Morgenstern von totalwarANGEL ================================================================================ Kapitel 8: Das große Bankett ---------------------------- 🌢 Der Finsterwald trennte Nebula und ihre Begleiter von der Hauptstadt Ewigkeit. Ein Forst, von dem man sagte, er sei so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden berührte. Ganz so schlimm, wie es die Geschichten behaupteten, war es zwar nicht, trotzdem freute sie der Anblick der Lichtung, auf der sie wenig später ihre Zelte aufschlugen. Die mehrtägige Reise in die Hauptstadt bot Gelegenheit, miteinander per Du zu werden. Der Platzmangel tat sein Übriges. Den neuesten Zuwachs angemessen in einem der Zelte unterzubringen, gestaltete sich schwierig. Deshalb erstanden sie vor ein paar Tagen in einem kleinen Dorf ein weiteres. So blieb es Henrik erspart, sich mit Clay in eines zu quetschen. Während sie alle zur Ruhe gebettet lagen, riss ein aufgeregtes Schnauben den Jäger mit dem Bestienblut aus seinem unruhigen Schlaf. Jene Männer, welche dazu verdammt sind, ein Wolf zu sein, konnten in der Nacht niemals Ruhe finden. Stetig quälten sie Jagdträume, in welchen sie in Wolfsgestalt ihrer Beute hinterherjagten. Jedes Mal mit der Angst verbunden, dass es sich am nächsten Morgen als Realität herausstellte. Deshalb riss es Clay mit Leichtigkeit aus seinem unheilvollen Schlaf. Vorsichtig streckte er den Kopf aus der Öffnung des Zeltes. Sein Pferd zerrte an dem Strick, welcher es an einem nahen Baum fesselte. Irgendetwas war da draußen. Oder irgendjemand. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Sein unerwarteter Aufbruch blieb nicht unbemerkt. Mit der Nase zum Himmel gerichtet, versuchte der Werwolf mögliche Gefahren anhand des Geruches auszumachen. Es war noch immer mitten in der Nacht. Fast alle Waldbewohner schliefen zu dieser Zeit. Ein Schwarm Fledermäuse war auf der Jagd nach Insekten. Ihre Klickgeräusche im Ultraschallbereich klingelten in Clays Ohren wie ein Orchester Hundepfeifen und machten ihn fast Wahnsinnig. Es war eine Erleichterung, als sie sich so weit entfernten, dass er sie nicht mehr hören konnte. Eine Eule nutzte ebenfalls die Nacht, um sich den Bauch vollzuschlagen. Am Fuße eines Baumes, in etwa hundertfünfzig Metern Entfernung, machte sich der Siebenschläfer an einem Pilz zu schaffen, der aus einem morschen Baum empor geschossen war. Und südlich des Lagers wühlte ein Igel nach köstlichen Regenwürmern. Soweit deutete nichts auf eine Bedrohung hin. Clay schlich weiter um das Lager herum. Plötzlich veranlasste ihn ein Geräusch zu einem hektischen Sprung zur Seite. Er wich im letzten Moment einem versilberten Dolch aus. Das Wurfgeschoss zog einen bekannten Geruch hinter sich her. Sie ist es, dachte Clay voller Erregung. Irgendwo im Blattwerk hielt sich die Attentäterin verborgen. Er bot sich ihr als Ziel an. Ein weiterer Dolch folgte auf seine Einladung. Dank seiner schnellen Reflexe, wich er auch dieser Bedrohung aus. Verstohlene Tritte und leises Knacken von Ästen veranlassten ihn, sein Messer zu ziehen. Hinter ihm sprang eine schwarz gekleidete Gestalt aus einem Busch und stürzte sich auf ihn. Clay wehrte den Angriff mit seinem Häutungswerkzeug ab. Jäger und Beute durchbohrten einander mit stechenden Blicken. Clay musterte das Äußere der Frau. “Ihr seid nicht von hier”, stellte er anhand ihres Äußeren fest. Rote Augen, rote Haare, aschfahle Haut und leicht spitz zulaufende Ohren. Die Rothaarige tat die Aussage ihres Ziels mit einem Brummen ab und sprang in einem hohen Salto nach hinten weg. Dabei versetzte sie Clay einen Tritt gegen den Unterkiefer, welcher seinen Kopf unfreiwillig nach oben neigte. Sie landete anschließend ein gutes Stück entfernt wieder sicher auf dem Boden. Clay duckte sich in letzter Sekunde weg, als seine Gegnerin einen weiteren Angriff an ihre Kombination anfügte, wie ein Glied an einer Kette. Mehrere Dolche bohrten sich hinter ihm in einer Reihe in einen Baumstamm. Als er wieder zu der Fremden sah, konnte er sie erst nirgends mehr ausmachen. Sie war unglaublich flink. Er konzentrierte sich. Ein Rascheln! Über ihm! Die Attentäterin stürzte sich aus den Baumwipfeln auf ihn. Geistesgegenwärtig packte Clay ihre Arme und warf sie über seinen Kopf hinein in einen Busch. Danach tauschte er sein Messer gegen den Bogen ein und spannte ihn mit einem Pfeil aus dem Köcher. Die Rothaarige rappelte sich umgehend wieder auf und wollte ihren Angriff auf Clay fortsetzen, bevor er den Pfeil loslassen konnte, nur um mitten im Sprung kehrt zu machen. Das Echo eines metallischen Klingen wurde von den Stämmen und Blättern der Bäume zurückgeworfen. Sie parierte den Versuch eines anderen, sie zu erschießen. “Gastraphetes, nachladen!” Clay und die Fremde sahen sich um. Nebula stürmte plötzlich zwischen einigen blattreichen Sträuchern hervor, die schwarze Armbrust auf die Angreiferin gerichtet. “Eure Reflexe sind ausgezeichnet, Cerise!”, lobte die Blondine. “Vielen Dank für das Kompliment”, erwiderte die Rothaarige. “Moment mal!”, hakte Clay ein. “Du kennst diese Frau?” “Allerdings!”, erklärte Nebula und warf ihrem Begleiter einen kurzen Blick zu. “Das ist Cerise. Sie verfolgt mich schon eine Weile!” Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut der blassen Rothaarigen zu. “Ihr steckt also auch hinter den Angriffen auf Clay. Ich hätte es mir denken können. Wieso vergreift Ihr Euch jetzt an meinen Begleitern?” Cerise lockerte sich und wechselte aus der Kampfbereitschaft in eine aufrechte, aber entspannte Haltung. “Vergreifen ist so ein hartes Wort...” Ihre Arme ließ sie locker zur Seite herunterhängen. “Nehmt doch nicht gleich immer alles so persönlich.” Jedes ihrer Worte klang in Nebulas Ohren wie eine Provokation. Sie schoss einen Bolzen direkt vor Cerises linken Fuß in den Boden. “Haltet Euer vorlautes Mundwerk, Ihr rothaarige Hexe!” Sie richtete die Waffe erneut auf Cerises Oberkörper. “Gastraphetes, nachladen!” Die Armbrust gehorchte. “Aber wenn ich meinen Mund halte, kann ich nicht antworten.” Clay erwiderte mit einem drohenden Knurren. “Ich erhielt den Auftrag, diesen entlaufenen Flohzirkus auszuschalten.” “Warum?” “Was interessiert mich das?” “Ihr wollt ihn töten, ohne einen Grund zu haben?!” “Ein Auftrag ist ein Auftrag. Wir stellen keine Fragen nach dem Grund.” Schnell - zu schnell für Clay und Nebula - riss Cerise eine Kugel aus ihrem Gürtel und warf sie schwungvoll auf den Boden. Sofort breitete sich dichter weißer Rauch aus, der alles verhüllte. Nebula schoss sofort in die Richtung, in der sie Cerise vermutete, hatte aber nicht das Gefühl, sie getroffen zu haben. Clay wollte es ihr gleichtun, doch die Sehne riss. Als sich der Rauch gelegt hatte, war Cerise verschwunden. “Wo ist das Miststück?”, machte Nebula ihrem Ärger Luft. “Sie ist weg”, sagte Clay nach einem ausgiebigen Atemzug durch sein Werwolfriechorgan. “Euer Bogen!”, bemerkte Nebula. “Das kann man reparieren”, meinte der Waidmann. Als sie sich sicher waren, dass die Gefahr vorüber war, entspannten sich beide und kehrten zum Lager zurück. Am Morgen setzten die Vier ihre Reise fort. Annemarie saß, zusammen mit dem Gepäck, auf Clays Pferd, während der Jäger es am Zaumzeug führte. Nach einigen Stunden erreichten sie Ewigkeit. Aus jeder Himmelsrichtung führte