Morgenstern von totalwarANGEL ================================================================================ Kapitel 1: Teufelsweib ---------------------- 🌱 Die Glocke im Kirchturm schlug gerade zur zwölften Stunde. Unerbittlich brannte der heiße Feuerball herunter auf Gottes Erde, als habe er vergessen, dass er eigentlich ihr Lebensspender war. Sengende Hitze brutzelte den Marktplatz von BĂ€renhag. Zum Westen und zum Osten hin erlaubte die Straße den wuseligen Massen an Besuchern den Platz zu fluten. An den beiden anderen Seiten sĂ€umten die Fachwerke der HĂ€user den geschĂ€ftigen Umschlagplatz. Dunkles Holz und heller Putz standen im Kontrast zueinander. GrĂŒn angemalte LĂ€den verschlossen die meisten Fenster, damit die Hitze draußen blieb. Eine schwarz-weiß gescheckte Katze nutzte das Vordach als Catwalk, bis sie in einem der wenigen offenen Fenster verschwand. Auf dem Markt gab es kaum feste StĂ€nde. Die meisten VerkĂ€ufer schlugen ein Zelt auf und stellten ihre Waren auf Tischen zur Schau. Die wöchentlich verpachteten StandplĂ€tze waren unter den HĂ€ndlern sehr begehrt. Grund genug, selbst an einem heißen Tag im August nicht auf den Umsatz zu verzichten. Seltene Stoffe und Seide aus fernen LĂ€ndern, aber auch tĂ€gliches Allerlei, wurden feilgeboten. Die Schweinehirten trieben ihre Herden zum Schlachter. Und die Tischler, Schneider, Schmiede und alle anderen Handwerker versuchten ihre Erzeugnisse in bare MĂŒnze umzuwandeln. VollstĂ€ndig von einem braunen Kapuzenmantel verhĂŒllt, wandelte eine fremde Gestalt ĂŒber den Marktplatz. Sie stach heraus, denn sie trug ein BĂŒndel Geschmeide bei sich. Jeder ihrer Schritte klang dumpf, wie von schwerem Schuhwerk. “Seltene GewĂŒrze!”, rief es aus der einen Ecke. “Erlebt den Wohlgeschmack des Orient und Okzident mit Pfeffern aus allen Teilen der bekannten Welt!” Doch den Besucher kĂŒmmerte es nicht. “Meine Tinkturen werden Euch nachts gute Dienste leisten!”, pries ein Apotheker seine Tinktur an. “Auf den Phallus aufgetragen, macht es ihn hart wie Stahl!” Dabei kam er dem Fremden unangenehm nah. “Eine Liebesschlacht zu spĂ€ter Stunde wird fĂŒr Euch stets siegreich und fĂŒr den Beischlaf Ă€ußerst befriedigend enden.” Unerwartet wurde der aufdringliche Mann von dem verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig kleinen Fremden am Schlafittchen gepackt und hoch gehalten, sodass seine FĂŒĂŸe den Bodenkontakt verloren. “Haltet Abstand!”, wies ihn der Fremde zurecht und setzte den Apotheker anschließend unsanft ab. Dieser verneigte sich und suchte schnellstens das Weite. “Teppiche! Wundervolle Teppiche!”, verlautete der TextilhĂ€ndler. So einen hatte der Fremde gesucht. Er gab dem HĂ€ndler das BĂŒndel und erhielt einen prallen Beutel mit MĂŒnzen. Sein Ziel war erreicht. Nun spĂŒrte er allerdings seinen Magen knurren. Die verfĂŒhrerischen DĂŒfte zeigten schließlich ihre Wirkung. Aber der TextilhĂ€ndler war nicht der richtige Ansprechpartner. Einen Teppich konnte man nicht essen. “Hungrig?”, fragte es von der Seite. “Versucht es doch dort hinten beim FischhĂ€ndler. Die Suppe ist einzigartig!” Im nĂ€chsten Moment ging der EigentĂŒmer der Stimme in der Masse unter und wart nie wieder gesehen. Der Fremde suchte den Marktstand auf, wie ihm geheißen wart. Vom RĂ€ucherfisch bis zum Brathering war alles dabei, was eine Flosse besaß. Inmitten des Standes befand sich ein großer Kessel. Aus ihm stieg ein verfĂŒhrerischer und ĂŒberhaupt nicht fischiger Duft auf. Dies musste die berĂŒchtigte Fischsuppe sein. Alsbald belegte der Fremde einen der Hocker. Gleich nebenan versuchte ein Schmied, seine Waren loszuwerden. Er war noch jung, vielleicht siebzehn Jahre alt. Angebot besaß er reichlich, aber kein Kunde zeigte Interesse. “Metallerzeugnisse aller Art!”, rief der Junge. “Egal ob Werkzeug der Schöpfung oder der Zerstörung. Bei mir bekommt ihr alles! Henrik, der Schmied, hat etwas fĂŒr jeden Geschmack!” Doch Henriks MĂŒhen waren vergebens. Niemand blieb stehen, um seine Waren anzusehen, geschweige denn zu erwerben. “Wenn das so weitergeht, kann ich meine Pacht nicht mehr bezahlen!” Der junge Schmied ballte die Hand zur Faust und schlug auf den Tisch vor sich. “Verdammt!” Seine Geldsorgen waren zu offensichtlich. Er fĂŒrchtete, so niemanden fĂŒr sich gewinnen zu können. Sein mangelnder Umsatz hing ĂŒber ihm wie eine schwarze Aura. “Ich muss mir etwas einfallen lassen.” Da kam ihm eine Idee. “Sonderangebot!”, rief er aus voller Kehle. “Zwei zum Preis von einem! Aber nur solange der Vorrat reicht.” Noch immer scherte sich keiner um ihn und seine Waren. “Niemand?!” Offenbar wĂŒrde der Vorrat die nĂ€chste Zeit nicht ausgehen... Als er schon verzweifeln wollte, nĂ€herten sich unerwartet drei MĂ€nner. Keiner von ihnen sah besonders erfreut aus, ihn zu sehen. Henrik jedoch freute sich fĂŒr sie mit. Der Anfang war gemacht und bald wĂŒrden sie ihm die Bude einrennen. Zumindest hegte Henrik diese Hoffnung. Auf einmal dĂ€mmerte ihm, dass diese MĂ€nner schon einmal bei ihm waren. Jeder von ihnen hatte etwas erstanden. Sie mussten zurĂŒckgekommen sein, weil sie von der QualitĂ€t seiner Werkzeuge und GerĂ€te ĂŒberzeugt waren. “Willkommen zurĂŒck, meine Herrschaften”, grĂŒĂŸte er die MĂ€nner. “Haben Euch meine Waren so gut gefallen, dass Ihr gleich mehr davon haben wollt?” Die finsteren Mimen der MĂ€nner erhellten sich kein bisschen, egal wie sehr sich Henrik bemĂŒhte, freundlich zu lĂ€cheln. “Sag mal, willst du mich verarschen, Bengel?”, fragte der Erste ungehalten. Er griff in eine Tasche und holte einen Hammer mit hölzernem Griff hervor. “Was ist das hier?!”, fragte er mit erhobener Stimme. “Ei-Ein Hammer?”, entgegnete Henrik. “MĂŒll!” Der Mann schĂŒttelte den Hammer hektisch umher. “MĂŒll ist das!” Als er das SchĂŒtteln einstellte, löste sich wie auf Bestellung das metallene Gewicht vom Stil, fiel herunter und schlug dumpf auf seinem Fuß auf. Der Mann verdrehte die Augen, hielt sich den Fuß und hĂŒpfte auf dem anderen herum. “Aua! Aua! Aua!” “Upps
”, kommentierte der junge Schmied. Die vermummte Gestalt nahm inzwischen die Fischsuppe zu sich, die sie kurz zuvor bestellt hatte. Die GerĂ€uschkulisse der wĂŒtenden Kunden erregte ihr Interesse. Fragend sah sie den VerkĂ€ufer gegenĂŒber an. “Was ist dort los?”, fragte ein zur HĂ€lfte immer noch von der Kapuze verborgenes Gesicht. Die unerwartet weiche Stimme gab dem VerkĂ€ufer zu denken. Bis jetzt glaubte er, einen jungen Mann vor sich zu haben. Aber lag er damit vielleicht falsch? “Nun
”, antwortete der FischverkĂ€ufer gelassen. “Gleich wird Henrik wieder windelweich geprĂŒgelt. Ist nichts besonderes! Das passiert zweimal die Woche.” “Warum denn das?” “Weil er der schlechteste Schmied der ganzen Stadt ist und jeder, der seinen Schund ersteht, ihm danach eine verpassen will. Ich hab ihm einmal eine Kelle um die Ohren gehauen. Sie ist nach dem ersten Treffer auseinander gefallen. Einfach keine QualitĂ€t!” Der Gast sah hinĂŒber zu Henrik, welcher sich weiterhin mĂŒhte, die Aufgebrachtheit der unzufriedenen Kunden wegzulĂ€cheln. “So ein Versager...” Inzwischen hatte der erste aufgebrachte Kunde aufgehört, auf einem Bein zu hĂŒpfen, als die Wellen des Schmerzes ausgestanden waren. Allerdings schien er noch immer nicht so gut zu Fuß zu sein. Das Stehen war ihm noch immer eine Pein. “Und was ist mit mir?”, skandierte der zweite aufgebrachte Mann. “Mir hast du einen Kessel verkauft.” “Seid Ihr damit nicht zufrieden?”, erkundigte sich Henrik vorsichtig. “Der Kessel hatte sogleich ein Loch als er das erste Mal befĂŒllt wurde!” “Das kann man bestimmt flicken...”, beschwichtigte Henrik. Urplötzlich wurde Henrik vom dritten Mann gepackt. Er zog Henrik ĂŒber den Tisch und rĂŒttelte ihn, als hielte er ihn fĂŒr einen Obstbaum und wolle reife FrĂŒchte aus der Krone schĂŒtteln. “Und natĂŒrlich sollen wir dafĂŒr zahlen, dass du deinen eigenen Pfusch ausbĂŒgelst”, schnaubte der Mann. “I-Ich muss auch von etwas leben!”, entgegnete Henrik eingeschĂŒchtert. “Wenn ich mit dir fertig bin, lebst du gar nicht mehr!” Gerade als der Mann mit geballter Faust ausholte, um den jungen Schmied, den er noch immer am Hemdkragen hielt, eine kostenlose Zahnkorrektur zu verpassen, wurde er von dem GerĂ€usch eines zu Boden fallenden SĂ€ckchens voller MĂŒnzen gestoppt. “Hey!”, rief ihm jemand zu. “Wenn es Gold ist, das Ihr wollt, nehmt den Sack und verschwindet!” Es war der Fremde, der die ganze Zeit unscheinbar nebenan gegessen und zugesehen hatte. “Was mischt Ihr Euch da ein?”, fragte der Mann. “Lasst uns ihn vermöbeln, sonst dreht er Euch auch noch seinen Schund an!” “Nehmt das Gold und verschwindet! Ich werde das kein drittes Mal sagen!” “Ihr solltet den Mund nicht so voll nehmen! Ihr klingt, als sei Euch noch kein einziges Haar am Sack gesprossen, BĂŒrschchen! Wenn Erwachsene sprechen, haben Kinder Sendepause!” Der Mann ließ von Henrik ab und stĂŒrmte stattdessen auf den Fremden zu. Die Hand war noch immer zur Faust geballt und bereit zuzuschlagen. “Ich habe Euch gewarnt!” Der Fremde packte die Hand des Angreifers. Der wĂŒtende Kunde spĂŒrte, wie der Griff um seine Hand immer fester und fester wurde. Die anderen beiden konnten fast fĂŒhlen, wie ihm die Hand gebrochen wurde, als es laut knackte und ihm die Beine weich wurden. Auf den Knien hockend jammerte er, wĂ€hrend sein GegenĂŒber noch immer nicht von seiner Hand abgelassen hatte. Henriks Mund stand sperrangelweit offen. “Werden du und deine Freunde den Jungen in Ruhe lassen?”, fragte der Fremde. Der Mann nickte hektisch mit dem Kopf, wĂ€hrend ihm die TrĂ€nen wie SturzbĂ€che ĂŒber die Wangen strömten. Der Fremde ließ seine Hand wieder los. Daraufhin rutschte der Mann Ă€ngstlich auf allen Vieren rĂŒckwĂ€rts zurĂŒck zu seinen Freunden, ohne dabei seinen Peiniger aus den Augen zu lassen. Die anderen halfen ihm auf und gemeinsam ergriffen sie die Flucht. WĂ€hrenddessen hob der KuttentrĂ€ger das SĂ€ckchen mit den MĂŒnzen wieder auf. “Ihr habt eure EntschĂ€digung vergessen!”, rief er den MĂ€nnern hinterher. Aber sie waren zu sehr mit ihrer Flucht beschĂ€ftigt und hörten es nicht. “Dann eben nicht!” Daraufhin steckte er den Beutel in seinen Mantel. Henrik war noch immer Ă€ngstlich, als der Fremde unter der Kutte auf ihn zukam. Er fĂŒrchtete, als nĂ€chstes die Knochen gebrochen zu bekommen. SchĂŒtzend nahm er seine Arme hoch und drehte sich weg, als der Fremde nĂ€her kam. “Du brauchst keine Angst zu haben”, sagte der Fremde. Er entledigte sich der Kapuze. Erstaunt stellte Henrik fest, der Fremde war ein MĂ€dchen. Etwa in seinem Alter. Henrik nahm die HĂ€nde herunter. Er betrachtete die Jugendliche. Ihre Augen waren so blau wie der Himmel und ihre Haare so golden wie die Gerste im Hochsommer. Unter ihrem linken Auge hatte sie einen winzigen Leberfleck. Sie war so unglaublich hĂŒbsch, so eine hatte er noch nie gesehen! Kein MĂ€dchen und keine Frau in BĂ€renhag war auch nur annĂ€hernd so schön wie sie. Sie musste eine Prinzessin sein! Er war viel zu erregt, um etwas zu sagen. “Kannst du auch sprechen?”, brummte die junge Frau genervt. Keine Antwort. “Henrik, richtig?”, ergriff sie schlussendlich die Initiative. “Du solltest aufhören die Leute um ihr Geld zu bringen. Ist ungesund. Und ich kann nicht immer da sein, um dich zu retten!” “D-Danke!”, stotterte der junge Schmied. “Ab-ber a-außer schmieden liegt mir nichts.” “Scheinbar nicht einmal das...”, murmelte sie. “Du willst also Schmied sein?” “Ei-ein Lehrling”, gestand Henrik ein. “Nur ist mein Meister gestorben, bevor er mir sein Handwerk richtig beibringen konnte.” “Ach so ist das also.... Hast du keine Eltern, die sich um dich kĂŒmmern könnten?” “Die sind froh, das sie mich l-los sind.” Die junge Frau seufzte. “Hast du es schon im Gildenhaus versucht?”, fragte sie daraufhin. “In FĂ€llen wie diesen ist es nach Gildensatzung deren Pflicht, einen neuen Meister zu suchen.” “Ihr wisst wirklich viel, gnĂ€dige Frau.” “Man sollte seine Rechte kennen! Hast du nun oder nicht?” “Ja. Da-has habe ich auch versucht. Kein anderer Schmiedemeister w-wollte mich aufnehmen. Angeblich weil ich zwei li-linke HĂ€nde habe.” “Wie kommen die nur auf solch eine absurde Idee...”, kommentierte sie. Danach hielt sie kurz inne. “Hmm
 Ich werde dir helfen!” Sie ging zu Henriks Marktstand und ergriff einen großen Schmiedehammer. Sie prĂŒfte die QualitĂ€t des Werkzeugs. Er schien halbwegs vernĂŒnftig gearbeitet zu sein. Dann tat sie so, als wĂŒrde sie mit zur Kralle geformten linken Hand eine Energie in das Werkzeug ĂŒbertragen. “Abra Kadabra!”, sagte sie. “Hier. Nimm diesen Hammer zum schmieden.” “Wieso gerade diesen?”, fragte Henrik verwundert. “Weil ich ihn soeben verzaubert habe, du Vollpfosten!”, antwortete die Fremde. Hoffentlich fĂ€llt der nicht auseinander, wie der letzte, setzte sie in Gedanken fort. “Sowas k-könnt Ihr bewirken? Seid Ihr eine Hexe?” “Hab ich Pickel und eine Hakennase?! Ich bin nur eine Reisende, die von Ort zu Ort zieht und Gutes tut, wo Gutes getan werden muss.” “Dann seid Ihr eine Fee!” “Ich bin das genaue Gegenteil! Und du solltest dich von mir fernhalten, Junge!” Sie reichte Henrik den Hammer. Als der nicht reagierte, wurde sie ungeduldig. “Hier! Jetzt nimm das verdammte Teil schon, bevor mir der Arm abfault!” Henrik ergriff endlich den Schmiedehammer. “D-Danke!” “Und lass dir ein RĂŒckrad wachsen!” Das MĂ€dchen setzte die Kapuze auf und ging. “Hey! Wie lautet Euer Name?”, rief Henrik der Fremden hinterher. Doch sie antwortete nicht. Je weiter sie ging, desto mehr tauchte sie in das rege Treiben des Marktes ein, bis sie in GĂ€nze verschwunden war. 🌱 Eine finstere Gasse wirkte wenig einladend und dennoch zog es die Fremde hinein. Zwischen MĂŒll und Exkrementen hatten es sich die Ratten bequem gemacht. “Verdammt!”, beklagte sich das MĂ€dchen, als ihr Stiefel mit lautem Platschen in einer unerwartet tiefen PfĂŒtze versank. Die unappetitlich riechende FlĂŒssigkeit ergoss sich ĂŒber ihr Gewand. FĂŒr gewöhnlich wĂŒrde sie diesen Schmutz meiden, doch sie spĂŒrte, dass sie verfolgt wurde. Auf offener Straße könnte sie nichts gegen ihre Verfolger unternehmen, weshalb sie beabsichtigte, sie fernab neugieriger Augen zu stellen. Vier MĂ€nner mit verborgen getragenen Waffen tappten bereitwillig in ihre Falle. Grinsend folgten sie ihr. Inmitten der Gasse blieb sie plötzlich stehen und wandte sich ihren Verfolgern zu. “Wieso werde ich verfolgt?”, fragte sie sie. Die MĂ€nner zogen ihre Waffen. Zwei hatten ein Kurzschwert, einer einen KnĂŒppel und der letzte eine Axt. “Du stellst zu viele Fragen, Weib!”, antwortete der ihr nĂ€chststehende. Dann kamen sie ihr langsam bedrohlich nĂ€her. Siegessicher, denn sie war doch nur eine schwache Frau. Was sollte sie gegen vier bewaffnete MĂ€nner ausrichten? Aus der Gasse drangen kurz KampfgerĂ€usche und Schreie des Entsetzens. Dann wurde es still. Totenstill. Die Glocke schlug soeben Drei. Der heiße Feuerball hatte sich ein ganzes StĂŒck ĂŒber den Himmel geschoben. In der Schmiede “Zum glĂŒhenden Hammer” wurde trotz der Temperaturen hart gearbeitet. Henrik nahm sich die Worte der wunderschönen Unbekannten zu Herzen und wollte den verzauberten Hammer austesten. Er hatte zuvor schon einige Dinge hergestellt und war drauf und dran, ein neues WerkstĂŒck zu beginnen. Zuallererst verlangte es dem Rohling, erhitzt zu werden. Das Material musste weiß glĂŒhen. Henrik wusste, nur extrem heiß kann Stahl gefaltet werden. Je öfter der Stahl gefaltet wird, desto besser können Schlacke und Unreinheiten herausgearbeitet werden. Das steigert die QualitĂ€t des Produktes. Vor allem bei dem, was ihm vorschwebte, war die QualitĂ€t des Stahls von essenzieller Bedeutung. Henrik stand vor dem Kohlebecken und trat auf das Pedal zu seiner Rechten. Der Blasebalg, welcher durch das Pedal angetrieben wurde, fachte die Glut stets neu an. Dadurch blieb die benötigte Hitze erhalten. Endlich war der Rohling heiß genug! Henrik hielt ihn mit einer Zange in der linken Hand. Sie war zusĂ€tzlich durch einen dicken Handschuh vor der sengenden Hitze des glĂŒhenden Stahls geschĂŒtzt. Er wechselte zum Amboss und nahm seinen neuen Hammer aus der ArbeitsschĂŒrze. Mit fixiertem Blick schlug er immer wieder auf den Rohling ein. Als er breit und dĂŒnn geworden war, schlug er ihn ĂŒber der Kante krumm, bis sich die beiden HĂ€lften trafen. Den Prozess des Faltens wiederholte er mehrere Male. Der Stahl bĂŒĂŸte schnell sein GlĂŒhen ein und musste wieder erhitzt werden. Als der Rohling abermals weiß glĂŒhte, konnte Henrik weiter arbeiten. Der Schweiß floss dem jungen Schmied in Strömen, sodass er ihn sich mit dem RĂŒcken seiner Schlaghand aus dem Gesicht wischen musste. Als das WerkstĂŒck unter seinen SchlĂ€gen endlich Gestalt angenommen hatte, kĂŒhlte er es im Wasserbecken. Es zischte laut und Dampf stieg auf. Anschließend verlieh Henrik seinem WerkstĂŒck den letzten Schliff. Eine Klinge hatte er geschaffen. Zum SchĂ€rfen setzte er sich in den Schleifsteinstuhl. Diese Apparatur ermöglichte das gleichmĂ€ĂŸige Schleifen von Klingen. Auch dieses GerĂ€t wurde durch Muskelkraft angetrieben. Man könnte ihn sich als eine Art Fahrrad vorstellen. Der Stein rieb sich am Stahl und Funken sprĂŒhten. Henrik presste die Seite der Klinge im spitzen Winkel gegen die raue OberflĂ€che, um eine rasiermesserscharfe Kante zu erhalten. Alles, was nun noch getan werden musste, war die Klinge mit einem anstĂ€ndigen Griff zu versehen. Nach getaner Arbeit nahm Henrik das Schwert in die Hand und trat aus seiner Schmiede heraus. Er schlug einige Male mit dem KriegsgerĂ€t in der Luft herum, bevor er es mit ausgestreckten Arm gen Himmel hob, wie ein Held, welcher soeben den Sieg ĂŒber einen garstigen Drachen errungen hatte. “Ich habe es geschafft!”, rief er so laut er konnte. “I-Ich habe ein Schwert geschmiedet!" Plötzlich riss einer der Anwohner die FensterlĂ€den auf. “Halt die Klappe! Andere Leute versuchen hier zu schlafen!” Dann schlug er die LĂ€den wieder zu. “E-Entschuldigung!”, rief Henrik. Er betrachtete erneut sein Werk. Drehte und wendete das Schwert. Beobachtete, wie die Nachmittagssonne vom Stahl reflektiert wurde. Ich habe ein Schwert geschmiedet, wiederholte er sich in Gedanken. Henrik brachte die Waffe zurĂŒck in die Schmiede. Er wollte sich unbedingt noch einmal bei seiner guten Fee erkenntlich zeigen. Aber dazu musste er sie zuerst finden. Im Randbezirk der Stadt, nicht weit von der Mauer, befand sich ein Badehaus. Es duftete schon von weitem nach Seife und Badeölen. Ein liebliches Summen ertönte, sobald man sich nĂ€herte. Es kam von der Baderin. Im Innenraum des GebĂ€udes standen drei Badezuber in einer Reihe zwischen den SĂ€ulen. Um diese Zeit waren fĂŒr gewöhnlich kaum Kunden zugegen. Noch war Arbeitszeit. Deshalb wurde nur der mittlere Zuber genutzt. “Wie ist das Wasser, Herrin?”, fragte die Baderin, wĂ€hrend sie ihrer Kundin mit einer ĂŒbergroßen BĂŒrste den RĂŒcken schrubbte. “Hach!”, hauchte diese. “Herrrrlich!” Sehr viel mehr als ein lustvolles Stöhnen, entwich nicht mehr aus ihrem Mund. Sie stemmte sich mit beiden Armen gegen den Druck, der auf ihren RĂŒcken ausgeĂŒbt wurde. Ihr Oberkörper war vollkommen im Schaum versunken. Ihre nassen Haare hingen ihr ins Gesicht. Beide Augen waren geschlossen. “Das ist wunderbar!” WĂ€hrend ihre Kundin weiter hauchte und jauchste, wie auf dem Höhepunkt der Lust, begann die Baderin erneut lieblich zu Summen. Unterdessen suchte Henrik noch immer nach der Fremden. Überall fragte er nach einem hĂŒbschen MĂ€dchen mit fast schulterlangem goldblonden Haaren und himmelblauen Augen. Doch keiner hatte sie gesehen. Dann erinnerte sich Henrik, dass sie die ganze Zeit unter ihrer Kutte verschwunden war. Deshalb beschloss er fortan nur nach einer Person in einer braunen Kutte zu fragen. Die Baderin summte noch immer. Doch schrubbte sie ihrer Kundschaft nicht mehr den RĂŒcken. Stattdessen wusch sie vor dem Badehaus einen braunen Mantel, damit ihre Kundin nicht zurĂŒck in dreckige Kleidung schlĂŒpfen musste. Ein besonders hartnĂ€ckiger Fleck aus Schlamm und Exkrementen wollte einfach nicht rausgehen. WĂ€sche Waschen gehörte eigentlich nicht zum Leistungsangebot, aber sie wurde gut dafĂŒr bezahlt. Die gnĂ€dige Dame lag mit der Kante des Zubers im Nacken im heißen Wasser und ließ es sich noch immer gut gehen. Beide Arme waren ĂŒber den Rand des Beckens gelegt. Der Schaum begann sich zu verflĂŒchtigen und teilweise die Sicht auf ihre Reize freizugeben. “Wie lange habe ich schon nicht mehr baden können”, sprach sie vor sich hin. “Wenn man das Notwendige mit dem Angenehmen verbindet...” Die Baderin wurde jĂ€h aus ihrer Ruhe gerissen, als sich ein junger Mann vor ihr aufbaute. Er trug eine SchmiedeschĂŒrze und sah abgekĂ€mpft aus. Die Baderin schloss daraus, dass er ein Lehrling war, dessen Meister ihm heute einen Bonus ausgezahlt hatte. Jetzt war er hier, um sich waschen zu lassen. Dann rĂŒmpfte sie die Nase. Er hatte es schwer nötig. Der Junge roch meilenweit gegen den Wind nach Schweiß. Mit einem Bad war es nicht getan! “Willkommen!”, grĂŒĂŸte sie den jungen Mann. “Ha-Hallo!”, antwortete er. “Wenn du hier baden willst, bist du leider falsch. Das Herrenbadehaus ist eins weiter!” “Eigentlich bin ich auf der Suche nach jemanden.” “Wirklich? Und du meinst du findest hier, wonach du suchst?” “Ich suche jemanden, der eine braune Kutte trĂ€gt.” Er sah auf das KleidungsstĂŒck in den HĂ€nden der Frau. “Ja, so jemand ist hier!” Ohne zu zögern, stĂŒrmte Henrik durch die offene TĂŒr, hinein in das Badehaus. Erschrocken ließ die Baderin den nassen Mantel zurĂŒck in den hölzernen Eimer fallen. “Hey! Stehengeblieben! Das ist ein Damenbadehaus, du kleiner Lustmolch!” Doch die TĂŒr fiel hinter Henrik ins Schloss und die Baderin war ausgesperrt. Sie pochte an die TĂŒr und forderte, dass er sofort herauskommen solle. In dem Moment, in dem Henrik eintrat, erhob sich die Kundin aus dem Badezuber. Sie stand ihm abgewandt im Dreiviertelprofil und war so vollkommen in Trance von dem wohltuenden Bad, dass sie weder Henrik noch das Klopfen der Baderin bemerkte. Henrik wurde ganz anders zumute, als sich die splitterfasernackte Schönheit zu ihm drehte. Der Schaum haftete noch immer an ihrem makellosen Körper. An ihren Beinen, an den HĂŒften, am RĂŒcken, ihrem GesĂ€ĂŸ und an ihren ĂŒppigen BrĂŒsten. Gelobt sei der AllmĂ€chtige, dachte er. Ich habe noch nie zuvor eine nackte Frau gesehen! Dabei konnte er dem Schaum geschuldet fast gar nichts erkennen. Diese Frau war seine gute Fee! Das wunderhĂŒbsche MĂ€dchen von heute Mittag. Er