AX-4 von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 11: ------------ 11 Ayax analysierte die Vitalfunktionen ihres Wirtes, der gerade ohnmächtig vor ihr weggekippt war. Gut, dann hielt er wenigstens endlich die Klappe und mischte sich nicht mehr ständig ein. Der Puls war stabil, die Atmung auch, ... alles bestens. Kein Grund zur Sorge. Solange er den gesteigerten Energiebedarf zweier fusionierter AX-Waffen aushalten musste, würde er nicht wieder zu Bewusstsein gelangen. Um AX-1 und AX-2 ebenfalls noch zu assimilieren, würde sie ihn allerdings mit Adrenalin-Infusionen und technischer Hilfe zum Weiterleben zwingen müssen, solange sie ihn noch brauchte. Beides sollte in medizinischen Laboren nicht schwer zu finden sein. Auf Basis ihrer Analysen seiner körperlichen Verfassung rechnete sie aus, wie viel Zeit ihr blieb, ihre Mission zu erfüllen. Ein Prioritäten-Protokoll lief in ihr ab. Schuldigs medizinische Versorgung verschwand irgendwo im Ranking zwischen dem Finden der anderen AX-Modelle, dem Ausschalten ihrer Verfolger, dem Verlassen dieser Forschungseinrichtung und dem Aufspüren ihrer Ziele. Noch währenddessen veränderte sie ihre äußere Erscheinung erneut, eher in Richtung eines dicken Panzer-Nashorns, so daß sie den ohnmächtigen Schuldig aufsammeln, in ihrem Bauch einschließen und ungestört mitschleppen konnte wie eine Transportbox auf Beinen.     Farfarello warf den langen, schwarzen Mantel ab, den er sich übergeworfen hatte, um auf die Straße gehen zu können, ohne blöde Blicke auf sich zu ziehen. Seine Klamotten waren immerhin mehr mit Blut versaut, als daß man die Originalfarbe noch erkannt hätte. Er betrachtete sich im Foyer des noblen Bürogebäudes in einer verspiegelten Säule. Obwohl er gerade aussah wie ein Zombie, ließen die Wachposten ihn ungestört hier herumlaufen. Takatoris Spezialtruppe Schwarz war unter den Sicherheitsleuten bekannt. Keiner würde ihn aufhalten. Im Spiegel entdeckte Farfarello nur einen Streifschuss am Arm, dort wo der Halteriemen der Zwangsjacke zerschossen worden war. Abgesehen davon war er unverletzt. Das viele Blut, das er sonst noch mit sich herumtrug, war nicht sein eigenes. Er war also im Medi Tec Labor nicht ernsthaft verletzt worden. Und, hey, er hatte sich selber befreit. Da Crawford ihn ja nicht hatte retten wollen, hatte er sich eben alleine den Weg freigeschlagen. Bist du ein Kind Gottes, dann hilf dir selbst. Farfarello drehte sich um und ging weiter. Auf direktem Weg zu Takatoris Büro. Es schien, als gäbe es hier einiges aufzuklären. Auf dem Weg durch die vielen Etagen und Gänge wurde er entweder ehrfürchtig gegrüßt oder ihm wurde einfach nur schockiert Platz gemacht. Keiner wollte einen wie ihn verärgern. Schon gar nicht so, wie er gerade aussah. Farfarello verstand gar nicht, was die Leute an ein bisschen Blut störte. Er machte sich zumindest noch die Mühe zu klopfen, bevor er in Takatoris Büro eintrat, um tieffliegende Golfschläger zu vermeiden, aber der Boss hatte gerade ganz andere Sorgen. Der stand nämlich gegenwärtig am Fenster und lugte verstohlen durch die Lamellen seines heruntergelassenen Rollos, so daß er die dubiosen, bewaffneten Truppen auf der Straße beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Takatori schaute fragend herum, als die Tür aufging. „Endlich! Warum hat das so lange gedauert!“, maulte er schlagartig miesepetrig und ohne ein Wort der Begrüßung. „Hat Oracle dich geschickt? Hölle, wie siehst du überhaupt aus, Mann?“ Farfarello kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, angesichts dieser grandiosen Freundlichkeit. War er etwa erwartet worden? „Nein, ich wurde nicht geschickt.