Morgenstern von totalwarANGEL ================================================================================ Kapitel 4: Todbringende Träume ------------------------------ 🌢 Nachdem Annemarie zu ihnen stieß, hatte Henrik sein eigenes Zelt bekommen. Wenigstens musste er jetzt nicht mehr zusammengekauert hinter einer Mauer seiner sieben Sachen Schutz suchen, stets in Furcht von Nebulas nächtlichen Waldarbeiten entzwei gesägt zu werden. Annemarie musste ihm auch nicht leid tun, denn sie schlief wie ein Murmeltier. Henrik konnte so ausgeschlafen als Erster aufstehen. Jenen Morgen schien die Sonne zaghaft zwischen den lila schimmernden Schäfchenwolken hindurch. Es war keine Zeit, sich daran zu erfreuen. Henrik musste das Frühstück vorbereiten. Würde Nebula erwachen und das Frühstück war nicht aufgetischt, zöge dies die furchtbarste Konsequenz nach sich, die man sich auch nur vorstellen konnte: Sie würde es selbst versuchen. Und das wäre schlimmer als der Tod! Das wollte er unter allen Umständen verhindern. Die arme Annemarie! Während er die nötigen Vorbereitungen für das Sonntagsfrühstück mitten in der Pampa traf, kam plötzlich ein fremder Mann geritten. Er hatte eine Tasche bei sich und wirkte auf ihn ziemlich offiziell. “W-Wie kann ich Euch behilflich sein”, fragte Henrik den Fremden, als dieser von seinem Ross abstieg. “Ich habe einen Brief für eine gewisse Nebula”, stammelte der Mann vor sich hin. “N-Nun ruht Euch doch erst einmal aus!” “Keine Zeit! Verweilt die gnädige Dame noch in ihren Gemächern?” "Gemächer?!” Henrik musste schmunzeln. “D-Das ist ein Zelt.... S-Soll ich sie wecken?” “Das wird nicht notwendig sein. Gebt ihr einfach diesen Brief.” Der Fremde griff in seine Tasche und holte ein zusammengerolltes Blatt heraus, das mit einem Wachssiegel verschlossen war. “Ich muss an Euren Anstand appellieren. Wahrt das Postgeheimnis!” Er übergab Henrik das Schriftstück. “Euch sei gedankt!” “Ich tue ihn nur schnell zur Seite”, sagte Henrik und legte den Brief neben dem Beutel mit den Vorräten ab. “W-Was bin ich Euch für Eure Mühen schuldig?”, fragte er. “Nichts! Mein Auftraggeber hat mich bereits im Voraus bezahlt.” Der Bote schwang sich wieder auf sein Pferd und ritt von Dannen. Henrik fehlte die Zeit, sich zu fragen, wie der Mann sie mitten im Nirgendwo aufgespürt hatte. Stattdessen breitete er eine Decke auf dem Boden aus. Drei Teller stellte er bereit und legte je ein Stück Brot darauf. Dann warf er etwas Schinken in eine eiserne Pfanne und ließ ihn über dem Lagerfeuer garen. Gut angebräunt, gab er den Schinken zum Brot hinzu. Ein Apfel für jeden sollte es noch sein, denn Obst ist schließlich gesund. Henrik betrübte noch immer der Gedanke an die Ereignisse von vor einer Woche. Als er das Obst in den Händen hielt, fragte er sich, ob er sich mit ihm ablenken könnte. Ihm kam eine absurde Idee. Sogleich probierte er zu jonglieren. Es funktionierte überraschend gut. Die drei Äpfel wechselten mit Leichtigkeit die Hand. Genau in diesem ertönte ein lautes Gähnen aus dem Zelt, gefolgt von Nebulas Stimme. “Ich rieche Fleisch!”, verlautete sie fröhlich. Erschrocken geriet Henrik aus dem Takt und der dritte Apfel plumpste ihm auf den Kopf. Er ging einen Schritt rückwärts und trat dabei aus Versehen, ohne es zu merken, auf den Brief, den der Bote zuvor überbracht hatte. “Verdammt!”, fluchte er über den unerwarteten Kopfschmerz aufgrund des Fallobst. Leider war es keine Frucht der Erkenntnis, die ihm das Verständnis der Naturgesetze offenbarte. Hastig sammelte der Braunhaarige die Äpfel wieder ein. Nebula schaute aus dem Zelt und lachte beim Anblick des umher wuselnden Jungen. “Hast du Spaß?” Doch dann bemerkte sie den Brief, welcher offenbar achtlos auf den Boden geworfen wurde. Sie erwartete seit längerem ein wichtiges Dokument. “Was soll das?”, fragte sie daraufhin misstrauisch. “Was meinst du?” Henrik war perplex. Die Blondine verließ das Zelt, ging zu ihrer Post und hob das Schriftstück auf. “Das hier!” Sie begutachtete den Brief und zeigte ihm dann das gebrochene Siegel. “I-Ich.... D-Da ist wohl ein kleines M-Malör passiert.” “Malör?!”, fragte Nebula ungehalten wegen der vermeintlichen Verletzung des Postgeheimnisses. Sie las den Brief, ohne ein Wort dazu zu verlieren. Doch ihr Gesicht sprach Bände. “Du hast ihn auch gelesen, oder?!”, stellte sie ihn anschließend zur Rede. “Nein, ich habe alberte doch nur herum und-”, versuchte er sich zu erklären. “Ich will deine Ausreden nicht hören!” Sie wollte ausholen und ihm eine Ohrfeige verpassen, tat es dann aber doch nicht. “Wenn du dich nochmal an meinen Sachen vergehst-" “A-aber...” “Dieben hackt man die Hand ab!” Sie schien sich etwas zu beruhigen, nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte. "Fein! Dann weißt du ja nun Bescheid!”, fauchte sie ihn an. Dabei wusste er rein gar nichts! “Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Ich kann doch gar nicht-” “Spare es dir einfach! Ich will kein Wort mehr hören!” Geweckt von lauten Stimmen, streckte Annemarie nun auch ihren Kopf aus dem Zelt. “Was ist denn los?”, fragte sie ganz verschlafen, doch bekam keine Antwort mehr. Die drei nahmen wenig später ihr Frühstück ein. Das Missverständnis hatte die Stimmung vergiftet. Der Schmied und die Söldnerin schlagen ihre Portion schweigend herunter. Aus dem beschaulichen Sonntagsessen war eine Farce geworden. Annemarie konnte sich nur wundern, was zwischen ihnen vorgefallen war. Auf donnernden Hufen schossen die Pferde einer Kutsche über die unebene Gebirgsstraße. Sie zogen schwere Last. Zusätzlich einen dicken Mann, welcher die Tiere unentwegt mit der Peitsche antrieb. Mit dem Fuhrwerk kurz davor zu bersten, raste er, den ehrgeizigen Zeitplan fest im Auge. Die unzureichend gesicherte Ladung sprang umher, wie die Flöhe auf dem Rücken eines räudigen Straßenköters. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch keine der Kisten eingebüßt hatte. “Schneller, ihr blöden Viecher!”, röhrte er seinen Tieren zwischen den Peitschenhieben zu. Hätte ihn heute Morgen kein inkompetenter Zollbeamter angehalten, stünde er nicht unter Zeitdruck. Sein Wagen, eine Gefahr für den Straßenverkehr… So ein Unsinn!, dachte er. Die Sonne machte dem Fahrer zu schaffen. Er griff mit einer Hand nach seinem Trinkbeutel, den er kaum erreichen konnte, und war so kurz abgelenkt. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er die scharfe Kurve vor sich und lenkte die Pferde am Abgrund vorbei. Das hintere Rad der Kutsche verlor kurz den Bodenkontakt und einige Steine fielen in den Grund. Die Kurve hatte er noch rechtzeitig genommen, aber den drei Gestalten, welche plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht waren, vermochte er aber nicht mehr auszuweichen. “Aus dem Weg!”, brüllte er aus Leibeskräften. Zwei der Fußgänger konnten noch ausweichen, doch der schwere Rucksack des dritten wurde erfasst und er verlor den Halt. Er stürzte und rollte den steilen Abhang herunter. Der Kutscher fuhr einfach weiter. Sein Termin war ihm wichtiger als das Schicksal eines Mannes, den er gar nicht kannte. Ihr Streit war Nebula plötzlich vollkommen egal, als ein viel zu schnelles Gefährt Henrik streifte und er in den Grund fiel. Sofort sah sie hinunter und entdeckte ihn etwa sechs Meter unterhalb des Passes auf einem Vorsprung liegend. Er lid Schmerzen und der Inhalt seines Gepäcks lag auf dem Boden verstreut. Aber er war noch am Leben. Ohne zu zögern schlitterte die Söldnerin selbst den steilen Hang hinunter. Annemarie rief ihr nach, sobald sie sich von dem Schreck erholt hatte, um ein Haar von Pferden zertrampelt worden zu sein. “Hole Hilfe!”, forderte Nebula das Mädchen auf. “Und sage ihnen, wir brauchen Seile und einen Heiler!” “Alles klar!”, bestätigte Annemarie. Das Mädchen machte sich auf den Weg. Nebula wusste, dass Schleierfirst nicht mehr weit sein konnte. “Henrik, halte durch!” Vielleicht könnte sie mit ihm wieder hinauf auf den Weg springen. Doch sie wusste nicht, wie schwer er verletzt war und wollte das Risiko nicht eingehen. Der junge Schmied öffnete seine Augen. “Mir tut alles weh!”, sagte er. “Schmerz ist gut! Solange es noch weh tut, stirbst du nicht!” “W-Was?! St-Sterben?” Nebula untersuchte sein Bein und diagnostizierte eine Knieverletzung. “Du hättest auf den Kopf fallen sollen. Da kann bei dir nicht viel kaputt gehen!” “W-Wieso sagst du immer so gemeine Sachen zu mir?” Nebula zuckte zurück und wurde rot. “W-Weil… du… mir…” Dann besann sie sich ihrer selbst zurück. “Ach, halte die Klappe!” “B-Bist du sauer auf mich, wegen dem Brief?” “Ziemlich!” “W-Wieso? Stand etwas peinliches drin?” “Du hast es doch gelesen!” “Nein.” Henrik richtete sich leicht auf. “D-Das versuche ich die ganze Zeit zu sagen. I-Ich kann den Brief nicht gelesen haben!” “Aber das Siegel!” “Ich bin draufgetreten”, gestand Henrik ein. “Das kann nicht dein Ernst sein!” “Ich kann nicht lesen, verdammt!!”, schrie Henrik aus Leibeskräften. “Du kannst nicht lesen?”, hakte sie ungläubig nach. Aber natürlich! Sie durfte nicht außer Acht lassen, dass er ein Gewöhnlicher war. “Nein. Ist das so ungewöhnlich für einen einfachen Handwerker? M-Meine Eltern hatten nicht das Geld, mich auch noch auf eine Schule zu schicken. Das Lehrgeld für meinen Meister musste ausreichen. E-Ein bisschen rechnen habe ich mir selbst beigebracht.” Henrik spürte eine Schmerzwelle in seinem Bein und lehnte sich wieder zurück. “Und du?”, fragte Nebula vorsichtig. “Bist du immer noch enttäuscht von mir?” “Wegen Greymore? Ja. Wieso hast du ihn zum Tode verdammt?” “Er... ich... es ist kompliziert.” “Kompliziert?” “Man, frag nicht so blöd!”, entrüstete sich die Blondine. “Muss ich dir alles haarklein Vorkauen? Er... war mein Verlobter.” “ER war dein Ver-ver-verlobter?!” “Ich sollte heiraten und er war der einzige Mann, mit dem ich es aushalten konnte. Und in der Nacht vor der Hochzeit... Den Rest kennst du bereits. Im Rachewahn wurde er zum geächteten Mörder. Irgendwann muss ihm Quake in die Hände gefallen sein. Wäre ich ihm nur früher gegenüber getreten.” Ein ironischer Unterton schlich sich in ihre Stimme ein. “Aber was dann? Überraschung Liebster, ich bin