eine lange Brücke über den See, in dessen Zentrum Ewigkeit, die Hauptstadt von Morgenstern, auf einer Insel lag. Des Werder gewaltiges Felsmassiv wurde von mächtigen Festungsmauern eingefasst. Ehrfürchtig betrachteten Henrik und Annemarie das Stadttor. Beide hatten noch nie so hohe Mauern gesehen. “Wow!”, staunte Henrik. “Wohnen hier Riesen?”, fragte Annemarie unbedarft. Clay amüsierte die Naivität des Kindes. “Das ist immerhin unsere Hauptstadt”, sagte Nebula. Vor und nach ihnen drängten Menschen und Wagen hinein in die Stadt. Ein Aufkommen, das selbst für die Hauptstadt außergewöhnlich war. An den Toren kontrollierten Wachen die Papiere der Reisenden. “Was wollen die ganzen Menschen hier?”, fragte Annemarie. “S-Sie veranstalten vielleicht ein T-Turnier”, mutmaßte Henrik. Endlich erreichte Nebulas Gruppe das Stadttor. Der Wächter beäugte sie skeptisch. Ihr Gesicht kam ihm so bekannt vor. “Eure Papiere!”, forderte er schließlich nach einer kurzen Denkpause. Nebula reichte ihm einen Brief. Der Wächter rollte das Schriftstück auf und machte große Augen. Verunsichert gab er ihr den Brief zurück. “Ihr könnt passieren.” Die vier durchschritten das Tor. Hinter der Mauer befand sich rechts vom Tor eine Stallung. Sie hatten Glück und bekamen den letzten freien Platz für ihr Pferd. Beschlagene Hufe klapperten auf dem gepflasterten Platz und Rösser wieherten, als unerwartet eine Kutsche vorfuhr. Sie kam genau vor der Gruppe zum Stehen. “W-Was macht denn diese Kutsche hier?”, wunderte sich Henrik über ihr Erscheinen. Der Kutscher schwang sich von seinem Sitz und kam der Gruppe entgegen. Er ging umgehend zu Nebula. “Willkommen, Herrin!”, sprach er und verbeugte sich. “Ihr und Eure Begleitung seid herzlich eingeladen zu einer Stadtrundfahrt!” “Wer hat das veranlasst?”, fragte die Blondine misstrauisch. “Die Prinzessin, Herrin”, antwortete der Kutscher. “Als sie erfuhr, dass Ihr in Begleitung kommt, veranlasste sie diese Fahrt. Es ist ihr Willkommensgeschenk.” Sie stiegen ein, um die Sehenswürdigkeiten von Ewigkeit gezeigt zu bekommen. Wie durch ein Wunder fasste die kleine Passagierkabine sie alle vier. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und Sehenswürdigkeiten kamen in Sichtweite. Als erstes passierten sie ein mehrstöckiges quadratisches Gebäude, dessen Dach in der Mitte eine große Kuppel besaß. Zwischen zehn Meter hohen Säulen befanden sich die langen und schmalen Eingangstüren. “Zu Euer Rechten seht Ihr die große Bibliothek”, erklärte der Kutscher. "In ihr werden verschiedene Werke der Literatur aufbewahrt. Ein jeder, der wissbegierig ist, ist es gestattet, ihr Angebot zu nutzen.” Als nächstes durften sie ein großes Gotteshaus bestaunen. Es besaß gleich vier Glockentürme mit weit in den Himmel hinauf ragenden spitzen, an deren Enden goldene Kreuze befestigt waren, in deren Mitte sich Ringe befanden. Die Front zierte ein wunderschön gestaltetes Rosettenfenster, dessen Ausmaße alles übertrafen, das Henrik bisher gesehen hatte. “Bestaunt zu Eurer Linken den Dom von Ewigkeit", fuhr der Kutscher fort. "Seit jeher werden hier die Herrscher gekrönt. Eigentlich wurde der Dom jedoch zu Ehren des namenlosen Gottes errichtet. Nebula war diese Stadtrundfahrt offenkundig zu langweilig. Sie lag mehr auf ihrem Sitz, als dass sie saß, und schlief. Der sperrangelweit offene Mund ermöglichte Henrik, das Vibrieren ihres Gaumens zu beobachten, während sie nach Herzenslust schnarchte. Henrik wollte seinen Blick erst nicht von ihr lassen. Doch dann weckte eine marmorne Drachenstatue seine Aufmerksamkeit. “Kutscher!”, rief der Junge daraufhin. “Was hat es mit der Statue auf sich?" “Ein Geschenk von Aschfeuer”, antwortete der Mann. “Nach Ende des Krieges hat das Imperium uns dieses Ding zum Geschenk gemacht. Für sie hat der Drache eine besondere Bedeutung. Manche sagen, im Krieg hätten die Spitzohren echte Drache gegen Morgenstern ins Feld geführt.” “Echte Drachen?!” “Keine Angst! Das ist nur ein Ammenmärchen. So etwas wie Drachen gibt's doch gar nicht! Oder habt Ihr schon mal einen gesehen.” “N-Nun, nicht w-wirklich.” Dennoch beunruhigte Henrik die Erscheinung des Ungetüm. Sie wirkte so lebensecht. “Nur die Ruhe, Junge”, beruhigte dieser. “Es ist ja nicht so, dass die Statue eines Tages zum Leben erwacht und in der Stadt Amok läuft." Der Mann setzte ein Grinsen auf, das man in der Kabine allerdings nur erahnen konnte. Die Kutsche erreichte die letzte Sehenswürdigkeit. Auf dem großen Platz vor dem Königspalast kam sie zum Stehen. “Sind wir schon da?”, fragte Annemarie. “Jawohl, wir haben unser Ziel erreicht”, verkündete der Kutscher. “Hey, N-Nebula”, sprach Henrik sachte und stupste sie leicht an. “Wir sind da.” Doch sie reagierte nicht. “So wird das nichts, Kleiner!”, sagte Clay. Daraufhin versetzte er Nebula einen heftigen Ruck. Sie schreckte auf, rutschte vom Sitz, kam auf den Knien auf und stützte sich am Sitz gegenüber ab. Dadurch war ihr Kopf unfreiwillig zwischen Henriks Beine geraten. Erschrocken riss der Junge die Arme in die Luft. Nebula lief rot an, als ihr bewusst wurde, zwischen wessen Schenkeln sie sich befand. Sie fuhr auf, nur um Henrik eine Ohrfeige zu verpassen. “Lustmolch!”, schimpfte sie. “A-Aber ich…”, versuchte sich der Braunhaarige zu rechtfertigen. Amüsiert musste sich Clay beim Lachen den Bauch halten. Der Kutscher öffnete die Tür und die Vier stiegen aus. Ein atemberaubender Springbrunnen mit Wasserspeiern verschiedenster Art schmückte das Zentrum des Platzes. Unzählige Fontänen schossen nach Oben und zur Seite. Ein langer Weg führte vom Platz ab, links und rechts überspannt von den Ästen der Zierkirschen. Am Ende des Weges erwartete sie der Eingang des Schlosses. Ein pompöses Portal, welches eindeutig geschaffen wurde, um zu gefallen. Ein von Säulen gestützter Überbau mit zinngefassten Butzenfenstern umspannte den gesamten Innenhof in Hufeisenform. An den Wänden kletterte der Efeu empor und Moos hing von den Wasserspeiern mit Dämonenfratzen. Am Eingang auf der anderen Seite wurden sie bereits erwartet. 🌢 Die Palastwachen geleiteten die Gruppe hinein ins Innere. Der Fußboden des royalen Herrschersitzes wurde von Bodenplatten aus dunklem Marmor bekleidet. Vier Säulen durchzogen den Eingangsbereich in der Mitte und stützten die mächtige Deckenkonstruktion. An jeder von ihnen stand eine Wache. Unterschiedliche Zierobjekte waren an und um die Säulen gruppiert. Hinter ihnen schlang sich eine gebogene Treppe auf zwei Seiten hinauf in das erste Obergeschoss. Links und rechts durchbrachen Passagen zu den Seitenflügeln die Mauern. Licht fiel durch die Fenster und die gewaltige Kuppel über ihren Köpfen ein. Von der Mitte der Kuppel hing ein gewaltiger Kronleuchter herunter, gehalten von einer langen Kette. Nebula schaute aus, als ob sie etwas bedrückte. Henrik fühlte sich von der schieren Größe eingeschüchtert. Clay versuchte, die unbehaglichen Gerüche nach Wachs und Ruß auszublenden. Annemaries Augen funkelten vor Entzückung über all den Glanz und Prunk. Gemeinsam schritten sie die Treppe auf der linken Seite hinauf. Der eigentliche Thronsaal wurde von Licht aus überlebensgroßen Fenstern geflutet. Ein roter Teppich lag auf den Marmorplatten und führte ankommende Besucher zum Herrschaftssitz des Monarchen. Der König saß in seinem