“ „Nicht? Was willst du dann hier?“ „Ein paar Dinge klären“, entgegnete Farfarello finster. „Mir scheint, hier läuft gerade einiges schief.“ „Ja, das sehe ich auch so“, knurrte der Gangster-Boss, spazierte von seinem Fenster zum Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl fallen. „Beginnen wir doch gleich mal mit Oracle, diesem Verräter. Geh los und bring mir seinen toten Kopf auf einem Grillspieß! Dann reden wir weiter.“ Farfarello zog eine Augenbraue hoch. Wenn Crawford alles war, aber ein Verräter ja wohl ganz sicher nicht. „Ich höre.“ „Wie, ‘ich höre‘!? Du kennst die Story doch bestimmt besser als ich. Er lässt meine Waffe AX-4 verschwinden! Den Lösch-Chip dafür bringt er Weiß! Mit Weiß macht er gemeinsame Sache! Für dich schickt er mir alberne Lösegeldforderungen! Als ich ihn um Personenschutz wegen der Spaßvögel da unten auf der Straße gebeten habe, hat er sich geweigert herzukommen ...“ Farfarello seufzte leise. Herrje, hier gab es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Er sollte wohl besser von Anfang an richtigstellen, was wirklich alles losgewesen war, damit dieser Wahnsinn ein Ende nahm. „Und wieso läufst du Pfeife eigentlich frei und alleine draußen rum?“, fuhr Takatori aufgebracht fort. Ihm entfuhr ein Aufschrei, als Farfarello mit einem Satz auf seine Schreibtischplatte sprang, unvermittelt auf Armlänge vor ihm hockte und ihn am Schlips zu sich heran zerrte. „Du bist in Schlagreichweite. Also halt jetzt die Klappe und hör mir zu!“, verlangte der Ire am Ende mit seiner Geduld. Takatori gaffte ihn perplex an, sagte aber tatsächlich kein Wort mehr. Wohl auch der Tatsache geschuldet, daß Farfarello ein Messer in der Hand hielt. „So ein paar Spaßvögel von Medi Tec fanden es lustig, mich zu kidnappen. Sie haben mich direkt aus unserem Hauptquartier rausgezerrt. Das fand ich überhaupt nicht in Ordnung. Und ich frage mich, woher die überhaupt wussten, wo wir zu finden sind! Keiner kennt die Basisstation von Schwarz. ... außer du! Erklär mir das mal!“ „Was!?“, schnaubte Takatori entrüstet. „Die Kerle wollten Lösegeld von mir haben! Und du glaubst ernsthaft, ich hätte die geschickt?“ „Eigentlich wollten die das Lösegeld von Oracle haben“, klärte Farfarello ihn auf und ließ zumindest den Schlips des Gangster-Bosses wieder los. „Noch dazu diese undurchsichtigen Missionen, auf die wir neuerdings ständig geschickt werden, ohne klare Informationen zu bekommen, und ohne ein erkennbares Ziel zu verfolgen. Für mich sieht das sehr nach einem Komplott von dir gegen Crawford aus! Willst du uns etwa loswerden?“ „Du Idiot“, konnte Takatori sich nicht verkneifen, zutiefst beleidigt, von dem Psychopathen so respektlos mit ‘du‘ angesprochen zu werden. Allerdings machten das eine, goldgelbe Auge in dem humorlosen, narbenübersäten Gesicht, das viele Blut auf seiner Kleidung und das Messer in seiner Hand ihm zu viel Angst, um sich deswegen zu beschweren. „Du hast ja keinen blassen Schimmer, was hier gespielt wird.“ „Nein, vermutlich nicht. Uns sagt ja auch keiner was. Aber das wirst du jetzt schön nachholen. Klär mich mal auf! Leg los!“ Takatori seufzte hinnehmend. „Na schön. Medi Tec gehört mir“, begann er also zu erzählen. Besser, als sich von seinem eigenen Profikiller die Kehle aufschneiden zu lassen. „Das AX-Projekt wurde von meinen Wissenschaftlern ohne mein Wissen entwickelt, vermutlich um damit einen Anschlag auf mich auszuüben. Sie haben schon länger rebelliert und haben versucht, mich abzusägen. Manche da waren mit meiner Politik und meinen Geschäften nicht mehr einverstanden. Als ich von der Arbeit erfahren habe und begonnen habe, das beteiligte Team zu liquidieren, war es schon