auferstanden!” Henrik spürte, dass sie den Schmerz an ihre Erinnerung zu verbergen versuchte. “Er hat das alles wegen mir getan. Ich habe mich verantwortlich gefühlt.” Dann sah sie nach unten. “A-Außerdem wollte ich dich beschützen!” Henrik versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben in seiner Kehle stecken. So schwiegen sie sich stattdessen an, bis irgendwann das Ende eines Seiles zu ihnen hinuntergelassen wurde. Als er nach langem und tiefem Schlaf endlich wieder zu sich kam, lag Henrik in einem Bett und starrte die Decke an. Er rührte seinen Arm. Das funktionierte noch. Dann wackelte er mit den Zehen. Auch das klappte, wie es sollte. Es schien alles in Ordnung zu sein. “Henrik!”, tönte eine fröhliche Kinderstimme. Annemarie sprang ihn förmlich an und umarmte ihn, dass ihm das Atmen schwer fiel. Henrik versuchte, sich aufzusetzen, nachdem der Rotschopf von ihm abgelassen hatte. Er spürte einen Widerstand. Er sah zur Seite und entdeckte Nebula auf einem Hocker sitzend, ihren Kopf auf die Decke gelegt. Sie schlief tief und fest. “Nebula?”, wunderte er sich. “Sie schläft?” So leise, fügte er in Gedanken an. “Du hast über Schmerzen geklagt”, informierte die Kleine. “Der Trank des Heilers ließ dich einen Tag lang schlafen.” Die Tür öffnete sich und ein Mann trat ein. “Oh, Ihr seid wach!”, sprach er. Es war jener Arzt, der sich um Henrik gekümmert hatte. “Schlaf ist die beste Medizin!” Kaum an das Unglück erinnert, verlor der Trank an Kraft und Henriks Bein schmerzte. “Sie hat die ganze Zeit deine Hand gehalten”, verriet Annemarie. “W-Wirklich?” Henrik war überrascht. “Ihr gehört ja auch zusammen”, strahlte das Kind. “Eure Frau hat sich einfach nicht von Eurem Bett wegbewegen lassen”, missverstand der Heiler. “Nicht mal zum Essen ist sie von Eurer Seite gewichen. Wahrlich ein treues Weib!” “N-Na-Na-Nein! So ist das nicht. Wir sind nur-” “Und schön ist sie auch noch! Junge, du bist vom Glück geküsst.” “Aber das-” “Schssss!” Annemarie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. “Du weckst sie noch!” 🌢 Eine dunkelhaarige Dirne in freizügigen Kleidern, versuchte einen jungen Mann in die Gasse zu locken. Seine Jugend und seine Unerfahrenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben und er erlag ihren Reizen ohne jede Chance auf Gegenwehr. Es war ein leichtes Spiel für sie. “Komm schon, mein Süßer!”, sagte sie. “Ich kann dir Dinge zeigen, die kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht billig, aber jedes Goldstück wert!” Seine Jugend störte sie nicht, sie wollte neue Kunden akquirieren. Und er sah nicht aus, wie das Kind von armen Eltern. Dann packte sie seinen Arm und zog ihn in die finstere Passage. Tief in der Schwärze, machte sich die Dirne über den Jungen her. Nebula musste den Kopf frei bekommen. Sie schlenderte über den Marktplatz. Die kalte Morgenluft, gemischt mit einem sanften Hauch von breitgetretenen Pferdeexkrementen und auf die Straße geworfenen Hausabfällen, breitete sich mit jedem Atemzug in ihren Lungen aus. Sie hoffte, sie könnte ihre hitzigen Gedanken abkühlen. Der Schrecken saß noch immer tief. Sie fühlte sich auf einmal so beobachtet. “Nebula!”, rief es augenblicklich hinter ihr. "Hallo!" Es war nur Annemarie, welche derart fröhlich strahlte, dass sie Tschernobyl vor Neid erblassen lassen könnte. Sie musste ihr heimlich hinterher gelaufen sein. Wie fast immer führte sie das Buch mit dem blauen Einband mit sich. Nebula wandte sich dem Mädchen zu. Als Annemarie sie erreichte, schlug sie ihre Arme um ihre Hüfte und presste ihren Kopf gegen ihre Brust. “Ich habe dich gefunden!” Nebula streichelte Annamarie über die orange Haartracht. “Hast du mich denn gesucht?”, fragte sie sie. “Ich brauchte frische Luft, um den Kopf frei zu bekommen.” “Weil du in Henrik verliebt bist?” Schockiert schob die Blonde das Kind von sich weg. “N-Na-Na-Nein! So ist das nicht.” “Genau das Gleiche hat Henrik auch gesagt!”, antwortete Annemarie in ihrer kindlich unschuldigen Art. Nebula schwieg. “Gibst du mir deine Hand? Dann kann ich für Klarheit sorgen.” “Wenn es sein muss...” Sie suchten sich ein stilles Örtchen und setzten sich auf eine Bank. Annemarie legte ihr Buch beiseite und Nebula reichte ihr die linke Hand. Gerade als das Mädchen zu lesen beginnen wollte, hallte ein hysterisches Kreischen durch die Gassen. Nebula entzog ihre Hand. “Annemarie, geh zurück zur Taverne!”, befahl sie ihr. Als sie nicht gehen wollte, wiederholte die Blondine ihre Anweisung. Danach zog sie ihr Schwert und stürmte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Angsterfüllt kam ein junger Mann rückwärts aus der Gasse gestolpert. Sein Gürtel hing lose hinunter und seine Kleidung war unordentlich. Der Schock entartete seine Gesichtzüge. Er fiel über eine lose Schrittplatte und landete mit dem Gesäß in den unappetitlichen Mix aus Ausscheidungen und Müll, aus dem sich der Strassenschlamm zusammensetzte. Mit den Händen stützte er sich ab. Tief bohrte er dabei seine Finger in den Dreck hinein. Dann erhob er sich wieder, wandte sich von der Gasse ab und wollte