hatte sie endlich gefunden! Als ihr wiederum bewusst wurde, dass sie nicht allein war, fĂ€rbte sich ihr Gesicht mit jeder Sekunde, die sie Henrik im EvakostĂŒm gegenĂŒberstand, immer roter. Noch bevor der Schaum von ihrem Körper rutschen und ihre intimen Stellen enthĂŒllen konnte, versenkte sie sich wieder im Badezuber und begann zu kreischen. “Verzieh’ dich!”, brĂŒllte sie ungehalten. “Mach dass du Land gewinnst, du Perversling!” Neben dem Badezuber stand ein kleiner Tisch mit einigen Flaschen Badeöl. Die junge Frau griff nach einer Flasche und warf sie nach Henrik. Er konnte noch rechtzeitig den Kopf zur Seite nehmen, sodass die Flasche neben ihm zersplitterte. Derweil hĂ€mmerte die Baderin noch immer an der TĂŒr. “E-Entschuldigung!”, sagte er und fuchtelte dabei aufgeregt mit den HĂ€nden. “E-Es tut mir leid! Ich bin bestimmt kein Perverser!” “Aber du dringst ungefragt in die PrivatsphĂ€re einer Lady ein! Du musst ein Perverser sein!” Sie verlieh ihrer Empörung mit einer weiteren Flasche Ausdruck. Der junge Schmied konnte abermals auszuweichen. “Ich versichere, dass ich keinerlei unsittliche Absichten hege!” Aber er konnte sie nicht beschwichtigen. Seine gute Fee ergriff die dritte Flasche und warf auch sie nach ihm. Diesmal traf sie ihn direkt an den Kopf. Henrik wurde es schwarz vor Augen. Er konnte nur noch die Zimmerdecke sehen, als er zu Boden ging. “Aufwachen!”, tönte eine Stimme in Henriks Kopf. Sie war dumpf, als wĂ€re er in Watte gepackt worden. Er öffnete die Augen einen Spalt. Wie lange war er wohl weggetreten? “Aufwachen!”, tönte die Stimme erneut. Henrik öffnete die Augen nun vollstĂ€ndig und sah das Gesicht der Baderin vor sich. “Was ist passiert?”, fragte er benommen. “Du hast bekommen, was du verdient hast, du kleiner Perverser!”, antwortete die Baderin. “Du lĂ€gst unlĂ€ngst in Ketten, hĂ€tte die Herrin nicht Gnade vor Recht ergehen lassen.” “Mir tut der Kopf weh!” “Geschieht dir recht, du Lustmolch!” Danach seufzte sie. “Geht es, oder soll ich den Medikus rufen? Die gnĂ€dige Dame hat auch dafĂŒr MĂŒnzen dagelassen. Und fĂŒr die Flaschen Badeöl, mit denen sie sich gegen dich verteidigen musste...” “N-Nein, mir geht es gut. Und ich b-bin kein P-Per-Verser!” Henrik stand auf. “Was wolltest du eigentlich von ihr?” “Dieses MĂ€dchen ist die, die ich gesucht habe.” “Das sagt ihr Kerle doch andauernd...” “Sie hat mir einen Hammer geschenkt. Vorher konnte ich nicht mal einen Nagel auf den Kopf treffen. Und heute Nachmittag hab ich damit sogar ein Schwert geschmiedet! Alles nur dank dieses magischen Hammers.” “Magischer Hammer?”, fragte die Baderin unglĂ€ubig. “So etwas gibt es doch gar nicht! Du redest wirres Zeugs. Ich sollte doch den Medikus rufen.” “Ich muss mich bei ihr bedanken! Bitte sagt mir, wo sie hingegangen ist.” Die Baderin ĂŒberlegte erst, ob sie ihm wirklich antworten sollte. “Die gnĂ€dige Dame ist noch nicht lange weg. Sie wollte erst warten, bis du wieder erwacht bist, ist aber gerade eben doch zum Stadttor aufgebrochen. Vielleicht holst du sie noch ein.” “Habt Dank, gute Frau!” Henrik stand auf, aber viel zu schnell, denn ihm wurde etwas schwindlig. Doch dann ging es wieder. Ohne noch einen Moment zu zögern, rannte er aus dem Badehaus, die Straße entlang zum Stadttor. Als er ankam, sah er gerade noch, wie eine Gestalt im Kapuzenmantel durch das Tor ging und verschwand. Jetzt musste er schnell sein. Er rannte dem Tor entgegen, in der Hoffnung, seine gute Fee noch einzuholen. 🌱 Die BĂ€ume und StrĂ€ucher hatten ihr GrĂŒn noch nicht eingebĂŒĂŸt, dank der tief ins Erdreich reichenden Wurzeln. SĂ€mtliches Gras war jedoch verdorrt. Und keines der Wasserlöcher wurde von der erbarmungslosen Sommersonne verschont. Neben dem schlammigen Überbleibsel eines Teiches lagen die halb verwesten Überreste eines Rehes. Zwei KrĂ€hen labten sich daran und pikten die besten StĂŒcke heraus, als sie sich plötzlich aufgeschreckt in die LĂŒfte erhoben. Graue Schatten hetzten durch den Wald. Es waren grimmige Wölfe auf der Suche nach Nahrung. Die KrĂ€hen kreisten hoch in der Luft ĂŒber ihrem Festmahl und beobachteten, wie sich die Raubtiere in einer kleinen Lichtung um einen umgefallenen, mit Moos behangenen Baumstamm versammelten. Das grĂ¶ĂŸte Tier unter ihnen sprang auf ihn. Es war durch eine Narbe im Gesicht gezeichnet. WĂ€hrend der Wolf zu heulen begann, demonstrierten die anderen Tiere ihre UnterwĂŒrfigkeit. Der Alpha schaute ĂŒber sein Rudel. Dann sah er beinahe sorgenvoll zu dem nicht weit entfernten vertrockneten Teich. Auf die ĂŒberreste des Pflanzenfressers. Wenn das Rudel nicht bald etwas zu fressen zwischen die ZĂ€hne bekĂ€me, wĂ€ren sie die nĂ€chsten, die die MĂ€gen der KrĂ€hen fĂŒllen wĂŒrden. Als Henrik das Tor durchquerte, behinderte die untergehende Sonne seine Sicht. Er hielt schĂŒtzend die Hand vor die Augen. So sah er die Silhouette der Fremden immer mehr mit dem Abendrot verschmelzen, als sie die Straße entlang dem Horizont entgegen ging. Henrik wollte seinen Weg fortsetzen, aber der TorwĂ€chter stoppte ihn. Er senkte den Stiel seiner Waffe und verwehrte Henrik die Passage. “Wo willst du um diese Zeit noch hin?”, fragte der Wachmann. “Das MĂ€dchen eben habt Ihr auch gehen lassen.” “Die kommt nicht aus der Stadt.” “Ich muss sie einholen!”, antwortete der junge Schmied. “Du weißt schon, dass bald Sperrstunde ist? Dann wird niemand mehr hereingelassen. Du wirst im freien Schlafen mĂŒssen. So sind die Regeln.” “J-Ja, das ist mir klar! E-Es ist aber wichtig. Ich muss sie wiedersehen!” Dem Wachmann dĂ€mmerte es langsam. Zumindest glaubte er das. “Ach die Kleine ist wohl dein MĂ€dchen, Junge.” Er seufzte. “Na schön, geh!” “Habt Dank, BĂŒttel!” “Ja ja, schon gut.” Er nahm die Stange von Henriks Brust und klopfte ihm auf die Schulter. “Eine Fernbeziehung muss hart sein. Lasst euch nicht den romantischen Sternenhimmel zu Kopf steigen! Ein Kind bedeutet viel Verantwortung, mein Junge!” Henrik war ein klein wenig peinlich berĂŒhrt. Als der Wachmann ihn endlich gehen ließ, war die Fremde schon gar nicht mehr auszumachen. Er nahm die Beine in die Hand und rannte in die Richtung, in der er sie zuletzt gesehen hatte. Als sie endlich wieder in Sichtweite kam, folgte er ihr in sicherem Abstand. An einer unscheinbaren Kreuzung blieb seine gute Fee kurz stehen. Links und Rechts gingen Trampelpfade von der Straße ab. Der rechte Weg fĂŒhrte auf ein weites Feld und verlor sich in ihm. Der linke Weg fĂŒhrte durch dichten Wald. Die Fremde entschied sich fĂŒr den linken Weg, verließ die Straße und verschwand im Dickicht. Es war eine AbkĂŒrzung zur BrĂŒcke ĂŒber den Fluss, die jedoch von den meisten gemieden wurde. Wo will sie nur hin?, ĂŒberlegte Henrik. Er folgte ihr in den dunklen Wald. Seine Neugier verlangte danach, gestillt zu werden. Auf leisen Sohlen - oder was er fĂŒr leise erachtete - schlich Henrik hinter der Fremden her. Der Himmel verdunkelte allmĂ€hlich. Henrik spĂŒrte sein Herz klopfen, wie es sonst sein Schmiedehammer auf einen Amboss tat. Er war schon nicht der mutigste, doch der Gedanke an ihre Schönheit ließ ihn schĂŒchterner werden, als er es ohnehin schon war. Vielleicht wĂŒrde er ihr fĂŒr ewig und drei Tage nachlaufen, ohne sich zu trauen, mit ihr zu sprechen. Sie hatte schon lĂ€ngst bemerkt, dass ihr jemand folgte. Kein Wunder, so laut wie der stapfte. Doch eine echte Bedrohung erforderte ihre Aufmerksamkeit. Etwas befand sich mit ihnen in diesem Wald. Und es war so gefĂ€hrlich, wie es hungrig war! Gerade als Henrik seinen Mut zusammengenommen hatte, um etwas zu sagen, blieb die Fremde stehen. Aus einem Reflex heraus verbarg er sich schnell hinter dem nĂ€chsten verfĂŒgbaren Versteckt, wie ein schĂ€ndlicher Strauchdieb. Einem kleinen Vorsprung, welcher von den Wurzeln eines Baumes durchdrungen war. Sie hatte ihn auf keinen Fall gesehen, da war er sich sicher. Vorsichtig streckte er seinen Hals, um ĂŒber den Vorsprung zu blicken. Die Fremde hatte sich noch nicht vom Fleck bewegt. Vorsichtig tasteten ihre Augen die BĂŒsche um sie herum ab. Henrik fragte sich erst, warum sie angehalten hatte, bis es auch ihm auffiel. Einige böse Augenpaare starrten zwischen den BlĂ€ttern hervor, fast als ob sie leuchteten. Nicht etwa die Augen von Menschen. Nein, es waren jene des Isegrim, welcher den Wald unsicher machte. Die BĂŒsche raschelten und knurrende, hungrige, abgemagerte graue Kreaturen zeigten sich ihrer Beute. Sie hatten die Fremde umzingelt und kamen zĂ€hnefletschend auf sie zu. Plötzlich vernahm Henrik auch ein Knurren hinter sich. Er drehte sich um. TatsĂ€chlich lauerte einige Meter hinter ihm ein ausgehungertes UngetĂŒm, bereit ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen. Von den ZĂ€hnen des Tieres tropfte schon voller Vorfreude auf sein frisches Fleisch der Speichel herab. Das linke Auge des Tieres zierte eine alte Narbe, die es sich wohl im Kampf mit einem Artgenossen zugezogen hatte. Dieses Tier war ohne Zweifel der Alpha des Rudels, welcher sich im Hintergrund gehalten hatte. Ohne weiter nachzudenken, sprang der junge Schmied auf. Er wollte nicht im Magen irgend eines flohverseuchten Viehs enden. Er rannte schreiend zu der Fremden hin. “Zu Hilfe!”, rief er. “Zu Hilfe!” Der Wolf ließ sich nicht beirren und rannte ihm nach. Kurz bevor er ihn umwerfen konnte, erreichte Henrik die Fremde und der Wolf stoppte abrupt. Die Frau sah den Jungen mit ausdruckslosen Augen an. “Zeigst du nun endlich dein Gesicht, du Spanner!”, spottete sie ĂŒber ihn. “I-Ich bin kein S-Spanner!”, widersprach er. “Dann bist du ein Voyeur!” “W-Was? Nein! Das ist doch noch schlimmer!” “Mphf
” “Wo kommen diese Biester her?”, wollte Henrik wissen. “Der Winter war hart”, erklĂ€rte die Fremde. “Der FrĂŒhling kurz. Der Sommer trocken. Die Wölfe finden nichts zu fressen und vergreifen sich in ihrer Not an hilflosen Wanderern.” Die Bestien setzten ihr Knurren fort, trauten sich jedoch noch immer nicht, ĂŒber Henrik und die Fremde herzufallen, obwohl sie ihnen ausgeliefert schienen. “Und warum greifen sie uns nicht an?” “Weil sie Angst vor mir haben!” “E-Echt jetzt?!” Der Schmiedegeselle staunte nicht schlecht. “Und wie kommen wir hier jetzt wieder raus?” “Ich springe hoch in die Wipfel und sehe zu, wie sie dich fressen.” “WAS?!”, empörte sich Henrik. “Du hast mich nackt gesehen. Das ist die gerechte Strafe.” “D-Das ist nicht d-dein Ernst! A-Außerdem war da ĂŒ-ĂŒberall Schaum!” Die Fremde sah sich die wĂŒtenden Bestien noch einmal an. “Kannst du kĂ€mpfen?”, fragte sie den jungen Schmied daraufhin. “KĂ€-KĂ€mpfen?!” “Ich habe keine Lust auf dich aufzupassen. Das machst du gefĂ€lligst selbst!” Die Unbekannte ließen die DrohgebĂ€rden der Bestien völlig kalt. Sie griff mit der rechten Hand an ihre Kutte, als ob sie sie jeden Moment vom Leib reißen wolle. Und das tat sie auch. Schwungvoll entledigte sie sich ihr. WĂ€hrend das KleidungsstĂŒck im hohen Bogen durch die Luft glitt, bestaunte Henrik, was unter ihm zum Vorschein kam. Die Fremde trug einen stĂ€hlernen Brustpanzer und einen Wappenrock. Der linke Arm war durch Achselzeugs samt Armschiene ebenfalls durch Metall geschĂŒtzt, der rechte lag jedoch frei. Sie trug zudem schwere Stiefel mit hohen massiven AbsĂ€tzen. Und sie hatte ein Schwert bei sich. Als die Kutte auf dem Boden landete, wurde sie von den ausgehungerten Wölfen hinter den beiden sofort in Fetzen gerissen. Die Fremde zog ihr Schwert. “Das ist meine Waffe. Sie hat mir gute Dienste geleistet” Sie hielt es an der Klinge und bot es ihm, den Griff voraus, dar. “Nimm sie! Zur Verteidigung!” “O-Okay! Aber was i-ist mit dir?” Mit zitternder Hand ergriff er die Waffe. Er umklammerte den Griff mit beiden HĂ€nden und wĂŒnschte sich in diesem Moment, dass er sein eigenes Schwert mitgenommen hĂ€tte. Denn dieses war verdammt schwer, obwohl es nach der Form zu urteilen eine Einhandwaffe war. Die Fremde betrachtete die zitternde Haltung des Jungen. “Wie hĂ€ltst du das Ding den?”, tadelte sie ihn fĂŒr seine Unbeholfenheit. “T-Tut mir leid! A-Aber das ist mein erstes Mal!” “Ich zeige dir, wie man ein Schwert hĂ€lt. Schau her!” Die Fremde streckte ihren ungeschĂŒtzten Arm zur Seite aus. “Koche in meinen Venen! Bloodbane!”, sprach sie, als wolle sie etwas beschwören. Und tatsĂ€chlich fĂ€rbten sich ihre Venen und die Haut des rechten Armes öffnete sich an einigen Stellen. Die Gesichtsmuskeln der Frau zuckten ein kleinwenig. Aus den Wunden trat, zusammen mit ein wenig Dampf, eine merkwĂŒrdige schwarze FlĂŒssigkeit hervor. Sie kroch ihren Arm entlang zu ihrer Hand. Die FlĂŒssigkeit nahm die Gestalt einer Klinge an und die Fremde umklammerte den Griff, als die Masse sich verfestigte. Dann brachte sie sich in Fechtstellung. “So hĂ€lt man ein Schwert!” “W-Was zu-zum T-Teu-fel...”, stotterte Henrik erschrocken. Die Frau sah ihn mit rubinrot funkelnden Augen an. Henrik wurde sofort klar, was sie ihm sagen wollte. Er solle endlich die Klappe halten und sich um sich selbst kĂŒmmern. Die Tiere schienen jetzt noch mehr eingeschĂŒchtert zu sein als zuvor. Sie fĂŒhlten das Böse in ihr wohnen. Aber bei einem der Wölfe war der Hunger stĂ€rker als die Vorsicht. Er wagte den ersten Schritt und setzte zum Angriff an. Die Fremde hatte wahrlich die Reflexe einer Katze. Blitzschnell, ohne einmal den Boden zu berĂŒhren, sprang sie auf den Wolf zu. Das Tier hatte nicht die geringste Chance zu reagieren. Nach einem Streich ihrer pechschwarzen Klinge gingen Kopf und Körper des Wolfes fortan getrennte Wege. Dies veranlasste einen Großteil der restlichen Tiere, alle auf einmal auf ihre Beute loszugehen. Sie wollten ihren gefallenen Kameraden rĂ€chen! Ein paar von ihnen versuchten stattdessen den jungen Schmied zu erwischen. Doch der fuchtelte so wild und unberechenbar mit der Waffe umher, dass die ausgehungerten Kreaturen keine Chance sahen, an ihn heranzukommen. Das GlĂŒck schien mit den Unbedarften zu sein. Aber das Gewicht der Waffe forderte seinen Tribut. Wie lange konnte er das durchhalten? Die Fremde nahm sich einen Wolf nach dem anderen vor, bis sie begriff, welcher von ihnen der Alpha war. Nun konzentrierte sie sich auf dieses Tier und wich den anderen nur noch aus. Aber der Alpha war ein anderes Kaliber als seine Artgenossen. Er ließ sich nicht dazu verleiten, blind in die Klinge zu springen. Es gelang ihm, sie auszuspielen und mit einem Biss in die Wade zu Fall zu bringen. Sofort ließen die ĂŒbrigen Tiere von Henrik ab und stĂŒrzten sich alle auf einmal auf die vermeintlich wehrlose Beute. Henrik nutzte die Gelegenheit und brachte sich hinter einem Baumstamm in Sicherheit. Aus seinem Versteck heraus beobachtete er, völlig verĂ€ngstigt und mit schlotternden Knien, wie die Ereignisse aus dem Ruder liefen. Doch nicht zu Ungunsten der Fremden, wie er zuerst vermutet hatte. Einer Eruption gleich, wurden die Tiere weggeschleudert. Nur der Alpha nicht. Das blonde MĂ€dchen umklammerte mit der linken Hand den Hals des Wolfes und wĂŒrgte ihm die Luft ab, bis er sich nicht mehr rĂŒhrte. “Drecksvieh!” Dann warf sie ihn achtlos, wie Unrat, in die Richtung seines Rudels. Die Tiere hatten sich inzwischen wieder aufgerafft und knurrten noch immer. Als der Kadaver ihres AnfĂŒhrers den Boden berĂŒhrte, verloren sie jedoch ihren Mut. Sie zogen sich zurĂŒck, mit dem Schweif zwischen den Beinen eingeklemmt. “Macht, dass ihr wegkommt!”, befahl die Fremde. Als ob sie es verstanden hatten, ergriffen sie jaulend die Flucht. Die Fremde spĂŒrte, dass die Gefahr vorĂŒber war, und ihre Waffe verschwand. Die durch die Bisse erlittenen Wunden an ihrem Arm und ihrem Bein heilten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nachdem der schmerzhafte Prozess der RĂŒckverwandlung abgeschlossen war, kehrten auch ihre Augen zu ihrem ursprĂŒnglichen Blau zurĂŒck. Danach wandte sie sich Henrik zu. Doch er war nirgends aufzufinden. Er hatte noch immer ihr Schwert. Auch wenn es fĂŒr sie mehr Requisite als richtige Waffe war, hing sie sehr an ihr. Mit dieser Waffe wurde ihr einst die Kunst des Kampfes gelehrt. Es war ein ErinnerungsstĂŒck, auf das sie keinesfalls verzichten wollte. Also musste sie wohl oder ĂŒbel nach dem feigen Schmied suchen, wenn sie es wiederhaben wollte. Derweil hatte Henrik alles kreidebleich aus seinem Versteck heraus beobachtet. Noch nie zuvor sah er, wie jemand aus seinem eigenen Körper eine Waffe hervorbringen konnte. Diese beĂ€ngstigende Schönheit konnte kein Mensch sein! Und keineswegs war sie die gute Fee, fĂŒr die er sie gehalten hatte! Viel mehr ein Teufelsweib! Er wollte nicht darauf warten, dass der Kampf gegen die Bestien endete und flĂŒchtete. Nun rannte er, das Schwert, welches er von der Fremden erhalten hatte, noch immer fest umklammert. WĂ€hrend seiner Flucht sah er andauernd ĂŒber seine Schulter, was ihm zum VerhĂ€ngnis wurde. Sein Fuß verhakte sich in einer Wurzel und er stĂŒrzte. Das Schwert entglitt seiner Hand und schlug neben ihm auf dem Boden auf. Henrik spĂŒrte das feuchte Moos, als er mit dem Gesicht voran eine Bruchlandung hinlegte. Die NĂ€sse auf seiner Haut, der leicht modrige Geruch in seiner Nase und der faulige Geschmack in seinem Mund. Nach einem kurzen Moment der Desorientierung, stand er langsam wieder auf. Dabei spuckte er MoosstĂŒcke aus. Plötzlich spĂŒrte er einen Blick im Nacken und schwere Schritte nĂ€her kommen. Er wollte sich nicht umdrehen, denn er wusste genau, dass das Teufelsweib hinter ihm war. “D-Du bist direkt hinter mir, r-richtig?”, fragte er rein rhetorisch. Die KrĂ€hen hatten das Schauspiel aus sicherer Entfernung beobachtet. Nun, da die Gefahr vorĂŒber war, konnten sie wieder landen. Und sie fanden einen reich gedeckten Tisch vor. Die Raubtiere waren nun selbst zur Beute eines viel gefĂ€hrlicheren Ungeheuers geworden. Nun waren sie tot und wĂŒrden den Aasfressern als Nahrung dienen. In einer Spirale segelten die schwarzen Vögel herab, um sich an den Überresten des Kampfes zu laben. Nach und nach wurden weitere KrĂ€hen angelockt, bis der Waldboden mit schwarzen Vögeln ĂŒbersĂ€t war. 🌱 Der Mond war aufgegangen. Er schwamm in einem Meer aus funkelnden Sternen. Aus einer Lichtung im Wald stieg eine schmale RauchsĂ€ule kerzengerade in den Himmel auf. Das Licht der Flammen flackerte und warf verschiedenste Schatten an die BĂ€ume und StrĂ€ucher. Am Feuer hockte Henrik und garte zwei Hasen am Spieß, welche er zuvor mit selbstgebauten Hasenfallen erlegt hatte. Etwas abgelegen von der Feuerstelle, lehnte die Fremde an einem Baum und wartete darauf, dass das Fleisch durchgebraten wĂ€re. Henrik drehte und wendete die Hasen. Dabei bestaunte er die zarte, feminine Erscheinung des blonden MĂ€dchens. Plötzlich begann sie zu schnarchen wie ein Waldarbeiter. Aus ihrer Nase hing eine Rotzblase, welche mit jedem Atemzug anschwoll und abklang. Die Überraschung stand dem jungen Schmied ins Gesicht geschrieben. Mein Gott, dachte er. Die sĂ€gt noch den Wald um! Der Duft des geschmorten Fleisches kroch der Fremden in die Nase. Sie grunzte dreimal und mit einem Plop zerplatze die Rotzblase. Sie war sofort hellwach. “Das riecht aber lecker!”, sagte sie. Henrik schmunzelte. ”I-Immerhin kann ich Ha-Hasenfallen bauen und Fleisch anbraten.” Er streute etwas Salz aus dem kleinen Beutel an seinem GĂŒrtel ĂŒber das Fleisch. So wĂŒrde es besonders schmackhaft werden. Dann stand er auf und ging zu der Fremden hin. Er reichte ihr einen Hasen am Spieß. Den anderen behielt er in der Hand. “Hier, probiere mal!” Die ausgehungerte Schönheit nahm den Spieß und nagte den Hasen nahezu in Sekunden bis auf die Knochen ab. Sie drehte ihn dabei, wie man es mit einem gebratenen Maiskolben tĂ€te. Danach warf sie die Überreste hinter sich in den Wald. “Mehr!”, forderte sie unverfroren. Sie griff nach dem Hasen in Henriks anderer Hand und verschlang auch diesen. “Hey!”, beschwerte sich der Braunhaarige. “Das war meiner!” Er konnte nur staunen, wie schnell sie alles verputzt hatte. Auch die Überreste des zweiten Hasens fanden ihre letzte RuhestĂ€tte im Wald hinter ihr. Sie klopfte sich mit beiden HĂ€nden zufrieden auf den Bauch und lĂ€chelte. “Das war lecker”, sagte sie. “Danke fĂŒr’s Essen.” Ein ausgewachsenes BĂ€ucherchen verließ ihren zarten Mund und schreckte einige schlafende Vögel auf. Sie ließ sich langsam am Stamm des Baumes in eine liegende Position herabgleiten. “S-Schön wenn es dir schmeckt!” Dann hielt er einen Moment inne. “D-Du hast mir noch immer nicht deinen Namen verraten.” Die Frau setzte sich wieder auf. “Nebula.” “Wie bitte?” “Nebula. Das ist mein Name, Trottel!” Das kam Henrik zwar seltsam vor, aber er widersprach nicht. “E-Ein ausgefallener Name.” Nebula senkte den Kopf. “Es wĂ€re nur fair, dir wenigstens zu erzĂ€hlen, mit was du es zu tun hast.” Gebannt hing Henrik an ihren Lippen. “Du als Schmied weißt sicher, das die Waffe zur Gewalt verleitet.” Nebula sah den Burschen an und verstand nicht, wie er so gelassen ihren Worten folgte, nach dem, was er zuvor mit angesehen hatte. Er hatte sogar fĂŒr sie gekocht. “Wenn jemand eine Waffe hat, dann neigt er dazu, seine Probleme mit ihr statt mit dem Verstand zu lösen”, fuhr sie fort. “Man fĂŒhlt sich stark, wenn man eine Waffe in der Hand hĂ€lt, um anderen mit ihr den eigenen Willen aufzuzwingen. Man sagt, der Teufel habe die Waffen erfunden. Und bei einigen scheint es zu stimmen. Was du vorhin gesehen hast, war eine Teufelswaffe.” “Teufelswaffe?”, wiederholte Henrik. “Einst wurden aus den sechshundertsechsundsechzig TrĂ€nen eines gefallenen Engels Waffen geschmiedet. Diese Waffen sind erfĂŒllt mit dem Hass und der Trauer des Engels, dass sein Schöpfer ihn nicht mehr liebte. Wer eine dieser Waffen in die Finger bekommt, tut schon bald sein Schlechtestes.” Sie ĂŒberlegte, wie sie den Rest in Worte fassen konnte. “Die Menschen bauten sich bald eigene. Zwar ohne TeufelskrĂ€fte, aber zum Töten hat es gereicht. Bald schon verviel die Menschheit der Barbarei. So zumindest hat man es mir als Kind erzĂ€hlt. Ich hĂ€tte nie gedacht, dass es nicht nur ein bescheuertes MĂ€rchen ist.” Henrik hörte ihr noch immer gebannt zu. Nebula seufzte. Dieser Junge ist seltsam, dachte sie. “Was du gesehen hast, war nur ein kleiner Teil. Jede Teufelswaffe ist anders. Manche grillen dich, andere machen aus dir einen Eiszapfen. Einige können auch Gutes bewirken. Auch Bloodbane ist besonders. Es kann sich andere Teufelswaffen einverleiben. Diese... Dinger sind zu meinem Blut geworden. Ich kann sie niemals ablegen.” “Und du willst sie eines Tages ablegen?” “NatĂŒrlich, du Spinner! Ich will, dass dieser Irrsinn ein Ende findet! Jeden