zu spät. Die Waffe war schon so gut wie fertiggestellt. Darum solltet ihr sie für mich beschaffen, damit sie nicht mehr gegen mich eingesetzt werden kann. Da wusste ich allerdings selber noch nicht, daß es mehrere davon gibt. Die Missionen, von denen du sagst, ihr hättet nicht genug Informationen erhalten, galten unter anderem der Niederschlagung eines Aufstandes in der Medi Tec Foundation. Wenn ich es mir jetzt nochmal recht überlege, schätze ich, daß sie mit dem Lösegeld, das sie für dich verlangt haben, ihre Schulden puffern wollten. Seit ich ihnen den Geldhahn zugedreht habe und auch ihre Sponsoren abgesprungen sind nachdem sie aufgeflogen waren, ist ihre Forschungsarbeit bei dem Versuch, die AX-Reihe doch noch irgendwie fertigzustellen, erheblich ins Minus geraten.“ Farfarello verengte missbilligend die Augen. „Und was wäre so schlimm daran gewesen, uns darüber aufzuklären?“ „Warum sollte ich so leichtfertig irgendjemandem erzählen, wie angreifbar ich bin? Glaubst du, mit der Existenz so einer mächtigen Waffe geht man fröhlich hausieren? Ich bin doch nicht lebensmüde!“ „Lebensmüde!“, fiel Farfarello ihm verächtlich ins Wort. „Wir sind es, die unser Leben riskieren, wenn wir für dich arbeiten und du uns nichts erzählst! Wenn du uns nicht über den Weg traust, dann such dir eine andere Leibwache!“ „Ich kann ja schlecht aussprechen, daß ich meine eigenen Leute nicht im Griff habe. Medi Tec gehört mir immerhin. Hättest du jetzt wohl mal die Güte, von meinem Tisch runter zu gehen und wie jeder normale Mensch einen Stuhl zu benutzen!?“     Nagi schmunzelte diebisch in sich hinein, als sein Exitus-Programm einwandfrei zu laufen begann und der Countdown von 3 Stunden herunterzählte. Die Tage dieses Computers waren gezählt. Die Festplatte würde in 3 Stunden komplett geschrottet werden. Gute Arbeit, auch wenn es Weiß vermutlich nicht lange aufhalten würde. Die würden sich vermutlich einfach einen neuen PC kaufen und fröhlich weitermachen. Aber egal. Den Spaß war es wert. Der Junge klickte das Fenster schnell zu, als er schräg über sich die Tür klappern hörte. Jemand kam herunter. „Na, du kleine Made? Stellst du auch keinen Blödsinn an?“, wollte Ken salopp wissen. Er trug einen Pizza-Karton in der einen Hand und ein Stück des Inhalts in der anderen, in das er gerade biss. „Lass die blöden Sprüche“, erwiderte Nagi nur genervt. „Oh, so schlechte Laune?“ „Was soll ich hier schon groß anstellen können!? Ihr habt mich eingesperrt!“ Ken zuckte mit den Schultern. „Gibt Schlimmeres, was wir mit dir tun könnten. Hast du Hunger?“ Er hielt dem jungen Telekineten einladend die Pizza hin. „Schieb dir deinen Fraß sonst wo hin!“ „Jetzt mach aber mal halblang ...“, grummelte Ken verständnislos. „Ich hasse dich!“ „Ah ja?“ „Erinnerst du dich an die Nonne, die du getötet hast?“ Ken biss gleichmütig wieder in sein Stück Pizza. „Ich hab so einige Leute getötet. Genau wie du. Etwas konkreter wirst du schon werden müssen, wenn ich mich an einen bestimmten erinnern soll.“ „Sie hat das Waisenhaus geleitet, in dem ich war!“ „Ah, da liegt das Problem. Die Frau war dir wichtig, was?“ „Das werde ich dir bis an mein Lebensende nicht verzeihen! Du hast mein Leben ruiniert! Das Waisenhaus wurde geschlossen und ich saß wieder auf der Straße! Du hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin!“ Ken lächelte amüsiert. Der Junge hatte einen Sinn für Dramatik. Ihn zu dem gemacht zu haben, was er heute war, diese Ehre fiel ja wohl eindeutig Oracle zu. „Willst du Revanche? Lass uns einen Wettstreit austragen. Du gegen mich. Dann kannst du mich nach Strich und Faden fertigmachen, was sagst du dazu?