davon rennen, als er fast mit einer bewaffneten Person unter einer Kutte zusammenstieß. Der Fremde packte ihn. “Was ist hier los?”, fragte eine ernste Stimme. Der feste Griff des Fremden erlaubte nicht die geringste Bewegung. “Du brauchst keine Angst zu haben!” Die Gestalt nahm ihre Kapuze herunter und enthüllte ihre Identität. Zu des Jungen Überraschung handelte sich um ein Mädchen. “Mein Name ist Nebula”, sagte sie. Dann fiel ihr Blick auf die blutbefleckte Kleidung. “Was ist geschehen, Junge?” “Da!”, stotterte er verängstigt und zeigte mit zitterndem Finger in die Schwärze. “Mord!” Auch die Stadtwache war auf das Geschehen aufmerksam geworden und mühte sich mit den Gaffern ab. Nebula ließ den verängstigten Halbstarken los und stürmte noch vor den Wachen in die Seitenstraße. Als die Männer ihr folgten, fanden sie sie kauernd vor dem abscheulich zugerichteten Kadaver einer Dirne. “Was ist hier geschehen?”, fragte einer der Männer. Nebula stand auf und trat beiseite. “Jemand wurde ermordet.” Die Männer meinten schon viel gesehn zu haben, doch die sechsunddreißig Stichwunden verteilt über den ganzen Körper der toten Frau und das ganze Blut aus der bis zum Knochen aufgeschlitzten Kehle, schien zu viel für sie zu sein. Einer der Wächter musste sich sogar an eine Hauswand übergeben. Anstelle auf ihre Fragen zu antworten, stellten sie Nebula und den Jungen unter Arrest. Es war ein düsterer und muffiger Raum. Das Mauerwerk bestand aus großen und schweren Steinblöcken, nur durchbrochen von einem vergitterten Fenster. Nebula und ein Mann von der Stadtwache saßen sich an einem massiven Tisch gegenüber. An der Tür stand ein weiterer Mann. Es missfiel der Blondine, immer wieder die gleichen Fragen beantworten zu müssen. Sie stützte ihren Kopf gelangweilt auf ihrer linken Hand ab und klopfte mit den Fingerkuppen der rechten auf den Tisch. Der Mann von der Stadtwache empörte sich darüber. “Nehmt Ihr das etwa nicht ernst?!”, fragte er ungehalten. “Meine Antworten werden sich nicht ändern, egal wie oft Ihr fragt”, stellte Nebula klar. “Also schön, ein letztes Mal.” Der Mann sah sein Gegenüber mit den Augen rollen. “Ihr habt jemanden schreien gehört und seid sofort aufgebrochen, um nachzusehen. Richtig?” “Ja... wie bei den letzten Malen auch, als Ihr fragtet.” “Und dort angekommen, ist Euch der Junge zugelaufen.” “Ja!” “Und dann seid Ihr in die Gasse gegangen und habt die Tote gefunden?” “Ja, verdammt!” Sie erhob sich von ihrem Stuhl und schlug die Handflächen auf die Tischplatte. “Genug der Scharade! Ich will mit dem Kommandanten der Stadtwache sprechen!”. verlangte sie. “Mit Euch Tunichtgut vergeude ich keine Zeit mehr!” Sie setzte sich wieder hin, verschränkte die Arme demonstrativ und sprach kein Wort mehr, sodass man keine andere Wahl hatte, als ihrem Willen endlich Folge zu leisteten. “Wo bleibt sie nur?”, fragte Annemarie ungeduldig. Sie saß auf einem Stuhl und ihre Beine schlugen im Wechsel auf und ab. Es fiel ihr schwer, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, welches aufgeschlagen in ihren Händen lag. Seitdem Nebula sie weggeschickt hatte, war schon einige Zeit verstrichen. “Ich denke, dass a-alles gut wird”, versicherte Henrik aus dem Bett heraus. “Aber da war dieser Schrei!” “Das wird sich bestimmt alles aufklären!” “Wirklich?” “I-Ich weiß, sie kommt bestimmt gleich zurück!” Aber diese Antwort stellte das Mädchen nicht zufrieden. Ihre Beine schlugen noch unregelmäßiger in die Luft. Der Kommandant der Wache kam in den mittelalterlichen Verhörraum hinein und trat Nebula gegenüber. Seine Rüstung unterschied ihn von den anderen, war aber dennoch nur gewöhnliche milizionäre Ausstattung. Nebula schaute an seiner imposanten Erscheinung hinauf. “Euch zu erreichen, ist nicht so einfach”, eröffnete sie. “Männer, Eure Dienste werden hier nicht mehr gebraucht”, wies er seine Leute an. Die Wachen verließen die Zelle und schlossen die Tür. “Ihr wisst es wahrscheinlich nicht, aber seit etwa sechs Monaten treibt sich ein Mörder rum. Wir haben keine Spuren und keinen Verdächtigen.” “Aus diesem Grund kassiert Ihr also jeden gleich ein, der eine Leiche findet?” “Die Stimmung ist aufgeheizt dieser Tage.” Nebula warf dem Kommandanten einen skeptischen Blick zu. “Wollt Ihr mir nun die gleichen sinnbefreiten Fragen stellen?” “Keineswegs.” “Der Junge war Zeuge. Wenn überhaupt, dann hat er etwas gesehen und nicht ich.” “Aus dem bekommt man nichts heraus. Der ist vollkommen hinüber.” “Hinüber?!” Seine Formulierung missfiel ihr. ”Führt mich zu ihm!” Wie ein kleines Häufchen Elend kauerte der junge Mann neben der von Ketten gehaltenen Pritsche seiner Zelle am kalten Stein der Wand und zitterte wie Espenlaub. Sein Körper sprach Bände über die bei ihm ausprobierten Verhörmethoden. Der Kommandant seufzte. “Er heißt Henning. Mehr haben wir nicht herausbekommen.” Nebula war zu entsetzt, um etwas zu sagen. “Wie Ihr seht, spricht er nicht.” “So geht Ihr mit Euren Zeugen um?”, entrüstete sich Nebula. “Da bleibt er solange drin, bis er endlich spricht.” “Ihr seid von Sinnen!” Sie starrte ihm