Thron und rechts von ihm stand eine junge Frau. Doch der Sitz der Königin war schon seit langer Zeit unbesetzt. Die Wände verschönerten Wappenbanner und Gemälde einstiger Herrscher. Über dem Thron hing ein ganz besonderes Bild. Es zeigte den König und die Königin. Die Gemahlin an der Seite des Herrschers, hielt ein kleines Bündel von Menschlein in den Armen. Nebula konnte die Darstellung ihrer Mutter nicht länger ertragen. Obwohl sie daran glaubte, dass man nicht missen konnte, was man nicht kannte, übermannte sie die Sehnsucht nach mütterlicher Zuwendung. Sie war bei Nichten die einzige, deren Gefühlswelt von diesem Kunstwerk wie von einem brutalen Sturm auf See durcheinandergewirbelt wurde. Für einen Moment glaubte sie, ein bösartiges Knurren zu vernehmen. Aber just in dem Moment, als sie sich schickte, seine Ursache zu finden, verstummte es. Die junge Frau neben dem König stürmte plötzlich auf Nebula zu und umarmte sie. “Schön, dass du gekommen bist!”, begrüßte sie sie. Henrik verblüffte der Anblick der beiden Mädchen, die sich fast glichen, wie ein Ei dem anderen. Nur das Haar der einen war um einiges länger. Und da war noch etwas, das sie unterschied. Doch es wollte ihm partout nicht einfallen, was es war. Ob sie Schwestern waren? “Ich lasse dich nicht an deinem großen Tag im Stich”, erklärte Nebula. “Du hast Freunde am Hof?”, wollte Clay wissen. Nebula und die Fremde lösten sich. “Das ist Prinzessin Emelaigne”, erklärte Nebula. “Wir sind seit langer Zeit Freunde.” “F-Freut mich, Eure B-Bekanntschaft zu m-machen”, sprach Henrik. Die Anwesenheit von gleich zwei wunderschönen Mädchen verunsicherte ihn. “Sie wird bald einen Prinzen heiraten.” “Deshalb ist die Stadt so in Aufruhr”, erkannte Clay. “Sie heiratet einen Prinzen aus Aschfeuer.” “Aschfeuer?!” “Ein Botschafter wird kommen, und die Einzelheiten aushandeln.” “Och, eine Hochzeit!”, gluckste Annemarie freudig. “Darf ich das Blumenmädchen sein? Bitte, bitte, bitte, bitte…” “Na klar darfst du”, sagte die Prinzessin. “Nebulas Freunde sind auch meine Freunde!” “Juhu!” Der Rotschopf hüpfte verzückt auf und ab. “Doch Nebula und der König müssen noch etwas besprechen”, nahm Emelaigne der Kleinen den Wind aus den Segeln. “Außer Nebula mögen alle den Thronsaal umgehend räumen.” Sie sah zu einer der Wachen. “Zeigt ihnen ihre Gemächer!” “Jawohl, Eure Hoheit!”, bestätigte dieser und geleitete die anderen hinaus. Nebula und Emelaigne schritten derweil zum Thron und begannen ein langes Gespräch mit dem Herrscher von Morgenstern. Nachdem ihnen ihre Zimmer gezeigt wurden, beschlossen Henrik, Annemarie und Clay den Rest des Tages damit zu verbringen, über die Märkte zu ziehen. Annemarie wünschte sich Spielzeug und Henrik begleitete sie. Clay konnte nicht viel mit den Kindern und ihren Sehnsüchten anfangen. Darum trennten sich ihre Wege. Auch, weil er einen wichtigen Weg gehen musste. Sein Bogen war noch immer kaputt. Die Hauptstadt von Morgenstern musste doch mit einem anständigen Bogner aufwarten können! Endlich entdeckte er ein entsprechendes Geschäft. Der Besitzer war ein älterer Mann mit blassem Teint und engen Augen. Er trug höchst eigentümliche Kleidung, wie sie weit im Osten üblich war. Er musste einst von weit her gekommen sein. Vielleicht sogar von den legendären östlichen Inseln. Der Mann kam sofort auf Clay zu, als dieser sich der Bogenmacherei näherte. “Einen interessanten Bogen habt Ihr da”, eröffnete er und streckte die Hände aus. Er hatte einen deutlichen Akzent. In der Stimme hallte zudem die Lebenserfahrung des Mannes wieder. “Aber er singt nicht mehr.” “Das ist leider wahr”, gestand Clay ein. “Wie Ihr seht, die Sehne ist gerissen” Er übergab die Waffe. “Wollen wir schauen, was wir tun können.” Der Mann ging zu seiner Werkbank und spannte Clays Bogen in den Schraubstock ein, sodass die beiden Enden mit der Sehne nach oben zeigten. “Wisst Ihr”, sprach der alte Mann, während er sich am Jagdwerkzeug zu schaffen machte. “Es ist schon eine Weile her, dass ich einen Bogen aus meiner Heimat gesehen habe. Zuletzt als kleiner Bub in der Lehre meines Vaters. Wie kommt ein westlicher Jäger zu so einer Waffe?” “Sie ist ein Familienerbstück.” “Dann habt Ihr vielleicht Vorfahren aus meiner alten Heimat?” “Vielleicht.” Den Bogen hatte er einst vom Vater seiner Frau bekommen. Er war das einzige, das er bei seiner Flucht bei sich hatte und das einzige, was ihn mit seinem alten Leben verband. Der alte Mann arbeitete schnell und effizient und so war die Sehne gewechselt und eingespannt. “Es ist vollbracht.” Er löste den Bogen aus dem Schraubstock und übergab ihn seinem Besitzer. “Das macht dann fünf Schilling.” Er hielt die Hand auf und lächelte dabei, genau wie man es den kleinen Männern aus dem Osten nachsagte. Nachdem er den Bogener für seine Dienste entlohnt hatte, bedankte sich Clay und verließ das Geschäft mit einer runderneuerten Waffe über der Schulter. Ungesehen von der getriebenen Menschenmasse zu ihren Füßen, schlich Cerise unter schwarzer Kutte verborgen über die Dächer. Es war ein helllichter Tag, doch der rothaarigen Schattengestalt gelang es trotzdem, für die Augen der anderen unsichtbar zu sein. Eine sanfte Briese streichelte ihr Gesicht. Sie verfolgte ihr Ziel entgegen dem Wind. Diesmal würde er sie nicht verraten können. Ihr Atem, ihre Schritte, jedes verräterische Geräusch, ging unter in einem Meer aus Tumult und Tamtam, in dem jeder Laut zu monotonem Rauschen verkam. Das Ziel bog an einer Kreuzung ab. Die Verfolgerin sprang vom Dach auf ein hölzernes Geländer und von ihm aus über die schmale Gasse auf das Geländer des Balkons eines gegenüberliegenden Hauses. Mit der Hilfe einer Lampe, schwang sich die Rothaarige um die Kurve und landete sicher auf einem weiterem Geländer. Sie balancierte in gehockter Haltung auf ihm, bis sich eine Trennwand vor ihr auftat, welche den einen Balkon von dem direkt nebenan abgrenzte. Das kam ihr wie gerufen. An ihr kletterte sie zurück auf das Dach und setzte die Verfolgung fort. “Die will ich haben!”, strahlte Annemarie und präsentierte die Puppe, welche ihr Herz erobert hatte. Henrik sah sie sich an. Sie trug ein besticktes blaues Kleid, kleine schwarze Pantoffeln und hatte goldene Haare aus Stroh. “Findest du nicht, sie sieht aus wie Nebula?”, grübelte der Rotschopf. “W-Was?!”, schreckte Henrik auf. Er musste sich unweigerlich vorstellen, wie die Söldnerin darauf reagieren würde, mit einem Kinderspielzeug verglichen zu werden. Vermutlich würde sie der Puppe umgehend den Kopf abreißen. Und danach ihm, weil er sie Annemarie gekauft hatte. Er war nicht bereit, dieses Risiko zu tragen. “T-Tue sie besser w-wieder zurück”, schlotterte er vor Furcht. Annemarie stülpte die Unterlippe über die Oberlippe und Feuchtigkeit quoll aus ihren Augen. Sie war drauf und dran, jeden Moment zu weinen. “Na sch-schön!”, ließ sich der Junge erweichen. “Juhu!”, freute sich Annemarie. Sie war sofort wie ausgewechselt. Die Tränen innerhalb eines Wimpernschlages getrocknet. Noch bevor Henrik zum Tresen des Spielwarenladen schreiten konnte, fiel sein Augenmerk auf das Preisschild. Sofort wurde ihm schwindlig. Da waren eindeutig zu viele Zahlen! “Nein, das kann ich nicht kaufen!”, stieß er aus. Wieder machte Annemarie ein Gesicht, als ob der Weltuntergang unmittelbar