“ Derweil kam auch Yoji wieder die Treppe herunter und verfolgt interessiert mit, was er hier gerade verpasste. Nagi sah ihn argwöhnisch an. „Welche Art von Wettstreit? Eine Schlägerei ja wohl kaum, oder?“ „Ich hatte eher einen Sport-Wettkampf im Sinn.“ „Gut!“, meine Nagi hasserfüllt. „Ich trete gegen dich an! Aber der Verlierer stirbt! Wenn ich dich schlage, erschieße ich dich auf der Stelle!“ Ken kräuselte die Stirn. Dann warf er einen fragenden Blick zu Yoji hinüber, der inzwischen am unteren Ende der Treppe angekommen war. Beide wirkten plötzlich sehr ernst. Sie konnten den Schwarz-Steppke wohl schwerlich erschießen, bevor Kritiker und Perser mit ihm fertig waren, oder? Aber schließlich nickte Ken langsam. „Einverstanden. Wir spielen Fußball. Nur du und ich. Und der Verlierer stirbt.“ „Deal gilt!“, entfuhr es Nagi, noch ehe er ganz realisierte, was er da gerade sagte. Yoji nickte und ging eine Pistole suchen. „Wer innerhalb von 30 Minuten mehr Tore erzielt, gewinnt. Ich bin Schiedsrichter“, legte er fest. Er nahm es relativ gelassen. Er wusste, daß Ken ein begnadeter und leidenschaftlicher Fußballer war. Daher machte er sich keine Sorgen, daß der dieses Duell verlieren könnte. Nagi wurde etwas blass um die Nase. „Echt jetzt?“, hakte er nach. Er hatte nicht gedacht, daß Ken sich tatsächlich auf so eine Aktion einlassen würde. „Aber sowas von! Und gib dir Mühe! Ich hasse schwache Gegner! ... Ich hol eben einen Fußball“, kündigte sein Kontrahent an. Mit diesen Worten verschwand er. „Lass dir eins gesagt sein, Kind ...“, legte Yoji fest, „wenn du Beschiss machst und den Ball per Telekinese ins Tor schiebst, hast du das Projektil im Kopf, bevor die 30 Minuten Spielzeit rum sind.“     Crawford kam stöhnend wieder zu sich. Er fand sich auf dem Fußboden liegend wieder und fühlte sich steif, ausgekühlt und entsetzlich benebelt. Mehrmals blinzelnd schaute er sich um. Omi lag reglos neben ihm, sonst war niemand hier. Der kleine Raum war abgesehen von einem Tisch mit ein paar Stühlen komplett leer. Nackte Wände, steinerner Boden, ein paar schmale Fenster über der Tür, durch die diesiges Licht vom Flur hereinfiel, und nur eine Tür. Fenster ins Freie gab es nicht. Sah ihm schwer nach einem Verhörzimmer aus, in das er hier eingesperrt war. Aber wie war er hier hergekommen? Das letzte, woran er sich erinnerte, war der Anruf von Takatori. Da war er noch in einem Gebäude der Medi Tec Foundation gewesen. Irgendwie musste man ihn außer Gefecht gesetzt und weggebracht haben. Mit schnell wirkendem Gas über die Belüftungsanlage wohlmöglich. Der Hellseher setzte sich langsam auf, weil er sich immer noch etwas benommen fühlte, und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Ihm fehlten fast 3 Stunden. Mit einem sauren Fluch tastete er nach Omis Hals. Der Junge hatte noch Puls. Er lebte. Von der Berührung der ekelhaft kalten Finger erwachte der Knirps ebenfalls. Auch er hielt sich zunächst wehleidig den Kopf, bis er ganz zu klarem Verstand gelangt war und sah sich aus müden Augen um. „Wo sind wir?“, stellte er die klassische Frage, die in solchen Situationen wohl immer kam. „Keine Ahnung. Ich hatte gehofft, du hättest irgendwas mitbekommen, oder könntest dich noch erinnern.“ Der Junge schüttelte den Kopf, rieb sich nebenbei widerwillig die Schulter und zog dann den Reißverschluss seiner Jacke auf, um zu sehen, was da so unangenehm war. Genau auf dem Gelenk kam ein sichtbarer Einstich mit einer Hautrötung ringsherum zum Vorschein. „Betäubungspfeile ...“, maulte er. „Wer immer das war, hätte wenigstens etwas besser zielen können. Zerstochene Gelenkkapseln tun weh, Mann.“ Er bewegte vorsichtig seine Schulter, machte es damit aber eher schlimmer. „Wer könnte das gewesen sein?