fordernd ins Antlitz. “So spricht er niemals! Ich werde ihn befragen. Aber nicht hier!” Der Kommandant rief eine der Kerkerwachen zurück und befahl den Zeugen mitzunehmen. Solle sich das Weib ruhig lächerlich machen. Was hatte er denn schon zu verlieren? Sie brachten ihn in den Verhörraum, in dem Nebula zuvor stundenlang befragt wurde. Kein schöner Ort, aber besser als die rattenversäuchte Zelle. Nebula und der Zeuge saßen sich gegenüber. Er zitterte noch immer. Nebula umfasste seine Hände und sah ihm in die Augen. “Henning”, sprach sie seinen Namen. Der Junge beruhigte sich, als er die Wärme ihrer Hände spürte. “Willst du mir sagen, was du gesehen hast?” “Das will ich.” Der Kommandant kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein bisschen Zärtlichkeit vermochte, was stundenlange Verhöre nicht geschafft hatten? Vielleicht sollte ich künftig mein Weib die Zeugen verhören lassen, bespaßte er sich in Gedanken. “Was ist passiert?” “Ich war auf dem Weg, einige Besorgungen für Mutter zu tätigen. Dann kam ich durch diese Straße. Vater hat mich immer vor dem Gesindel gewarnt, das sich in diesen dunklen Gassen herumtreibt. Plötzlich hat mich jemand in die Gasse gezogen. Es war diese Frau.” “Die, die getötet wurde?” “Ja! Sie war eine... Hure. Sie hat mich... und mich... und dann...” Nebula spürte, wie das Zittern seiner Hände wieder einsetzte. “Wie starb sie?” “Plötzlich ist sie einfach umgefallen. Sah fast aus, als ob sie schläft.” “Aber sie war übersät mit Wunden, als ich sie fand.” “Ja. Das ist... einfach so passiert. Plötzlich zuckte sie, schrie und begann zu bluten. Als hätte sie jemand erdolcht. Ich... bin dann einfach nur gerannt.” Nebula erhob sich und ging kommentarlos zur Tür, wo der Kommandant der Wache bereits mit verschränkten Armen auf sie wartete. “Ein unsichtbarer Mörder?!”, zweifelte er. “Das ist doch Humbug! Gibt es doch gar nicht!” “Es gibt Dinge, die könnt Ihr Euch nicht einmal vorstellen.” “Und was meint Ihr, soll ich jetzt mit ihm tun? So eine fadenscheinige Ausrede wollt Ihr wirklich glauben. Ein unsichtbarer Mörder schläfert seine Opfer ein und sticht sie ab?!” “Habt Ihr den Jungen nicht gesehen? Er steht vollkommen unter Schock.” Sie sahen zu dem jungen Mann. Kaum das Nebula seine Hände losgelassen hatte, zitterte er schon wieder. “Egal ob Wahrheit oder Trug, er glaubt, was er gesehen hat.” “Wenn der Mörder wirklich unsichtbar ist, erklärt das, warum wir nie etwas finden.” Der Kommandant rieb mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinn. “Na also, Ihr zeigt etwas Vernunft.” “Ach was rede ich da?! Soll die Wache jetzt den Unsichtbaren jagen?” “Das werde ich für Euch übernehmen.Doch gebt Acht! Meine Dienste sind nicht billig!” Nebula machte sich auf den Rückweg zur Taverne. Als sie endlich wieder da war, freute dies alle. Im Zimmer von Henrik waren neben ihm selbst auch Annemarie und Matthew, der jüngere der Brüder, welche die Taverne besaßen, in der Nebula und ihre Begleiter untergekommen waren, anwesend. “W-Wo bist du gewesen?”, fragte Henrik. “Annemarie, gehe spielen!”, befahl Nebula. “Och nö!”, maulte die Kleine, aber gehorchte. “Ich habe eine Leiche gefunden”, sagte Nebula, als Annemarie die Tür hinter sich verschloss. “Die Stadtwache hat mich stundenlang verhört.” Sie wandte sich Matthew zu. “Ist vor sechs Monaten etwas vorgefallen?”, fragte ihn Nebula anschließend. “Wieso fragt ihr?”, wollte er wissen. “Scheinbar treibt sich seit geraumer Zeit ein Mörder herum, den niemand fassen kann.” “Vor sechs Monaten... starb die Frau meines Bruders.” “Ermordet?” “Ja. Von einem wütenden Mob.” “Von einem Mob?” “Mein Bruder war ein paar Tage geschäftlich unterwegs. Seine Frau Valeria war nicht sehr beliebt. Man fürchtete sie, da sie sich mit Kräutern auskannte. Eines Tages stand ein aufgebrachter Mob vor ihrem Haus. Jemand hatte sie als Hexe denunziert und diese geistlosen fanatischen Trottel haben es ohne zu fragen geschluckt. Ihnen ist es nicht gelungen, ins Haus einzudringen, also haben sie es über ihrem Kopf angezündet.” “Das ist barbarisch!” Alle waren sich bewusst, was er implizierte. Doch keiner traute sich, das Wort zu ergreifen. 🌢 Ein paar ereignislose Tage verging. Henriks verletzte Kniescheibe heilte gut in der Schiene. Aber er würde noch eine Weile ans Bett gefesselt sein. Und es war mühsam, zum Abort zu humpeln. Der ältere der Brüder machte sich indes rar. Marcus kam oft erst spät in der Nacht zurück. Matthew konnte nur ahnen, wo er sich dieses Mal herum trieb. Wieder hielten ihn keine zehn Pferde im Haus. Erst am frühen Morgen kehrte er wieder ein. Matthew wusste genau, was seinen Bruder nachts auf den Beinen hielt und stellte ihn am Morgen zur Rede. “Hast du wieder gesoffen?!”, fragte er. Doch Marcus zeigte sich wenig kooperativ. “Das geht dich gar nichts an!”, antwortete er. Nach diesen Worten stürmte er die Treppe hinauf und schlug die Tür hinter sich zu. Im Laufe des Tages machten Gerüchte den Umlauf. Am Morgen wurde wieder jemand tot aufgefunden. Ängstlich verbreiteten sich Falschmeldungen über eine weitere übel zugerichtete