bald erstreckte sich weites, trockenes Grasland vor ihnen. Vitani, froh, den Aasfressern entkommen zu sein, rollte sich durch das Gras. "Komm, mach mit!", ermunterte sie ihre Schwester. Mit leuchtenden Augen sprang Damu zu ihr und sie tollten wild herum, sodass das Gras nur so raschelte. Damu war überraschend kräftig für ihr Alter. Im Gegensatz zu Sirina, der kleinen Cousine der beiden. Das helle Junge schien kränklich und schwach, lag die meiste Zeit am Bauch ihrer Mutter und schlief. Trotzdem hatte Vitani sie sofort ins Herz geschlossen. Vielleicht würden die Schwestern Sirina ja heute noch einen Besuch abstatten. Jetzt allerdings ging es weiter durchs Geweihte Land. Damu quiekte auf beim Anblick einiger riesiger Vögel. "Bunt! Groß, groß!" "Das sind Papageien, Damu", erklärte Vitani. "Gein!", rief die kleine Prinzessin und schreckte damit die Vögel auf. Laut krächzend verschwanden sie in den Baumkronen. Aber schon hatte Damu ihr nächstes Ziel entdeckt. Bereitwillig erklärte Vitani ihr alles und erzählte ihrer kleinen Schwester vom Geweihten Land und seinen Bewohnern. Stolz wallte in ihrer Brust und hin und wieder konnte sie ein Schnurren nicht unterdrücken. Genau so hatte sie es sich immer erträumt... So ging es weiter, bis die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte. Sie ließen sich im Schatten der Akazien nieder und dösten, eng aneinander gekuschelt, ein. Keiner von ihnen hörte das erste Donnergrollen. Keiner von ihnen bemerkte die Regenwolken am Horizont. Keiner von ihnen sah Sarabi mit ihrer Jagdpatrouille erfolglos zurückkehren. Keiner von ihnen ahnte, was dieser Tag noch bringen würde. Eine kleine Pfote stupste sie wach. "Tani!" Sie blinzelte. Die Luft roch... anders. Es war dunkel geworden, Wolken bedeckten nun den ganzen Himmel. "Rot, rot. Gaanz groß!", verkündete Damu aufgeregt. "Du willst die Sonne sehen?" Vitani lachte. "Da musst du dich noch bis morgen gedulden. Ich schlage vor, wir gehen jetzt erst einmal..." Nach Hause. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Jetzt sah sie es auch. Rot. Feuerrot. Der Königsfelsen stand in Flammen. Kapitel 22: Feuer ----------------- Feuer. Feuer in ihren Adern, Feuer in ihren Klauen, in jeder einzelnen Faser ihres Körpers. Heute brannte sie. Für all diejenigen, die ihr Leben gelassen hatten. Mufasa. Tama. Pride. Naomi. Die Geister der Verstorbenen tanzten in den Flammen, lenkten ihre Pfoten, stählten ihr Herz. Sie spürte sie mit jedem Atemzug. Geschmeidig bewegte sich ihr Körper durch die Schlacht, ihre Krallen rissen tödliche Wunden, ihre Fänge blitzten grellweiß auf, bevor sie sich in die Kehle eines Gegners bohrten. So lange schon hatten sie gewartet. Zu lange schon litten sie unter der Herrschaft Scars. Jetzt war der Tag der Abrechnung gekommen. Funken stoben auf, als sie über den Felsen jagte, das Feuer hinter ihr zeichnete dunkel ihre Silhouette auf den Steinboden. Eine Kriegerin aus Schatten und Flammen. Wut loderte in ihrem Blick. Ihre Tatzen fegten eine weitere Hyäne vom Felsen, sie wirbelte herum und sprang drei weiteren entgegen, mit peitschendem Schwanz, knurrend, die Lefzen zurückgezogen. Die erste Hyäne tötete sie mit einem gezielten Genickbiss. Eine weitere sprang auf ihren Rücken, sie rollte sich herum, schüttelte sie ab und schleuderte sie ins Feuer. Ihr Kreischen hallte Nala in den Ohren. Die dritte Hyäne bekam es mit der Angst zu tun und ergriff die Flucht, doch mit einem mächtigen Sprung holte die Kriegerin sie ein, brachte sie zu Fall und zerfetzte ihr die Kehle. Blut sprenkelte ihre Schnauze und ihre Krallen. Der Glanz des Feuers hüllte sie ein, Hitze kribbelte unter ihrem Fell. Sie fühlte sich stark. Kurz