“ Omi rieb sich müde die Augen. „Schwer zu sagen. Es gibt genug Leute, die hinter AX-4 her sind.“ „Aber wir haben AX-4 nicht!“ „Nein. Und was wir auch nicht mehr haben, ist das Ortungsgerät“, klärte Omi ihn auf. Das Peilgerät, mit dem man AX-4 finden konnte, war sicher ein hinreichender Grund für so einen Überfall. Nur, wer wusste von diesem Gerät, und woher? „Sieh es positiv: wir leben noch. Hätten die uns umbringen wollen, hätten sie es längst getan. Die hatten es also nicht auf uns angesehen.“ Crawford zog ein mürrisches Gesicht. Er hatte gedacht, nach Takatoris Anruf hätte er nicht mehr tiefer fallen können. Aber es ging immer noch was, wie man sah. Jetzt hatte er nicht mal mehr eine Chance, Schuldig überhaupt zu finden. ‘Anruf‘ war übrigens ein guter Stichpunkt. Crawford durchwühlte seine Taschen auf der Suche nach seinem Handy. Wenn man ihm das nicht weggenommen hatte, konnte er vielleicht Hilfe rufen. Wider Erwarten zog er das Telefon tatsächlich aus seiner Jacke und wollte sich gerade darüber freuen, da brach der Akku vor seiner Nase zusammen. Natürlich. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Jetzt saß er derart in der Tinte, schlimmer ging es nun wirklich nicht mehr. Das war wohl das, was man Dead End nannte, oder so. „Eh, hast du dein Handy noch?“, wollte er von Omi wissen und schaute fragend hoch, als keine Antwort kam. Der Jungspund war bereits unbemerkt aufgestanden und machte sich gerade euphorisch über die Tür her. Da sie abgeschlossen war, hatte er ein Ohr dagegen gepresst, um zu lauschen, was draußen vor sich ging. „Denkst du, wir kriegen die auf?“, wollte Crawford wissen. „Klar“, machte der zuversichtlich. „Durch das bisschen Press-Span kann man mit Anlauf durchspringen, wenn man das will. Da fällt die Tür samt Rahmen raus und dann hat sich´s. Die Frage ist eher, ob das klug wäre.“ „Hörst du denn was?“ „Nein, das ist es ja. Da draußen ist alles verdächtig still.“ Crawford kämpfte sich mühsam auf die Beine und kam näher. Er hätte ja zu gern orakelt, wie das hier weitergehen würde. Aber leider nahm das Betäubungsmittel in seinem Körper ihm immer noch zu viel Konzentration und Kraft dafür weg. „Komm mal her und hilf mir, den Tisch unter die Fenster zu schieben. Damit du gucken kannst, wie es draußen aussieht.“ Omi trat erschrocken von der Tür zurück, als sich unvermutet ein Schlüssel im Schloss drehte. Wer immer das war, musste schon draußen Wache gestanden und nur auf ein Lebenszeichen im Raum gewartet haben und musste den Schlüssel von außen im Schloss stecken gelassen haben. Ein kleingeratener Unbekannter betrat den Raum, der altersmäßig kaum zu schätzen war. Für die dunkelgrauen Haare, die er hatte, wirkte er jedenfalls noch erstaunlich frisch. Entweder war er früh ergraut, oder er hatte sich gut gehalten und war wesentlich älter als er aussah. Seine lockere Freizeitkleidung, bestehend aus Jeans und einem langärmligen Hemd, ließen auch keine rechten Rückschlüsse darauf zu, wer er war. Ein etwas schadenfrohes Schmunzeln lag auf seinen Zügen. „Ah, die Herren sind schon wieder wach? Sehr Sportlich.“ „Haben Sie uns aus dem Verkehr gezogen und hier eingesperrt?“, verlangte Crawford zu wissen. Er verschränkte böse die Arme. „Sie sind unbefugt in Privatgelände eingedrungen, mein Bester“, gab der nur schulterzuckend zurück, womit er die Frage bewusst unbeantwortet ließ. „Erwarten Sie etwa ernsthaft, hier noch irgendwelche Rechte zu haben? Wenn mich mein Gesichtserkennungs-Gen nicht gänzlich trügt, waren Sie es doch sogar, der uns neulich AX-4 gestohlen hat.