Frau. Ein Opfer des Rippers. Doch sie schienen schnell widerlegt, als bekannt wurde, dass es dieses Mal einen Mann getroffen hatte. Einen angesehenen und wohlhabender Bankier. Seine Schwester wollte ihrem Bruder einen Besuch abstatten. Eine kleine schmächtige Frau, die dafür bekannt war, bei der kleinsten Kleinigkeit in Ohnmacht zu fallen. Sie hatte eine Herzschwäche und der Anblick, der sich ihr bot, gab ihr beinahe den Rest. Als sich die Identität des Opfers herumsprach, wurde Matthew ganz flau. Er musste dringend mit jemanden sprechen und suchte seine Gäste auf. “G-Guten Tag”, grüßte Henrik, als Matthew eintrat. Nebula saß neben dem Bett auf einem verkehrt herum aufgestellten Stuhl. Sie erhob sich von selbigen und wandte sich dem Ankömmling zu. “Ich will mit Euch reden”, sagte dieser. “Worum geht es?” “Es gab wieder einen Mord.” “Annemarie, geh spielen!” Doch das Mädchen gehorchte nicht. “Diesmal traf es einen Mann. Er wurde angeblich erwürgt.” “Das passt nicht”, bemerkte Nebula. "Weder Opfertyp noch Todesart." “Vielleicht hat es niemals einen Ripper gegeben. Nur jemand, der Rache will. Der Mann und die Hure gehörten beide zu dem Mobb, der meine Schwägerin tötete.” “Ich verstehe...”, erkannte Nebula. “Ihr glaubt noch immer, Euer Bruder ist der Mörder?” “Wenn er zwischen dem Saufen dazu Zeit findet...” “Auch wieder wahr... Dennoch, er verheimlicht etwas.” “Darum möchte ich Euch um etwas bitten. Könntet Ihr ein Auge auf Marcus werfen?” “Wieso fragt Ihr nicht die Wache?” “Denen kann man nicht trauen.” “Da habt Ihr Recht. Na schön! Ich tue es!” “Ich danke Euch!” Wie erwartet, stahl sich Marcus auch in dieser Nacht davon. Er trug etwas Verdächtiges bei sich. Nebula stieg ihm heimlich nach. Aber wieso wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie jemand beobachtete? Sie spürte fast schon den Atem in ihrem Nacken. Als sie abbiegen musste, verbarg sie sich in einem Spalt zwischen zwei Häusern, bis der vermeintliche Übeltäter an ihr vorbei ging. Sie konfrontierte ihn. Es war Annemarie. Sie musste ihr schon wieder heimlich gefolgt sein. “Was machst du hier?”, stellte sie den kleinen rothaarigen Delinquent zur Rede. Ein Tonfall, fast wie bei einem Verhör. “Ähm... ich...”, suchte Annemarie nach Worten. “Hau ab! Hier ist es gefährlich!” Unterdessen entfernte sich Marcus immer weiter. Nebula fürchtete, ihn zu verlieren. “Na schön! Wenn du nicht anders willst, versuche mit mir Schritt zu halten!” Dann stürmte sie los, in der Hoffnung, Annemarie würde aufgeben und zurücklaufen. Sie konnte schnell laufen und dennoch leise sein. Die Schritte im Matsch waren fast nicht zu hören. Ihr gelang es, die Zielperson einzuholen. Von der Ecke einer Hauswand aus, beobachtete sie Macrus. Annemarie gesellte sich zu ihr. “Was macht der da?” So viel dazu… “Sei still!” Marcus ging auf eine Ruine zu. Nur ein verkohltes Fundament war noch übrig. Der Verdächtige enthüllte einen Strauß Blumen und legte ihn neben ein hölzernes Kreuz. Danach hockte er sich hin und sprach ein Gebet. Als er fertig war, erhob er sich und verließ die Szenerie auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Nebula und Annemarie versteckten sich im Schatten eines Hauses. Als er außer Sichtweite war, gaben sie ihr Versteck auf. “Was fällt dir ein, mich zu verfolgen?!”, schimpfte die Blondine. “Tut mir leid”, entschuldigte sich das Mädchen. “Aber ich hatte eine böse Ahnung.” “Hast du irgend etwas gesehen?” “Als ich dich zum Abschied umarmt habe, sah ich einen schwarzen Schatten.” “Einen Schatten?” Nebula tat es als Hirngespinst ab. “Na schön, wenn du schon mal hier bist, dann können wir uns das Grab auch gemeinsam ansehen.” Beide sahen sich den Ort genauer an. Ihnen fiel sofort auf, dass auf dem hölzernen Kreuz ein Name geschrieben stand. Nebula konnte die unleserliche Handschrift in weißer Farbe als “Valeria” entziffern. Sie zählte eins und eins zusammen. “Hier ist seine Frau gestorben”. stellte sie fest. Ein Geräusch schreckte beide auf. “Hier ist es gruselig!”, ängstigte sich Annemarie “Da hast du nicht unrecht”, pflichtete Nebula bei. Noch einmal ertönte das seltsame Geräusch. Nebula zog ihr Schwert und wandte sich der Quelle zu. Eine rauchige schwarze Gestalt kam auf sie zu geschwebt, ganz wie vorhergesagt. Sie umklammerte einen schwarzen Dolch mit einer ihrer entarteten Klauenhände. “Lauf weg!”, befahl die Blondine. Das Mädchen gehorchte und verschwand in der Dunkelheit. Der kleiner Moment der Unachtsamkeit wurde sofort bestraft. Der Kreatur gelang es Nebula das Schwert aus den Händen zu schlagen. Die Blondine sprang nach hinten und beschwor Bloodbane. Ihre Waffe und der schwarze Dolch des Phantoms kreuzten sich. In der Hitze des darauffolgenden Gefechts landete die Kreatur einen Treffer. Die Klinge streifte Nebula an der Schulter. Sofort wurde ihr schwindlig und sie brach zusammen. Bloodbane wich in ihren Arm zurück. Die Kreatur verschwand so schnell, wie sie erschienen war. Annemarie kam aus der Gasse zurück gerannt. Sie fand Nebula bewusstlos auf dem Boden liegend vor. Plötzlich tat sich eine weitere