bevorstünde, und nur dieses Spielzeug war im Stande, ihn abwenden. “N-Na schön!”, ließ sich Henrik abermals erweichen. Er nahm seinen Geldbeutel und zählte das bisschen Gold, das er noch übrig hatte. “Ab heute nur noch E-Essen wie im Knast...”, murmelte er. “W-Wasser und hartes Brot...” Er kramte seine Münzen zusammen und erfüllte den Herzenswunsch des Mädchens. Sicher lag die Armbrust in den Händen der gedungenen Mörderin, als sie mit geneigtem Kopf und zugekniffenem rechten Auge ihr Ziel fixierte. Die mit einer Silberlegierung überzogene Spitze des Bolzen zeigte direkt auf den großen muskulösen Mann und folgte jeder seiner Bewegungen. Er schlenderte ahnungslos inmitten einer Menschenmenge. Kein Geruch und kein Laut warnte ihn vor seinem bevorstehenden Ableben. Als Cerise sich ihres Schusses sicher war, betätigte sie den Abzug und der Bolzen ging auf die Reise. Das Geschoss bahnte sich seinen Weg durch den Raum. Plötzlich schreckten die Massen eilig zur Seite, als eine Kutsche in einem Mordstempo über die Straßenkreuzung bretterte, ohne jede Rücksicht auf Verluste. Genau im rechten Moment, sodass der Bolzen im hölzernen Rahmen der Passagierkabine stecken blieb und das Leben des Mannes verschont wurde. Als sie ihren Schuss ins Leere gehen sah, setzte sich die Rothaarige wieder in Bewegung. Sie durfte ihr Ziel keinesfalls aus den Augen verlieren. Heute würde die Beute zu ihren Füßen liegen! Ein weiteres Mal legte sie an. Doch das Glück war ihr nicht hold und auch dieser Versuch scheiterte, als sich der Mann genau in dem Moment nach den Senkeln seiner Stiefel bückte, als sie den Abzug betätigte. Der Bolzen verfehlte und wart nie mehr gesehen. Vom Pech verfolgt, beschloss die Rothaarige, zu ihrem Ziel aufzuschließen. Wenn es ihr nicht gelang, ihm aus der Entfernung auszuschalten, so würde es im Schutz der Menschenmasse garantiert gelingen. Das sicherste Versteck für einen Attentäter war der Präsentierteller. Zwischen den Passanten konnte sie sich ungesehen anschleichen. Sie sprang vom Dach hinab in einen Heuwagen am Straßenrand und rollte sich aus ihm heraus. Eilig tauchte sie im Gedränge unter und schmiegte sich zwischen den Körpern der Fußgänger hindurch, immer näher ihrem Ziel entgegen. Ihr Stilett war unter dem langen Ärmel der schwarzen Kutte verborgen und bereit, tief in das Fleisch ihres Opfers hinein zu schneiden. Aber dann geschah etwas, worauf sie nicht vorbereitet war. Unerwartet drehte der Wind und riss ihren Geruch mit sich. Ihr Duft stieg dem Ziel in die Nase und veranlasste seine Flucht. Ein weiterer Fehlschlag! Es war, als wollte eine höhere Macht verhindern, dass dieser Mann heute durch ihre Hand sterben würde. Sie hatte schon viele Leben genommen, doch noch nie hatte eines ihrer Ziele einen vollbesetzten himmlischen Chor von Schutzengeln auf seiner Seite, welche nicht nur in jeder erdenklichen Oktave sangen, sondern auch über es wachten. Welche Erklärung gab es sonst dafür, dass ihr keiner ihrer Anschläge gelingen wollte? Sie ließ sich dazu hinreißen, dem Mann zu folgen. Eigentlich würde sie niemals vorstürmen, ohne vorher die Lage zu prüfen, doch ihre anhaltende Pechsträhne nagte an ihren Nerven. Sie wollte diesen verdammten Lykantrophen endlich zum Teufel schicken! Schubsend und schiebend ging es nur langsam voran, bis sie endlich aus der homogenen Masse auszubrechen vermochte. Eine Menschenmenge stellte nicht nur die perfekte Tarnung dar, sondern konnte gleichermaßen ein unüberwindbares Hinderniss sein, wenn es einmal schnell gehen musste. Zwischen erbosten Rufen und verdutzten Blicken vorbei, schob sich Cerise ins freie, wo sie ihr Ziel gerade noch in eine leere dunkle Gasse einbiegen sah. Ein wohlbekannter Duft erregte Clay. Er wusste nun, dass er verfolgt wurde. Eilig verließ er die Straße und flüchtete in eine Gasse. Er gedachte der Attentäterin eine Falle zu stellen und legte sich auf die Lauer. Es war genug! Heute würde er ihr Spiel von Katz und Maus beenden. Er musste nicht lange warten, bis sein Jagdmesser endlich zum Zuge kam. Jemand war hinter ihm. Er griff an. Eilig wich Cerise zurück. Dass er die Dreistigkeit besaß, ihr eine Falle zu stellen, war unerhört! “Ihr wollt Euch mir im Messerkampf entgegenstellen?!”, fragte sie mit gewohnt provokanten Unterton in ihrer Stimme. “Wollt Ihr Euch nicht lieber freiwillig hinlegen und sterben?”, setzte sie ihr Sticheln fort. “Ich hatte heute einen echt beschissenen Tag und das macht es für uns beide leichter!” “Wieso wollt Ihr mich töten?”, fragte Clay. “Könnt Ihr Euch das nicht selbst beantworten?” Ein verstimmtes Brummen verließ seinen Mund. “Ihr seid der Jäger, der seine Frau und Kinder gefressen hat. Mehr muss ich nicht wissen. Mir persönlich ist das egal, aber für jemanden ist es Grund genug, Euch töten zu lassen.” Clay machte sich auf einen Frontalangriff gefasst, als Cerise unvermittelt auf ihn zu stürmte. Er streckte seinen Arm nach vorn aus, um zuzustechen. Die Attentäterin trat zurück, streifte ihre Kutte ab und warf sie auf Clay. Während er sich aus dem Kleidungsstück befreite, eilte sie um ihn herum, um ihn hinterrücks zu erstechen. Clay setzte Cerises abgelegte Kutte gegen sie ein und schlug sie ihr entgegen. Das Stilett entglitt Cerises Griff und fiel zu Boden. Clay sah seine Chance, packte die Rothaarige an beiden Armen und drückte sie an eine nahegelegene Hauswand. Er machte sie vollkommen bewegungsunfähig, als er seine Knie gegen ihre Schenkel presste. Entgeistert sah Cerise ihr Opfer an. Sie war ihm ausgeliefert. Sie spürte das harte Mauerwerk in ihrem Rücken und der Atem des Mannes auf ihrer Haut. Das Gesicht des Mannes dem ihren so nah, fragte sie sich, wie es so weit kommen konnte. Ließ sie sich tatsächlich von ihm wie eine blutige Anfängerin überrumpeln? Sie verstand nicht, was mit ihr geschah. “Sagt mir wieso!”, forderte sie eine Antwort. “Wieso kann ich Euch nicht töten?” “Was redet ihr da?”, fragte Clay unverständig und zugleich erregt vom Objekt seiner Begierde direkt vor seinen Augen. Das Biest in ihm wollte der Frau die Kleider vom Leib reißen und es auf offener Straße sofort schamlos mit ihr treiben. “Jeder Anschlag auf Euch ist schief gegangen.” Clay glaubte, so etwas wie Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören, als sie ihn fragte: “Mit welcher Hexerei habt Ihr mich verwunschen, um Euch vor dem Tod zu bewahren?” “Ich habe nichts dergleichen getan!” “Aber wieso will es mir nicht gelingen, Euch umzubringen?” Beide sahen sich einen Moment lang in die Augen. Eine Spannung, stark genug, um eine moderne Großstadt mit Strom zu versorgen, lag in der Luft. “Habt Ihr schon mal daran gedacht, dass Ihr mich gar nicht töten wollt?” Cerise antwortete nicht auf diese Frage. “In Faringart hattet Ihr Eure Chance.” Die Rothaarige schwieg noch immer. “Ihr hättet nur zusehen müssen, wie mich der andere Werwolf zerfleischt.” Kein Wort verließ Cerises Lippen. “Doch Ihr habt stattdessen ihn getötet und mich gerettet!” Die Augen der attraktiven Attentäterin weiteten sich. Sie hatte nicht erwartet, mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. “Ich gestatte niemanden, mir zuvorzukommen!", rechtfertigte sie sich. "Euer Leben gehört mir!” “Warum nehmt Ihr es dann nicht?” Clay löste seinen Griff um sie und breitete seine Arme aus. “Los, nehmt Euch, was Euch gehört!!” Cerise fand darauf keine Worte mehr. In jenem Moment gab es nur eine passende Antwort. Sie umschloss Clay mit ihren Armen und küsste ihn leidenschaftlich. Als sich ihre Lippen trafen, schoss ein elektrisches Gefühl durch ihrer beider Körper. Clay packte sie und drückte sie zurück an das harte Mauerwerk. Danach setzten ihre Zungen den Kampf von eben auf einem gänzlich anderen Schlachtfeld fort. 