“ Crawford verengte leicht die Augen. Der Kerl war also ein Angestellter der Medi Tec Foundation. Es lag nahe, daß sie sich hier schon wieder in irgendeinem Standort dieses Konzerns befanden. Er verzichtete darauf, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, ob die Waffe wirklich geklaut worden war, oder ob die sich ihnen nicht doch eher ungefragt an die Fersen geheftet hatte. „Na schön. Was wollen Sie von uns?“ „In erster Linie will ich verhindern, daß Sie noch weiter in unserer Forschungseinrichtung herumschnüffeln. Aber vorerst wäre ich Ihnen auch schon sehr verbunden, wenn Sie mir einfach nur ohne Theater folgen würden.“   Diese Einrichtung war etwas wohnlicher aufgemacht als die, in denen Crawford bisher zu Besuch gewesen war. Es hingen nette Gemälde an den Wänden, hier und da lockerten Sitzecken und die eine oder andere große Topfpflanze die Gänge etwas auf, und er hatte auch das Gefühl, daß die Neonröhren über ihnen ein freundlicheres Licht ausstrahlten. Wärmer und nicht so steril. Hin und wieder kamen ihnen beschäftigt aussehende Leute entgegen, grüßten und gingen unbesorgt vorüber. „Benehmen Sie sich einfach wie Gäste“, trug ihr Führer ihnen auf, der sich inzwischen als Herr Yamanaka vorgestellt hatte und immer forsch vorauslief. „Sind wir denn Gäste?“, erwiderte Crawford sarkastisch. „Natürlich nicht. Aber die meisten Mitarbeiter hier ahnen nichts davon, daß wir gerade Verbrecher beherbergen, die hinter ihrer Entwicklung AX-4 her sind. Und es ist auch gesünder für Sie beide, wenn es so bleibt. Sie ahnen ja nicht, was Sie mit ihrem Diebstahl ausgelöst haben.“ „Ich bin nicht hinter AX-4 her. Ich suche einen Freund, der von eurer tollen AX-4 als Geisel verschleppt wurde.“ Auf ihrem Weg kamen sie durch das Foyer. Omi rempelte Crawford an und nickte wild Richtung Ausgang, um ihn stumm auf die unwiederbringliche Fluchtmöglichkeit aufmerksam zu machen. Aber Crawford schüttelte den Kopf. Er wollte dem Medi Tec Angestellten weiter folgen. Omi schloss sich ihm also widerwillig an. Es war ein bisschen frustrierend, sich mit Crawford nicht unbemerkt verständigen zu können, obwohl der Forscher schon extra nicht aufpasste, was hinter ihm geschah. Bei seinen Kollegen von Weiß gab es eine ganze Reihe von Handzeichen, um in solchen Situationen, in denen man nicht sprechen konnte, Kommandos auszutauschen. Etwa, sich aufzuteilen, damit der Gegner nicht mehr wusste, wem er folgen sollte. Oder Zeichen für das Einleiten oder Unterlassen von Angriffen. Oder für Uhrzeiten und vorher definierte Treffpunkte. Crawford würde diese Handzeichen aber wohl kaum verstehen. Falls er bei Schwarz auch welche hatte, dann sicher nicht die gleichen. „Wenn Ihr Freund für AX-4 von Interesse ist, dann nicht ohne Grund“, laberte Herr Yamanaka derweil fröhlich weiter, ohne den stummen Disput hinter seinem Rücken mitzubekommen. Er zückte eine Magnetstreifen-Karte, die er durch den Schlitz eines Lesegerätes neben der Tür zog, und bekam Einlass gewährt. Crawford atmete unmerklich durch, bevor er ebenfalls eintrat. Aber da er keinerlei Anhaltspunkte mehr hatte, wo er AX-4 und damit auch Schuldig suchen sollte, hielt er es für am sinnvollsten, vorerst mit den Medi Tec Leuten zu kooperieren. Vielleicht wussten die mehr als er. „Wenn AX-4 ein Interesse an ihm hat, dann ja wohl, weil Sie sie darauf programmiert haben!“ Herr Yamanaka antwortete nicht. „Zu welchem Zweck wurde diese Waffe denn entwickelt?“, hakte Omi nach. „Das weiß ich nicht.“ „Sie wollen uns ernsthaft einreden, Sie wissen nicht, woran Sie da gearbeitet haben?