Tag fordern sie weitere Opfer! Denkst du, mir macht das Spaß?!” Eine TrĂ€ne zitterte in ihrem Auge. “K-Keineswegs!”, wies Henrik mit wild fuchtelnden Armen von sich. “Eines Tages wird Bloodbane alle anderen Teufelswaffen in sich aufgenommen haben. Dann ist meine Mission erfĂŒllt! Und dann werde ich sie alle zerstören!”, fuhr sie fort. Das kann bei so vielen aber lange dauern, dachte Henrik. “Aber bis dahin ist noch viel zu tun!”, ergĂ€nzte Nebula. “Wie hast du diese Macht ĂŒberhaupt bekommen?”, fragte Henrik neugierig. “Das ist privat!” “Aber...” “Privat!” Henrik sah Nebula mit Dackelblick an. Seine treutraurigen Augen ließ ihre Wangen erröten und sie konnte es nicht mehr bei sich halten. “Jemand wollte meinen Tod setzte einen AttentĂ€ter auf mich an. Der AttentĂ€ter hat mich in der Nacht vor meiner Hochzeit erdolcht. Mit Bloodbane. Woher er es hatte, weiß ich nicht. Anstelle mich zu töten, machte es stattdessen ein Monster aus mir.” “Was ist eigentlich aus Eurem Angetrauten geworden?” “Der denkt, ich sei in seinen Armen gestorben.” Henriks Gesicht drĂŒckte tiefe BestĂŒrzung aus. “D-Das ist... grausam!” “Was blieb mir anderes ĂŒbrig? HĂ€tte ich ihm sagen sollen ‘Liebster, ich bin von den Toten auferstanden’?” “J-Ja. N-Nein.” “Ich hatte lange mit Zorn und Mordlust zu kĂ€mpfen. Immerhin ist seither eine böse Macht ein Teil von mir. Ich konnte das nur mit Hilfe einer guten Freundin kontrollieren. Es ist trotzdem gefĂ€hrlich! Deshalb gehe ich nicht gern unter Menschen.” “A-Aber du kamst in meine Stadt. Du warst sogar Baden!” “Ich wollte Nachforschungen anstellen. Wenn ich heute Mittag nicht urplötzlich hungrig geworden wĂ€re, hĂ€tten wir uns wohl niemals kennen gelernt. Du hattest so erbĂ€rmlich aus der WĂ€sche geguckt, ich konnte das nicht mehr mit ansehen!” “Darum a-auch der magische Hammer?”, wollte Henrik wissen. “Der Fisch war lecker. Da war ich guter Dinge!” Sie senkte ihre Stimme. ”Wegen dem ‘magische Hammer’...”, murmelte sie. “Eigentlich hat der Hammer gar-” “DafĂŒr will ich mich bei dir bedanken, Nebula!”, unterbrach Henrik ohne auf das Ende des Satzes zu warten. “Ohne dieses Wunderwerk könnte ich gar nichts!” “Ach, glaub doch, was du willst!” Der Junge war glĂŒcklich. Wenn es ihm half, seine Unsicherheit zu ĂŒberwinden und sein Talent zu entdecken, was war falsch daran, ihn mit der LĂŒge leben zu lassen? “Henrik”, sprach sie aus einem Impuls heraus. “Allein durch die Lande zu ziehen, ist sehr einsam. Eine Waffe muss man richtig warten, sonst wird sie schartig. Das Zwischenmenschliche verhĂ€lt sich gewiss genauso. Es w-will gewartet werden.” “HĂ€?” “Idiot! Ich suche noch einen Schmied.” War es möglich, dass die langen Reisen Nebula einsam gemacht hatten? Sie spielte sich aufgeregt an den Haaren herum und wurde urplötzlich rot. Ihr viel es unglaublich schwer, ihre Bitte an den Schmiedelehrling ĂŒber die Lippen zu bringen. ”W-WĂŒrdest du mich also auf meinen Reisen vielleicht b-begleiten?”, stotterte sie mit erhobener Stimme. “I-Ich gebe dir auch Gewinnanteile.” “Nichts lieber als das!”, antwortete er, ohne zu zögern. Nebula war verwundert ĂŒber seine schnelle Reaktion. Und auch schockiert ĂŒber seine NaivitĂ€t. Wie konnte er nach all dem einfach so mit ihr gehen? “D-Du kannst doch nicht blindlings mit mir gehen! Ich bin gefĂ€hrlich!” “Wohl wahr. Dir will man nicht in einer dunklen Gassen begegnen, wenn du wĂŒtend bist.” Bei dem Gedanken an den Überfallversuch auf sie in einer widerlich verschmutzten Gasse in BĂ€renhag entwich ihr ein verschmitztes LĂ€cheln. “Oder am Besten ĂŒberhaupt nicht begegnen. Aber du bist ein guter Mensch, wenn du dem Bösen widerstehen kannst. Ich vertraue dir mehr als irgendwem sonst. Das sagt mir mein Bauch.” Besagter Bauch begann zu knurren. “Ja, das höre ich...” Der nĂ€chste Tag. Geduldig wartete Nebula in der NĂ€he der Stadt. Henrik wollte nur nochmal schnell zurĂŒck und ein paar Dinge regeln. Er musste sich von seinen Eltern verabschieden. Er musste einen KĂ€ufer fĂŒr seine Schmiede finden. Und er musste die Waren zu Gold machen. Auch wenn das meiste nur als Altmetall taugte. Vielleicht nutzte er die Gelegenheit aber auch dazu, sich zu besinnen, dass er bereitwillig mit einem Teufelsweib auf Reisen gehen wollte. Zeit genug, seine Entscheidung zu ĂŒberdenken und nicht wiederzukommen. Aber sie hatte ihm versprochen, bis zum Abend zu warten. Und genau das gedachte sie zu tun. Die Sonne hing bereits tief am Firmament und fĂ€rbte sich schon rot. Viel Zeit hast du nicht mehr, dachte sie. Sie ließ das Stadttor nicht aus den Augen. Aber niemand kam. Erleichtert setzte sie sich in Bewegung. Aber ein bisschen betrĂŒbt war sie dennoch. So lange reiste sie schon allein umher. Nun hĂ€tte sie endlich jemanden zum reden gehabt. Jemand, der ihr Gesellschaft leisten könnte. Aber vielleicht war es so auch besser. Ganz in Gedanken versunken, hörte sie fast nicht, dass jemand ihren Namen rief. “Nebula!” Dann endlich registrierte sie es. Es war Henrik. Winkend rannte er auf sie zu, mit einem Reisebeutel und einem zusammengerollten Zelt ĂŒber dem RĂŒcken. Und dem Schwert, das er Tags zuvor mit seinem “Zauberhammer” geschmiedet hatte, am GĂŒrtel. In seiner Hand hielt er außerdem eine braune Kutte, welche wohl fĂŒr sie bestimmt war. Sie konnte sich ein LĂ€cheln nicht verkneifen, als er sie endlich erreichte. Nebulas einsame Reise war zu Ende. Und Henriks Reise hatte eben erst angefangen. Kapitel 2: Verraten ------------------- 🌱 Ein paar Wochen zuvor Die Sonne brannte vom Himmel und ließ die Luft ĂŒber der staubtrockenen Matschstraße flimmern. Man sah ihr an, wie lange es bereits nicht mehr geregnet hatte. Die Spuren eines Fahrwerks stachen deutlich heraus. Als der Schlamm noch feucht war, musste ein Karren mit schwerer Ladung hier entlanggekommen sein und seine RĂ€der verewigt haben. Als die Temperaturen stiegen, wurden die Spuren gebacken wie Ton in einem Ofen. Nebula verfolgte gerade kein bestimmtes Ziel. Ihre Kutte bot ihr Schutz vor den Sonnenstrahlen, aber nicht vor der Hitze. Sie wollte sehen, wohin ihr Weg sie fĂŒhrte. Zuvor hatte sie einen Auftrag fĂŒr einen Adligen in GĂŒldenburg erfĂŒllt. Der Mann wollte ein wertvolles Schwert in seinem Besitz wissen. Angeblich besĂ€ĂŸe es magische FĂ€higkeiten - zumindest behaupteten das die GerĂŒchte. Die blonde Söldnerin musste den Geschichten nachgehen. Es könnte sich immerhin um eine Teufelswaffe handeln. Als sie die Waffe endlich in ihren Besitz gebracht hatte, musste sie zu ihrer ErnĂŒchterung feststellen, dass es sich um ein stinknormales langweiliges Schwert handelte, dessen Griff zwar reichlich verziert war, sonst jedoch keinerlei Besonderheiten aufwies. Das Ding konnte der Adlige ruhig haben... Immerhin entlohnte er sie fĂŒrstlich fĂŒr ihre Dienste. Das nĂ€chste Mal musste sie dennoch vorsichtiger mit solchen GerĂŒchten sein. Die Erfahrung zeigt, an den meisten ist nichts dran. Weiter hinten auf der Straße kam etwas zum Vorschein. Mit der Hand auf dem Griff ihres Schwertes nĂ€herte sich die Söldnerin dem Objekt. Mit sinkender Entfernung erkannte sie, dass es sich um einen umgestĂŒrzten Wagen handelte. Eine Sperrstange ragte aus einem Pferdekadaver heraus. Zerschlagene und intakte Kisten lagen verstreut auf dem Boden herum. Und irgendetwas befand sich zwischen ihnen. Als Nebula erkannte, dass es sich um eine Person handelte, beschleunigte sie ihren Schritt. Es war ein Mann mittleren Alters mit dunklem Haar, welches im Schein der erbarmungslosen Sonne leicht grĂŒn schimmerte. Vorsichtig rĂŒttelte die Blondine an dem Bewusstlosen. AllmĂ€hlich kam er wieder zu sich. “Was ist geschehen?”, fragte er leicht benommen. Dann sah er den Kadaver seines Pferdes und den umgestoßenen Wagen und schreckte auf. “Meine Waren! Meine Waren!” “Immer langsam”, versuchte Nebula ihn zur Ruhe zu bewegen. Aber ihr GegenĂŒber gedachte nicht im Traum daran. DafĂŒr, dass er bis eben bewusstlos am Boden lag, war er sehr schnell wieder auf den Beinen und wuselte zwischen den Überresten seiner Ladung umher. “Es ist alles weg!”, stieß er panisch aus. “Ich bin ruiniert.” “Seid still. Berichtet mir, was sich zugetragen hat.” “Ich wurde ĂŒberfallen!” Nebula sah ihn daraufhin abschĂ€tzig an. “Ist das wahr?!” “Junger Herr, wollt Ihr mich verspotten?” Offenbar zeigte ihre Verkleidung Wirkung. Kein Wunder, da ihr halbes Gesicht von der Kapuze verdeckt wurde. “Ich brauche mehr Informationen. Was hattet Ihr geladen? Wisst Ihr, wer Euch ĂŒberfallen hat? Könnt Ihr mir sonst noch etwas berichten?” “Ich transportierte Geschmeide nach BĂ€renhag. Ich fuhr die Straße entlang und ahnte nichts böses. Plötzlich bohrt sich dieser Speer in meinen Gaul und aus allen Richtungen fallen MĂ€nner ĂŒber meinen Wagen her, wie Spatzen ĂŒber die Saat! Warum haben sie mich leben lassen? Wenn ich meine Ware nicht abliefere, bin ich bankrott. Da wĂ€re ich lieber tot!” “Ihr wisst gar nicht, wie einsam der Tod ist...” “Wie meint Ihr das?” “Unwichtig! Ihr haltet nicht viel von angeheuerten Wachen, oder?” “Tatsache, Ihr verspottet mich.” “Mit mir an Eurer Seite wĂ€re das nicht passiert!” “Das sind große Worte, Bengel. Könnt Ihr ihnen Taten folgen lassen?” “Was wollt Ihr?” “Bringt mir meine Waren wieder und ich beteilige Euch am Gewinn.” “Wie viel?” “Zehn Prozent.” “Zwanzig.” “Halsabschneider!” “Wollt Ihr Eure Waren wieder bekommen oder nicht?” “FĂŒnfzehn.” “Na gut! Abgemacht!” Nebula und der fahrende HĂ€ndler besiegelten ihre Abmachung mit einem Handschlag. “Falls Ihr Anhaltspunkte braucht: Bevor sie mich bewusstlos schlugen, sah ich einige in Richtung Westen fliehen. Vielleicht findet Ihr sie dort.” “Ich werde mich darum kĂŒmmern. Schön hier bleiben!” “Spaßvogel! Wo soll ich denn hin, ohne meine Waren?” Nebula folgte der Weisung des HĂ€ndlers und erkundete den Westen abseits der Straße. Zuerst wirkte alles unauffĂ€llig, bis zwischen BĂ€umen und StrĂ€uchern ein Höhleneingang in einer Felswand auftat. Links und rechts brannten Fackeln und es befanden sich einige Kisten und FĂ€sser auf einem kleinen Platz vor der Öffnung. Hier muss es sein, dachte Nebula und streckte den rechten Arm aus. “Brenne in meinen Venen, Bloodbane!”, befahl sie und rief ihre Waffe herbei. Allein und nur mit einem gewöhnlichen Schwert bewaffnet, wollte sie es auch nicht mit einer ganzen RĂ€uberbande aufnehmen. Ungeduldig beobachtete der HĂ€ndler den Verlauf der Sonne. Einige Zeit verstrich. Wo bleibt der Kerl, grĂŒbelte der Mann. Er wird mich doch nicht versetzt haben? Als er dann aber ein Pferd schnauben hörte und sich der GerĂ€uschquelle zuwandte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Der Fremdling kam mit Pferd und Wagen vorgefahren und stoppte am Schauplatz des Überfalls. “Ich glaube mein Schwein pfeift!”, staunte der KrĂ€mer. “Wo habt Ihr...” “Ich fand dies, als ich die RĂ€uber auseinander nahm”, erklĂ€rte Nebula und sprang von dem Wagen ab. “Euer Geschmeide ist bereits aufgeladen. Inklusive weiterem Diebesgut.” “Ihr habt gegen die RĂ€uber gekĂ€mpft? Allein?!” “Das wolltet Ihr doch... Sie trennten sich nicht freiwillig von Eurem Zeugs...” “Was habt Ihr mit ihnen gemacht?” “Wollt Ihr Euch diesen Moment des GlĂŒcks mit schmutzigen Details trĂŒben?” “Nein. Ihr habt wohl Recht.” “Lasst es mich so ausdrĂŒcken: Sie sind dauerhaft aus dem GeschĂ€ft.” “Habt Dank, Fremder! Ihr habt mich gerettet.” “Dankt mir in MĂŒnzen.” “NatĂŒrlich, das habt Ihr Euch redlichst verdient.” Der HĂ€ndler stieg auf den AnhĂ€nger und warf Nebula ein großes zusammengerolltes Tuch Seide zu. Die Söldnerin fing den Wertgegenstand auf. “Was soll ich damit?!”, fragte sie verĂ€rgert. “Ich will Gold!” “Ich wurde ausgeraubt, schon vergessen. Ware ist das einzige von Werte, das ich Euch geben kann.” Der Mann stieg wieder aus dem Wagen aus. “Wenn Ihr es zu Gold machen wollt, könnt Ihr es in BĂ€renhag verkaufen.” Er schwang sich auf die Kutscherbank. “Verkaufen?” Der KrĂ€mer klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben sich. “Kommt schon, Bursche. Ich nehme Euch mit.” Offenbar hatte er immer noch nicht bemerkt, dass Nebula eine Frau war. Um so besser. Das bedeutete, die Tarnung war gut genug, um sich auch vor vielen Augen zu verbergen. Vielleicht sollte sie es riskieren, in die Stadt zu gehen. “Außerdem ist es gefĂ€hrlich. Halunken sind nicht der einzige Schrecken. Es heißt, ein waschechter Raubritter treibe sein Unwesen. Mit dem werdet Ihr bestimmt auch nicht fertig. Die Leute sagen, er sei mit dem Teufel im Bunde.” “Wirklich?”, erkundigte sich die Blondine. Sie stieg auf der anderen Seite auf und setzte sich auf die freie HĂ€lfte der Kutscherbank. “Redet weiter!” 🌱 Gegenwart Gierig tranken die Pferde aus der TrĂ€nke, als der Konvoi nach langer Fahrt eine Pause einlegte. Die KaufmĂ€nner reisten den ganzen Tag unermĂŒdlich, um voranzukommen. Nun waren nicht nur die Pferde, sondern auch die meisten Menschen erschöpft. Die Abendröte des Himmels blutete langsam in die SchwĂ€rze der Nacht aus. Dunkelheit, durchbrochen von funkelnden Sternen, erschien. Bald wĂ€re es sowieso zu dunkel, um die Reise fortzusetzen. Darum entschieden die HĂ€ndler, hier zu rasten. Die Tiere legten sich auf provisorisch aufgehĂ€uftem Stroh schlafen und die Wachen entschieden, wer von ihnen welche Schicht ĂŒbernehmen wĂŒrde. Gegenseitig betrogen sie beim StĂ€bchen ziehen, um die besten Zeiten. Die mĂŒden Zivilisten betteten sich in ihren SchlafsĂ€cken zur Ruhe und waren in Gedanken schon beim nĂ€chsten Morgen. Bald schon wĂŒrde die nĂ€chtliche Stille einsetzen. Doch die krĂ€ftezehrende Reise vermochte es nicht, alle ihres ĂŒberschĂŒssigen Tatendrangs zu berauben. Freunde des Kampfes hatten lodernde Fackeln im Kreis in den Boden gerammt und so einen Ring geschaffen. Schaulustige fanden sich am Rand ein, um dem versprochenen Spektakel beizuwohnen. Seitdem die beiden neuen dem Konvoi beigetreten waren, gab es jeden Abend einen Kampf. Einer war im Kampf geschult und der andere wollte es erlernen. Die Zuschauer warteten ungeduldig. “Traut euch endlich!”, forderte einer. “Sie wird ihm wieder den Hintern versohlen!”, prophezeite ein anderer. Dann endlich erfĂŒllte sich der Wunsch der Schaulustigen und die Kontrahenten betraten bewaffnet den Ring. Es waren ein Mann und eine Frau, beide im gleichen Alter und noch sehr jung. Die Frau gehörte zu den Wachen und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Eigentlich war es unĂŒblich, Frauen als Wachen anzuheuern, aber nachdem sie den AnfĂŒhrer der Wachen im Handumdrehen besiegt hatte, vergaßen die Wachen schnell ihre Vorurteile. Der Mann war der Schmied. Der Ersatz fĂŒr den vorherigen, der sich in der letzten Stadt zusammen mit einer TĂ€nzerin abgesetzt hatte. Er sollte nicht das Schwert fĂŒhren, sondern es schleifen. Den Pferden die Hufe wechseln. Werkzeug reparieren. Aber die Bewunderung fĂŒr die Frau und ihre Kampffertigkeit, ließ ihn seine eigentliche Aufgabe vergessen. Und ihre verblĂŒffende Schönheit zog ihn an. Zumindest wĂ€hrend eines Kampfes konnte er ihr nah sein. Und vielleicht wĂŒrde sie ihn irgendwann mit anderen Augen sehen. Ein frommer Wunsch... “Bist du bereit fĂŒr deine Packung?”, fragte die hĂŒbsche Frau. “Bist du bereit, diesmal Staub zu schmecken?”, provozierte der junge Mann. “Mach dich nicht lĂ€cherlich, Idiot! FĂŒnfzehn Sekunden, dann liegst du flach!” Die Frau zog das Schwert an ihrem GĂŒrtel und brachte sich in Kampfstellung. Ihre Waffe wurde einhĂ€ndig gefĂŒhrt und erlaubte ihr, sich mit dem anderen Arm zu verteidigen. GeschĂŒtzt durch Achselzeug und Schienen, diente er ihr als Ersatz fĂŒr einen Schild, welcher viel zu sperrig wĂ€re und sie höchstens behinderte. Der junge Mann reagierte, indem er wiederum seine Waffe zog. Es war ebenfalls eine einhĂ€ndige Waffe, die er allerdings mit beiden HĂ€nden hielt. Seine mangelhafte Kampfhaltung blieb nicht unverborgen und wurde sofort kritisiert. “Wenn du es dir nicht merken kannst, lass es!”, tadelte die Frau. “N-Nein!”, widersprach der Mann. “Ich schaffe das!” Dann stĂŒrmten sie aufeinander zu und ihre Klingen kreuzten sich. Funken sprĂŒhten, als sich Stahl an Stahl rieb. Der Schmied strengte sich an, einen Treffer zu landen, welcher sein GegenĂŒber entwaffnen wĂŒrde. Keinesfalls kĂ€mpften sie, um sich ernsthaft zu verletzen. Aber die weibliche Wache wehrte alle seine Hiebe ab, als wĂ€re es nichts. “Konzentriere dich!”, setzte sie ihren Tadel fort. “Du bist echt hoffnungslos!” Blitzschnell beugte sie sich nach vorn und wich so dem neuesten Angriff aus. Doch das war nicht das Ziel, welches sie verfolgte. Sie schlug ihre in Metall gehĂŒllte Faust in die Magengrube ihres Gegners. Dem Schmied entglitt sein Schwert und er fiel auf die Knie, die HĂ€nde fest auf den schmerzenden Bauch gepresst. Er hustete und es war ihm, als wĂŒrde er sein Abendmahl gleich wiedersehen. "Ein Krieger besteht nicht nur aus seinem Schwert! Merke dir das gefĂ€lligst!" Das Publikum war nicht besonders begeistert von dem schnellen Sieg der WĂ€chterin. “Könnt Ihr ihn das nĂ€chste Mal etwas langsamer verhauen?”, entrĂŒstete sich einer. “Ja, wir wollen was sehen!”, meinte ein anderer. “Sucht Euch einen richtigen Gegner!”, stichelte ein Dritter. "Nicht diese Memme." EnttĂ€uscht zogen sie von dannen. Die Frau steckte ihre Waffe weg und half ihrem Gegner auf. Als er wieder stehen konnte, ergriff er sein Schwert und verstaute es ebenfalls. Gemeinsam traten sie aus dem Ring und gingen zu einem der Zelte. Eine Öllampe warf Schatten an die Innenseiten des zĂŒgigen Zeltes, als eine Windböe durch es hindurch pfiff. Die Kontrahenten von einst lagen nun nebeneinander, jeder in seinem eigenen Schlafsack. Sicherheitshalber hatten sie eine Mauer aus ihren Habseligkeiten zwischen sich aufgebaut, damit sie sich nicht aus Versehen schlaftrunken zu nahe kamen. Zwar tuschelte man bereits, in welcher Beziehung sie zueinander stehen könnten, aber das waren nichts als GerĂŒchte. Beide starrten an die Decke und beobachteten die Schatten. Sie konnten nicht schlafen. “Du warst heute nicht bei der Sache, Henrik!”, wurde der Schmied erneut getadelt. “Ich habe mich angestrengt, Nebula!”, verteidigte sich dieser. “Du bist einfach ein Lappen!”, sprach die Söldnerin. “Warum bleibst du nicht einfach ein Schmied und beschlĂ€gst Hufe?” “Ich möchte dir keine Last sein!” Nebula schwieg einen Moment. “Du bist mir keine Last!”, beschwichtigte sie ihn. “Wir haben uns dem Konvoi angeschlossen, um so an Informationen zu gelangen. Ich gehöre zur Wache und du zum Tross. Wir tĂ€ten gut daran, unsere Rollen zu spielen!” Dann schloss sie ihre Augen und das GesprĂ€ch war fĂŒr sie beendet. Henrik hingegen versank in Gedanken. Sechs Tage zuvor Völlig außer Atem hatte Henrik die Grenzen des fĂŒr ihn ErtrĂ€glichen erreicht. Der Schweiß rann ihm in Strömen. Seine Beine fĂŒhlten sich an, als ob sie im nĂ€chsten Moment nachgeben wĂŒrden. So ging das nicht weiter! Er benötigte eine Pause und stĂŒtzte sich an einem umgefallenen Baumstamm ab. “Nebula!”, rief er. “B-Bitte warte!” Die Blondine stoppte kurz ihren strammen Marsch und sah ĂŒber ihre Schulter. “Wenn du nicht Schritt halten kannst, solltest du zurĂŒckgehen”, sprach sie kalt. “Einen Klotz am Bein kann ich auch nicht gebrauchen!” Sie sah wieder nach vorn und ging einfach weiter. “W-Warte!” Henrik verstand sie nicht. Erst ĂŒberwand sie sich, ihn zu bitten, sie zu begleiten und jetzt behandelte sie ihn wie ein lĂ€stiges AnhĂ€ngsel? Abermals blieb Nebula stehen, diesmal ohne sich umzudrehen. Sie verzog ihr Gesicht und zeigte die ZĂ€hne. Ein widerwilliges Knurren verließ ihren Mund, als sie sich nun doch umwandte und zu ihrem Begleiter zurĂŒckkehrte. “Na schön, du sollst deine Pause bekommen.” Daraufhin setzte sie sich zu ihm, die Arme verschrĂ€nkt und mit ungeduldigem Gesichtsausdruck. “W-Warum ha-hast du es so eilig?”, erkundigte sich der Schmiedegeselle. “Das habe ich dir doch alles schon erklĂ€rt, du Trottel. Und ich habe keine Lust es nochmal zu tun! Wir mĂŒssen die KaufmĂ€nner erreichen.” “W-Wegen der Sache, die du untersuchen willst?” “Genau. Wir haben einen Auftrag.” “Die RĂ€uber?” Nebula machte sich offen ĂŒber Henrik lustig. “Nein, ein Rudel Exhibitionisten!" “D-Die sind wirklich sch-schwer bedeckt zu halten.” Sein feuchtfröhlicher Spruch ĂŒberraschte die Söldnerin. Er ging einfach nicht auf ihre Provokation ein und schaffte es sogar, die Situation aufzulockern. Den sollte sie behalten! Vielleicht tat sie gut daran, sich ihm ein wenig mehr zu öffnen. “Und d-du glaubst, du findest etwas?” “Ich half vor einigen Tagen einem HĂ€ndler. Er hat mir berichtet, das eine Handelsstraße durch das Nebeltal fĂŒhrt. Es gab schon oft ÜberfĂ€lle, wenn der Nebel besonders dicht ist. Dennoch wird die Straße nicht aufgegeben, da sie zu wichtig ist. HĂ€ndler heuern Wachen an und lassen sich von ihnen beschĂŒtzen.” “Und?” “Und da kommt mein Schwertarm ins Spiel. Ich werde als Wache anheuern.” “A-Aber du bist eine-” “Frau! Na und?!” Nebula ballte die rechte Hand zur Faust und stieß sie mit der flachen linken zusammen. ”Wenn sie keinen anderen Grund haben, mich abzulehnen, werde ich sie so lange verdreschen, bis sie mich bitten, sie zu beschĂŒtze!” “I-Ich gl-glaube, das ist gegen d-das Gesetz...” Plötzlich schwang sich Nebula wieder auf die Beine. “Genug geruht! Wir haben keine Zeit zu vertrödeln!” Widerwillig erhob sich Henrik. Nun ging die elende QuĂ€lerei von vorn los. “WAS wollt Ihr?!”, fragte einer der bereits angeheuerten WĂ€chter und konnte sich beim Anblick der schmĂ€chtigen kleinen Frau das Lachen bald nicht mehr verkneifen. “Die Karawane beschĂŒtzen?” AbschĂ€tzig musterte er das kurz geratene Weibsbild vor seinen Augen. “Ihr spinnt wohl!” Henrik und Nebula hatten den Konvoi tatsĂ€chlich noch abfangen können. Nun versuchte die Blondine als WĂ€chterin angeheuert zu werden. Sie standen inmitten der Wachen. Henrik spĂŒrte Blicke in seinem Nacken, die eigentlich jemand anderem galten. “Traut Ihr mir das nicht zu?”, beantwortete Nebula mit einer Gegenfrage, obwohl sie die Antwort dieses Mannes bereits kannte. Es waren die gleichen chauvinistischen Vorurteile, welche sie schon viel zu oft hören musste. “Eine Wache muss groß sein. Muss stark sein. Und vor allem eins: mĂ€nnlich!” “Glaubt Ihr, ich weiß das Schwert nicht zu fĂŒhren?” “Ihr könnt gern MEIN Schwert fĂŒhren!” Der Mann ballte die HĂ€nde zu FĂ€usten und bewegte seine Lenden in einer maximal vulgĂ€ren Geste. Sie verleitete die anderen dazu, hemmungslos loszupusten. Die Provokation zeigte Wirkung. “Ich ramme Euch unangespitzt in den Boden!” Nebula zog wĂŒtend ihr Schwert. “Aber lasse dich nicht so einfach provozieren!”, versuchte Henrik zu beschwichtigen. “Halt die Klappe! Lass das die Erwachsenen Regeln!” Hilflos sah er zu. Er empfand Mitleid. FĂŒr den Mann. Unterdessen entbrannte der Kampf zwischen Nebula und dem WĂ€chter. Allerdings war es nicht mehr als eine einseitige PrĂŒgelei. Gelangweilt blockte die Blondine die Hiebe und SchlĂ€ge, mit denen sie eingedeckt wurde. Als sie genug hatte, schlug sie ihrem Gegner einmal krĂ€ftig in die Magengrube und setzte ihn außer Gefecht. Umgehend verstummte das GelĂ€chter. Und ehe sie sich versahen, waren Henrik und Nebula angeheuert. Gegenwart Ein Poltern weckte den jungen Schmied und veranlasste ihn, seine Augen aufzuschlagen. Er sah ĂŒber die Barriere von Habseligkeiten, aber konnte Nebula nicht neben sich entdecken. Ihr Verbleib schien ein RĂ€tsel zu sein. Dann polterte es erneut. Henrik griff nach seinem Schwert und stĂŒrmte aus dem Zelt hinein in eine weiße Wand aus Morgendunst. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, entdeckte er Nebula. Sie hockte an einem kleinen Kessel, indem irgend etwas Unappetitliches vor sich hin blubberte, und rĂŒhrte unentwegt in dem GebrĂ€u herum. Noch hatte sie ihre RĂŒstung nicht angelegt - Die störte bestimmt beim Kochen. Sie sah zu ihm auf und bemerkte, dass er sein Schwert in der Hand hielt. “Was willst du denn mit dem Ding?”, fragte sie. “Willst du lieber Staub statt meiner KochkĂŒnste schmecken?” “N-Nein!”, antwortete er. Obwohl er sich sicher war, dass der Staub bestimmt besser schmecken wĂŒrde. “Du warst nicht da und ich h-habe etwas poltern gehört.” “Und da bist du gekommen, um mich zu retten?” Nebula machte ein spöttisches Gesicht. “Mein Ritter in glĂ€nzender RĂŒstung” Sie hörte auf zu rĂŒhren. “Ich denke, es ist fertig. Erlaubst du mir, uns beide vor dem Hungertod zu bewahren?” “Was gibt es denn?” “Haferschleim und Brot.” Nebula fĂŒllte mit einer Kelle Schleim in zwei SchĂŒsseln ab. Henrik verging blitzartig der Appetit. “WĂ€h! Schon wieder?” “Das ist gesund und nahrhaft!” Nebula legte eine Kunstpause ein und sah verlegen zur Seite. “A-Außerdem kann ich nichts anderes kochen.” “Ist doch nicht schlimm. DafĂŒr hast du doch jetzt mich!” Nebulas Gesicht errötete. Erregt und beschĂ€mt zugleich starrte sie ihn an. “W-Was soll das jetzt wieder heißen?!” Henrik konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. “Wieso lachst du jetzt, du Idiot?!” Der Schmied tat sein Bestes, um den Haferschleim nachtrĂ€glich noch genießbar zu machen. Doch es stellte sich als Ding der Unmöglichkeit heraus. Mit langen ZĂ€hnen wĂŒrgten beide ihr FrĂŒhstĂŒck herunter, das teilweise nach Kohle schmeckte, da Nebula der Schleim im Topf angebrannt war. “Du hast Recht!”, gestand Nebula ein. “Das ist widerlich!” Plötzlich horchte Nebula auf. Da war noch etwas anderes in der weißen Wand. “Geh! Versteck dich irgendwo!”, befahl sie ihrem Begleiter. “A-Aber?” “Na mach schon!” Henrik tat, wie ihm geheißen wurde. Neben ihrem Zelt hatte einer der HĂ€ndler seinen Planwagen abgestellt. Er kletterte hinein und suchte zwischen ein paar FĂ€ssern Schutz. Indes tauchte die gefĂ€hrliche Schönheit in die weiße Wand ein. Kaum ein GerĂ€usch drang aus dem dichten Dunst heraus. Henrik wollte zwar wissen, was sich zutrug, aber er gedachte wenigstens einmal auf Nebulas Worte zu hören. Dann, unerwartet, setzte sich der Planwagen wie von Geisterhand getrieben in Bewegung. Ein in einem abgetragenen Lederwams gekleideter, unrasierter und ungewaschener Mann mit kurz geschorenen Haaren brach zusammen, als Nebula den Knauf ihres Schwertes auf seinen Kopf schlug. “Das war der letzte von ihnen!”, verkĂŒndete sie stolz. Die anderen Wachen kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als die hĂŒbsche Frau die unbefleckte Klinge wegsteckte. Eine Augenweide und ein starker Krieger. QualitĂ€ten, denen man selten kombiniert in einer Person begegnete. Um Nebula herum lagen sechs bewusstlose Angreifer. Sie hatte sie alle allein erledigt, wĂ€hrend die anderen Wachen MĂŒhe im Zweikampf hatten. “Gute Arbeit”, sagte einer der WachmĂ€nner verlegen. “Wo sind die ĂŒberhaupt hergekommen?”, fragte ein weiterer. “Wahrscheinlich hielten sie sich fĂŒr klug, uns zu ĂŒberfallen, wenn niemand sie kommen sieht.” “Aber so haben sie nicht gesehen, wie gut hier alles bewacht ist", tönte stolz ein weiterer. “Ihr meint, sie haben unser blondes Biest nicht gesehen!” Langsam aber sicher ließ die Sonne den dichten Schleier weichen und man konnte endlich wieder klar sehen. Die Wachen fesselten die MĂ€nner und setzten sie in einen der Planwagen fest. Einer der HĂ€ndler verfiel urplötzlich in Hysterie, als er feststellte, dass etwas fehlte. Aufgeregt rannte er auf Nebula und die anderen Wachen zu. “Mein Wagen ist fort!”, rief er unentwegt. “All der teure Wein!” “Was meint Ihr damit, das Euer Wagen fort sei?”, erkundigte sich Nebula. Der Mann deutete auf die Stelle, wo sein Wagen gestanden hatte. Nebula stellte mit Schrecken fest, dass sie und Henrik ihr Zelt direkt daneben aufgeschlagen hatten. Sie eilte, um nach ihrem Schmied zu suchen. Doch er war nicht im Zelt. Hatte er sich im Wagen versteckt? Du Idiot, dachte sie besorgt. Machst doch sonst nie was ich sage! Dann kehrte sie zu den anderen Wachen zurĂŒck. “Ich werde den Wagen zurĂŒckholen!”, kĂŒndigte sie an. “Das könnt Ihr nicht allein wagen!”, sagte einer der MĂ€nner. “Das ist Selbstmord! Wer weiß, wie viele noch da draußen sind. Ich werde Euch lieber begleiten.” “Fein! Seid mir aber kein Klotz am Bein!” Gemeinsam folgten sie den Wagenspuren. Sie fĂŒhrten sie in einen kleinen Wald. Dort fanden sie den Karren. Er war liegen geblieben, als eines der RĂ€der in den schlammigen Resten eines Wasserloches stecken blieb. Zwei MĂ€nner versuchten es herauszuheben, um der misslichen Lage zu entkommen. Gerade als Nebula sich ihrer annehmen wollte, fĂŒhlte sie den Griff ihres Begleiters um ihren Körper und ein Messer an ihrer Kehle. Henrik kauerte noch immer im Planwagen. Bisher war er noch nicht entdeckt worden. Er hatte einen Schreck bekommen, als der Wagen plötzlich losfuhr. Doch nun steckte ein Rad fest und die RĂ€uber konnten ihre Flucht nicht mehr fortsetzen. Sie sind beschĂ€ftigt, dachte Henrik. Es wĂ€re die Gelegenheit! Doch dann hörte er eine vertraute Stimme. Vorsichtig sah er durch den Spalt in der Plane. Nebula wurde von einer der Wachen der Karawane festgehalten und mit einem Messer bedroht. Seine Hand wanderte an Stellen, wo sie nichts verloren hatte. Erst hinauf an ihre Brust und dann hinunter zwischen ihre Beine. Er presste ihre untere HĂ€lfte gegen die seine. Sie konnte seine Geilheit durch ihrer beider Kleidung deutlich fĂŒhlen. “Ihr habt meine Freunde ausgeliefert, Weib”, flĂŒsterte er ihr ins Ohr. “DafĂŒr werdet Ihr mich entschĂ€digen!” Nebula wurde von dem Mann nĂ€her an den liegengebliebenen Wagen gezwungen. “Schaut mal, Jungs!”, rief er seinen Komplizen zu. “Schaut, was ich hier habe!” Die beiden MĂ€nner stoppten ihre Arbeit am Rad. Die verrĂ€terische Wache machte sich noch einmal an Nebulas Oberweite zu schaffen. Sie fĂŒhlte seine widerlichen Griffel selbst durch ihr gepolstertes Oberteil hindurch. Er musste ihre Brust mit einem Brotteig verwechseln. “Ihr wisst, dass Ihr gleich unsĂ€glich Schmerzen leiden werdet?!”, sagte sie zornig. Sie stieß ihren Kopf gegen den der korrupten Wache und befreite sich aus seinem Griff. Dann entriss sie ihm das Messer und schlug ihn mit geballter Faust bewusstlos. Durch den Schlag gingen mehrere seiner ZĂ€hne auf eine Reise ohne Wiederkehr. Nebula warf das Messer in der Hand auf einen der anderen RĂ€uber. Die Klinge streifte dessen Wange und bohrte sich in den Baum hinter ihm. "Euch will ich vor die Wahl stellen: Werdet Ihr kĂ€mpfen oder fliehen?" Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Sie streckten die eben erst gezogenen Waffen nieder und flohen. Ihren Kameraden ließen sie zurĂŒck. Wenig spĂ€ter traute sich auch Henrik aus seinem Versteck heraus. Vorsichtig stieg er aus dem Planwagen aus. Nebula war sichtlich erleichtert, auch wenn sie es nicht offen zugab. “Idiot”, schimpfte sie. “Wenn du dich noch mal entfĂŒhren lĂ€sst, töte ich dich selbst!” “W-Was ist eigentlich passiert?”, fragte der Schmied. “Dieser Wachmann dort war wohl insgeheim ein RĂ€uber”, schloss Nebula. Dabei zeigte sie auf den Mann, der noch immer bewusstlos die imaginĂ€ren Sterne bewunderte, welche um seinen Kopf kreisten. “Wahrscheinlich hat er seinen Leuten irgendwie ein Zeichen gegeben, wenn sie angreifen sollen.” “Ist diese Gegend nicht als Nebeltal bekannt?”, fragte Henrik. “D-Das ist doch ihre ĂŒbliche F-F-Vorgehensweise, den Nebel als Tarnung fĂŒr ihre ÜberfĂ€lle nutzten.” “Das haben sie davon, meinen schönen Namen in den Schmutz zu ziehen!” Henrik entdeckte die ausgeschlagenen ZĂ€hne. “D-Du hĂ€ttest aber nicht so hart zuschlagen mĂŒssen." "Er hat mich schamlos befummelt, dieser notgeile falsche FĂŒnfziger!" Nebula ging zu dem Wagen und hob ihn mĂŒhelos aus dem Schlamm. “Das hĂ€tten wir!” “Sagenhaft!”, staunte der junge Schmied. Gemeinsam kehrten sie zum Konvoi zurĂŒck. Der VerrĂ€ter befand sich gefesselt im Planwagen. Sie berichteten, was sich zugetragen hatte. Die Wachen schienen betroffen, die Ratte in ihren Reihen nicht enttarnt zu haben. Sie legten den Mann bei seinen Komplizen in Ketten. Dann wurde die Reise fortgesetzt. Das Ziel war die Hauptstadt. Allerdings reisten Nebula und Henrik kurz danach allein weiter, da ihr Ziel in einer anderen Richtung lag. Obwohl Nebula um einiges stĂ€rker war, ließ sie Henrik das GepĂ€ck schleppen. Das Zelt, den Proviant und einiges mehr. Ein Gentleman trĂ€gt einer Lady ihre Sachen! Am Rand des Gebirges, welches das Nebeltal umschloss und mitverantwortlich fĂŒr das WetterphĂ€nomen war, welches dem Tal seinen Namen gab, lag die Stadt Schleierfirst. Doch es war noch ein weiter Weg fĂŒr Henrik, den freiberuflichen Packesel. 🌱 Aus der Ferne erkannten Nebula und Henrik die Konturen eines kleinen Dorfes. Es war eine gar mickrige Ansiedlung mit Stroh bedeckten HĂ€usern und einer lachhaft kleinen Palisade. Im Ernstfall bot sie keinerlei Schutz gegen Angreifer. Wahrscheinlich vermochte sie es gerade so, das Nutzvieh am Stiften gehen zu hindern. “Schau mal, ein Dorf!”, bemerkte der junge Schmied. “Ich wusste nicht, dass es auf dem halben Weg nach Schleierfirst eine Siedlung gibt”, grĂŒbelte Nebula. “Andererseits, so klein wie sie ist, kann man sie schon mal ĂŒbersehen.” Der Proviant des Duos neigte sich dem Ende entgegen. Das Dorf bot die perfekte Gelegenheit, die VorrĂ€te wieder aufzufĂŒllen. Sicher fĂ€nde sich auf dem Marktplatz das ein oder andere NĂŒtzliche fĂŒr die weitere Reise. Ein schmaler Pfad fĂŒhrte durch Wiesen und Felder. Er war nicht so staubig, wie es bei den Temperaturen zu vermuten wĂ€re. Als sie die Kulturen durchquerten, stellten sie fest, dass sie in ĂŒberraschend gutem Zustand waren. Nebula sah an den Rand des Feldes und erkannte mit kĂŒhlem Nass gefĂŒllte BewĂ€sserungsgrĂ€ben. Die Dorfbewohner mussten einen verlĂ€sslichen Zugang zu Frischwasser besitzen, wenn sie ihre Felder trotz der Trockenheit am Leben erhalten konnten. Entweder eine Wasserpumpe oder eine unterirdische Quelle. Vielleicht war es keine so schlechte Idee, in das Dorf fĂŒr eine Rast einzukehren. Als sie sich dem Palisadentor nĂ€herten, hörten sie laute Stimmen aus der Siedlung schallen. Einige klagten, einige drohten. “W-Was mag da vor sich gehen?”, fragte Henrik. “Wir sollten uns da nicht einmischen!”, belehrte Nebula “Vielleicht br-brauchen sie Hilfe!” “Die Streitereien von Fremden sollten dich nicht kĂŒmmern!” Nebula spĂŒrte, dass irgendetwas faul war. Dennoch gab sie ihrem Begleiter schlussendlich nach. ”Aber es gibt nur einen Weg herauszufinden, was dort vor sich geht.” “A-Also gehen wir hinein?” “Ja, aber stolpere nicht ĂŒberall herum!” Mit der Hand an der Waffe betrat Nebula das Dorf. Henrik hingegen dachte im Traum nicht daran zu kĂ€mpfen. Lieber hielt er sich hinter Nebula und hoffte, nicht gesehen zu werden. Das stellte sich angesichts ihres GrĂ¶ĂŸenunterschiedes als schwieriger heraus, als er gedacht hatte. “Bitte, gebt uns noch etwas Zeit!”, bettelte eine alte Frau. Sie musste eine wichtige Persönlichkeit in der Siedlung sein. Vielleicht die DorfĂ€lteste. Sie trug das zu dicken StrĂ€hnen verklebte lange graue Haar in einem losen Pferdeschwanz und musste ihr gesamtes Gewicht auf einen Gehstock stĂŒtzen, um nicht hinzufallen. “Halt deine Schnauze, du alte Schachtel”, brĂŒllte ein muskelbepackter, groß gewachsener Mann, der einen Dornen bewehrten Streitkolben am GĂŒrtel trug. Er versetzte dem Gehstock einen Tritt, woraufhin die alte Frau hinfiel und wehklagend auf dem RĂŒcken liegen blieb. “Der nĂ€chste Tribut fĂŒr meinen Herrn ist fĂ€llig!” “Großmutter!”, rief ein Junge besorgt und drĂ€ngte sich aus der versammelten Menge hervor. “Großmutter, geht es dir gut?” Er starrte den Mann voll des Zornes an. “Du hast meiner Großmutter wehgetan, du Dreckschwein!”, beschimpfte er ihn. Der Grobian knackte mit den Fingergelenken und anschließend mit dem Nacken. “Jetzt werd mal nicht frech, du Bengel!” Er ergriff seinen Kolben und machte sich bereit, dem Kind den SchĂ€del einzuschlagen. Doch dann spĂŒrte er Widerstand. Egal mit wie viel Kraft er seine Waffe auf das Kind hernieder gehen lassen wollte, es gelang nicht. Er musste feststellen, dass jemand seinen Arm festhielt. Er sah sich nach dem ÜbeltĂ€ter um. “Man schlĂ€gt keine Kinder!”, sprach Nebula, die ihn am Zuschlagen hinderte. Der Mann wollte nicht glauben, dass eine zarte Frau, die ihm nicht mal bis zur Brust ragte, seinen Arm mit solcher Kraft festhalten konnte, dass er ihn nicht mehr bewegen konnte. Er versuchte, sich loszureißen - vergeblich. “Lasst los, Weib!, befahl er. “Lasst los, oder bereut es!” Er steigerte seinen Krafteinsatz. Nebula spĂŒrte, wie er sich an ihr abmĂŒhte. Dennoch bewegte sich die Waffe nicht einen Millimeter. Schon irgendwie lustig
 Sie beschloss, ihm den Gefallen zu tun und ließ los. “Bitteschön!” Als sie ihre Hand öffnete, wurde der Mann durch seine eigene Zugkraft umgeworfen, als die entsprechende Gegenkraft entfiel. Die anderen MĂ€nner, die zweifelsohne zu ihm gehörten, lachten ihn aus, als sein Gesicht im Staub landete. Der Junge nutzte die Gelegenheit, um sich und seine Großmutter in Sicherheit zu bringen. “A-Aber so f-fang doch bitte keinen Streit a-an”, bat der feige Henrik, welcher um jeden Preis einen Kampf vermeiden wollte. “Er hat mich beleidigt und nicht andersherum!”, erwiderte Nebula. “Du kleine dĂ€mliche Hure!”, schnaubte der Muskelberg, als er wieder aufstand. Er sammelte seine Waffe wieder auf, welche ihm bei seinem Sturz entglitten war. Die Schmach, von diesem vorlauten WeibsstĂŒck blamiert worden zu sein, wollte er ihr vergelten. “Ich kann mich nicht erinnern, Euch das ‘Du’ angeboten zu haben.” WĂ€hrend der Bandit vor Wut schnaubte wie ein Stier, blieb Nebula ganz gelassen. Er war nichts weiter als ein Handlanger. Von ihm hatte sie nichts zu befĂŒrchten. Ihre EinschĂ€tzung schien er allerdings nicht zu teilen. “Du
” Der Mann scherte sich nicht den begonnenen Satz fortzufĂŒhren. Lieber hob er den Streitkolben und wollte auf Nebulas hĂŒbsches Gesicht mit ihm maltrĂ€tieren. Henrik duckte sich und schlug die Arme ĂŒber dem Kopf zusammen. Er wollte nicht mit ansehen, wie der arme Mann gleich von der Blondine massakriert wĂŒrde. Bevor die Waffe Nebula treffen konnte, schlug sie ihrem Angreifer die Faust ins Gesicht, sodass er abermals zu Boden ging. Diesmal mit so viel Energie, dass er sich mehrfach ĂŒberschlug und anschließend nicht mehr aufstand. Schockiert sahen die ĂŒbrigen MĂ€nner die blonde Frau an. “Keine Angst, Jungs”, versicherte sie ihnen spöttisch. “Der schlĂ€ft nur ein bisschen.” Dann erhob sie die geballte Faust auf Höhe ihres Gesichtes und setzte ein bösartiges Grinsen auf. “Jetzt nehmt ihn und macht, dass ihr Land gewinnt, bevor ich mich vergesse!” TatsĂ€chlich gehorchten ihr die Halunken. Sie hoben ihren benommenen Kameraden an. Jeweils einer stĂŒtzte einen Arm ĂŒber der eigenen Schulter. Dann verließen sie zĂŒgig das Dorf. Jedoch nicht ohne eine Drohung auszuspucken. “Das wird nicht ohne Folgen bleiben!”, sagte einer. “Greymore wird euch alle bestrafen!” Henrik konnte sehen, wie sich die Augen der Blondine bei der ErwĂ€hnung dieses Namens kurz weiteten. Daraus schloss er, dass sie ihn kannte. Aber sie schwieg. Obwohl sie nur kurz auf den Markt gehen wollten, bestanden die Dorfbewohner darauf, ein Fest zu veranstalten. Sie wollten sich bei ihren Rettern bedanken. Zwar gedachten Nebula und Henrik keinesfalls ihre Gastfreundschaft auszunutzen, aber es wĂ€re genauso unhöflich gewesen, eine solche Einladung auszuschlagen. Darum entschieden sie sich, entgegen ihres Vorhabens, die Nacht im Dorf zu verweilen. Innerhalb weniger Stunden hatten die Dorfbewohner den Marktplatz mit Girlanden verziert und Tische aufgestellt. Zwar hĂ€tten Nebula und Henrik gern geholfen, aber die Dorfbewohner ließen es nicht zu. Also ergaben sie sich dem sĂŒĂŸen Nichtstun und versuchten, nicht im Weg herum zu stehen, wĂ€hrend sich die Dorfbewohner fĂŒr sie den RĂŒcken krumm schufteten. Als es dann Abend wurde und die Dunkelheit einsetzte, wurden die Öllampen entzĂŒndet und warmes gelbes Licht hĂŒllte den Marktplatz ein. Die Tische warteten reich gedeckt mit Trank und Speise auf die EhrengĂ€ste. Kaum hatte sich Henrik an den Tisch gesetzt, wurde er von einigen MĂ€dchen aus dem Dorf umschwĂ€rmt. Er verstand nicht warum, denn er hatte nichts getan, um das zu verdienen. Im Gegenteil! Er war feige und hatte einer Frau die Drecksarbeit ĂŒberlassen, anstatt selbst etwas zu tun, wie es sich fĂŒr einen echten Mann geziemte. Mit einem LĂ€cheln versuchte er sich nichts anmerken zu lassen, doch innerlich wurde ihm ganz flau im Magen. Seine innere Stimme sagte ihm, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er ließ seine Blicke zu Nebula schweifen, die zusammen mit ein paar MĂ€nnern saß. Sie tranken und lachten. Wenigstens hat sie ihren Spaß, dachte er. “Was ist denn mit dir?”, fragte eines der MĂ€dchen. Offenbar wurde sein falsches LĂ€cheln durchschaut. Die Dorfschönheit schlug ihre Arme um ihn und drĂ€ngte sich ihm auf. Sein Gesicht tauchte unfreiwillig in ihren tiefen Ausschnitt ein, wie ein Neugeborenes in einem Taufbecken. So sehr er sich anstrenge, war es ihm unmöglich zu entkommen. Er zappelte und versuchte, sich zu befreien. “Bin ich dir nicht hĂŒbsch genug?” “D-Doch!”, sagte er. “A-Aber ich be-bekomme keine Luft!” Seine Worte wurden von dem voluminösen Busen des MĂ€dchens gedĂ€mpft und waren kaum zu verstehen. Es gelang ihm, sich der erstickenden Umarmung der Schönheit zu entziehen. Einen tiefen Atemzug nehmend, verließ er die Tafel, um etwas durch die Gassen zu schlendern. Irgendwas stinkt hier, dachte er. Der Alkohol hatte Nebulas Gesicht ganz rot werden lassen. Sie war so betrunken wie selten zuvor. Die schmutzigen Witze der MĂ€nner machten ihr nichts aus. Eigentlich wĂŒrde ihre prĂŒde und konservative Erziehung sie davon abhalten, sich in diesen Kreisen zu bewegen. Aber sie hörte zu und lachte sogar darĂŒber. NĂŒchtern wĂŒrde sie die MĂ€nner fĂŒr solche vulgĂ€ren SprĂŒche windelweich prĂŒgeln! GlĂŒck fĂŒr sie, dass sie sternhagelvoll war. “Geht eine Nonne zum GemĂŒsehĂ€ndler und kauft eine Gurke”, polterte einer der MĂ€nner. “Sagt der HĂ€ndler, sie solle doch zwei nehmen. Dann könne sie eine davon essen.” Nebula und die MĂ€nner lachten hemmungslos. “Wie erkennt man eine gute Hausfrau?”, fragte ein zweiter. “Ganz einfach! Wenn sie nach getanem Hausputz noch die Stange poliert.” Erneut lachten alle hemmungslos und ausgiebig. “Wartet, der ist auch gut!”, kĂŒndigte Nebula an. “Warum können die HĂ€lfte aller MĂ€nner nach dem Akt nicht einschlafen? Na weil sie abhauen mĂŒssen, bevor der Gatte wiederkehrt!” Und wieder wurde lauthals gelacht. Doch das GelĂ€chter klang dumpf fĂŒr die Blondine. Die Lachen von Nebulas Saufkumpanen waren wie aus einer anderen Welt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Vorsichtig versuchte sie aufzustehen. Der Boden schwankte wie ein Schiff bei tĂŒchtigem Seegang. “Wie stark ist Euer Trank?”, fragte sie. “Entschuldigt mich mal...” Wankend und in Schlangenlinien versuchte sie, auf beiden Beinen zu bleiben. Die MĂ€nner sahen sich ratlos an. Dieses MĂ€dchen hatte sieben KrĂŒge der Hausmarke der Dorfbrauerei in sich hineingeschĂŒttet und vermochte es immer noch zu stehen. Unfassbar! Nun zwangen sie jedoch dringende BedĂŒrfnisse, das Trinken zu unterbrechen. Nach einer Weile wollte einer der MĂ€nner nachsehen, wo Nebula blieb. Doch bevor er aufstehen konnte, kehrte sie zur Tafel zurĂŒck, nur um das Trinken fortzusetzen. Drei weitere KrĂŒge der Hausmarke fielen ihr zum Opfer. Langsam fragten sich die MĂ€nner, ob dieses MĂ€dchen ein Fass ohne Boden sei, bis es endlich genug war. Nebula fĂŒhlte sich weich im Kopf. Alles drehte sich. Viel schlimmer als sie es gewohnt war. “Pff-verdammt, wie zz-stark is-zz daz Zeusch?”, stammelte sie vor sich her. Dann kippte die ganze Welt zur Seite und Nebula fĂŒhlte etwas hartes an ihrer Wange. Es war die Tischplatte. Sie war zu besoffen, um zu merken, dass sie gerade das Bewusstsein verlor. Henrik schlenderte durch die dunklen Straßen des Dorfes. Bisher war es ihm nicht gelungen, seine Gedanken abzukĂŒhlen. Schwach leuchteten die Lichter des Festes durch die schmalen Gassen und die GerĂ€usche der Feiernden drangen kaum noch an sein Ohr. Ganz tief saugte er die kalte Nachtluft ein und atmete sie wieder aus. Er konnte sich einfach nicht helfen. All die Aufregung um die “Rettung” des Dorfes fĂŒhlte sich aufgesetzt an. Er wurde das GefĂŒhl nicht los, dass die Dorfbewohner etwas im Schilde fĂŒhrten. Dann bemerkte er ein kleines MĂ€dchen an einer Hauswand sitzen. Das Mondlicht strahlte sie an. Henrik beschloss, zu dem MĂ€dchen zu gehen. Es war vielleicht acht bis höchstens zehn Jahre alt und trug abgerissene Kleider, als ob es auf der Straße lebte. Ihr einziges Besitztum schien ein blaues Buch zu sein, das sie wie einen kostbaren Schatz an ihren Körper presste. “Was ist mit dir, Keine?”, fragte er, als das Kind nicht auf sein kommen reagierte und nur den Mond anstarrte. “Ich wusste, dass du kommst”, flĂŒsterte die Kleine. “Der Mond hat es mir verraten.” “Wie meinst du das?” “Wenn du ein paar MĂŒnzen fĂŒr mich hast, werde ich dir aus den HĂ€nden lesen”, bot sie an. Sie machte einen so Ă€rmlichen Eindruck, dass das Mitleid den braunhaarigen Jungen ĂŒberkam. Er willigte ein, sich von ihr die Zukunft deuten zu lassen und beabsichtigte, ihr im Anschluss all sein Geld zu geben. "Bitte, gibt mir deine linke Hand”, sagte sie und legte ihr Buch beiseite. Henrik reichte ihr, wie gefordert, die linke Hand. Das MĂ€dchen ergriff sie und fuhr mit dem Finger ĂŒber Henriks Handteller. “Die linke Hand kennt deine Vergangenheit und Gegenwart”, erklĂ€rte es. “Du hast schon immer eine besondere Gabe besessen. Aber du warst bis vor kurzem nicht imstande, sie zu nutzen. Du warst vom Pech verfolgt und niemand wollte dir beistehen. Dann haben sich dir neue Möglichkeiten aufgetan, als eine Frau in dein Leben trat.” Henrik war verblĂŒfft. Wie konnte dieses fremde MĂ€dchen so viel ĂŒber ihn wissen? Selbst wenn sie sie beobachtet hatte, woher wusste sie von dem Rest? “Bitte gib mir nun die rechte Hand”, sagte das Kind. Henrik reichte ihr nun auch diese. Das MĂ€dchen sah sich nun auch die rechte Hand an. “Die rechte Hand kennt den Pfad, den du gehen wirst. Oh, was ist das?” Die Augen der Kleinen weiteten sich. “So etwas habe ich noch nie gesehen!” Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder sprach. “Du wirst deine große Gabe bald einsetzen. Der SchlĂŒssel, sie zu verstehen, liegt in der Vergangenheit.” “Das ist s-sehr interessant”, lobte Henrik. Auch wenn er nicht wusste, wie er ihre Weissagung deuten sollte. Wie er es geplant hatte, gab er ihr sein ganzes Geld. “Oh, habt dank!”, sagte das MĂ€dchen. “Aber das ist zu viel!” “Nein! Ist genau richtig! Ich bin ĂŒbrigens Henrik.” “Schön dich kennenzulernen. Mein Name ist Annemarie.” “Wieso sitzt du hier auf der Straße?” “Ich weiß es nicht.” “Hast du keine Eltern?” “Ich weiß es nicht.” “Das ist schlimm! Kannst du wirklich zu niemanden gehen?” “Nein. Bitte gehe jetzt. Unser beider Schicksal wartet nicht gern!” Henrik fĂŒhlte sich unwohl bei dem Gedanken, das MĂ€dchen allein auf der Straße sitzen zu lassen. Aber es hatte jetzt all sein Geld. Alles, was er aus dem Verkauf seiner Schmiede herausgeschlagen hatte und auch das Geld, welches er von Nebula als seinen Anteil am Gewinn erhielt, hatte den Besitzer gewechselt. Damit sollte die Kleine gut ĂŒber die Runden kommen. Mehr konnte er wirklich nicht tun. Und das war mehr, als die meisten tun wĂŒrden. Und auch mehr, als er sich leisten konnte. Innerlich gespalten, machte er sich auf, zum Fest zurĂŒckzukehren. Kurz vor dem Marktplatz fĂŒhlte er urplötzlich einen Schlag im Nacken. Er wurde sofort zu Boden geworfen und verlor das Bewusstsein. Ein Fremder ergriff Henriks Oberarbe und zerrte ihn von der Straße in die Dunkelheit. Annemarie beobachtete es aus sicherer Entfernung. Seine Zukunft war vor ihrem geistigen Auge bereits Vergangenheit. Sie griff nach ihrem Buch, das noch immer neben ihr lag, und drĂŒckte es wieder fest an sich. Kapitel 3: Duell der Waffenmeister ---------------------------------- 🌱 In all der Finsternis brannten die Lichtstrahlen, welche durch das kleine, hochgelegene Fenster drangen, wie SĂ€ure in den Augen. Es war stickig und einen Atemzug zu nehmen, fĂŒhlte sich an, wie heiße Asche aufsaugen. Der Gestank von menschlichem Urin und Exkrementen verewigte sich mit jeder Inhalation in der Nase, wie ein Brandzeichen auf dem Leib einer Milchkuh. Aufgeschreckt von einer plötzlichen Bewegung, huschten mehrere Ratten in verschiedene Richtungen ĂŒber den schmutzigen Boden. Ein Mann in abgerissenen Lumpen erhob sich in seiner winzigen Zelle und umklammerte die eisernen GitterstĂ€be. Unentwegt rĂŒttelte er verzweifelt am Metall. Er wurde nicht mĂŒde vom Versuch, die Gitter niederzureißen. “Lasst mich endlich raus”, brĂŒllte er so krĂ€ftig, wie es seine Lungen in all dem Schmutz und Dreck hergaben. “Gebt es auf, Mann”, sprach ein anderer Mann lethargisch und frei von jeder Zuversicht. “Sie werden uns nicht mehr freigeben.” “Ich will hier raus!” “Niemand kommt hier wieder raus!”, versicherte eine Gestalt tief in der Dunkelheit. “Irgendwann kommen sie einen hohlen. Und dann ist man nie wieder gesehen.” “Hey!”, setzte der Verzweifelte sein BrĂŒllen fort. “Hey, ich habe Familie! Lasst mich raus!” Quietschend öffnete sich die schwere EisentĂŒr und ein KerkerwĂ€chter mit einem Band um den Oberarm trat ein. Ihm folgten zwei Lakaien mit einem Wagen. Auf ihm befand sich ein Kessel, ein paar schmutzige SchĂŒsseln und eine von Resten vergangener Mahlzeiten verkrustete Kelle. Der Mann löste das Band an seinem Arm und schnĂŒrte es um die Stirn. “Essenszeit, ihr Ratten!”, rief der WĂ€chter und schlug mit der Kelle gegen den Kessel. Wie Mastschweine um den Trog, zog es die Gefangenen an die GitterstĂ€be. UngezĂŒgelt streckten sie ihre HĂ€nde den Lakaien entgegen. Jeder bekam eine SchĂŒssel und genau eine Kelle von dem unappetitlichen stinkenden Eintopf, der sich im Inneren des Kessels befand. Ein GebrĂ€u wie aus Tage alten, ranzigen KĂŒchenabfĂ€llen zusammengerĂŒhrt. Gierig schlangen sie ihre Rationen herunter. “Ich hoffe es hat gemundet!”, spottete der Wachmann. Er sah sich unter den Gefangenen um. “Bald kommen wir euch holen!” Langsam kam Henrik wieder zu sich. Schmerzhaft kam die Erinnerung an den Treffer auf seinen SchĂ€del zurĂŒck. “Aua!”, sagte er. Er befĂŒhlte seinen Hinterkopf und entdeckte eine mĂ€chtige Beule. “Endlich bist du wach!”, sprach eine Stimme. Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war. Es war Nebula, die neben ihm hockte. Henrik sah sich um. Die verschwommenen Konturen wurden mit der Zeit klar. Beide waren eingesperrt mit einigen unbekannten MĂ€nnern und auch ein paar Frauen. Ein hölzerner KĂ€fig auf einem Fuhrwerk stellte ihr mobiles GefĂ€ngnis dar. Es wurde von zwei Ochsen gezogen. Links und Rechts ritten MĂ€nner in ledernen RĂŒstungen auf beige-farbenen Pferden. “W-Was geht hier vor?”, fragte Henrik. “Sie haben uns reingelegt!”, klĂ€rte Nebula auf. “W-Wer?” “Die Dorfbewohner, du Trottel!” “A-Aber wieso haben die das getan?”, empörte sich Henrik. “Du hast ihnen doch g-gegen die MĂ€nner geholfen.” Der Schmied wandte sich lauthals an die anderen. “Hey, ihr da! W-Was ist mit euch? W-Wo kommt ihr h-her?” “Ruhe da hinten”, forderte der Kutscher zum stillschweigen auf, “oder es setzt was!” “Wir haben Nachforschungen angestellt, erinnerst du dich?”, fragte Nebula flĂŒsternd. “Wegen der RaubĂŒberfĂ€lle...” “Es fiel immer wieder der Name eines berĂŒchtigten Raubritters: Greymore.” “Stimmt. Im Dorf habe ich den Namen auch gehört!” “Greymore verkauft Menschen als Sklaven und erpresst Dörfer. Sie fĂŒrchteten die Rache von Greymores MĂ€nnern und haben uns deshalb verraten.” “W-Warum mĂŒssen Menschen a-anderen Menschen Leid z-zufĂŒgen?” “Es heißt, er sei mit dem Teufel im Bunde. Niemand traut sich, gegen ihn vorzugehen.” “U-Und was ist mit dem König? Warum u-unternimmt der nichts?” “Das wĂŒsste ich auch gern! Aber wir haben andere Probleme! Sie bringen uns irgendwo hin. Unsere Waffen sind auch weg.” Hastig suchte Henrik in seiner SchĂŒrze und war erleichtert, als er seinen Hammer fand. “Keine Angst, das Ding haben sie dir aus unerfindlichen Grund gelassen! Vielleicht brauchen sie einen Schmied...” Nebula half Henrik beim aufstehen. “Vermutlich wollen sie uns versklaven, verkaufen oder vielleicht beides. Aus dir werden sie einen Leibeigenen machen. Was mit mir geschieht, mag ich mir nicht vorstellen.” Henrik erhob seine Stimme. “A-Aber das kannst du nicht z-zulassen!” “Mir sind die HĂ€nde gebunden.” “A-Aber du bist doch selbst m-mit dem Teufel-” “Schweig!”, stoppte Nebula ihren Schmied noch inmitten des Satzes. “Das ist viel zu gefĂ€hrlich! Ich werde es nicht einsetzen. Ich könnte Unschuldige verletzen. Greymore wird seine Strafe schon noch erhalten! Das schwöre ich!” Der Gefangenentransport nĂ€herte sich einer hölzernen Befestigungsanlage. Ein Holzwall umringte einen steinernen Bergfried, der auf einer Anhöhe stand. Im Inneren des Ringes dienten mehrere BlockhĂŒtten als Behausungen fĂŒr das Gefolge. Aber kein Gefangener sah das Tageslicht. Der Kerker befand sich im Keller des Bergfrieds. Der Wagen hielt vor dem Tor, bis sich dieses langsam auftat. Danach setzte das GefĂ€hrt seinen Weg in den Innenhof fort. In seinem Inneren erwartete man einen Markt, fand aber stattdessen eine Arena vor. “Wa-Was ist das alles hier?”, fragte Henrik. “Vielleicht steht uns noch ein schlimmeres Schicksal als konventionelle Versklavung bevor.” Wie tief bist du gesunken, Greymore, dachte Nebula. Der Wagen kam vor einem Eingang auf ebener Erde zum stehen. Einer der begleitenden Reiter saß ab und ging hinein. Nach einer Weile kam ein anderer Mann in Begleitung von mehreren Soldaten aus der TĂŒr heraus. Er war in feinste Gewandung gekleidet. DarĂŒber trug er ein Kettenhemd und einen Wappenrock. Arme durch Achselzeugs, Beine durch Schienen geschĂŒtzt, rundeten das Bild eines Ritters ab. Nebula spĂŒrte eine dunkle Aura von ihm ausgehen. Der Mann ging zu dem Wagen mit den Gefangenen darin. Langsam umschritt er ihn, um die Ausbeute zu begutachten. Ein plötzliches Unbehagen durchfuhr seinen Körper und zwang ihn zu halten. Binnen eines Wimpernschlages fand er sich in einer trostlosen Ödnis wieder. Er musste sich nicht lange wundern, denn eine vertraute Stimme rief ihn zu sich. Geschwind wandte er sich ihr zu. Vor ihm stand ein muskulöser Mann in Lendenschurz und Fellstiefeln. Pulsierende Adern bedeckten seinen ganzen Körper und seine Augen leuchteten so hell wie die Sonne. “Ich spĂŒre einen anderen Meister in diesem KĂ€fig!”, sprach der Titan von einem Mann mit Donnerstimme. Ein weiterer Wimpernschlag spĂ€ter und der Ritter fand sich zurĂŒck in der RealitĂ€t und realisierte, dass nicht eine Sekunde verstrichen war. Nach Außen zeigte er nicht die geringste Regung. Er setzte seinen Rundgang um den Wagen fort, bis er abermals stoppte, denn jemand stach aus der Masse heraus. Die goldblonden Haare Nebulas, welche zwischen den Köpfen der anderen Gefangenen hervorblitzen, hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Neugierig trat er nĂ€her an den KĂ€fig heran. “Zeigt Euch!”, befahl er. “Genau Ihr, Blondschopf!” Nebula erkannte die Stimme und drĂ€ngte sich zwischen den anderen Gefangenen hindurch an die GitterstĂ€be. “Hier bin ich, Greymore!”, sprach sie selbstsicher. “Ihr!”, tat der Raubritter seiner Verwunderung kund. “Wie ist... ?!!” Verstört blieb er einen oder sogar zwei Momente stehen, als habe er einen Geist gesehen. Dann sah er zu seinen Gefolgsleuten. “Seht ihr nicht, wer unser Gast ist!”, sprach er. “Holt sie sofort aus dem KĂ€fig heraus! Bereitet ein Gemach fĂŒr sie vor! Und der Rest kommt ins Loch!” Die MĂ€nner folgten der Anweisung und holten die blonde Frau behutsam aus dem Wagen heraus. Dabei streckten sie jedem anderen ihre Waffen entgegen, der es wagte, dem Ausgang des KĂ€figs zu nahe zu kommen. “Wo bringt ihr sie hin?”, wollte Henrik wissen. Doch er bekam keine Antwort. Ein reichlich dekoriertes Zimmer sollte Nebulas Verließ sein. Der Ausgang durch eine massive TĂŒr fest verschlossen. So stabil, dass es ungewiss war, ob sie sie aus eigener Kraft schnell genug aufbrechen könnte, bevor es bemerkt werden wĂŒrde. FĂŒr den Moment wollte sie bei dem ĂŒbelen Schauspiel des Raubritters mitspielen. Aber der dekorierte Wandteppich, das luxuriöse Himmelbett und all das kunstvoll verzierte Porzellan von den östlichen Inseln, konnten nicht darĂŒber hinwegtĂ€uschen, dass sie eine Gefangene war. Dieser Raum, dachte sie. Fast wie... Plötzlich kehre dieses finstere GefĂŒhl von Gewalt und Mordlust zurĂŒck, welches sie zuvor schon gespĂŒrt hatte. Das Schloss wurde von außen entriegelt und der Raubritter und zwei seiner MĂ€nner traten ein. Sie trugen Ketten bei sich, welche sie Nebula sogleich anlegten und sie an einem Stuhl fixierten. Greymore wirkte noch immer verstört. “Es ist nur zu Eurer Sicherheit!”, meinte er. “Nicht fĂŒr die Eure?”, reagierte Nebula abfĂ€llig. “Was ist aus Euch geworden, Greymore?! Aus einem der höchst dekorierten Ritter Morgensterns.” “Ich dachte Ihr wĂ€ret tot!” Greymore, der abgrundtief böse Raubritter, schien den TrĂ€nen nahe. “Ich habe Euch gehalten, als Ihr gestorben seid!” “Und dabei hĂ€tten wir es belassen sollen!” Greymore trat heran und schlug beide HĂ€nde flach auf die Tischplatte. “Was sagt Ihr da?! Ich bin es. Lord Greymore! Euer Verlobter!” Henrik kam wieder zu sich. Man hatte ihn bewusstlos geschlagen, als man ihn aus dem KĂ€fig zerrte. Das schien zur Gewohnheit zu werden! Er fragte sich, wie lange er in diesem schmutzigen Loch von einem Kerker gefangen war. Durch das winzige vergitterte Fenster drang nicht genug Licht, um die Tageszeit erkennen zu können. Einzig hell und dunkel konnte man unterscheiden. Es war ihm also unmöglich abzuschĂ€tzen, wie viel Zeit verstrichen war. Es hĂ€tte eine Stunde oder ein ganzer Tag gewesen sein können. Er sah sich zwischen den traurigen Gestalten um, welche seine MithĂ€ftlinge waren. “I-Ihr da!”, suchte er Kontakt. “Hey! W-Weiß einer von euch, w-wie lange ich hier bin?” “Nicht lange”, antwortete ein Gefangener. “Lasst mich endlich raus!”, wimmerte ein anderer apathisch und in Fötusstellung zusammengekauert vor sich her. “W-Was ist das hier?” “Junge, hier ist Endstation!”, sprach eine kratzige Stimme von nebenan. “Du bist in der Hand von Greymore. Und frĂŒher oder spĂ€ter wirst du verkauft oder umgebracht.” Das Klagen und Jammern des verzweifelten Gefangenen wurde immer lauter. Zwischen dem Weinen drangen nur unverstĂ€ndliche Wortbrocken heraus. “Oder du wirst vorher wahnsinnig, so wie der dort drĂŒben!” “Nein!”, widersprach Henrik. “D-Das kann nicht das Ende sein!” Er kramte in seiner SchĂŒrze. Er hatte noch immer seinen magischen Hammer, welchen er sogleich hervorholte. “Ich vertraue dir mein Schicksal an, Hammer!”, sagte er. “Oh, er ist bereits des Wahnsinns...” Henrik holte aus und schlug mit voller Kraft gegen die GitterstĂ€be. Nichts passierte. Er schlug noch einmal. Wieder nichts. “Ich schĂ€tze, deine Macht hat Grenzen!” Aber er hatte die anderen Gefangen inspiriert. Sie griffen, was sie erreichen konnten, und schlugen ebenfalls gegen ihre GitterstĂ€be. Die Stangen klangen, als sie von unterschiedlichen GegenstĂ€nden getroffen wurden. Bald schon war der Kerker erfĂŒllt von Schmettern und Schlagen. Und selbst der apathische Mann stimmte mit ein. Eine Symphonie des LĂ€rms erhob sich aus der DĂŒsternis. Nebula zeigte ihren Widerstand durch noch stĂ€rkeres RĂŒtteln an ihren Ketten. “Ich sah Euch sterben. Dennoch sitzt Ihr mir nun direkt gegenĂŒber!” Greymore stĂŒtzte sich noch immer auf die Tischplatte und beugte sich nĂ€her zu Nebula heran. “Ich hatte meinen Glauben an König Morgenstern verloren. Euer Tod war seine Schuld. Das Attentat war seine Strafe. Ich wollte Euch rĂ€chen.” Greymore entfernte sich wieder. “Doch jetzt seid Ihr, Emelaigne von Morgenstern, die Kronprinzessin, endlich zu mir zurĂŒckgekehrt!" “Ich hĂ€tte nie geglaubt, dass Ihr diesen Weg beschreiten wĂŒrdet, nur fĂŒr Eure sinnlose Rache. FĂŒrchtet Ihr nicht, eines Tages fĂŒr Eure Taten gerichtet zu werden?” “Irgendwann bestimmt.” Greymore richtete sich auf. “Was ist das, was ich spĂŒre?! Seid auch Ihr mit dem Teufel im Bunde?” Sein GegenĂŒber scherte sich nicht, die Frage zu beantworten. “Ihr werdet schon noch sprechen, Emelaigne! Ich will, dass Ihr mich heiratet, so wie Ihr es mir einst geschworen habt. Ihr erinnert euch?” “Bis dass der Tod uns scheidet! Und er hat uns geschieden.” “Vereint könnten wir das Königreich Morgenstern zu alter GrĂ¶ĂŸe fĂŒhren und das Kaiserreich fĂŒr seine Taten bluten lassen.” “Aschfeuer bluten lassen? Und wovon trĂ€umt Ihr Nachts?” “Von Euch, Prinzessin!” Seine Stimme flachte ab, als er sich wiederholte “Nur von Euch!” Dann kehrte er zu seinem bestimmenden Tonfall zurĂŒck. “Wollt Ihr Euch also verweigern?!” “Ich soll mich mit einem verrĂŒckten VerrĂ€ter verbĂŒnden?” Sie scherte sich nicht darum zu verbergen, wie zuwider er ihr war. “Und wenn ich schonmal dabei bin, auch noch das Bett mit ihm teilen? Ihr begeht Verbrechen, nur um Euch Eure eigene kleine Privatarmee zu finanzieren. Ihr verkauft Menschen in die Sklaverei!” Nebula strafte Greymore mit verĂ€chtlichen Blicken ab. “Anders als Ihr, dĂŒrstet es mir nicht nach Rache oder Macht. Und ich werde nicht zur VerrĂ€terin werden!” Ihr Ausdruck wandelte sich zu einem neutralen. “Lasst mich und meinen Schmied gehen und ich werde Euch schonen!” “Wir sehen uns wieder und sollen gleich wieder auseinander gehen?!” Ein ĂŒbler Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an. “Das werde ich zu verhindern wissen! Ich habe mir die Macht des Teufels zu Eigen gemacht, um nie wieder jemanden zu verlieren.” Plötzlich lachte der muskelbepackte Mann. “Der Junge, mit dem wir Euch aufgriffen, liegt Euch doch bestimmt am Herzen?” Nebula streckte sich so weit es die Ketten zu ließen. “Was habt Ihr ihm angetan?!” “Er hat einen kleinen Aufstand angezettelt. Noch ist ihm nichts geschehen, aber alles andere liegt bei Euch, meine Teure!” "KrĂŒmmt ihm ein Haar und ich werde Euch töten!" 🌱 Drei Jahre zuvor am königlichen Hof in Ewigkeit. Nach den Wirren des Krieges sollte ein freudiges Ereignis neue Hoffnung bringen. König Morgenstern hatte endlich seinen Beratern nachgegeben und beschlossen, seine Tochter, seinen Schatz, sein einziges Kind, in die HĂ€nde eines Mannes zu geben. Mit ihren zarten vierzehn Jahren, war sie kaum alt genug, eine Frau zu sein. Und schon sollte sie heiraten. Sich einem Mann hingeben, den sie nicht kannte, der noch nicht einmal feststand, und ihm einen Erben schenken. Dabei hatte sie sich nie wirklich wie das typische MĂ€dchen gefĂŒhlt. Auch wenn Gott sie reichlich mit Reizen beschenkte. Entgegen der Sitte, das MĂ€dchen durch lange Haare ihre Gesundheit zur Schau stellten, waren ihre immer kurz gewesen. Erst seit einer Weile ließ sie sie sprießen, da Vater es befohlen hatte. Zeitweilig glaubte das Volk, sie seie der Prinz und nicht die Prinzessin. Emelaigne interessierte sich nie fĂŒr die Sachen eines MĂ€dchen. Vielleicht lag es daran, dass sie ohne Mutter aufgewachsen war. Die Ammen vermochten es jedenfalls nicht, ihr ein Verhalten beizubringen, das sich fĂŒr die Kronprinzessin ziemt. Weil er sich nicht besser zu helfen wusste, ließ der König seine Tochter die gleiche Ausbildung genießen, wie er sie einem Sohn hĂ€tte zuteilwerden lassen. Statt mit Puppen, spielte sie mit dem Schwert und prĂŒgelte sich mit den Jungen. Oft waren sie es, die heulend reißaus vor ihr nahmen. Statt hĂŒbsche bunte Kleider anzuziehen, trug sie Hosen und ritt mit Vater und den adligen MĂ€nnern zur Jagd, alsbald sie groß genug war. Sie lernte den Umgang mit dem Kreuzbogen, statt zu nĂ€hen und zu hĂ€keln, wie andere MĂ€dchen. So ging es viele Jahre, ungeachtet der Ă€ußeren UmstĂ€nde. Morgenstern befand sich im Krieg mit dem elfischen Kaiserreich auf dem Festland. Es wurde umso schlimmer, als die Diplomatie endgĂŒltig versagte. Aschfeuer glaubte, SchwĂ€che zu zeigen, das Königreich nicht zu bestrafen. Viele Unschuldige verloren ihr Leben. Doch im Krieg war es normal, wenn sich die Gewalt gegen die Schwachen richtete. Er dauerte einige Jahre an. Wie durch ein Wunder schaffte es das Königreich Morgenstern, sich dem Imperium zu erwehren. Und so endete das Blutvergießen, als der Kaiser zu dem Schluss kam, dass der kleine Inselstaat im Westen die MĂŒhe nicht wert war. Prinzessin Emelaigne bekam von all dem nicht viel mit. Die Wirren des Krieges hatten die Hauptstadt niemals erreicht und der König hĂŒtete das MĂ€dchen wie seinen Augapfel. Nach Beilegung des Konfliktes, ließ er es sich viel kosten, Soldaten und Zeugen auszuzahlen, damit die Geschichten ĂŒber die GrĂ€ueltaten der Elfen schnell in Vergessenheit gerieten. Nur so konnte er langfristigen Frieden durchsetzen. Und er wollte auch nicht, das seine Tochter die Wahrheit ĂŒber den Krieg und dessen Auslöser erfuhr. Inzwischen war Emelaigne herangereift und vierzehn Jahre alt. Und noch immer verhielt sie sich nicht wirklich Damenhaft. “Vater, das kann nicht Euer Ernst sein!”, beklagte sich die Prinzessin. “Ich soll diesen Fummel tragen?!” Wutschnaubend war sie in den Thronsaal hinein gestolpert. Weder hatte sie zuvor ein Kleid getragen noch solch garstiges Schuhwerk. Das Gehen fiel ihr schwer und sie fĂŒrchtete, jeden Moment umzuknicken und sich den Knöchel zu verstauchen. “Eine Dame trĂ€gt schöne Kleider!”, belehrte der König. “Wer sagt, dass ich eine Dame sein will?” Der König erhob seine Stimme. “Keine Widerrede, Tochter!” Er beruhigte sich wieder. “Ihr seid nun alt genug fĂŒr die Heirat. Euer rĂŒpelhaftes Verhalten verschreckt die Freier.” “Ich soll was?” “Schon bald werde ich die edelsten Ritter versammeln und sie fĂŒr ihre Kriegsdienste belohnen. Es wird ein großartigen Tjost geben. Bei dieser Gelegenheit werde ich verkĂŒnden, dass eure Hand zu haben ist.” “Meine Hand?”, fragte Emelaigne zynisch. “Nicht etwa der heilige Gral zwischen meinen Schenkeln?” Der König schlug die geballte Faust auf die Lehne seines Throns. “MĂ€ĂŸigt Euren Ton, Tochter!” Dann seufzte er. “Es wird wahrlich eine Herausforderung, aus Euch eine Lady zu machen, mein Kind!” “Ich wĂŒnschte, ich wĂ€re ein Mann!” “Es reicht! Gott schuf Euch als Frau und Ihr werdet Euch seinem Urteil fĂŒgen! Bei dem Turnier werden die edlen Ritter im Schaukampf ihre KrĂ€fte messen. Einen davon werdet Ihr vor ebendiesem Gott die Treue schwören. Die Wahl obliegt Euch, Tochter.” Der Tag des Turniers war angebrochen. Emelaigne saß teilnahmslos im Thron neben dem ihres Vaters und betrachtete das Gerangel der Ritter mit so viel Desinteresse, wie nur irgend möglich. Die MĂ€nner verausgabten sich beim Tjost. Schweiß floss in Strömen, Lanzen zersplitterten und RĂŒstungen wurden verbeult. Einer von diesen hirnlosen Grobianen sollte ihren Acker pflĂŒgen und sie dann dessen Lendenfrucht austragen. Und sie musste den GlĂŒcklichen auch noch selbst aussuchen! Wer hat Vater dies nur eingeredet, grĂŒbelte sie. Der König war vollends begeistert von dem Spektakel. Er sah zu seiner gelangweilten Tochter hinĂŒber. “Habt Ihr schon gewĂ€hlt?”, fragte er. “Ich habe doch nicht wirklich eine Wahl”, antwortete sie. “Was kann ich tun, um Euch zu begeistern, Tochter?” “Ich will ĂŒber mein Schicksal selbst bestimmen! Lasst mich mitkĂ€mpfen, Vater!” Ihr Eifer brannte in ihren Augen. Die Langeweile von zuvor, wie weggeblasen. “Ich habe bei Euren besten Soldaten gelernt und bin kein leichter Gegner. Ich werde mich keinen Mann fĂŒgen, der mich nicht zu besiegen vermag.” Der König erstaunte