Schnittwunde auf. Diesmal auf Nebulas Wange und ohne einen ersichtlichen Grund. Das Mädchen musste sie irgendwie zu den anderen bringen. Nebulas Schwert lehnte zusammen mit ihrer restlichen Ausrüstung an der Wand. Sie lag derweil auf dem Bett, neben dem von Henrik. Ihre Augen waren im Traum geschlossen. Ab und an kam eine neue Wunde irgendwo an ihrem Körper dazu. Sie zeugten davon, dass es kein angenehmer war. Zwar verheilten sie schnell, aber es kamen immer mehr dazu, sodass die Heilung nicht hinterher kam. “Das ist Teufelswerk!”, stieß Matthew entsetzt aus. “D-Das hilft uns nicht weiter!”, tadelte Henrik aus dem Bett heraus. Er wandte sich Annemarie zu. “Wer war die Frau, die dir geholfen hat, Nebula hierher zu tragen?” “Sie hat ihren Namen nicht gesagt”, antwortete der Rotschopf. “Aber sie war sehr hübsch.” Plötzlich erschien eine weitere Wunde an Nebulas Körper. Ihr schwarzes Blut sickerte in das Laken ein. “Können wir denn nichts machen?”, grübelte Henrik. Eilig begab sich Annemarie zur rechten Seite des Bettes und ergriff Nebulas Hand. Erschrocken ließ sie sie fallen. “Was hast du denn?” “Sie ist in einem bösen Traum gefangen”, erklärte Annemarie. “Was? N-Nein! Können wir sie nicht einfach aufwecken?” Annemarie schüttelte den Kopf. “Das kann sie nur alleine schaffen.” “A-Aber?! Wir können also nicht nichts tun?” Annemarie nahm sich einen Stuhl und setzte sich zwischen die beiden Betten. “Wenn du ganz laut nach ihr rufst, hört sie dich bestimmt!” Sie nahm die linke Hand von Nebula in ihre rechte und streckte zugleich ihren linken Arm zu Henrik. “Gib mir deine Hand!” Henrik zögerte nicht und gehorchte. Annemarie schloss ihre Augen. “Jetzt rufe nach ihr. In deinen Gedanken.” “O-Okay…” Henrik probierte, was die Kleine von ihm verlangte. Auf einmal fühlte er sich ganz anders. Er spürte, wie sein Geist auf die Reise ging. Als Henrik die Augen öffnete, fand er sich in einem langen Gang wieder. Das schwarze Gemäuer reichte so hoch, dass es in der Dunkelheit versank, ohne je die Decke zu erreichen. Durch hohe schmale Fenster drang spärliches Licht ein und wurde von einer dickflüssigen, rötlichen Masse auf dem Boden reflektiert. Ungläubig bewegte Henrik sein Bein durch die Flüssigkeit, sodass kleine Wellen entstanden. Ihm war aufgetragen, zu rufen. Also rief er, so laut er konnte. “Nebula!” Bis auf sein eigenes Echo gab es keine Reaktion. Dann vernahm er in der Ferne das Weinen eines Kindes. Noch bevor sich Henrik darüber wundern konnte, dass er in der Lage war zu stehen, trugen ihn seine Beine auch schon zur Quelle des Geräusch. In der Ecke einer Halbsäule fand er ein Mädchen mit langen blonden Haaren, welches ein weißes Kleid trug, das zur Hälfte mit der roten Substanz vollgesogen war, in der es kauerte. Das Mädchen war jünger als er. Bestimmt gerade erst vierzehn Jahre alt. Die Hände des Mädchens verdeckten das Gesicht. “Wer bist du?”, fragte der Junge vorsichtig. Das Mädchen hörte auf zu weinen und nahm die Hände von seinem Gesicht. Henrik erschrak. Sie sah aus wie Nebula. “Ich habe sie alle umgebracht!”, sprach die Kleine voller Angst. Der Pegel der roten Flüssigkeit sank und gab die Sicht auf ein dutzend Leichen frei, welche überall verstreut lagen. Henrik ging auf das Mädchen zu und reichte ihm die Hand. “B-Bitte”, versuchte er, es zu beruhigen. “Nimm m-meine Hand!” Er verspürte selbst unendlich viel Angst. Seine Furcht war so groß, dass sie alle seine Instinkte regelrecht betäubten. Alles, was ihm noch blieb, war die Flucht nach vorn. Das Mädchen nahm seine Hand und stand auf. Es umklammerte ihn und er spürte es zittern. “Bitte gehe nicht wieder weg!” “Ganz bestimmt nicht!” Henrik sah sich erneut um. “Wie kommen wir hier raus?” Das Mädchen zeigte in die Schwärze vor ihnen. “Dort entlang.” Ein markerschütterndes Kreischen fuhr durch die Finsternis. Gemeinsam näherten sie sich der Ursache. Das Klirren von aufeinander schlagenden Klingen mischte sich zwischen die Schreie. Endlich gab die Schwärze die Sicht frei. Ein gigantisches, widerlich verunstaltetes, wurmartiges Wesen mit menschlichem Oberkörper, langen blassblonden Haaren und klingenartigen Auswüchsen auf dem Rücken wand sich um die Säulen. Es schien gegen jemanden zu kämpfen. Henrik erkannte die Person sofort. Blessuren und Wunden zierten ihren Körper, genau wie in der Realität. “Nebula!”, rief er in Finsternis hinein. “Du musst aufwachen!” Doch sie schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Die Klingen auf dem Rücken der Kreatur schossen auf sie zu, als es sich nach vorn beugte, verfehlten, trafen stattdessen eine Säule und brachten sie zum bersten. Ihre Teile stürzten herab und ihr Stumpf hing noch immer von oben aus der Finsternis heraus. “Sie hört auf niemanden!”, sprach die junge Nebula. “Sie kämpft immer allein und lässt sich nicht helfen. Bis es zu spät ist!” Als Henrik die Kreatur genauer in Augenschein nahm, fror er ein vor Schock. Auch sie teilte sich mit Nebula das gleiche Gesicht. Nur war die Visage des Monsters zerfressen von Wut und Hass und durchzogen von pulsierenden Adern. “Das ist