“ „Ich habe nicht behauptet, mich jemals an den AX-Projekten beteiligt zu haben. Hätte ich das, wäre ich jetzt wahrscheinlich schon längst tot“, hielt der Forscher gleichmütig dagegen. „Das Team wurde innerhalb von kaum 14 Tagen komplett eliminiert. Aber MTF arbeitet auf verschiedensten, wissenschaftlichen Gebieten. Die AX-Serie war nicht unser einziger Forschungsauftrag.“ „Und woran forschen Sie gerade so?“ „Wundheilung beim Menschen“, meinte der mit einem unterschwelligen Kichern in der Stimme. Crawford musterte nachdenklich die verräterische Beule unter dem Hemd des Mannes. Er lief selbst oft genug mit Pistolen im Hosenbund herum, um die Bedeutung solcher Beulen unter der Kleidung zu erkennen, wenn er sie sah. Und dazu Wunden ... Herr Yamanaka wandte sich zur Seite, einer weiteren, gesicherten Tür zu. Crawford trat ungerührt an ihn heran und griff mit solcher Selbstverständlichkeit unter das Hemd und nach der Pistole des Forschers, daß der gar nicht auf die Idee kam, es zu verhindern. Der Hellseher pfiff auf seinen Codex, niemanden umzubringen, ohne einen ausdrücklichen Auftrag von seinem Boss. Er hielt dem Kerl die Faustfeuerwaffe an den Kopf und drückte einfach ab. Omi verzog neben ihm das Gesicht und verschränkte die Arme, als er auf den zusammengebrochenen Körper, das verspritzte Gehirn und die langsam größer werdende Blutlache schaute. „War das jetzt echt nötig, Oracle?“ „Ein Wissenschaftler, der mit ner Knarre rumrennt! Was glaubst du, was der mit uns vorhatte? Der wollte uns sicher nicht auf ein Stück Apfelkuchen einladen.“ „Und wenn den Schuss jemand gehört hat?“ „Wenn jemand hier aufkreuzt, knall ich ihn auch noch ab.“ Der kleine Computer-Spezi konnte sich ein Schnaufen nicht verkneifen. Oracle stand unter enormem Druck, ja. Er war verzweifelt. Er war in Sorge um seinen Kumpel Schuldig und den Rest seines Teams, sah sich dabei mit immer neuen Hürden konfrontiert und wurde jetzt bei der Wahl seiner Mittel und Methoden zunehmend radikaler, um das hier noch irgendwie zu überleben und vielleicht sogar erfolgreich zu beenden. Dennoch fand Omi, daß ein Berufssöldner wie er sich etwas mehr in der Gewalt haben und einen kühleren Kopf bewahren sollte. „Und? Was willst du jetzt als nächstes tun?“ „Überleben!“, entschied Crawford. Er hatte sich bereits enthusiastisch über die Hosentaschen des Erschossenen hergemacht, um die Magnetstreifen-Karte zu suchen, die ihm hier im Gebäude die ein andere Tür öffnen würde. „Nagut, hör zu ...“, seufzte der Junge hinnehmend. „Ich hab mir die Räume, durch die wir geführt wurden, angeschaut. Dem Grundriss nach zu urteilen, müssten wir hier in der Außenstelle Narita Nord sein.“ Crawford warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Ernsthaft? Du bist nicht übel, Kleiner“, stellte er schon zum zweiten Mal fest. „Wart´s ab, es kommt noch besser: Hier in Narita Nord wurde AX-1 entwickelt.“ „AX-1 ist hier? In diesem Gebäude?“ Omi nickte mit einem unterschwelligen Schmunzeln. „Das bedeutet ja, Ayax wird irgendwann hier her kommen müssen!“, kombinierte Crawford völlig aus dem Häuschen. „Ayax sucht doch ihre Schwester-Modelle!“ „Richtig. Wenn du Schuldig wiederhaben willst, brauchen wir theoretisch nur geduldig hier zu warten. Es kann bloß eine Frage der Zeit sein, bis sie hier auftaucht.“ Die Euphorie des Hellsehers nahm spürbar wieder etwas ab. „Aber Zeit ist etwas, das Schuldig nicht hat.“ „Es ist immerhin eine Chance. Eine andere haben wir momentan leider nicht.“ Der Anführer von Schwarz schob sich die beschlagnahmte Pistole in die eine Gesäßtasche, die Magnetkarte in die andere. „Du hast Recht. Lass uns verschwinden, bevor jemand die Leiche hier findet.“ „Sag ich doch! Suchen wir uns lieber irgendwo einen schönen Ausguck, von wo wir Ayax kommen sehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)