der Wunsch seiner Tochter. “Ihr wart schon immer anders als andere MĂ€dchen.” Er rĂ€usperte sich. “Nun gut, so soll es sein.” Emelaigne ĂŒberraschte, das ihr Vater dem wirklich zustimmte. Kurz darauf verkĂŒndete der König, das seine Tochter den als Gatten erwĂ€hlen wĂŒrde, der es schafft, sie im Fechtkampf zu schlagen. Zuerst glaubten die Ritter, der König triebe seine SpĂ€ĂŸe mit ihnen. Doch bald mussten sie feststellen, dass es sein Ernst war. Der Erste von ihnen war an der Reihe, sich Prinzessin Emelaigne entgegenzustellen. Keinesfalls konnte er die Prinzessin als ernstzunehmenden Gegner betrachten. Immerhin war sie nur ein Weib. Der Ritter und die Prinzessin standen sich gegenĂŒber. Vorsichtig machte der Mann den ersten Zug. Er wollte sie schließlich nicht verletzen. Aber fĂŒr seinen zaghaften Angriff erntete er nur Spott von der Blondine. “Pflegt Ihr Eure Gegner zu Tode zu langweilen, Ritter?”, fragte sie spöttisch. Dann griff sie ihn an. So schnell, wie sie ihn entwaffnete, vermochte er nicht zu schauen. Er fand sich im nĂ€chsten Moment mit einer Klinge unter seinem Kinn wieder. “Den Versager hier werde ich bestimmt nicht zum Manne nehmen, Vater!” Die ĂŒbrigen EdelmĂ€nner waren schockiert. So ein kampfeslĂŒsternes Weib war ihnen noch nicht untergekommen. Einer nach dem anderen unterlag der Prinzessin im Zweikampf. Sie konnten nicht verstehen, dass sie von einer Frau geschlagen wurden. Nur noch ein Ritter blieb ĂŒbrig. Ihn musste Emelaigne noch schlagen, dann wĂŒrde die Hochzeit abgesagt. Er war hoch dekoriert und hatte im zurĂŒckliegenden Krieg viele Schlachten geschlagen. Die Prinzessin sah sich ihren Gegner an, als sie sich gegenĂŒberstand. Irgendwie gefiel er ihr. Sein Gesicht war viel mĂ€nnlicher als das der SchwĂ€chlinge, die sie geschlagen hatte. Emelaigne ertappte sich dabei, dass es ihr wohl nicht viel ausmachen wĂŒrde, von diesem Mann besiegt zu werden. Nein, einfach wĂŒrde sie es ihm dennoch nicht machen! “Seid Ihr bereit fĂŒr einen Blechschaden, Ritter?”, reizte sie den Mann. “Seid Ihr bereit, mein Weib zu werden?”, konterte er selbstsicher. Als sich ihre Klingen kreuzten, stellte sie fest, dass er ernsthaft kĂ€mpfte. Weder machte er unnötige Bewegungen, noch versuchte er sie mit Samthandschuhen anzufassen. Bei ihren vorherigen KĂ€mpfen musste sie sich nicht ein StĂŒck bewegen, aber dieser Mann trieb sie ĂŒber den Platz, als sei sie ein aufgescheuchtes Huhn. Emelaigne spĂŒrte, wie sich ihr Atem intensivierte und ihr Herz immer krĂ€ftiger schlug. Einen echten Kampf hatte sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr genießen können. Die Aufregung und das Adrenalin sprĂŒhten, wie die Funken der Klingen, als sich die Schwerter trafen. Dieser Mann nahm sie so ernst, wie alle seine vorherigen Gegner bei diesem Turnier. Er wurde ihr immer sympathischer. Ein unglĂŒcklicher Tritt, bei dem sie ihren Fuß umknickte, beendete den Kampf zu ihren Ungunsten. Der Schmerz brachte sie zu Fall und sie sank auf die Knie. Ihr Gegner nutzte den Moment der SchwĂ€che aus und entwaffnete sie. Emelaigne sah nun, was zuvor ihre Gegner sahen: Die Spitze eines Schwertes unter ihrem Kinn. “Ihr habt verloren, Prinzessin!”, sagte der Ritter. “Meinen GlĂŒckwunsch!”, gestand ihre Niederlage ein. “Der Preis soll Euer sein!” Vorsichtig half der Ritter der Prinzessin auf. “FĂŒr mich seid Ihr keine TrophĂ€e!” Er geleitete sie zu einem Heilkundigen, der sich ihren Fuß ansehen sollte, wĂ€hrend die besiegten Ritter ihm zujubelten. Sicher glaubten sie, er habe durch seinen Sieg ihre MĂ€nnerehre wiederhergestellt. Anschließend erklĂ€rte der König den Ritter zu Emelaignes Verlobten. Die Prinzessin saß betrĂŒbt in ihrem Thron. Das garstige Schuhwerk war ihr FĂ€hrmann in den Hafen der Ehe. Aber weder dies noch der Schmerz in ihrem Knöchel verdunkelte ihr GemĂŒt derart, wie der Zwiespalt, der sie gefangen hielt. Traurig ĂŒber ihre Niederlage und dennoch dem Mann zugetan, der sie besiegt hatte. Sein Name war Greymore. In den kommenden Wochen wurde alles fĂŒr die königliche Hochzeit vorbereitet. Einer Ehe, der Emelaigne noch immer abgeneigt war. Die royale Hochzeit sollte ein Großereignis werden. Auch wenn es offensichtlich nicht auf dem Mist ihres Vaters gewachsen war, fragte sie sich dennoch, wieso er ihr das antat. Wenigstens wĂŒrde es ein anstĂ€ndiger Mann. Und er war sogar nur zehn Jahre Ă€lter als sie. Sie hĂ€tte es durchaus schlechter treffen können! Einer der anderen Teilnehmer war so alt, der hatte fast schon einen Gehstock gebraucht. Greymore bemĂŒhte sich wirklich sehr um sie. Er ging mit ihr in den Garten, in ein Labyrinth aus BlĂŒtenhecken. Dort pflĂŒckte er eine der BlĂŒten und steckte sie Emelaigne ins Haar. “Das steht Euch wirklich ausgezeichnet, Liebste!”. Ein Kompliment fĂŒr den schönen Anblick, den seine Augen erblicken durften. Emelaigne berĂŒhrte die Pflanze in ihrer StrĂ€hne. “Oh, D-Danke!”, sprach sie verlegen und sah ihn dabei nicht an. Er sollte nicht merken, dass sie rot geworden war. Aber es blieb ihm nicht verborgen. Gemeinsam verließen sie den Irrgarten und folgten dem Weg zu einer BrĂŒcke, die ĂŒber einen kleinen Teich im Schlossgarten zu einer Insel mit Beten, einem Baum und einer Bank fĂŒhrte. Gemeinsam ließen sie sich nieder und lauschten den Lauten der Singvögel. Plötzlich kramte Greymore in der Tasche, welche er bei sich trug, und zauberte ein MĂ€rchenbuch hervor. “Was ist das?”, fragte die Prinzessin. “Ich habe Euer KindermĂ€dchen gesprochen”, antwortete ihr Verlobter. “Sie hat mir erzĂ€hlt, dass ihr frĂŒher Geschichten von Prinzen und mutigen Helden gemocht habt.” “FĂŒr diesen elenden Verrat solle sie hĂ€ngen!” “Seid nicht so hart! SchĂ€mt Ihr Euch etwa?” Graymore schlug das Buch auf. “Vielleicht sollte ich Euch das eine oder andere MĂ€rchen vorlesen!” “Lasst das!”, wehrte sie sich fidel und versuchte ihm im Spaß das Buch zu entreißen. Aber Greymore behielt die Oberhand und begann vorzulesen. “Es war einmal vor langer Zeit...” Anfangs passte es der Prinzessin so gar nicht. Doch dann gab sie auf und lauschte den Geschichten ihrer Kindheit. Es war Abend, doch im Gemach der Prinzessin brannte noch Licht. Die Zofe gab ihr Bestes, das Korsett zusammenzubinden, welches Emelaigne eine noch begehrenswertere Figur verleihen sollte, als sie ohnehin schon besaß. Es war absichtlich viel zu klein angefertigt worden. Ihre Taille scharf betont und ihre BrĂŒste so weit nach oben geschoben, dass sie bald aus dem Ausschnitt heraus sprangen. Es war kein KleidungsstĂŒck, sondern ein wahres Folterinstrument. So eng zusammengeschnĂŒrt, dass ihr fast die Luft wegblieb. Die Prinzessin dachte daran, wie schnell die Zeit verflog. Es war fĂŒr sie, als sei der Tag ihrer Niederlage erst gestern gewesen. Das sie im Staub vor ihm kniete, mit der Klinge vor Augen und der Schmach in ihrem Herzen. Und morgen wĂŒrde sie ihn heiraten. Unverhofft klopfte es an der TĂŒr. Die Zofe eilte und öffnete. Es war Greymore, der versuchte, einen Blick auf seine Verlobte zu erhaschen. “Schert euch davon!”, tadelte sie. “Es bringt UnglĂŒck, die Braut vor der Hochzeit zu sehen!” Greymore lugte durch den Spalt, konnte Emelaigne jedoch nirgends entdecken. Bis er die lange Schleppe zaghaft hinter einem Sichtschutz verschwinden sah. “Maine Liebschte!” Seiner Stimme konnte man entnehmen, dass er es beim Junggesellenabend ĂŒbertrieben hatte. “Raus, Ihr versoffenes Schwein!”, drĂ€ngte die Zofe. Angestrengt, zog sie die TĂŒr zu und schloss ab. “Geduldet Euch noch einen Tag!”, brĂŒllte sie dem BrĂ€utigam durch das TĂŒrbrett hinterher. Als die Schritte Greymores leiser wurden, wollte sich die Zofe wieder der Prinzessin zuwenden, als plötzlich das Glas eines der Fenster zersprang und eine verhĂŒllte Gestalt eindrang. Mit gezĂŒcktem schwarzen Dolch griff sie die Prinzessin an. Emelaigne versuchte auszuweichen, doch die lange Schleppe und das viel zu enge Korsett machten es ihr unmöglich, sich richtig zu bewegen. So gelang es dem Angreifer, sie zu ĂŒberrumpeln und den Dolch tief in ihre Eingeweide zu treiben. Fassungslos ging sie rĂŒckwĂ€rts, umklammerte den Griff der Waffe und versuchte instinktiv den Fremdkörper aus ihrem Körper herauszuziehen. Doch er saß zu fest. Sie stĂŒrzte und riss den Sichtschutz mit sich. Alles was die Zofe zustande brachte, war ein hysterisches Kreischen. Der Eindringling wollte sich seinen Dolch zurĂŒckholen und stellte fest, dass die Prinzessin immer noch nicht tot war, obwohl eine Klinge in ihrem Herzen steckte. Er versuchte, die Waffe herauszuziehen, aber auch er schaffte es nicht. Wie ein Raubtier gab sie ihre Beute nicht mehr frei. Es rumpelte an der TĂŒr. Greymore fiel buchstĂ€blich mit ihr ins Haus und erwischte die Gestalt, wie sie mit blutigen HĂ€nden an der Waffe zerrte. Er hatte das Kreischen der Zofe vernommen und war sofort zurĂŒck zum Zimmer seiner Verlobten geeilt. Als er sie mit dem Tode ringen sah, verflog sofort jeglicher Rausch des Gerstensaftes und er stĂŒrzte sich auf den AttentĂ€ter. Der Eindringling hatte keine Chance, als baumstammgleiche Arme ihn zu Boden drĂŒckten, wĂ€hrend riesige HĂ€nde ihm die Luft abschnĂŒrten. Die Kapuze fiel und enthĂŒllte, dass der AttentĂ€ter eine Frau war. Sie versuchte, sich verzweifelt aus dem Todesgriff zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Unter Sauerstoffmangel zappelte sie wie ein Fisch auf den trockenen, bis sie starb. Als die AttentĂ€terin das Zeitliche gesegnet hatte, besann sich Greymore und wandte sich seiner Verlobten zu. Das Kleid hatte inzwischen die Farbe ihres Blutes angenommen. “Meine Teure!”, stieß er aus, kauerte sich neben die Sterbende und hielt sie in Armen. “Ich... konnte nicht aus... weichen”, sprach Emelaigne in gebrochenen Worten. “Die Schleppe... . Ich... wusste, dieser Fummel... wird mein Tod sein!” Dann verließen sie ihre KrĂ€fte und ihr Kopf neigte zur Seite. Sie atmete nicht mehr. Im nĂ€chsten Moment drangen die Wachen in den Raum ein. Doch alles was sie vorfanden, waren zwei Leichen und ein Mann, der um seine Prinzessin weinte. Schon seit Stunden machte sich der TotengrĂ€ber an dem Leib zu schaffen. Bisher hatte es niemand geschafft, den schwarzen Dolch aus der wunderschönen Leiche herauszuziehen. Nun war es seine Aufgabe, das Tatwerkzeug aus der Prinzessin zu entfernen. Aber auch er war bis zu diesem Moment klĂ€glich daran gescheitert. Welch Verschwendung, dachte er, als er die Verstorbene ansah. Nun nahm er sich eine Schere und ein scharfes Messer zu Hilfe. Als erstes befreite er die Prinzessin von ihrem Korsett. Nun musste er ein Loch in den mit Blut vollgesogenen Stoff des Kleides schneiden, sonst kĂ€me er nicht an das Fleisch heran, in dem sich die Waffe eingegraben hatte. Die Schere zerteilte den Stoff und schuf ein Goldtaler großes Loch, in dessen Zentrum sich die Klinge erhob. Sie hatte einen sauberen Schnitt in der makellosen Haut der Prinzessin hinterlassen und streckte fast bis zum Anschlag in ihrem Körper. Der TotengrĂ€ber mĂŒsste wohl sehr viel von ihrem Fleisch herausschneiden, um die Klinge zu entfernen. Um das entstandene Loch zu kaschieren, wĂŒrde sie neu eingekleidet werden mĂŒssen, nachdem er es zugenĂ€ht hatte. Er setzte zum Schnitt an. Das Messer durchstieß die Haut. Plötzlich krampfte der Körper der vermeintlich Toten und der TotengrĂ€ber ließ vor Schreck sein Werkzeug fallen. Er stolperte voller Furcht ĂŒber seine eigenen FĂŒĂŸe. Der Dolch in der Brust der Prinzessin verflĂŒssigte sich und sickerte in Emelaignes Körper hinein. Wenig spĂ€ter riss sie ihre Augen auf. Sie glĂŒhten rubinrot. 🌱 Gegenwart Eine reichlich gefĂŒllte Arena wartete auf den nĂ€chsten KĂ€mpfer. Der kreisrunde Kampfbereich war in den Fels geschlagen und von einer Palisade umzĂ€unt. Es gab nur zwei EingĂ€nge, verschlossen von massiven hölzernen Gittern aus zusammengebundenen BaumstĂ€mmen. Dahinter umringten die ZuschauerrĂ€nge die Arena. Aus ihnen stach eine prominent erhobene TribĂŒne heraus. Viele hatten sich versammelt, um dem blutigen Spiel mit dem Tod beizuwohnen. Ausgelassen und bereit, jeder Schandtat zuzusehen, warteten sie geduldig auf den nĂ€chsten armen Teufel, welcher die Feuertaufe ablegen wĂŒrde. In Ketten gelegt, ließ sich Nebula von den Handlangern des Raubritters zu dessen Loge bringen. Er hatte es sich bereits breitbeinig in seinem Thron bequem gemacht und ließ sich durch das große Sonnentuch von der Hitze abschirmen. “WofĂŒr ist diese Arena?”, versuchte Nebula eine Konversation zu beginnen, in der Hoffnung, dass Greymore unvorsichtig wĂŒrde. “Und wo ist mein Begleiter?!” “In dieser Arena kĂ€mpfen fĂŒr gewöhnlich jene, die Ruhm suchen und im Rang aufsteigen wollen”, erklĂ€rte Greymore. “Der Gewinner bekommt alles, der Verlierer erhĂ€lt nichts, außer den Tod. Ich ließ bereits nach Eurem Gefolgsmann schicken.” “Was fĂŒhrt Ihr im Schilde?” “Ihm wird eine große Ehre zuteil werden. Er darf um seine Freiheit kĂ€mpfen!” “Ihr seid wahnsinnig!” Endlich öffnete sich das vergitterte Tor und eine bedauernswerte Gestalt betrat unsicher die Arena. Vollkommen verloren sah sich der junge Mann um. Die ungeduldigen Laute des Publikums wichen Jubel und Applaus. WĂŒrden sie einer Opferung beiwohnen oder der Geburtsstunde eines Helden? Das massive Gitter sank hinter dem JĂŒngling nach unten und verschloss den Ausgang. Nebula sah ĂŒber die BrĂŒstung der Loge und stellte mit Schrecken fest, dass dieser Mann ihr Begleiter war. “Henrik!”, flĂŒsterte sie. Danach ging sie einige Schritte zurĂŒck, bis der Schatten des Sonnentuches ĂŒber ihr Gesicht fiel. Greymore erhob sich von seinem Thron und ließ sich von einer Wache ein Schwert bringen. Er trat nun selbst an die BrĂŒstung und hielt das Schwert in die Luft. “Junge!”, rief er Henrik zu. Der sah nach oben. “Siehst du das? Das hast du geschmiedet, nicht wahr?” “J-Ja, es ist mein Werk”, antwortete Henrik. Daraufhin zerbrach Greymore die Klinge ĂŒber seinem Oberschenkel und warf die beiden HĂ€lften der Waffe hinunter in die Arena. “Lasst ihn rein!”, befahl er im Anschluss. Das Gitter auf der anderen Seite der Arena öffnete sich. Ein BĂ€r bewegte sich langsam durch den Eingang. Voller Furcht wurde Henrik im Angesicht des Biest die Knie weich. Auch das zweite Tor schloss sich und die Todesfalle schnappte zu. “Ihr Scheusal!”, verfluchte Nebula den grausamen Mann neben ihr. Henrik ergriff in seiner Verzweiflung die beiden Teile seines Schwertes, wĂ€hrend der BĂ€r immer nĂ€her kam. Ein Impuls ĂŒbernahm die Kontrolle ĂŒber Henrik. Wie ferngesteuert, fĂŒgte er beide HĂ€lften in seinen HĂ€nden zusammen. Ein gleißendes weißes Licht flutete die Arena und der BĂ€r zuckte geblendet zurĂŒck. Das Publikum verstummte schlagartig. Oben in der Loge kniff Nebula die Augen zusammen, denn es war viel zu hell. Als sie wieder etwas erkennen konnte, stellte sie fest, dass Henrik ein makelloses Schwert in HĂ€nden hielt. Der BĂ€r besann sich wieder und stĂŒrmte auf Henrik zu. Der Schmied ging in festen Stand ĂŒber, so wie er es gelernt hatte, und als der BĂ€r sich aufrichtete, stieß er die Klinge so tief er konnte in das Tier hinein und zog sich anschließend zurĂŒck. Der BĂ€r war erschlagen. UnglĂ€ubig sah der Schmied erst auf die blutige Klinge und dann auf das tote Tier. Wenig spĂ€ter öffneten sich beide Tore und die Soldaten des Raubritters stĂŒrmten die Arena, um Henrik zu umzingeln. “Du verrĂ€tst mir sofort, wie du das gemacht hast!”, befahl Greymore von oben herab. “Genug!” Nebula zerriss die Ketten, welche sie gefangen halten sollten, als wĂ€ren sie aus Pergament. “Koche in meinen Venen, Bloodbane!”, beschwor sie ihre Waffe noch wĂ€hrend sie sich ĂŒber die BrĂŒstung in die Arena schwang. “Duck dich, Henrik!”, rief sie ihm zu. Der Braunhaarige kauerte sich in der ĂŒblichen Stellung auf dem Boden zusammen. Mit einem mĂ€chtigen Streich erledigte Nebula gleich drei Gegner auf einmal. Die Anderen zuckten zurĂŒck. “Hört mich an, VerrĂ€ter!”, forderte sie Greymores Aufmerksamkeit ein und zeigte dabei mit ihrer Waffe auf ihn. “Ihr wollt mich, ihr sollt mich haben. Doch ich fordere ein Duell gegen Euch! Gewinnt Ihr, so könnt Ihr mit mir machen was Ihr wollt! Wenn ich gewinne, fordere ich jedoch gleiches Recht ein!” “Bi-Bist du wahnsinnig?”, fragte Henrik entgeistert. “Vertraue mir, ich werde gewinnen!” Die Kontrahenten standen sich mit gezogenen Waffen gegenĂŒber. Ihre Augen glĂŒhten berauscht um die Wette. Henrik sah von der Loge zu und wurde von einigen Soldaten in Schach gehalten. Nebula und Greymore schritten im Kreis umeinander, wie Katzen um den heißen Brei. “Ich wusste, dass Ihr auch den Teufel in Euch tragt”, sprach Greymore. “Ihr und Euer Bloodbane werdet schon bald mir gehören!” “Seid Ihr bereit fĂŒr einen Blechschaden, Ritter?”, reizte Nebula den Mann. “Ihr sagtet dies schon einmal zu mir. Damals gewann ich.” “Das war kein fairer Kampf! Ich hatte Handycap.” Dann sprang sie auf einmal rĂŒckwĂ€rts. “Verfehle niemals dein Ziel! Gastraphetes!”, rief sie und ihr schwarzes Schwert verwandelte sich in eine Armbrust. “Ihr besitzt eine Zweite?!”, staunte der Raubritter. “Nun will ich Euch erst Recht!” Henrik erschrak angesichts der zweiten Teufelswaffe. “Dann bin ich an der Reihe." Greymore schlug mit der rechten Hand auf den Boden. “ErschĂŒttere die Grundfesten der Welt, Quake!” Mit diesen Worten enthĂŒllte der Raubritter endlich seine Teufelswaffe. Die Erde unter seiner Hand lockerte sich. Er zog ein gewaltiges schwarzes Schwert aus dem Boden. Nebula beeindruckte das Spektakel in keinster Weise. “Gastraphetes: Nachladen!” Die schwarze Armbrust spannte sich selbst, wie von Geisterhand getrieben. Nebula feuerte einen Schuss auf Greymore ab, den er aber zurĂŒckschlagen konnte. Daraufhin stĂŒrmten beide aufeinander zu. “Nachladen! Nachladen! Nachladen!”, rief Nebula unentwegt und feuerte dabei. Greymore wehrte jeden Schuss des Gastraphetes mit seinem Schwert ab. Es war unglaublich, wie schnell er diese wuchtige Klinge zu fĂŒhren wusste. Er nutzte eine Feuerpause und schlug sein Schwert auf den Grund. “Felseruption!”, beschwor er einen Angriff herauf. Der Boden spaltete sich. Felsbrocken erhoben sich und schossen in Nebulas Richtung. Sie konnte ihnen gerade noch ausweichen. Die steinernen Projektile bohrten sich in die Palisade hinter ihr. Greymore richtete sich auf und lastete das schwere Schwert seiner mĂ€chtigen Schulter auf. “Das ist die Macht meines Quake!”, posierte er selbstsicher. Selbst mit diesem absurd großen Schwert war er schnell. Mit ihrer normalen Angriffsgeschwindigkeit, konnte Nebula gegen ihn keinen Boden gutmachen. Ihr blieb keine andere Wahl, als ein weiteres StĂŒck aus ihrem Arsenal einzusetzen. “Wenn Ihr die Welt erschĂŒttert, muss ich im Gegenzug den Himmel erzittern lassen!”, sprach sie. Sie hob ihre Waffe in den Himmel. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Ein schwarzer Blitz fuhr in sie hinein und im nĂ€chsten Moment durch die Arena. WĂ€hrend eines Wimpernschlages hatte sich Nebula zehn Meter ĂŒber das Schlachtfeld bewegt und stand nunmehr hinter ihrem Gegner. Greymore sah ihr noch unglĂ€ubig nach, als plötzlich sein Bein versagte. Die ElektrizitĂ€t zuckte noch immer von der verwandelten Waffe. Sie hatte die Gestalt eines Speeres angenommen. “Kettenblitz!”, verkĂŒndete Nebula den Namen ihrer Technik. Von der Spitze ihrer Waffe tropfte schwarzes Blut auf den Boden herab. Greymore ließ seine Waffe fallen und presste beide HĂ€nde auf die klaffende Wunde. So schnell wie Gungnir erschienen ist, verschwand es wieder. Der Speer löste sich zu einem schwarzen Äther auf und kroch zurĂŒck in Nebulas Venen. Der Kampf war fĂŒr sie beendet. Greymore konnte nicht mehr stehen. Nebula ging zu ihm und hob Quake vom Boden auf. ElitĂ€r gab sie ihre Überlegenheit zu Protokoll. “Ihr seid besiegt!” “Werdet Ihr mich jetzt töten?”, vergewisserte sich Greymore, dem allmĂ€hlich die teuflischen KrĂ€fte schwanden. “Nein.” Nebula schwang Quake einmal durch die Luft, bevor sie mit ihm so verfuhr, wie zuvor mit jeder anderen ihrer erbeuteten Waffen. Es begann seine Form zu verlieren, doch wollte dennoch nicht gehorchen. Nebula intensivierte ihre Anstrengungen, allen zur Schau gestellt durch das rote GlĂŒhen ihrer Augen. Noch immer versagte ihr das verfluchte Ding den Gehorsam und begann, bereits teilweise absorbiert, ihren Arm mit schwarzen Scherben von innen zu durchbohren. Tapfer ertrug sie den Schmerz und versuchte weiter die Teufelswaffe unter ihre Gewalt zu bringen. Halb versunken in einem pechschwarzen Morast, steckte der muskulöse Mann, welcher zuvor Greymore erschienen war. Mit aller Kraft wehrte er sich dagegen einzusinken, doch beschleunigte durch seine MĂŒhen einzig sein unausweichliches Schicksal. Laut fluchend brachte die dĂ€monische Gestalt mit den weiß glĂŒhenden Augen ihren Unmut zum Ausdruck, als plötzlich eine zweite Person aus dem schwarzen Schlamm auftauchte. Langsam formte die Masse einen weiblichen Körper mit blasser Haut und weißen Haaren, welcher alsbald von einem blutroten Kleid verhĂŒllt wurde. “Gib einfach auf, Nummer 19”, sprach die Frau. “Gegen mich bist du machtlos!” Wild um sich schlagend, fluchend und seine Niederlage verneinend, wurde der hĂŒnenhafte Mann vom Schlamm verschluckt. Zufrieden grinsend betrachtete die Frau die nun leere Stelle. Eine mehr in meiner Sammlung, dachte sie. Endlich gehorchte Quake ihren Befehlen und die Abstoßungsreaktionen klangen ab. Die Scherben aus vermeintlichem schwarzen Glas zogen sich in ihren Körper zurĂŒck und die Wunden schlossen sich. Eine weitere Waffe wurde Nebulas Arsenal hinzugefĂŒgt. GleichgĂŒltig, sah sie sich nach dieser Tortur zu Greymore um. “Ihr solltet diese Wunde besser versorgen lassen”, beratschlagte sie ihn in eiskalter Erhabenheit und deutete dabei auf sein verletztes Bein, bevor sie sich zu Henrik begab. Dieser wurde noch immer von den Soldaten gefangen gehalten. “Macht den Jungen kalt!”, befahl Greymore. Aber keiner seiner Soldaten gehorchte. “Gehorcht, ihr Nichtsnutze!” “Das sind Eure eigenen Regeln!” Nebula wĂŒrdigte Greymore keines Blickes. “Sie befolgen sie nur. Der Gewinner bekommt alles. Der Verlierer nichts. Eure MĂ€nner gehören nun mir!” Greymore spĂŒrte die dunkle Macht des Quake nicht mehr. Was immer Nebula getan hatte, er konnte seine Waffe nicht erneut beschwören. Er musste sie sich irgendwie zurĂŒckholen! “Wenn Ihr nicht fĂŒr mich sein wollt, Liebste, seid Ihr gegen mich!” Er griff in seinen Stiefel und holte das Messer hervor, welches er immer dort zu verbergen pflegte. Er warf es auf die Frau, die er einst liebte, doch