ihr Dämon", erklärte das Mädchen. Entsetzt versuchte Henrik erneut, zu Nebula durchzudringen. “Hey, Nebula! W-Wach auf!” Noch immer nahm sie keinerlei Notiz von ihm. “Das ist zwecklos! Sie vertraut niemanden. Das ist nicht zu ändern.” Das arme Kind. Sie musste Nebulas melancholische Seite darstellen. Henrik wollte ihr das Gegenteil beweisen. Schließlich hatte sie Freunde, denen sie vertrauen konnte. Aber wie sollte er Nebula gegen die Bestie unterstützen? Er wünschte sich sein Schwert herbei. Tatsächlich erfüllte sich seine Bitte. Aus dem Nichts erschien die Waffe, an die er eben dachte, in seiner Hand. Wie habe ich das angestellt, grübelte er, während er auf das Produkt seiner Fantasie starrte. Ein weiterer Zusammenstoß der Klingen ließ ihn sich besinnen. Ihm wurde bewusst, dass dies nicht die Realität war. Hier vermochte er augenscheinlich zu tun, was immer er wollte. Mutig stürmte er auf die Abscheulichkeit zu und versetzte ihr einen Stoß. Die Kreatur schrie unter Schmerzen auf. Flüssigkeit trat aus der Wunde aus und verätzte Henriks Schwert. Er ließ es los, bevor sich die Säure zu seiner Hand hin fraß, und brachte ein paar Meter Abstand zwischen sich und der Kreatur. Aus sicherer Entfernung sah er sein Schwert vergehen. Endlich schenkte Nebula ihm ihre Aufmerksamkeit. Allerdings nicht so, wie er es sich erhofft hatte. “Verschwindet!”, fauchte sie ihn an. “Mischt Euch nicht ein!” Sie schien ihn nicht einmal zu erkennen. Henrik konnte es nicht glauben. Waren sie nicht Freunde? “Passt auf!”, schrie die junge Nebula, als die Kreatur Henrik ins Visier nahm und eine Salve ihrer Klingen auf ihn abfeuerte. Henrik kniff die Augen zusammen und erwartete sein Ende. Er schützte seinen Kopf mit dem linken Arm. Den rechten streckte er aus, wie in einem aussichtslosen Versuch, sein unausweichliches Schicksal abzuwenden. Er rechnete fest damit, aufgespießt zu werden. Doch nichts geschah. Mutig sah er den Tatsachen ins Auge und stellte fest, dass die Klingen allesamt vor seiner Hand zum Stillstand gekommen waren und regungslos in der Luft hingen. Henrik stieß sie der Kreatur entgegen. Die Klingen drehten in der Luft und bohrten sich in das Fleisch des Monsters hinein. Es stürzte gegen eine weitere Säule, brachte sie zum Einsturz und wurde unter ihren Trümmern begraben. Ungläubig betrachtete er das Resultat. Es wäre von Vorteil, wenn er das auch in der Realität tun könnte. Die erwachsene Nebula richtete wutentbrannt ihre Waffe auf Henrik. “Das ist mein Kampf! Verschwindet!” Sie stürmte auf ihn zu, mit der Intention ihn zu erstechen. Die junge Nebula konnte das nicht geschehen lassen und warf sich zwischen ihn und die unaufhaltsam näher kommende Waffe. Die Klinge durchbohrte den Körper des Kindes, konnte es jedoch nicht stoppen. Das Mädchen ging weiter auf Nebula zu und trieb die Klinge dadurch tiefer in ihre Eingeweide. Es schlug die Arme um sein älteres ich. Noch im selben Moment sandte es Licht aus und verschmolz mit ihr. Nebula ließ ihre Waffe fallen. Ihr Zorn und ihr Hass auf den ungebetenen Gast schienen vergessen. Henrik versuchte erneut, sie anzusprechen. “Nebula?” Perplex sah die Blondine zuerst auf ihre Hände und dann zu ihm auf. “Henrik?!” Anschließend ließ sie den Blick zu der unter Trümmern begrabenen Kreatur schweifen. “Du hast...”, rang sie mit der Fassung. “Unfassbar!” “S-Siehst du!”, strahlte er vor Überzeugung. “D-Das muss ein Traum sein!” Ihr jüngeres Ich hatte ihr einen letzten Gedanken übertragen, bevor es mit ihr verschmolz. “Noch ist er nicht vorbei!” Etwas musste noch getan werden. Nebula trat an die Kreatur heran und berührte sie. Das Monster löste sich in einen schwarzen Nebel auf und verschmolz ebenfalls mit ihr. Eingeleitet von einem gewaltigen Donner, bröckelte plötzlich das Mauerwerk und die Säulen. Alles zerfiel erst zu Trümmern, dann zu Brocken und zum Schluss zu Staub. Die Finsternis lichtete sich. Nebula und Henrik fanden sich auf einer bunten Blumenwiese wieder, in deren Mitte sich eine einsame Tür befand. Keine Spur mehr von dem Gemäuer und seinen Schrecken. “W-Was ist hier geschehen?”, fragte Henrik unsicher. “Ich bin mir nicht sicher”, antwortete Nebula. Es war ein Traum, welcher ihr den Spiegel vorhielt. Ihr die drei schlimmsten Fehler aufzeigte: Die Verletzlichkeit in ihrem Inneren, ihren Drang, diese durch nach außen demonstrierte Stärke zu verbergen und der teuflische Fluch, der auf ihr lastete. Die Splitter ihrer Persönlichkeit, welche sie in diesem Traum gefangen hielten. Aber auch Hoffnung, Vertrauen und Mut. Die Werkzeuge, mit denen der Schlüssel zu ihrer Freiheit erschaffen werden konnte. Etwas, das sie alleine nicht hätte schaffen können. Tief in ihrem Inneren spürte sie das. Aber sie war noch nicht soweit, es sich offen einzugestehen. Henrik deutete auf die Tür vor ihnen. “I-Ist das der Ausgang?” “Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden!", ermutigte Nebula. Gemeinsam öffneten sie die Tür und gingen in das weiße Licht, welches ihnen aus dem Durchgang entgegen strahlte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)