🌢 Die Kutsche des wichtigsten Gastes überquerte die südliche Brücke der Hauptstadt. Zuvor hatte die Stadtwache für freies Geleit gesorgt. Pechschwarze Pferde zogen das Gefährt. Die Kabine bestand aus Ebenholz, verziert mit Ornamenten aus Blattgold und dunkle Gardinen verhinderten jeden Blick hinein in ihr Inneres. Die Kutsche erhielt Geleit von einem Reitergeschwader der Armee von Morgenstern. Eine Hand öffnete zaghaft einen Spalt und gab so einen Ausschnitt der Außenwelt preis. “Wir sind also in Ewigkeit?”, fragte eine Frauenstimme in der Dunkelheit. Sie gehörte Lezabel, der Prinzessin von Aschfeuer. “Das ist die Hauptstadt der freien Menschen”, bestätigte ein junger Mann. Sein Name war Alaric und er bekleidete den Rang des zweiten Prinzen des Imperiums. Die Frau pfiff abfällig. “Ich hatte sie mir opulenter vorgestellt, lieber Bruder. Doch was rede ich, es sind immerhin nur Menschen.” Derweil fuhr die Kutsche vor dem Palast vor. Der Kutscher stoppte das Gefährt und öffnete danach seinen Passagieren die Tür. Alaric wagte als erster seinen fahrbaren Untersatz zu verlassen. Sein Haupt verbarg er unter einer schwarzen Kapuze. Er schaute hinauf in den Himmel und wurde von der Sonne geblendet. Schützend hielt er die Hand vor das Gesicht. “Gebt acht, wir sind hier nicht in Vanitas!”, riet die Schwester. “Ich vermisse die Wolken! Diese Sonne ist furchtbar!” Drei Gestalten entstiegen der Kutsche und folgten ihm. Offenbar sollten sie seine Leibwache darstellen. “Hoffentlich ist diese Menschenfrau so minderwertig, wie der Rest dieser niederen Rasse”, spuckte Lezabel aus. “Dann kann unser Bruder ruhigen Gewissens eine richtige Frau heiraten und befleckt unsere Blutlinie nicht mit dieser Rassenschande!” Alaric wandte sich der Kutsche zu. “Wenn diese Frau Ehre besitzt”, führte der Prinz aus, “so will ich sie in unserer Familie willkommen heißen. Die Rasse spielt keine Rolle! Es sind die Taten eines Individuums, auf die es ankommt.” “Wenn Ihr meint…” “Wollt Ihr gar nicht aussteigen?” “Habt Ihr mal Euren Spaß auf diesem... Bankett. Ich muss noch einen alten Freund von mir besuchen.” Lezabel streckte ihre Hand aus der Passagierkabine und signalisierte dem Kutscher, er solle die Tür wieder schließen und weiterfahren. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und verschwand in Begleitung der Reiter alsbald vom Platz. Zusammen mit seiner Leibwache, schritt der Prinz an dem dekorativen Brunnen vorbei, unter den Kirschbäumen hindurch, dem Portal des Palastes entgegen. Nebula lud ihre Begleiter zu einem lehrreichen Mittagessen ein. Henrik und Annemarie waren der Einladung gefolgt, aber Clay ließ schon seit heute Morgen nichts mehr von sich hören. Ungeduldig und gereizt klopfte die Blondine mit den Fingern im Takt auf der Tischplatte. “Wo bleibt er?”, fragte sie zornig in die Runde. “I-Ihm wird doch ni-nichts passiert sein?”, sorgte sich Henrik. “Unsinn! Wir sind hier am sichersten Ort in ganz Morgenstern!” “Ich denke, ihm geht es gerade richtig gut!”, versicherte Annemarie. “W-Woher, willst d-du das wissen?”, erkundigte sich Henrik. “Das ist nur so ein Gefühl”, antwortete der Rotschopf, “aber ich fühle, das er gerade sehr viel Spaß hat.” “Wenn du das sagst”, flötete Nebula ingrimmig. "Gott soll ihm gnädig sein, wenn er später noch auftaucht!" Sie hoffte für Clay, dass er eine verdammt gute Ausrede parat hatte, um seine Abwesenheit zu entschuldigen. Ein schummriger Schein war alles, was die roten Gardinen passieren ließen. Er erhellte das kleine Zimmer einer zweitklassigen Absteige irgendwo in der Stadt in zwielichtigen Ambient. Ein Bett, ein Beistelltisch und ein Schrank befanden sich in diesem Raum. Das Nötigste, wenn man hier zu nächtigen gedachte. Doch einen Ort wie diesen sucht man aus anderen Gründen auf. Lustvolles Stöhnen hallte von den Wänden wieder. Clay kniff die Augen zusammen und seine Finger gruben sich in das Bettlaken ein. Heiliger Rubertus, flehte er in Gedanken, während sich die angestaute Energie entlud. “Was habt Ihr dort unten für Teufelszeug getrieben?”, fragte er außer Atem und völlig am Ende seiner Kräfte, als die Reizüberflutung ausgestanden war. Unter der Decke erhob sich eine Wölbung. Sie kroch an ihm hinauf, bis sie das Ende erreichte. Lange, kirschrote Strähnen kamen zum Vorschein und hingen hinunter in sein Gesicht, als sich Cerise beidarmig über ihn stützte. Ihre Haartracht war nicht mehr in einem Pferdeschwanz gebunden, sondern hing frei herunter. Sie berührten ihre Schultern, ihren Nacken und ebenfalls ihre Schlüsselbeine. Clay wollte den Blick nicht mehr von ihr lassen. Sie fuhr mit ihrer Zunge über die Oberlippe. “Ich verstehe mich nicht nur auf das Töten”, entgegnete die blasse Schönheit. “Einen guten Mord muss man feiern können.” “Es gab doch gar keinen Mord.” “Aber ich bin zum Sterben schön.” “Wenn Ihr so weitermacht, wird es mich noch töten!” “Wäre das nicht ein wundervoller Tod?” Cerise ließ sich langsam auf den muskulösen Mann unter ihr sinken. Clay fühlte die Erregung wie Blitze durch seinen gesamten Körper schießen, als seine Haut erneut mit jener der Attentäterin in Kontakt kam. Er umschlang sie mit seinen Armen und drückte ihre Brust an die seine. “Und was wollt Ihr dagegen tun?”, fragte Cerise ihn anschließend. Sie hauchte dem Schwarzhaarigen ins Ohr. “Mich beißen?” Nach diesen Worten entzog sie sich seiner Umarmung und erhob ihren Körper wieder. Plötzlich wurde sie von Clay gepackt und auf den Rücken gedreht. Sie stieß ein katzenartiges Geräusch aus. “Wollt Ihr mich gleich noch einmal nehmen?” Der Mann brachte sich über ihr in Stellung. “Solange ich keinen Pelz trage, kann ich Euch beißen, so viel ich will!” Er senkte sein Haupt und knabberte an Cerises Ohrläppchen herum. “Ist das ein Angebot?”, fragte sie erregt. “Da willige ich freudig ein! Ja, beißt mich, mein Wölfchen! Bitte, beißt mich!” Nur allzu gern erhörte er ihr Flehen. Nebulas Ungeduld erreichte eine neue Qualität. Sie wollte nicht mehr länger auf einen Mann warten, der nicht mehr erscheinen würde. Die Kerzen im Kronleuchter über dem Tisch waren auch schon zur Hälfte herunter gebrannt. “A-Also ich gl-glaube, der k-kommt heute nicht mehr!”, warf Henrik ein. Er konnte nicht ahnen, dass Clay gerade ganz andere Dinge im Kopf hatte, als mit diesem Übungsessen seine Tischmanieren zu trainieren. “Dann fangen wir ohne ihn an!”, erhob Nebula ihre Stimme erbost. “Wisst ihr, was das vor euch ist?” Sie deutete auf den gedeckten Tisch. “M-Messer und Ga-Gabeln?”, fragte Henrik. “Teller und Becher?”, ergänzte Annemarie. “Falsch!”, erwiderte Nebula. “Das sind nicht nur Messer und Gabeln, Teller und Becher. Vor euch ist der Tisch eingedeckt für ein ausgelassenes Festmahl.” “Wir haben Hunger”, begann Annemarie unerlaubt zu singen, “haben Hunger, haben Hunger haben Durst! Ich will jetzt essen!” Zornesadern traten aus dem sonst so hübschen