sie fing es auf, ohne hinzusehen, drehte sich um und versenkte es in seinem noch unverletzten Bein. Greymore konnte sich nicht mehr aufrecht halten und fiel auf die Seite. Nebula bestieg die Loge und sammelte den verstört schauenden Schmied ein. “Komm mit!” Dann sprach sie zu den Soldaten. “Macht mit dem da unten, was ihr wollt!” Sie zeigte auf den verletzten Raubritter. Sie und Henrik verließen die Arena. Greymores ehemalige Untergebenen umzingelten ihn mit gezogenen Waffen. Nebula und Henrik verließen den Schauplatz des Kampfes. Die Blondine schien das Schicksal ihres einstigen Verlobten egal zu sein. Innerlich trauerte sie jedoch um den Mann, der er einst war. “Es tut mir leid, mein Ritter”, flĂŒsterte sie. “H-Hast du etwas gesagt?”, fragte Henrik. Aber Nebula schwieg. Ihre eiskalten Gliedmaßen weckten die kleine Annemarie aus ihrem Schlaf. Es war noch frĂŒh am Morgen und sie fĂŒhlte sich noch immer mĂŒde. Die Nacht war kurz und kalt gewesen. Außer einer alten, lumpigen Decke, besaß das MĂ€dchen nichts, das es hĂ€tte wĂ€rmen können. Ihr Buch konnte sie nicht vor der KĂ€lte schĂŒtzen, egal wie sehr sie sich an ihm kuschelte. Zwar war es Sommer, doch in der Nacht fiel die Temperatur. Die FĂŒĂŸe des MĂ€dchens hatten nicht mehr unter die Decke gepasst. Deshalb waren sie nun kalt und kribbelten. Annemarie musste sich schleunigst wĂ€rmen, wenn sie keine Zehe verlieren wollte. Sie entdeckte denSack voller MĂŒnzen neben sich. “H-E-N-R-I-K”, stammelte sie vor sich hin. Sie begab sich auf die Suche nach WĂ€rme. Das Kribbeln wurde schnell zu einem Schmerz. Der Geldbeutel in der Hand des zerlumpten MĂ€dchens lenkte von ihrem Buch ab und zog alle Blicke auf sich. Sie stieß die hölzerne DoppeltĂŒr zum einzigen Gasthaus des Dorfes auf und trat ein. Links vom Eingang war ein Schalter mit einem skeptisch drein blickenden Mann. Er hatte eine Halbglatze und einen hufeisenförmigen Bart. “Was kann ich denn fĂŒr dich tun, Kleine?”, fragte er das bitterlich zitternde Kind. “Ich möchte mich nur ans Feuer setzen”, versicherte das MĂ€dchen. “I-Ich kann Euch auch Geld dafĂŒr geben.” “Wenn du nur am Feuer sitzen willst, dann wird das nicht notwendig sein.” Das MĂ€dchen ging zum Kamin und setzte sich mit ausgestreckten Beinen davor. So verharrte es eine Weile, bis der Schmerz nachließ und seine Beine wieder eine normale Temperatur erreichten. Dann erhob sich die Kleine wieder, bedankte sich und verließ das Gasthaus. Unter den Blicken des Mannes am Empfang öffnete sie die DoppeltĂŒr und ging wieder hinaus ins Freie. GegenĂŒber entdeckte sie eine BĂ€ckerei. Der Duft der frischen Brote lockte sie hinein, wie Licht in der Nacht die Motten anzog. “Ein Brötchen, bitte!”, bestellte sie bei dem BĂ€ckermeister. “Ich kann sie bezahlen.” Der sah sich die abgerissenen Kleider des MĂ€dchens an und wies sie zurĂŒck. “So wie du aussiehst, bekommst du hier nichts!” “Aber ich habe Geld!” “Weiß der Teufel woher!” “Bitte! Ich habe solchen Hunger!” “Na schön! Aber komm bloß nicht wieder!” Der BĂ€cker erfĂŒllte Annemarie widerwillig ihren Wunsch. Sie legte ihm eine MĂŒnzen hin, ohne zu wissen, wie viel diese wert war. Noch wĂ€hrend sie die BĂ€ckerei verließ, schlang Annemarie das Brötchen hinunter. Als plötzlich zwei MĂ€nner vor ihr auftauchten, blieb ihr fast der Bissen im Hals stecken. “Wen haben wir denn da?”, fragte einer zynisch. “Das LumpenmĂ€dchen mit dem Goldbeutel!” Sie mussten sie beobachtet haben. Nebula und Henrik waren auf dem Weg zurĂŒck in das Dorf, in dem sie gefangen genommen wurden. Sie wollten den Menschen sagen, dass sie den Raubritter Greymore nicht mehr zu fĂŒrchten hatten. Und dass sie keinen Groll gegen sie hegten. Doch Henrik strafte Nebula mit Stille. Das Schweigen ihres sonst so redseligen Begleiters machte ihr schwer zu schaffen. “Willst du nie wieder mit mir reden?”, brach sie diese Stille. “Du hast ihn zum Tode verurteilt!”, empörte sich Henrik. “Das war keine leichtfertige Entscheidung!”, verteidigte sich Nebula. “Seine MĂ€nner gehorchen nun mir”, sprach sie weiter wie ein PlĂ€doyer in eigener Sache. “Ich habe ihnen aufgetragen, die Sklaven freizulassen und kĂŒnftig die Menschen zu beschĂŒtzen.” Der Eingang des Dorfes kam immer nĂ€her. “Es ist trotzdem, als hĂ€ttest du ihn selbst getötet!”, sprach Henrik bedrĂŒckt. Gemeinsam durchschritten sie das Tor. “Ich bereute es sofort. Er war immerhin-” Plötzlich kam ihnen ein MĂ€dchen entgegen gerannt. Es hatte ein Buch mit dem linken Arm an seinen Brustkorb gepresst und hielt einen Geldbeutel in der rechten Hand. Zwei MĂ€nner verfolgten es. Sie hatten es offenbar auf ihr Gold abgesehen. Henrik erkannte das Kind sofort. Es war Annemarie. “Hey!”, rief er den MĂ€nnern zu. “Lasst sie gefĂ€lligst in Ruhe!” Er zog sein Schwert und eilte dem Kind ungewohnt mutig zu Hilfe. Annemarie versteckte sich hinter Henrik, wĂ€hrend er die MĂ€nner bedrohte. Die Verfolger schreckten vor der gezĂŒckten Klinge zurĂŒck und ließen von ihrem Opfer ab. “U-Und k-kommt bloß nicht wieder zurĂŒck!”, rief er ihnen nach. “Danke, Henrik!”, zeigte Annemarie ihre Verbundenheit. “Wer ist das?”, fragte Nebula misstrauisch. “S-Sie hat mir auf dem Fest aus der Hand gelesen.” “Und sie hĂ€tte dir nicht sagen können, dass dir einer eine ĂŒberziehen wird?” Henrik blickte traurig in Annemaries unschuldiges Gesicht. “D-Das MĂ€dchen hat kein Zuhause. Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind. U-Und offenbar hat sie auch keine Erinnerung an ihre V-Vergangenheit.” Er trat nĂ€her zu Nebula und verneigte sich mit zusammengefalteten HĂ€nden ĂŒber seinem Haupt. “Daher bitte ich dich instĂ€ndig, dass wir sie mitnehmen.” “Also gut”, ließ sich Nebula erweichen. Eine Geste der Menschlichkeit wĂŒrde vielleicht einen Teil von Henriks verloren gegangenem Vertrauen wiederherstellen. Sofort strahlte Annemarie vor Freude und umarmte auch Nebula, welche sich bedrĂ€ngt fĂŒhlte und das Kind am liebsten von sich stoßen wollte. “Sag mal, w-warum schleppst du immer dieses Buch mit dir herum?”, wollte Henrik von der Kleinen wissen. Annemarie senkte den Blick auf den Gegenstand zwischen ihrem Körper und ihrem Arm. “Ich weiß es nicht.” Nebula beĂ€ugte das Kind skeptisch. Bevor sie weiterreisen konnten, gab es noch einiges zu erledigen. Die Söldnerin berichtete der DorfĂ€ltesten von ihrem Sieg ĂŒber Greymore und dass sie nun frei seien. Als alles geregelt schien, die Gruppe ihre VorrĂ€te aufgefĂŒllt und Annemarie ordentliche Kleider und Schuhe gekauft waren, verließ die Gruppe das Dorf und setzte die Reise nach Schleierfirst fort. Kapitel 4: Todbringende TrĂ€ume ------------------------------ 🌱 Nachdem Annemarie zu ihnen stieß, hatte Henrik sein eigenes Zelt bekommen. Wenigstens musste er jetzt nicht mehr zusammengekauert hinter einer Mauer seiner sieben Sachen Schutz suchen, stets in Furcht von Nebulas nĂ€chtlichen Waldarbeiten entzwei gesĂ€gt zu werden. Annemarie musste ihm auch nicht leid tun, denn sie schlief wie ein Murmeltier. Henrik konnte so ausgeschlafen als Erster aufstehen. Jenen Morgen schien die Sonne zaghaft zwischen den lila schimmernden SchĂ€fchenwolken hindurch. Es war keine Zeit, sich daran zu erfreuen. Henrik musste das FrĂŒhstĂŒck vorbereiten. WĂŒrde Nebula erwachen und das FrĂŒhstĂŒck war nicht aufgetischt, zöge dies die furchtbarste Konsequenz nach sich, die man sich auch nur vorstellen konnte: Sie wĂŒrde es selbst versuchen. Und das wĂ€re schlimmer als der Tod! Das wollte er unter allen UmstĂ€nden verhindern. Die arme Annemarie! WĂ€hrend er die nötigen Vorbereitungen fĂŒr das SonntagsfrĂŒhstĂŒck mitten in der Pampa traf, kam plötzlich ein fremder Mann geritten. Er hatte eine Tasche bei sich und wirkte auf ihn ziemlich offiziell. “W-Wie kann ich Euch behilflich sein”, fragte Henrik den Fremden, als dieser von seinem Ross abstieg. “Ich habe einen Brief fĂŒr eine gewisse Nebula”, stammelte der Mann vor sich hin. “N-Nun ruht Euch doch erst einmal aus!” “Keine Zeit! Verweilt die gnĂ€dige Dame noch in ihren GemĂ€chern?” "GemĂ€cher?!” Henrik musste schmunzeln. “D-Das ist ein Zelt.... S-Soll ich sie wecken?” “Das wird nicht notwendig sein. Gebt ihr einfach diesen Brief.” Der Fremde griff in seine Tasche und holte ein zusammengerolltes Blatt heraus, das mit einem Wachssiegel verschlossen war. “Ich muss an Euren Anstand appellieren. Wahrt das Postgeheimnis!” Er ĂŒbergab Henrik das SchriftstĂŒck. “Euch sei gedankt!” “Ich tue ihn nur schnell zur Seite”, sagte Henrik und legte den Brief neben dem Beutel mit den VorrĂ€ten ab. “W-Was bin ich Euch fĂŒr Eure MĂŒhen schuldig?”, fragte er. “Nichts! Mein Auftraggeber hat mich bereits im Voraus bezahlt.” Der Bote schwang sich wieder auf sein Pferd und ritt von Dannen. Henrik fehlte die Zeit, sich zu fragen, wie der Mann sie mitten im Nirgendwo aufgespĂŒrt hatte. Stattdessen breitete er eine Decke auf dem Boden aus. Drei Teller stellte er bereit und legte je ein StĂŒck Brot darauf. Dann warf er etwas Schinken in eine eiserne Pfanne und ließ ihn ĂŒber dem Lagerfeuer garen. Gut angebrĂ€unt, gab er den Schinken zum Brot hinzu. Ein Apfel fĂŒr jeden sollte es noch sein, denn Obst ist schließlich gesund. Henrik betrĂŒbte noch immer der Gedanke an die Ereignisse von vor einer Woche. Als er das Obst in den HĂ€nden hielt, fragte er sich, ob er sich mit ihm ablenken könnte. Ihm kam eine absurde Idee. Sogleich probierte er zu jonglieren. Es funktionierte ĂŒberraschend gut. Die drei Äpfel wechselten mit Leichtigkeit die Hand. Genau in diesem ertönte ein lautes GĂ€hnen aus dem Zelt, gefolgt von Nebulas Stimme. “Ich rieche Fleisch!”, verlautete sie fröhlich. Erschrocken geriet Henrik aus dem Takt und der dritte Apfel plumpste ihm auf den Kopf. Er ging einen Schritt rĂŒckwĂ€rts und trat dabei aus Versehen, ohne es zu merken, auf den Brief, den der Bote zuvor ĂŒberbracht hatte. “Verdammt!”, fluchte er ĂŒber den unerwarteten Kopfschmerz aufgrund des Fallobst. Leider war es keine Frucht der Erkenntnis, die ihm das VerstĂ€ndnis der Naturgesetze offenbarte. Hastig sammelte der Braunhaarige die Äpfel wieder ein. Nebula schaute aus dem Zelt und lachte beim Anblick des umher wuselnden Jungen. “Hast du Spaß?” Doch dann bemerkte sie den Brief, welcher offenbar achtlos auf den Boden geworfen wurde. Sie erwartete seit lĂ€ngerem ein wichtiges Dokument. “Was soll das?”, fragte sie daraufhin misstrauisch. “Was meinst du?” Henrik war perplex. Die Blondine verließ das Zelt, ging zu ihrer Post und hob das SchriftstĂŒck auf. “Das hier!” Sie begutachtete den Brief und zeigte ihm dann das gebrochene Siegel. “I-Ich.... D-Da ist wohl ein kleines M-Malör passiert.” “Malör?!”, fragte Nebula ungehalten wegen der vermeintlichen Verletzung des Postgeheimnisses. Sie las den Brief, ohne ein Wort dazu zu verlieren. Doch ihr Gesicht sprach BĂ€nde. “Du hast ihn auch gelesen, oder?!”, stellte sie ihn anschließend zur Rede. “Nein, ich habe alberte doch nur herum und-”, versuchte er sich zu erklĂ€ren. “Ich will deine Ausreden nicht hören!” Sie wollte ausholen und ihm eine Ohrfeige verpassen, tat es dann aber doch nicht. “Wenn du dich nochmal an meinen Sachen vergehst-" “A-aber...” “Dieben hackt man die Hand ab!” Sie schien sich etwas zu beruhigen, nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte. "Fein! Dann weißt du ja nun Bescheid!”, fauchte sie ihn an. Dabei wusste er rein gar nichts! “Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Ich kann doch gar nicht-” “Spare es dir einfach! Ich will kein Wort mehr hören!” Geweckt von lauten Stimmen, streckte Annemarie nun auch ihren Kopf aus dem Zelt. “Was ist denn los?”, fragte sie ganz verschlafen, doch bekam keine Antwort mehr. Die drei nahmen wenig spĂ€ter ihr FrĂŒhstĂŒck ein. Das MissverstĂ€ndnis hatte die Stimmung vergiftet. Der Schmied und die Söldnerin schlagen ihre Portion schweigend herunter. Aus dem beschaulichen Sonntagsessen war eine Farce geworden. Annemarie konnte sich nur wundern, was zwischen ihnen vorgefallen war. Auf donnernden Hufen schossen die Pferde einer Kutsche ĂŒber die unebene Gebirgsstraße. Sie zogen schwere Last. ZusĂ€tzlich einen dicken Mann, welcher die Tiere unentwegt mit der Peitsche antrieb. Mit dem Fuhrwerk kurz davor zu bersten, raste er, den ehrgeizigen Zeitplan fest im Auge. Die unzureichend gesicherte Ladung sprang umher, wie die Flöhe auf dem RĂŒcken eines rĂ€udigen Straßenköters. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch keine der Kisten eingebĂŒĂŸt hatte. “Schneller, ihr blöden Viecher!”, röhrte er seinen Tieren zwischen den Peitschenhieben zu. HĂ€tte ihn heute Morgen kein inkompetenter Zollbeamter angehalten, stĂŒnde er nicht unter Zeitdruck. Sein Wagen, eine Gefahr fĂŒr den Straßenverkehr
 So ein Unsinn!, dachte er. Die Sonne machte dem Fahrer zu schaffen. Er griff mit einer Hand nach seinem Trinkbeutel, den er kaum erreichen konnte, und war so kurz abgelenkt. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er die scharfe Kurve vor sich und lenkte die Pferde am Abgrund vorbei. Das hintere Rad der Kutsche verlor kurz den Bodenkontakt und einige Steine fielen in den Grund. Die Kurve hatte er noch rechtzeitig genommen, aber den drei Gestalten, welche plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht waren, vermochte er aber nicht mehr auszuweichen. “Aus dem Weg!”, brĂŒllte er aus LeibeskrĂ€ften. Zwei der FußgĂ€nger konnten noch ausweichen, doch der schwere Rucksack des dritten wurde erfasst und er verlor den Halt. Er stĂŒrzte und rollte den steilen Abhang herunter. Der Kutscher fuhr einfach weiter. Sein Termin war ihm wichtiger als das Schicksal eines Mannes, den er gar nicht kannte. Ihr Streit war Nebula plötzlich vollkommen egal, als ein viel zu schnelles GefĂ€hrt Henrik streifte und er in den Grund fiel. Sofort sah sie hinunter und entdeckte ihn etwa sechs Meter unterhalb des Passes auf einem Vorsprung liegend. Er lid Schmerzen und der Inhalt seines GepĂ€cks lag auf dem Boden verstreut. Aber er war noch am Leben. Ohne zu zögern schlitterte die Söldnerin selbst den steilen Hang hinunter. Annemarie rief ihr nach, sobald sie sich von dem Schreck erholt hatte, um ein Haar von Pferden zertrampelt worden zu sein. “Hole Hilfe!”, forderte Nebula das MĂ€dchen auf. “Und sage ihnen, wir brauchen Seile und einen Heiler!” “Alles klar!”, bestĂ€tigte Annemarie. Das MĂ€dchen machte sich auf den Weg. Nebula wusste, dass Schleierfirst nicht mehr weit sein konnte. “Henrik, halte durch!” Vielleicht könnte sie mit ihm wieder hinauf auf den Weg springen. Doch sie wusste nicht, wie schwer er verletzt war und wollte das Risiko nicht eingehen. Der junge Schmied öffnete seine Augen. “Mir tut alles weh!”, sagte er. “Schmerz ist gut! Solange es noch weh tut, stirbst du nicht!” “W-Was?! St-Sterben?” Nebula untersuchte sein Bein und diagnostizierte eine Knieverletzung. “Du hĂ€ttest auf den Kopf fallen sollen. Da kann bei dir nicht viel kaputt gehen!” “W-Wieso sagst du immer so gemeine Sachen zu mir?” Nebula zuckte zurĂŒck und wurde rot. “W-Weil
 du
 mir
” Dann besann sie sich ihrer selbst zurĂŒck. “Ach, halte die Klappe!” “B-Bist du sauer auf mich, wegen dem Brief?” “Ziemlich!” “W-Wieso? Stand etwas peinliches drin?” “Du hast es doch gelesen!” “Nein.” Henrik richtete sich leicht auf. “D-Das versuche ich die ganze Zeit zu sagen. I-Ich kann den Brief nicht gelesen haben!” “Aber das Siegel!” “Ich bin draufgetreten”, gestand Henrik ein. “Das kann nicht dein Ernst sein!” “Ich kann nicht lesen, verdammt!!”, schrie Henrik aus LeibeskrĂ€ften. “Du kannst nicht lesen?”, hakte sie unglĂ€ubig nach. Aber natĂŒrlich! Sie durfte nicht außer Acht lassen, dass er ein Gewöhnlicher war. “Nein. Ist das so ungewöhnlich fĂŒr einen einfachen Handwerker? M-Meine Eltern hatten nicht das Geld, mich auch noch auf eine Schule zu schicken. Das Lehrgeld fĂŒr meinen Meister musste ausreichen. E-Ein bisschen rechnen habe ich mir selbst beigebracht.” Henrik spĂŒrte eine Schmerzwelle in seinem Bein und lehnte sich wieder zurĂŒck. “Und du?”, fragte Nebula vorsichtig. “Bist du immer noch enttĂ€uscht von mir?” “Wegen Greymore? Ja. Wieso hast du ihn zum Tode verdammt?” “Er... ich... es ist kompliziert.” “Kompliziert?” “Man, frag nicht so blöd!”, entrĂŒstete sich die Blondine. “Muss ich dir alles haarklein Vorkauen? Er... war mein Verlobter.” “ER war dein Ver-ver-verlobter?!” “Ich sollte heiraten und er war der einzige Mann, mit dem ich es aushalten konnte. Und in der Nacht vor der Hochzeit... Den Rest kennst du bereits. Im Rachewahn wurde er zum geĂ€chteten Mörder. Irgendwann muss ihm Quake in die HĂ€nde gefallen sein. WĂ€re ich ihm nur frĂŒher gegenĂŒber getreten.” Ein ironischer Unterton schlich sich in ihre Stimme ein. “Aber was dann? Überraschung Liebster, ich bin auferstanden!” Henrik spĂŒrte, dass sie den Schmerz an ihre Erinnerung zu verbergen versuchte. “Er hat das alles wegen mir getan. Ich habe mich verantwortlich gefĂŒhlt.” Dann sah sie nach unten. “A-Außerdem wollte ich dich beschĂŒtzen!” Henrik versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben in seiner Kehle stecken. So schwiegen sie sich stattdessen an, bis irgendwann das Ende eines Seiles zu ihnen hinuntergelassen wurde. Als er nach langem und tiefem Schlaf endlich wieder zu sich kam, lag Henrik in einem Bett und starrte die Decke an. Er rĂŒhrte seinen Arm. Das funktionierte noch. Dann wackelte er mit den Zehen. Auch das klappte, wie es sollte. Es schien alles in Ordnung zu sein. “Henrik!”, tönte eine fröhliche Kinderstimme. Annemarie sprang ihn förmlich an und umarmte ihn, dass ihm das Atmen schwer fiel. Henrik versuchte, sich aufzusetzen, nachdem der Rotschopf von ihm abgelassen hatte. Er spĂŒrte einen Widerstand. Er sah zur Seite und entdeckte Nebula auf einem Hocker sitzend, ihren Kopf auf die Decke gelegt. Sie schlief tief und fest. “Nebula?”, wunderte er sich. “Sie schlĂ€ft?” So leise, fĂŒgte er in Gedanken an. “Du hast ĂŒber Schmerzen geklagt”, informierte die Kleine. “Der Trank des Heilers ließ dich einen Tag lang schlafen.” Die TĂŒr öffnete sich und ein Mann trat ein. “Oh, Ihr seid wach!”, sprach er. Es war jener Arzt, der sich um Henrik gekĂŒmmert hatte. “Schlaf ist die beste Medizin!” Kaum an das UnglĂŒck erinnert, verlor der Trank an Kraft und Henriks Bein schmerzte. “Sie hat die ganze Zeit deine Hand gehalten”, verriet Annemarie. “W-Wirklich?” Henrik war ĂŒberrascht. “Ihr gehört ja auch zusammen”, strahlte das Kind. “Eure Frau hat sich einfach nicht von Eurem Bett wegbewegen lassen”, missverstand der Heiler. “Nicht mal zum Essen ist sie von Eurer Seite gewichen. Wahrlich ein treues Weib!” “N-Na-Na-Nein! So ist das nicht. Wir sind nur-” “Und schön ist sie auch noch! Junge, du bist vom GlĂŒck gekĂŒsst.” “Aber das-” “Schssss!” Annemarie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. “Du weckst sie noch!” 🌱 Eine dunkelhaarige Dirne in freizĂŒgigen Kleidern, versuchte einen jungen Mann in die Gasse zu locken. Seine Jugend und seine Unerfahrenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben und er erlag ihren Reizen ohne jede Chance auf Gegenwehr. Es war ein leichtes Spiel fĂŒr sie. “Komm schon, mein SĂŒĂŸer!”, sagte sie. “Ich kann dir Dinge zeigen, die kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht billig, aber jedes GoldstĂŒck wert!” Seine Jugend störte sie nicht, sie wollte neue Kunden akquirieren. Und er sah nicht aus, wie das Kind von armen Eltern. Dann packte sie seinen Arm und zog ihn in die finstere Passage. Tief in der SchwĂ€rze, machte sich die Dirne ĂŒber den Jungen her. Nebula musste den Kopf frei bekommen. Sie schlenderte ĂŒber den Marktplatz. Die kalte Morgenluft, gemischt mit einem sanften Hauch von breitgetretenen Pferdeexkrementen und auf die Straße geworfenen HausabfĂ€llen, breitete sich mit jedem Atemzug in ihren Lungen aus. Sie hoffte, sie könnte ihre hitzigen Gedanken abkĂŒhlen. Der Schrecken saß noch immer tief. Sie fĂŒhlte sich auf einmal so beobachtet. “Nebula!”, rief es augenblicklich hinter ihr. "Hallo!" Es war nur Annemarie, welche derart fröhlich strahlte, dass sie Tschernobyl vor Neid erblassen lassen könnte. Sie musste ihr heimlich hinterher gelaufen sein. Wie fast immer fĂŒhrte sie das Buch mit dem blauen Einband mit sich. Nebula wandte sich dem MĂ€dchen zu. Als Annemarie sie erreichte, schlug sie ihre Arme um ihre HĂŒfte und presste ihren Kopf gegen ihre Brust. “Ich habe dich gefunden!” Nebula streichelte Annamarie ĂŒber die orange Haartracht. “Hast du mich denn gesucht?”, fragte sie sie. “Ich brauchte frische Luft, um den Kopf frei zu bekommen.” “Weil du in Henrik verliebt bist?” Schockiert schob die Blonde das Kind von sich weg. “N-Na-Na-Nein! So ist das nicht.” “Genau das Gleiche hat Henrik auch gesagt!”, antwortete Annemarie in ihrer kindlich unschuldigen Art. Nebula schwieg. “Gibst du mir deine Hand? Dann kann ich fĂŒr Klarheit sorgen.” “Wenn es sein muss...” Sie suchten sich ein stilles Örtchen und setzten sich auf eine Bank. Annemarie legte ihr Buch beiseite und Nebula reichte ihr die linke Hand. Gerade als das MĂ€dchen zu lesen beginnen wollte, hallte ein hysterisches Kreischen durch die Gassen. Nebula entzog ihre Hand. “Annemarie, geh zurĂŒck zur Taverne!”, befahl sie ihr. Als sie nicht gehen wollte, wiederholte die Blondine ihre Anweisung. Danach zog sie ihr Schwert und stĂŒrmte in die Richtung, aus der das GerĂ€usch gekommen war. AngsterfĂŒllt kam ein junger Mann rĂŒckwĂ€rts aus der Gasse gestolpert. Sein GĂŒrtel hing lose hinunter und seine Kleidung war unordentlich. Der Schock entartete seine GesichtzĂŒge. Er fiel ĂŒber eine lose Schrittplatte und landete mit dem GesĂ€ĂŸ in den unappetitlichen Mix aus Ausscheidungen und MĂŒll, aus dem sich der Strassenschlamm zusammensetzte. Mit den HĂ€nden stĂŒtzte er sich ab. Tief bohrte er dabei seine Finger in den Dreck hinein. Dann erhob er sich wieder, wandte sich von der Gasse ab und wollte davon rennen, als er fast mit einer bewaffneten Person unter einer Kutte zusammenstieß. Der Fremde packte ihn. “Was ist hier los?”, fragte eine ernste Stimme. Der feste Griff des Fremden erlaubte nicht die geringste Bewegung. “Du brauchst keine Angst zu haben!” Die Gestalt nahm ihre Kapuze herunter und enthĂŒllte ihre IdentitĂ€t. Zu des Jungen Überraschung handelte sich um ein MĂ€dchen. “Mein Name ist Nebula”, sagte sie. Dann fiel ihr Blick auf die blutbefleckte Kleidung. “Was ist geschehen, Junge?” “Da!”, stotterte er verĂ€ngstigt und zeigte mit zitterndem Finger in die SchwĂ€rze. “Mord!” Auch die Stadtwache war auf das Geschehen aufmerksam geworden und mĂŒhte sich mit den Gaffern ab. Nebula ließ den verĂ€ngstigten Halbstarken los und stĂŒrmte noch vor den Wachen in die Seitenstraße. Als die MĂ€nner ihr folgten, fanden sie sie kauernd vor dem abscheulich zugerichteten Kadaver einer Dirne. “Was ist hier geschehen?”, fragte einer der MĂ€nner. Nebula stand auf und trat beiseite. “Jemand wurde ermordet.” Die MĂ€nner meinten schon viel gesehn zu haben, doch die sechsunddreißig Stichwunden verteilt ĂŒber den ganzen Körper der toten Frau und das ganze Blut aus der bis zum Knochen aufgeschlitzten Kehle, schien zu viel fĂŒr sie zu sein. Einer der WĂ€chter musste sich sogar an eine Hauswand ĂŒbergeben. Anstelle auf ihre Fragen zu antworten, stellten sie Nebula und den Jungen unter Arrest. Es war ein dĂŒsterer und muffiger Raum. Das Mauerwerk bestand aus großen und schweren Steinblöcken, nur durchbrochen von einem vergitterten Fenster. Nebula und ein Mann von der Stadtwache saßen sich an einem massiven Tisch gegenĂŒber. An der TĂŒr stand ein weiterer Mann. Es missfiel der Blondine, immer wieder die gleichen Fragen beantworten zu mĂŒssen. Sie stĂŒtzte ihren Kopf gelangweilt auf ihrer linken Hand ab und klopfte mit den Fingerkuppen der rechten auf den Tisch. Der Mann von der Stadtwache empörte sich darĂŒber. “Nehmt Ihr das etwa nicht ernst?!”, fragte er ungehalten. “Meine Antworten werden sich nicht Ă€ndern, egal wie oft Ihr fragt”, stellte Nebula klar. “Also schön, ein letztes Mal.” Der Mann sah sein GegenĂŒber mit den Augen rollen. “Ihr habt jemanden schreien gehört und seid sofort aufgebrochen, um nachzusehen. Richtig?” “Ja... wie bei den letzten Malen auch, als Ihr fragtet.” “Und dort angekommen, ist Euch der Junge zugelaufen.” “Ja!” “Und dann seid Ihr in die Gasse gegangen und habt die Tote gefunden?” “Ja, verdammt!” Sie erhob sich von ihrem Stuhl und schlug die HandflĂ€chen auf die Tischplatte. “Genug der Scharade! Ich will mit dem Kommandanten der Stadtwache sprechen!”