blickte sie hinüber zu ihren Rudelgefährtinnen: Safira, kämpfend mit einer Wut und Brutalität wie keine andere. Sarabi, stolz und brüllend. Diku und Dwala, Seite an Seite. Naanda, die sich tapfer gegen vier Gegner behauptete. Uzuri, mit einem bitteren Lächeln auf dem Gesicht. Und schließlich ihre Mutter. Sarafina. Es war wunderschön und schrecklich zugleich, sie kämpfen zu sehen. Eine Hyäne nach der anderen wurde von ihr niedergestreckt. Ohne zu zögern warf sich Nala wieder in den Kampf. Die Hyänen wichen ihr aus, doch es gab kein Entkommen. Endlich konnten sie Rache nehmen. Endlich wussten sie, was lange nur eine düstere Vermutung war: Scar hatte tatsächlich seinen eigenen Bruder, Mufasa, getötet, um König zu werden. Und Simba - er lebte. Manchmal konnte sie es immer noch nicht wirklich glauben. Scar hatte sie alle in dem Glauben gelassen, der Prinz wäre tot... doch wie es aussah, war auch das Teil seines perfiden Plans gewesen. Simba sprang, umhüllt vom Schein des Feuers, über den Felsen. Aus seinen Augen schienen Funken zu sprühen. Er schleuderte zwei Hyänen von seinem Rücken und ihr Herz machte einen Sprung, als eine dritte ihm an die Kehle ging. Mit einem Fauchen war sie bei ihm, riss die Hyäne herunter. Kurz begegneten sich die Blicke der Löwen. Blaue Augen trafen auf rotbraune. Für einen kurzen Moment waren sie wieder im Dschungel und sie konnte seinen warmen Atem an ihrer Wange spüren, sein Fell neben ihrem. Schmetterlinge tanzten wie verrückt in ihrem Bauch. Dann wurde der Moment weggeweht wie Asche im Wind. Gegner umzingelten sie. "Ich halte dir den Rücken frei", flüsterte sie, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Die Hyänen griffen an. Sie bäumte sich auf und zeigte knurrend ihre Zähne, schlug unbarmherzig auf die Angreifer ein. Er war an ihrer Seite, tat es ihr gleich. Sie waren eins. Kampfschreie gellten über den Felsen, der Geruch nach Feuer und Blut erfüllte die Luft. Der Rauch, die Hitze, die unermüdlichen Gegner - das alles wurde verdrängt von ihrem Durst nach Rache. Sie nahm die Welt um sich herum nur noch verschwommen wahr. Doch plötzlich war er nicht mehr hinter ihr. Gab ihr keine Rückendeckung mehr. Angst keimte in ihr auf. "Simba!" Sie schrie es in die lodernden Flammen. Tote Hyänen, Ruß und Blut bedeckten den Boden. Im flimmernden Licht erkannte sie die anderen Löwinnen versammelt. Die restlichen Hyänen hatten sich wohl, feige wie sie waren, verzogen. "Simba!", rief sie erneut. Köpfe hoben sich, als sie zum Rest der Gruppe stieß. Sie sah den toten Körper einer Löwin zwischen den Leichen einiger Hyänen hervorblitzen. Jetzt erst erkannte sie, dass der Krieg einen weiteren Tribut gefordert hatte. Ein weiteres Leben. "Es ist Diiku", flüsterte Sarafina. Liebevoll schmiegten sich Mutter und Tochter aneinander. Trauernd, schluchzend umringten Diikus Schwestern die Tote, sprachen leise Gebete zu den Königen der Vergangenheit. Auch sie senkte respektvoll den Kopf. Eine tapfere Kriegerin hatte ihr Leben im Kampf für die Gerechtigkeit gelassen... "Was nun?", wandte sie sich an ihre Gefährtinnen. "Wir wissen nicht, ob Scar noch am Leben ist." Tränen standen in Sarabis Augen, doch sie waren sicherlich nicht für den heuchlerischen König gedacht. "Und Simba..." "Der König ist tot!" Ein Ruf unterbrach die ältere Löwin. Ein Schatten löste sich aus den Flammen, sie erhellten das Gesicht des Löwen - Ein Raunen ging durch die Menge. Ihre Augen weiteten sich, Tränen des Glücks rannen ihr die Wange hinunter. Einer nach dem anderen knieten sie nieder vor ihrem neuen Herrscher - König Simba, Sohn von Mufasa. Dann setzte der Regen ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)