Gesicht der Blondine hervor. “W-Was hast d-du, Nebula?”, versuchte Henrik vorsichtig den Grund für ihre Erregung in Erfahrung zu bringen, da er sie sich nicht erklären konnte. “Dies ist eine Übung!”, antwortete sie. “Wenn ihr es bis heute Abend nicht schafft, euch die grundlegenden Benimmregeln zu Tisch anzueignen, dann werde ich euch nicht auf das Bankett mitnehmen!” “Was?!”, entrüstete sich Annemarie. “Der Botschafter ist niemand geringeres als der zweite Prinz von Aschfeuer”, fuhr Nebula fort. “Ich werde nicht zulassen, dass ihr in seiner Anwesenheit Schande über mich und den Gastgeber bringt! Ihr werdet nun als erstes Lernen, welches Besteck zu welchem Gang benutzt wird.” “Warum sind da überhaupt so viele Gabeln und Messer?”, überlegte Annemarie. “R-Reichen nicht d-die Hände?”, grübelte Henrik. Nebulas Laune wurde durch diese Aussage nicht besser. “W-Was ist?” Die Blondine atmete schwer. “Also gut, hört mir zu”, sprach sie ein wenig gefasster. “Der Teller ist das Zentrum des Mahls. Um den Teller wird alles gruppiert, das man zum gediegenen einnehmen der Mahlzeit benötigt. Rechter Hand beginnend mit dem Suppenlöffel, folgt dann das Messer für die Vorspeise und anschließend jenes für den Hauptgang. Zur linken Hand habt ihr analog die Gabeln für Vorspeise und Hauptgang. Links davon der Brotteller. Das Besteck für die Nachspeise findet ihr über eurem Teller.” “W-Welchen Teller jetzt?”, unterbrach Henrik verwirrt. Nebula stöhnte genervt. “Na der direkt vor deiner Nase”, sagte Annemarie. Wenigstens schien sie mitzudenken. Das beruhigte Nebula etwas. “Die Becher für die Getränke werden, beginnend bei dem Alebecher, über den Messern platziert. Dort seht ihr also von rechts nach links Alebecher, Weissweinbecher und Rotweinbecher.” Nebula atmete kurz durch. “Auf dem Tisch befinden sich ebenfalls Wasserschalen, um die Hände von Speiseresten zu reinigen. Die Finger werden nicht - und ich wiederhole - NICHT an der Tischdecke abgewischt!” Entgeistert sackte Henrik zusammen. “W-Wie soll i-ich mir das alles merken?”, fragte er niedergeschlagen in die Runde. Die Teller und Becher sprangen in die Höhe, als Nebula aus Verzweiflung ihren Kopf auf die Tischplatte schlug. Clay lag noch immer zufrieden im Bett des abgelegenen Gasthauses und genoss den Anblick, als die verführerische Rothaarige ihren nackten Körper allmählich verhüllte. Er hatte bei weitem nicht genug. Sein Hunger nach ihr war noch lange nicht gestillt. Am liebsten würde er sie sofort noch einmal nehmen. Nichts in der Welt würde mit diesem Feuersturm der Leidenschaft konkurrieren können. Doch er fühlte sich von angenehmer Müdigkeit ans Laken gefesselt. Cerise spürte seine lüsternen Blicke. “Ihr seid wirklich ein Biest”, kommentierte sie sein Glotzen. “Stunde um Stunde und Ihr seid immer noch nicht vollends befriedigt?” “Wundert es Euch?”, erwiderte der Jägersmann. “Eigentlich nicht.” Vollkommen bekleidet, band sie nun ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. “Ich könnte mir selbst auch nicht widerstehen.” “Wieso habt Ihr das getan?” “Was getan?” “Mit mir geschlafen.” “Weil ich es wollte! Behauptet jetzt nicht, es hätte Euch nicht gefallen!” “Wie soll es nun mit uns weitergehen?” “Was, werdet Ihr jetzt etwa anhänglich?” Sie legte Stück für Stück ihre Waffen an. Es dauerte lange, denn es waren viele an der Zahl. “Wir hatten Spaß zusammen. Nicht mehr. Deshalb muss man nicht gleich heiraten.” “Ich meine, ob Ihr mich immer noch töten wollt?” Ein Grinsen erschien auf ihren Lippen. “Nicht, wenn Ihr mich weiter so gut unterhaltet.” “Habt Ihr keinen Auftraggeber, den Ihr Bericht erstatten müsst?” “Mir wird schon was einfallen.” Nach diesen Worten und dem Befestigen der Armbrust an ihrem Rücken verließ die Attentäterin das Zimmer und ließ Clay allein zurück. 🌢 Am Abend versammelte sich die Festtagsgesellschaft im linken Flügel des Palastes. Die Tafel wurde in Hufeisenform aufgebaut, sodass die Mitte des Ballsaales für Tänze zur Verfügung stand. Musikanten und Barden standen für die akustische Untermalung bereit. Nebula und ihre Begleiter hatten einen Platz am rechten unteren Ende der Tafel erhalten. Auf ihren Wunsch. Sie wollte sich nicht auf den Präsentierteller setzen. Während sie es vorzog, sich erneut unter einer Kutte zu verbergen, wenn auch eine des Anlasses angemessene, saßen Henrik und Annemarie in ungewohnt feiner Gewandung zu Tisch. Auch Clay war zu ihnen gestoßen. Allerdings hatte er ihnen weder verraten, wo er all die Stunden verbracht hatte, noch was ihm in dieser Zeit widerfahren war. Die anderen hatten es widerwillig hingenommen, um keine Szene zu machen. Clay saß links neben Nebula, Annemarie rechts. Und neben dem Mädchen hatte Henrik seinen Platz gefunden. Er war froh, Annemarie zwischen sich und Nebula zu haben. Sein Herz würde sonst explodieren. Am Kopf der Tafel saßen der König und die Prinzessin mitsamt den royalen Beratern. Neben der Prinzessin war ein Platz frei. Er gebührte dem Ehrengast, dem Botschafter des Kaiserreichs. Alle anderen Gäste fanden entweder auf der linken oder der rechten Seite Platz. Die Tür zum Ballsaal öffnete sich und ein Mann trat ein, um die Ankunft jenes Botschafters anzukündigen. “Der zweite Thronfolger des Kaiserreichs Aschfeuer:”, sprach er, “Begrüßt mit mir unseren durchlauchtigsten Gast, Prinz Alaric von Aschfeuer!” Er trat beiseite und verneigte sich so tief er konnte, ohne dass ihm das Kreuz brach. Ein Mann mit langem Mantel und einer schwarzen Kapuze betrat in Begleitung mehrerer Leibwächter den Saal. Er setzte seine Kopfbedeckung ab und enthüllte seine spitzen Ohren, welche zwischen seiner aufgewühlten Frisur vom Schädel abstanden. Die Gäste beäugten ihn perplex. Viele hatten nicht damit gerechnet, dass der Botschafter tatsächlich eines der Kinder des Kaisers seien würde. Alaric streifte seinen Mantel ab und Übergab ihn an einen seiner Leibwächter. Danach nahmen dieser und die anderen eine Position nah des Ausgangs ein, und warteten auf weitere Befehle ihres Meisters. Eine Palastwache trat an Alaric heran. “Eure Hoheit, darf ich um Eure Waffe bitten?”, fragte er so respektvoll wie möglich und deutete auf dessen Schwert, welches nun durch das Fehlen des Mantels für alle sichtbar geworden war. “Hier sind Waffen nicht gestattet.” “Meine Waffe?!”, entrüstete sich der Elf. “Wollt Ihr mich beleidigen? Sie ist ein Zeichen meiner Ehre! Verlangt Ihr von mir, meine Ehre abzulegen?!” “Aber natürlich nicht! Aber die Regeln-” Der König signalisierte mit einer Handbewegung, dass es dem Gast gestattet war, seine Waffe zu behalten. Daraufhin verneigte sich die Wache und trat beiseite. “Ich glaube, er geht sogar mit dem Ding ins Bett”, lästerte Nebula. Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um einem Lachen vorzubeugen. Alaric sah sich um. Sein Gesichtsausdruck wirkte wenig begeistert. Seine Erwartungen an das Königreich der Menschen waren sowieso niemals besonders hoch gewesen, doch offenbar wurden sie noch bei weitem unterboten. Seine Ehre gebot es, dass er es schweigend hinnahm, um den Gastgeber nicht zu beleidigen. Er schritt rechter Hand um das Hufeisen herum und kam so an Nebula und den anderen vorbei. Alarics und Nebulas Augen trafen sich für einen Moment. Ein seltsames Gefühl überkam beide gleichermaßen. Nachdem sie kurze Blicke ausgetauscht hatten, setzte er seinen Weg fort und nahm seinen angestammten Platz neben der Prinzessin ein. Das Festmahl konnte nun beginnen. Nachdem die Nachspeise serviert und verzehrt war, begannen die Tänze. Entgegen Nebulas Befürchtungen, war es ihren Begleitern gelungen, halbwegs anständiges Verhalten zu Tisch an den Tag zu legen. Zwar verwechselte Henrik die Salat- mit der Fischgabel, doch war dieses Malör niemandem aufgefallen. Während Henrik und Annemarie sich nun auf der Tanzfläche austobten, sah Nebula zum Stuhl der Prinzessin und dem des Botschafters. Dies war das Ergebnis einer Kette von Ereignissen, die vor drei Jahren ihren Anfang nahm. Das wilde Treiben kam allmählich zu einem Ende. Mindestens eine halbe Stunde hatten sie getanzt. Nun räumten die Paare nach und nach die Tanzfläche, um für das große Finale des Banketts Platz zu schaffen: Dem Tanz des Botschafters mit der Prinzessin. Henrik und Annemarie waren die letzten, die zu ihren Sitzen zurückkehrten. Prinz Alaric erhob sich und reichte Prinzessin Emelaigne die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Gemeinsam schritten sie um die Tafel herum und betraten die Mitte der Tanzfläche. Dort angekommen, reichten sie einander die rechte Hand und begannen sich zu umkreisen. Sie sprangen dabei abwechselnd mit dem linken und dem rechten Bein ab und kamen sich dabei mal näher, und mal entfernten sich. Die Musikanten spielten ihre Instrumente und die Gäste klatschten verzückt im Takt. Plötzlich stoppte Alaric in seiner Bewegung. Er sah seine Tanzpartnerin mit ernstem Blick an, legte eine Hand auf ihre Wange und neigte dabei ihren Kopf ein Stück. “Wie ist es um Eure Ehre bestellt?”, fragte er sie unerwartet. Sie verstand nicht. “Wenn man etwas verspricht, sollte man es auch halten. Habe ich nicht Recht?” Er ließ ihre Wange los, streckte seinen Arm zur Seite aus und spreizte die Finger seiner Hand. “Und meinem Bruder wurde die Prinzessin versprochen!” Nebulas Augen weiteten sich. Diese Pose kannte sie nur zu gut. Von sich selbst. Als plane der Prinz aus Aschfeuer vor versammelten Gästen eine böse Macht zu entblößen. “Trenne Körper und Geist!”, sprach der Elfenprinz, “Anima!” Sein Arm hüllte sich in blaue Flammen ein. Zwischen ihnen schimmerte etwas schwarz Glänzendes hervor. Fast wie ein lebendiges Wesen wand es sich an Ober- und Unterarm hinunter. Alarics Hand umklammerte das Teilstück unter der Spitze. Eine lange schwarze Kette war nun um seinen Arm gewickelt und kam einfach nicht zur Ruhe. An ihrem Ende befand sich eine metallene Klinge. Sie wirkte und handelte fast wie eine Schlange. Also verfügte er tatsächlich über vergleichbare Kräfte? Angsterfüllt trat die Prinzessin zurück. Alaric stieß die Kette zu seiner Tanzpartnerin. Sie durchdrang Emelaigne, ohne ihr einen körperlichen Schaden zuzufügen. Doch auf ihren Weg riss sie etwas mit sich. Eine weiße Energie entwich ihrem Körper und sammelte sich in Alarics linker Hand. Anima hatte ihre Seele aus ihr herausgezogen. Vollkommen versteift blieb das Mädchen stehen und zeigte keinerlei Bewegung mehr. Laute des Entsetzens fuhren durch die Festtagsgesellschaft. Alle waren wie gelähmt. Einem der Musikanten entglitt die Laute. Einem Adligen fiel der Becher aus der Hand, sodass sich der Rotwein über die Tischdecke ergoss. Ein anderer fiel vom Stuhl, bei seinem Versuch aufzustehen und Schutz zu suchen. Die Wachen umklammerten ihre Waffen und posierten hilflos in Drohgebärden, um ihre eigene Furcht zu verbergen. Nebula wollte aufspringen und einschreiten. Doch Annemarie verhinderte es, indem sie ihre rechte Hand umklammerte. “Was soll das?!”, stellte sie sie zur Rede. Dabei fiel ihr Blick unvermittelt auf das Gesicht des Mädchens und sie sah dessen angstvoll geweiteten Augen. Sie wirkten, als seien sie auf die Größe von Untertassen angewachsen. Sie spürte das Schlottern des Mädchens. So hatte sie Annemarie noch nie erlebt. “Nein!”, wimmerte der Rotschopf. “Du darfst nicht gegen ihn Kämpfen! Er ist zu stark!” “Ich kann doch nicht-” “NEIN! Du wirst verlieren! Du wirst-!” “Aber ich-” Sie stockte, als laut Handflächen auf der Tischplatte aufschlugen. Der König hatte sich erhoben. Nun deutete er mit zitternden, nacktem Finger und Beben in der Stimme auf den Prinzen der Schwarzelfen. “Wachen! Ergreift ihn!” Auch ihn plagte die Furcht. Doch Angst zu haben, war ein Luxus, den er sich als Herrscher von Morgenstern nicht erlauben durfte. Wenn er Angst zeigte, wer sollte dann seinen Untertanen Zuversicht spenden? “Betrug ist unehrenhaft!”, verkündete Alaric derweil lauthals und wandte sich den Besuchern zu, von denen nur wenige fassten, was sich vor ihren Augen zutrug. “Das ist nicht Emelaigne Morgenstern! Lasst euch nicht von eurem eigenen König an der Nase herumführen!” Als die Wachen dem Befehl ihres Königs Folge leisten und Alaric gefangen nehmen wollten, stellten sich ihnen die Leibwächter des Prinzen kampfbereit und mit gezogenen Schwertern, entgegen. “Schützt den Prinzen!”, sagte einer von ihnen. “Männer, ihr seid im Weg!”, tadelte Alaric. “Seht zu, dass ihr Land gewinnt, oder wollt ihr ebenfalls eure Seelen verlieren?!” “Jawohl, Eure Hoheit!” Die Leibwächter manövrierten sich an den Palastwachen vorbei, während sie es nicht unterließen, sie weiter mit ihren Waffen zu bedrohen. Als seine Männer nicht mehr in Reichweite waren, schwang Alaric seine Waffe und vollzog eine volle Drehung. Dabei fuhr Anima durch die Körper seiner Gegner, wie zuvor durch jenen der falschen Prinzessin, und abermals entriss sie eine weiße Energie, welche der Prinz in seiner linken Hand konzentrierte. “Ich sagte, ergreift ihn!”, forderte der König. Doch seinem Befehl leistete keiner mehr Folge. Alaric stand im Zentrum eines Zirkels aus Wachsfiguren. Männer, starr und steif in ihrer Bewegung eingefroren, standen da und Umklammerten noch immer ihre Waffen. Ihre Augen fischig, matt und ohne Glanz. Alaric gab seinen Leibwächtern ein Zeichen und setzte zum Gehen an. “Kommt, wir verlassen diese Scharlatane!”, sprach er zu seinen Begleitern. Und es hatte ganz den Anschein, als würde es niemand mehr wagen, ihn aufzuhalten. Die zuerst in sich gekehrte, stille Angst der Gäste erwuchs rasch zu ausgeprägter, geräuschvoller Panik. Sie wollten fliehen, aber wohin? Der einzige Ausgang des Ballsaals war auch der, den Alaric von Aschfeuer nahm. Noch immer gefesselt vom eisernen Griff des zierlichen, kleinen Mädchens, sah sich Nebula zur Untätigkeit verdammt. “Lass mich los, du Göre!”, tobte sie. Es war ihr gar nicht aufgefallen, dass Annemarie ihre Hand ergriffen hatte. Aber inzwischen ließ sie sie nicht mehr los. “Nein!”, weigerte sich das verängstigte Kind. “Wenn ich das tue, wirst du sterben.” Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und starrte sie voller Verzweiflung an. “W-Was ist hier e-eben p-passiert?”, haspelte Henryk einen Satz zusammen, als er endlich seine Sprache wiederfand. “Ich weiß es nicht”, antwortete Clay. Die Haare auf seinen Armen hatten sich aufgestellt. Jede einzelne Faser rief “Gefahr” und seine tierischen Instinkte befahlen ihm, den Palast und die Stadt auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Nicht wegen des Elfenprinzen. Er spürte noch etwas viel Böseres. Arngrimir, der Hofzauberer, hielt nichts mehr auf seinem Platz. Beinahe unmöglich agil für einen Mann seines Alters, sprang der Hofzauberer von seinem Stuhl. Er eilte zur still und starr verharrenden falschen Prinzessn und nahm sie in Augenschein. “Interessant!”, sagte er, während er mal in die eine, mal die andere Richtung um sie herum schritt und dabei jeden Millimeter ihres Körpers musterte. Er berührte ihre Hand und bewegte ihre Finger. Sie ließen sich anstandslos in eine andere Position bringen und behielten ihre neue Lage bei. Das Gleiche, als er ihren Kopf packte und vorsichtig neigte. “Höchst interessant!” Als nächstes sah er in ihre Augen. Sie hatten noch immer ihre Farbe, doch ihr Glitzern war erloschen. Wie ein Feuer, dem der Brennstoff fehlte. Es hatte den Anschein, als würden sie einfallendes Licht schlucken. Als falle es in eine Untiefe hinein. In ein bodenloses Loch, das kein Ende nahm. “Wie Bitte?!”, eschauffrierte sich Nebula. “Was ist daran interessant!” Sie gab noch nicht auf, ihre Freiheit von Annemaries Hand zurückzuerlangen, und zerrte weiter. Aber die ließ sie einfach nicht los. Nebula funkelte das Mädchen mit ihren rotglühenden Augen an. “Lasse sofort meine Hand los oder ich hacke deine ab!”, schüchterte sie das Kind ein. Und es wirkte. Annemaries griff lockerte sich. Nebula riss sich von dem Rotschopf los und eilte der Erstarrten entgegen. Sie drängte den neugierigen Zauberer bei Seite und umarmte ihre Freundin. “Was ist mit dir?”, fragte sie sie. Natürlich erhielt sie keine Antwort. Derweil mühten sich die übrigen Palastwachen auf Befehl des Königs, die aufgescheuchte Festtagsgesellschaft zu beruhigen. Der Zauberer sah sich derweil ihre unglücklichen Kameraden an, die ebenfalls das Schicksal teilten, erstarrt zu sein. Er konnte auch bei ihnen identische Symptome bestätigen. “Das ist wirklich sehr interessant”, murmelte er immer wieder. “Könnt Ihr noch etwas anderes sagen?!”, fauchte Nebula den königlichen Berater an. “Oh, vergebt mir!”, entschuldigte sich Arngrimir. Das Phänomen dieser vermeintlichen Versteinerung hatte ihn so sehr in seinen Bann gezogen, dass er nicht in Betracht zog, wie seine Aussagen auf andere wirken könnten. “Was ist mit ihnen geschehen?” “Ich bin mir nicht sicher.” Der Zauberer zog weitere Kreise um die Opfer des Prinzen. “Aber er könnte ihnen die Seele gestohlen haben.” “Dieses spitzohrige Dreckschwein!” Vorsichtig legte Nebula die vermeintliche Prinzessin auf den Boden und kniete sich neben sie. “Ich werde dich retten!” Sie erhob sich und trat Arngrimir gegenüber. “Wie kann ich ihnen helfen? Wie ist es überhaupt möglich, jemanden die Seele zu stehlen?” “Er hatte eine Teufelswaffe.” Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. “Trenne Körper und Geist”, wiederholte Nebula Alarics Worte. “So hat er sie beschworen.” Während sie in die Leere starrte, sah sie die Abläufe vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Sie fixierte den bärtigen Mann im Magiergewand. “Wenn ich Euch seine Hand bringe, könnt ihr sie dann retten?” “Es wäre möglich.” “Wäre auch eine klare Aussage möglich?” “Die Seelen müssen nicht zwangsläufig in seiner Hand verbleiben.” Nebula Augen funkelten abermals rot auf. “Dann schleife ich eben seinen stinkenden, massakrierten Kadaver zu Euch.” Zwei mutige Wachen wurden von Anima durchdrungen, als sie versuchten, den Prinzen von Aschfeuer aufzuhalten. Auch ihre Energien sammelte Alaric auf. Nun waren die Männer Teil dieses Wachsfigurenkabinett des Grauens, wie schon die anderen vor ihnen. “Eure Hoheit”, sprach einer seiner Leibwächter Alaric unvermittelt an. “Darf ich fragen, warum Ihr vorhin im Thronsaal-” “Nein darfst du nicht!”, fiel ihm der Prinz ins Wort. “Entschuldigt, Eure Hoheit!” “Diese Frau war nicht die Prinzessin”, antwortete er nun doch auf die Frage. “Sie haben uns belogen. Und wer lügt, ist ehrlos! Wenn ich etwas verabscheue, ist es Ehrlosigkeit!” “Verzeiht die Frage, aber woher wusstet Ihr es?”, fragte ein zweiter Leibwächter. “Prinzessin Emelaigne von Morgenstern soll einen Leberfleck unter dem linken Auge haben”, erklärte Alaric. “Und diese hatte k-” Er stockte. Plötzlich kam es ihm wieder in den Sinn. Er erinnerte sich, dass er in der Tat jemanden gesehen hatte, auf den diese Beschreibung zutraf. “Was ist, Eure Hoheit?” “Diese Frau unter der Kutte!” Er war schon im Begriff, sich umzudrehen, als er etwas näher kommen fühlte. Und es war ihm keineswegs freundlich gesonnen. Jemand kam im rasantem Tempo aus dem Thronsaal gerannt. Dabei handelte es sich um seine Bekanntschaft von vorher. Nur ihre Kutte hatte sie abgelegt. Die Ähnlichkeit mit der jungen Frau, deren Seele er genommen hatte, war erstaunlich. Ihre Hände umklammerten den Griff eines riesiges Schwert. Es war so gewaltig, dass es den Anschein hatte, sie könne es kaum tragen. So gewaltig, dass es den Boden entlang schliff, den Teppich aufschlitzte und den Steinboden zertrümmerte. “Bastard!”, schrie sie ihm mit wehklagender Stimme entgegen. Die Leibwächter brachten sich vor Alaric in Position, doch ihr Schutzbefohlener wollte ihre Dienste nicht, quetschte sich zwischen ihnen hindurch und fing den Hieb des riesigen Schwertes mit der Kette von Anima ab, welche er zwischen beiden Händen spannte. Trotz dessen breitete sich hinter ihm eine Druckwelle aus, welche seine Männer von den Füßen riss, bis zum Ende des Ganges jedes einzelne Fenster zerschmetterte, den Staub der letzten Dekade aufwirbelte und sämtliche Fackeln löschte, sodass es finster wurde. Einzig die erstarrten Wachen blieben stehen. Alaric und die Frau starrten sich an. Rote glühende Augen sahen in rote glühende Augen. “Beeindruckend”, erkannte der Prinz die Fähigkeiten seiner Gegnerin an. Sie war die Trägerin des Muttermals. Sie war die, die er suchte. Er konnte sein Herz vor Aufregung und Freude klopfen hören, angesichts eines weiteren ehrenvollen Kampfes. “Ihr seid also die Echte!” Inzwischen war die kleine Annemarie in Tränen ausgebrochen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Gedanke, sie nicht aufgehalten zu haben, quälte sie. Die Zukunft ihrer Freundin lag an einem finsteren Ort, von dem es keine Wiederkehr gab. Henrik umarmte das Kind. “D-Das war schr-schrecklich, ich weiß”, versuchte er sie zu trösten. “A-Aber alles wird gut!” Clays Riechorgan nahm erneut diesen merkwürdigen Geruch nach altem Pergament bei dem Mädchen war. Warum rochen ihre Ausdünstungen wie eine ganze Bibliothek? Dieses Kind war ihm schon vom ersten Moment an suspekt. “Gar nichts wird gut”, flennte Annemarie. “S-Sag sowas n-nicht!” Annemarie schlang ihre Arme um Henrik und legte ihren Kopf auf seine Schulter. “Sie wird sterben!”, weinte sie. Die Tränen, die aus ihren Augenwinkeln quollen, waren seltsam dunkel, fast wie Tinte. “B-Blödsinn!”, versicherte Henrik, der sie nicht sehen konnte. “N-Nicht unsere fachmännische A-Arschaufreißerin!” Das Mädchen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, sodass keine Spur von ihnen blieb. Es löste die Umarmung und ergriff Henryks Hände. Ein flüchtiges Lächeln zuckte über Annemaries Lippen, als sie ein weiteres Bild der Zukunft empfing. Sie sah Henryk tief in die Augen. “Es gibt nur einen, der sie retten kann. Und das bist du!” “W-Was, i-ich?”, stotterte der braunhaarige Junge ungläubig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)