. verlangte sie. “Mit Euch Tunichtgut vergeude ich keine Zeit mehr!” Sie setzte sich wieder hin, verschrĂ€nkte die Arme demonstrativ und sprach kein Wort mehr, sodass man keine andere Wahl hatte, als ihrem Willen endlich Folge zu leisteten. “Wo bleibt sie nur?”, fragte Annemarie ungeduldig. Sie saß auf einem Stuhl und ihre Beine schlugen im Wechsel auf und ab. Es fiel ihr schwer, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, welches aufgeschlagen in ihren HĂ€nden lag. Seitdem Nebula sie weggeschickt hatte, war schon einige Zeit verstrichen. “Ich denke, dass a-alles gut wird”, versicherte Henrik aus dem Bett heraus. “Aber da war dieser Schrei!” “Das wird sich bestimmt alles aufklĂ€ren!” “Wirklich?” “I-Ich weiß, sie kommt bestimmt gleich zurĂŒck!” Aber diese Antwort stellte das MĂ€dchen nicht zufrieden. Ihre Beine schlugen noch unregelmĂ€ĂŸiger in die Luft. Der Kommandant der Wache kam in den mittelalterlichen Verhörraum hinein und trat Nebula gegenĂŒber. Seine RĂŒstung unterschied ihn von den anderen, war aber dennoch nur gewöhnliche milizionĂ€re Ausstattung. Nebula schaute an seiner imposanten Erscheinung hinauf. “Euch zu erreichen, ist nicht so einfach”, eröffnete sie. “MĂ€nner, Eure Dienste werden hier nicht mehr gebraucht”, wies er seine Leute an. Die Wachen verließen die Zelle und schlossen die TĂŒr. “Ihr wisst es wahrscheinlich nicht, aber seit etwa sechs Monaten treibt sich ein Mörder rum. Wir haben keine Spuren und keinen VerdĂ€chtigen.” “Aus diesem Grund kassiert Ihr also jeden gleich ein, der eine Leiche findet?” “Die Stimmung ist aufgeheizt dieser Tage.” Nebula warf dem Kommandanten einen skeptischen Blick zu. “Wollt Ihr mir nun die gleichen sinnbefreiten Fragen stellen?” “Keineswegs.” “Der Junge war Zeuge. Wenn ĂŒberhaupt, dann hat er etwas gesehen und nicht ich.” “Aus dem bekommt man nichts heraus. Der ist vollkommen hinĂŒber.” “HinĂŒber?!” Seine Formulierung missfiel ihr. ”FĂŒhrt mich zu ihm!” Wie ein kleines HĂ€ufchen Elend kauerte der junge Mann neben der von Ketten gehaltenen Pritsche seiner Zelle am kalten Stein der Wand und zitterte wie Espenlaub. Sein Körper sprach BĂ€nde ĂŒber die bei ihm ausprobierten Verhörmethoden. Der Kommandant seufzte. “Er heißt Henning. Mehr haben wir nicht herausbekommen.” Nebula war zu entsetzt, um etwas zu sagen. “Wie Ihr seht, spricht er nicht.” “So geht Ihr mit Euren Zeugen um?”, entrĂŒstete sich Nebula. “Da bleibt er solange drin, bis er endlich spricht.” “Ihr seid von Sinnen!” Sie starrte ihm fordernd ins Antlitz. “So spricht er niemals! Ich werde ihn befragen. Aber nicht hier!” Der Kommandant rief eine der Kerkerwachen zurĂŒck und befahl den Zeugen mitzunehmen. Solle sich das Weib ruhig lĂ€cherlich machen. Was hatte er denn schon zu verlieren? Sie brachten ihn in den Verhörraum, in dem Nebula zuvor stundenlang befragt wurde. Kein schöner Ort, aber besser als die rattenversĂ€uchte Zelle. Nebula und der Zeuge saßen sich gegenĂŒber. Er zitterte noch immer. Nebula umfasste seine HĂ€nde und sah ihm in die Augen. “Henning”, sprach sie seinen Namen. Der Junge beruhigte sich, als er die WĂ€rme ihrer HĂ€nde spĂŒrte. “Willst du mir sagen, was du gesehen hast?” “Das will ich.” Der Kommandant kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein bisschen ZĂ€rtlichkeit vermochte, was stundenlange Verhöre nicht geschafft hatten? Vielleicht sollte ich kĂŒnftig mein Weib die Zeugen verhören lassen, bespaßte er sich in Gedanken. “Was ist passiert?” “Ich war auf dem Weg, einige Besorgungen fĂŒr Mutter zu tĂ€tigen. Dann kam ich durch diese Straße. Vater hat mich immer vor dem Gesindel gewarnt, das sich in diesen dunklen Gassen herumtreibt. Plötzlich hat mich jemand in die Gasse gezogen. Es war diese Frau.” “Die, die getötet wurde?” “Ja! Sie war eine... Hure. Sie hat mich... und mich... und dann...” Nebula spĂŒrte, wie das Zittern seiner HĂ€nde wieder einsetzte. “Wie starb sie?” “Plötzlich ist sie einfach umgefallen. Sah fast aus, als ob sie schlĂ€ft.” “Aber sie war ĂŒbersĂ€t mit Wunden, als ich sie fand.” “Ja. Das ist... einfach so passiert. Plötzlich zuckte sie, schrie und begann zu bluten. Als hĂ€tte sie jemand erdolcht. Ich... bin dann einfach nur gerannt.” Nebula erhob sich und ging kommentarlos zur TĂŒr, wo der Kommandant der Wache bereits mit verschrĂ€nkten Armen auf sie wartete. “Ein unsichtbarer Mörder?!”, zweifelte er. “Das ist doch Humbug! Gibt es doch gar nicht!” “Es gibt Dinge, die könnt Ihr Euch nicht einmal vorstellen.” “Und was meint Ihr, soll ich jetzt mit ihm tun? So eine fadenscheinige Ausrede wollt Ihr wirklich glauben. Ein unsichtbarer Mörder schlĂ€fert seine Opfer ein und sticht sie ab?!” “Habt Ihr den Jungen nicht gesehen? Er steht vollkommen unter Schock.” Sie sahen zu dem jungen Mann. Kaum das Nebula seine HĂ€nde losgelassen hatte, zitterte er schon wieder. “Egal ob Wahrheit oder Trug, er glaubt, was er gesehen hat.” “Wenn der Mörder wirklich unsichtbar ist, erklĂ€rt das, warum wir nie etwas finden.” Der Kommandant rieb mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinn. “Na also, Ihr zeigt etwas Vernunft.” “Ach was rede ich da?! Soll die Wache jetzt den Unsichtbaren jagen?” “Das werde ich fĂŒr Euch ĂŒbernehmen.Doch gebt Acht! Meine Dienste sind nicht billig!” Nebula machte sich auf den RĂŒckweg zur Taverne. Als sie endlich wieder da war, freute dies alle. Im Zimmer von Henrik waren neben ihm selbst auch Annemarie und Matthew, der jĂŒngere der BrĂŒder, welche die Taverne besaßen, in der Nebula und ihre Begleiter untergekommen waren, anwesend. “W-Wo bist du gewesen?”, fragte Henrik. “Annemarie, gehe spielen!”, befahl Nebula. “Och nö!”, maulte die Kleine, aber gehorchte. “Ich habe eine Leiche gefunden”, sagte Nebula, als Annemarie die TĂŒr hinter sich verschloss. “Die Stadtwache hat mich stundenlang verhört.” Sie wandte sich Matthew zu. “Ist vor sechs Monaten etwas vorgefallen?”, fragte ihn Nebula anschließend. “Wieso fragt ihr?”, wollte er wissen. “Scheinbar treibt sich seit geraumer Zeit ein Mörder herum, den niemand fassen kann.” “Vor sechs Monaten... starb die Frau meines Bruders.” “Ermordet?” “Ja. Von einem wĂŒtenden Mob.” “Von einem Mob?” “Mein Bruder war ein paar Tage geschĂ€ftlich unterwegs. Seine Frau Valeria war nicht sehr beliebt. Man fĂŒrchtete sie, da sie sich mit KrĂ€utern auskannte. Eines Tages stand ein aufgebrachter Mob vor ihrem Haus. Jemand hatte sie als Hexe denunziert und diese geistlosen fanatischen Trottel haben es ohne zu fragen geschluckt. Ihnen ist es nicht gelungen, ins Haus einzudringen, also haben sie es ĂŒber ihrem Kopf angezĂŒndet.” “Das ist barbarisch!” Alle waren sich bewusst, was er implizierte. Doch keiner traute sich, das Wort zu ergreifen. 🌱 Ein paar ereignislose Tage verging. Henriks verletzte Kniescheibe heilte gut in der Schiene. Aber er wĂŒrde noch eine Weile ans Bett gefesselt sein. Und es war mĂŒhsam, zum Abort zu humpeln. Der Ă€ltere der BrĂŒder machte sich indes rar. Marcus kam oft erst spĂ€t in der Nacht zurĂŒck. Matthew konnte nur ahnen, wo er sich dieses Mal herum trieb. Wieder hielten ihn keine zehn Pferde im Haus. Erst am frĂŒhen Morgen kehrte er wieder ein. Matthew wusste genau, was seinen Bruder nachts auf den Beinen hielt und stellte ihn am Morgen zur Rede. “Hast du wieder gesoffen?!”, fragte er. Doch Marcus zeigte sich wenig kooperativ. “Das geht dich gar nichts an!”, antwortete er. Nach diesen Worten stĂŒrmte er die Treppe hinauf und schlug die TĂŒr hinter sich zu. Im Laufe des Tages machten GerĂŒchte den Umlauf. Am Morgen wurde wieder jemand tot aufgefunden. Ängstlich verbreiteten sich Falschmeldungen ĂŒber eine weitere ĂŒbel zugerichtete Frau. Ein Opfer des Rippers. Doch sie schienen schnell widerlegt, als bekannt wurde, dass es dieses Mal einen Mann getroffen hatte. Einen angesehenen und wohlhabender Bankier. Seine Schwester wollte ihrem Bruder einen Besuch abstatten. Eine kleine schmĂ€chtige Frau, die dafĂŒr bekannt war, bei der kleinsten Kleinigkeit in Ohnmacht zu fallen. Sie hatte eine HerzschwĂ€che und der Anblick, der sich ihr bot, gab ihr beinahe den Rest. Als sich die IdentitĂ€t des Opfers herumsprach, wurde Matthew ganz flau. Er musste dringend mit jemanden sprechen und suchte seine GĂ€ste auf. “G-Guten Tag”, grĂŒĂŸte Henrik, als Matthew eintrat. Nebula saß neben dem Bett auf einem verkehrt herum aufgestellten Stuhl. Sie erhob sich von selbigen und wandte sich dem Ankömmling zu. “Ich will mit Euch reden”, sagte dieser. “Worum geht es?” “Es gab wieder einen Mord.” “Annemarie, geh spielen!” Doch das MĂ€dchen gehorchte nicht. “Diesmal traf es einen Mann. Er wurde angeblich erwĂŒrgt.” “Das passt nicht”, bemerkte Nebula. "Weder Opfertyp noch Todesart." “Vielleicht hat es niemals einen Ripper gegeben. Nur jemand, der Rache will. Der Mann und die Hure gehörten beide zu dem Mobb, der meine SchwĂ€gerin tötete.” “Ich verstehe...”, erkannte Nebula. “Ihr glaubt noch immer, Euer Bruder ist der Mörder?” “Wenn er zwischen dem Saufen dazu Zeit findet...” “Auch wieder wahr... Dennoch, er verheimlicht etwas.” “Darum möchte ich Euch um etwas bitten. Könntet Ihr ein Auge auf Marcus werfen?” “Wieso fragt Ihr nicht die Wache?” “Denen kann man nicht trauen.” “Da habt Ihr Recht. Na schön! Ich tue es!” “Ich danke Euch!” Wie erwartet, stahl sich Marcus auch in dieser Nacht davon. Er trug etwas VerdĂ€chtiges bei sich. Nebula stieg ihm heimlich nach. Aber wieso wurde sie das GefĂŒhl nicht los, dass sie jemand beobachtete? Sie spĂŒrte fast schon den Atem in ihrem Nacken. Als sie abbiegen musste, verbarg sie sich in einem Spalt zwischen zwei HĂ€usern, bis der vermeintliche ÜbeltĂ€ter an ihr vorbei ging. Sie konfrontierte ihn. Es war Annemarie. Sie musste ihr schon wieder heimlich gefolgt sein. “Was machst du hier?”, stellte sie den kleinen rothaarigen Delinquent zur Rede. Ein Tonfall, fast wie bei einem Verhör. “Ähm... ich...”, suchte Annemarie nach Worten. “Hau ab! Hier ist es gefĂ€hrlich!” Unterdessen entfernte sich Marcus immer weiter. Nebula fĂŒrchtete, ihn zu verlieren. “Na schön! Wenn du nicht anders willst, versuche mit mir Schritt zu halten!” Dann stĂŒrmte sie los, in der Hoffnung, Annemarie wĂŒrde aufgeben und zurĂŒcklaufen. Sie konnte schnell laufen und dennoch leise sein. Die Schritte im Matsch waren fast nicht zu hören. Ihr gelang es, die Zielperson einzuholen. Von der Ecke einer Hauswand aus, beobachtete sie Macrus. Annemarie gesellte sich zu ihr. “Was macht der da?” So viel dazu
 “Sei still!” Marcus ging auf eine Ruine zu. Nur ein verkohltes Fundament war noch ĂŒbrig. Der VerdĂ€chtige enthĂŒllte einen Strauß Blumen und legte ihn neben ein hölzernes Kreuz. Danach hockte er sich hin und sprach ein Gebet. Als er fertig war, erhob er sich und verließ die Szenerie auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Nebula und Annemarie versteckten sich im Schatten eines Hauses. Als er außer Sichtweite war, gaben sie ihr Versteck auf. “Was fĂ€llt dir ein, mich zu verfolgen?!”, schimpfte die Blondine. “Tut mir leid”, entschuldigte sich das MĂ€dchen. “Aber ich hatte eine böse Ahnung.” “Hast du irgend etwas gesehen?” “Als ich dich zum Abschied umarmt habe, sah ich einen schwarzen Schatten.” “Einen Schatten?” Nebula tat es als Hirngespinst ab. “Na schön, wenn du schon mal hier bist, dann können wir uns das Grab auch gemeinsam ansehen.” Beide sahen sich den Ort genauer an. Ihnen fiel sofort auf, dass auf dem hölzernen Kreuz ein Name geschrieben stand. Nebula konnte die unleserliche Handschrift in weißer Farbe als “Valeria” entziffern. Sie zĂ€hlte eins und eins zusammen. “Hier ist seine Frau gestorben”. stellte sie fest. Ein GerĂ€usch schreckte beide auf. “Hier ist es gruselig!”, Ă€ngstigte sich Annemarie “Da hast du nicht unrecht”, pflichtete Nebula bei. Noch einmal ertönte das seltsame GerĂ€usch. Nebula zog ihr Schwert und wandte sich der Quelle zu. Eine rauchige schwarze Gestalt kam auf sie zu geschwebt, ganz wie vorhergesagt. Sie umklammerte einen schwarzen Dolch mit einer ihrer entarteten KlauenhĂ€nde. “Lauf weg!”, befahl die Blondine. Das MĂ€dchen gehorchte und verschwand in der Dunkelheit. Der kleiner Moment der Unachtsamkeit wurde sofort bestraft. Der Kreatur gelang es Nebula das Schwert aus den HĂ€nden zu schlagen. Die Blondine sprang nach hinten und beschwor Bloodbane. Ihre Waffe und der schwarze Dolch des Phantoms kreuzten sich. In der Hitze des darauffolgenden Gefechts landete die Kreatur einen Treffer. Die Klinge streifte Nebula an der Schulter. Sofort wurde ihr schwindlig und sie brach zusammen. Bloodbane wich in ihren Arm zurĂŒck. Die Kreatur verschwand so schnell, wie sie erschienen war. Annemarie kam aus der Gasse zurĂŒck gerannt. Sie fand Nebula bewusstlos auf dem Boden liegend vor. Plötzlich tat sich eine weitere Schnittwunde auf. Diesmal auf Nebulas Wange und ohne einen ersichtlichen Grund. Das MĂ€dchen musste sie irgendwie zu den anderen bringen. Nebulas Schwert lehnte zusammen mit ihrer restlichen AusrĂŒstung an der Wand. Sie lag derweil auf dem Bett, neben dem von Henrik. Ihre Augen waren im Traum geschlossen. Ab und an kam eine neue Wunde irgendwo an ihrem Körper dazu. Sie zeugten davon, dass es kein angenehmer war. Zwar verheilten sie schnell, aber es kamen immer mehr dazu, sodass die Heilung nicht hinterher kam. “Das ist Teufelswerk!”, stieß Matthew entsetzt aus. “D-Das hilft uns nicht weiter!”, tadelte Henrik aus dem Bett heraus. Er wandte sich Annemarie zu. “Wer war die Frau, die dir geholfen hat, Nebula hierher zu tragen?” “Sie hat ihren Namen nicht gesagt”, antwortete der Rotschopf. “Aber sie war sehr hĂŒbsch.” Plötzlich erschien eine weitere Wunde an Nebulas Körper. Ihr schwarzes Blut sickerte in das Laken ein. “Können wir denn nichts machen?”, grĂŒbelte Henrik. Eilig begab sich Annemarie zur rechten Seite des Bettes und ergriff Nebulas Hand. Erschrocken ließ sie sie fallen. “Was hast du denn?” “Sie ist in einem bösen Traum gefangen”, erklĂ€rte Annemarie. “Was? N-Nein! Können wir sie nicht einfach aufwecken?” Annemarie schĂŒttelte den Kopf. “Das kann sie nur alleine schaffen.” “A-Aber?! Wir können also nicht nichts tun?” Annemarie nahm sich einen Stuhl und setzte sich zwischen die beiden Betten. “Wenn du ganz laut nach ihr rufst, hört sie dich bestimmt!” Sie nahm die linke Hand von Nebula in ihre rechte und streckte zugleich ihren linken Arm zu Henrik. “Gib mir deine Hand!” Henrik zögerte nicht und gehorchte. Annemarie schloss ihre Augen. “Jetzt rufe nach ihr. In deinen Gedanken.” “O-Okay
” Henrik probierte, was die Kleine von ihm verlangte. Auf einmal fĂŒhlte er sich ganz anders. Er spĂŒrte, wie sein Geist auf die Reise ging. Als Henrik die Augen öffnete, fand er sich in einem langen Gang wieder. Das schwarze GemĂ€uer reichte so hoch, dass es in der Dunkelheit versank, ohne je die Decke zu erreichen. Durch hohe schmale Fenster drang spĂ€rliches Licht ein und wurde von einer dickflĂŒssigen, rötlichen Masse auf dem Boden reflektiert. UnglĂ€ubig bewegte Henrik sein Bein durch die FlĂŒssigkeit, sodass kleine Wellen entstanden. Ihm war aufgetragen, zu rufen. Also rief er, so laut er konnte. “Nebula!” Bis auf sein eigenes Echo gab es keine Reaktion. Dann vernahm er in der Ferne das Weinen eines Kindes. Noch bevor sich Henrik darĂŒber wundern konnte, dass er in der Lage war zu stehen, trugen ihn seine Beine auch schon zur Quelle des GerĂ€usch. In der Ecke einer HalbsĂ€ule fand er ein MĂ€dchen mit langen blonden Haaren, welches ein weißes Kleid trug, das zur HĂ€lfte mit der roten Substanz vollgesogen war, in der es kauerte. Das MĂ€dchen war jĂŒnger als er. Bestimmt gerade erst vierzehn Jahre alt. Die HĂ€nde des MĂ€dchens verdeckten das Gesicht. “Wer bist du?”, fragte der Junge vorsichtig. Das MĂ€dchen hörte auf zu weinen und nahm die HĂ€nde von seinem Gesicht. Henrik erschrak. Sie sah aus wie Nebula. “Ich habe sie alle umgebracht!”, sprach die Kleine voller Angst. Der Pegel der roten FlĂŒssigkeit sank und gab die Sicht auf ein dutzend Leichen frei, welche ĂŒberall verstreut lagen. Henrik ging auf das MĂ€dchen zu und reichte ihm die Hand. “B-Bitte”, versuchte er, es zu beruhigen. “Nimm m-meine Hand!” Er verspĂŒrte selbst unendlich viel Angst. Seine Furcht war so groß, dass sie alle seine Instinkte regelrecht betĂ€ubten. Alles, was ihm noch blieb, war die Flucht nach vorn. Das MĂ€dchen nahm seine Hand und stand auf. Es umklammerte ihn und er spĂŒrte es zittern. “Bitte gehe nicht wieder weg!” “Ganz bestimmt nicht!” Henrik sah sich erneut um. “Wie kommen wir hier raus?” Das MĂ€dchen zeigte in die SchwĂ€rze vor ihnen. “Dort entlang.” Ein markerschĂŒtterndes Kreischen fuhr durch die Finsternis. Gemeinsam nĂ€herten sie sich der Ursache. Das Klirren von aufeinander schlagenden Klingen mischte sich zwischen die Schreie. Endlich gab die SchwĂ€rze die Sicht frei. Ein gigantisches, widerlich verunstaltetes, wurmartiges Wesen mit menschlichem Oberkörper, langen blassblonden Haaren und klingenartigen AuswĂŒchsen auf dem RĂŒcken wand sich um die SĂ€ulen. Es schien gegen jemanden zu kĂ€mpfen. Henrik erkannte die Person sofort. Blessuren und Wunden zierten ihren Körper, genau wie in der RealitĂ€t. “Nebula!”, rief er in Finsternis hinein. “Du musst aufwachen!” Doch sie schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Die Klingen auf dem RĂŒcken der Kreatur schossen auf sie zu, als es sich nach vorn beugte, verfehlten, trafen stattdessen eine SĂ€ule und brachten sie zum bersten. Ihre Teile stĂŒrzten herab und ihr Stumpf hing noch immer von oben aus der Finsternis heraus. “Sie hört auf niemanden!”, sprach die junge Nebula. “Sie kĂ€mpft immer allein und lĂ€sst sich nicht helfen. Bis es zu spĂ€t ist!” Als Henrik die Kreatur genauer in Augenschein nahm, fror er ein vor Schock. Auch sie teilte sich mit Nebula das gleiche Gesicht. Nur war die Visage des Monsters zerfressen von Wut und Hass und durchzogen von pulsierenden Adern. “Das ist ihr DĂ€mon", erklĂ€rte das MĂ€dchen. Entsetzt versuchte Henrik erneut, zu Nebula durchzudringen. “Hey, Nebula! W-Wach auf!” Noch immer nahm sie keinerlei Notiz von ihm. “Das ist zwecklos! Sie vertraut niemanden. Das ist nicht zu Ă€ndern.” Das arme Kind. Sie musste Nebulas melancholische Seite darstellen. Henrik wollte ihr das Gegenteil beweisen. Schließlich hatte sie Freunde, denen sie vertrauen konnte. Aber wie sollte er Nebula gegen die Bestie unterstĂŒtzen? Er wĂŒnschte sich sein Schwert herbei. TatsĂ€chlich erfĂŒllte sich seine Bitte. Aus dem Nichts erschien die Waffe, an die er eben dachte, in seiner Hand. Wie habe ich das angestellt, grĂŒbelte er, wĂ€hrend er auf das Produkt seiner Fantasie starrte. Ein weiterer Zusammenstoß der Klingen ließ ihn sich besinnen. Ihm wurde bewusst, dass dies nicht die RealitĂ€t war. Hier vermochte er augenscheinlich zu tun, was immer er wollte. Mutig stĂŒrmte er auf die Abscheulichkeit zu und versetzte ihr einen Stoß. Die Kreatur schrie unter Schmerzen auf. FlĂŒssigkeit trat aus der Wunde aus und verĂ€tzte Henriks Schwert. Er ließ es los, bevor sich die SĂ€ure zu seiner Hand hin fraß, und brachte ein paar Meter Abstand zwischen sich und der Kreatur. Aus sicherer Entfernung sah er sein Schwert vergehen. Endlich schenkte Nebula ihm ihre Aufmerksamkeit. Allerdings nicht so, wie er es sich erhofft hatte. “Verschwindet!”, fauchte sie ihn an. “Mischt Euch nicht ein!” Sie schien ihn nicht einmal zu erkennen. Henrik konnte es nicht glauben. Waren sie nicht Freunde? “Passt auf!”, schrie die junge Nebula, als die Kreatur Henrik ins Visier nahm und eine Salve ihrer Klingen auf ihn abfeuerte. Henrik kniff die Augen zusammen und erwartete sein Ende. Er schĂŒtzte seinen Kopf mit dem linken Arm. Den rechten streckte er aus, wie in einem aussichtslosen Versuch, sein unausweichliches Schicksal abzuwenden. Er rechnete fest damit, aufgespießt zu werden. Doch nichts geschah. Mutig sah er den Tatsachen ins Auge und stellte fest, dass die Klingen allesamt vor seiner Hand zum Stillstand gekommen waren und regungslos in der Luft hingen. Henrik stieß sie der Kreatur entgegen. Die Klingen drehten in der Luft und bohrten sich in das Fleisch des Monsters hinein. Es stĂŒrzte gegen eine weitere SĂ€ule, brachte sie zum Einsturz und wurde unter ihren TrĂŒmmern begraben. UnglĂ€ubig betrachtete er das Resultat. Es wĂ€re von Vorteil, wenn er das auch in der RealitĂ€t tun könnte. Die erwachsene Nebula richtete wutentbrannt ihre Waffe auf Henrik. “Das ist mein Kampf! Verschwindet!” Sie stĂŒrmte auf ihn zu, mit der Intention ihn zu erstechen. Die junge Nebula konnte das nicht geschehen lassen und warf sich zwischen ihn und die unaufhaltsam nĂ€her kommende Waffe. Die Klinge durchbohrte den Körper des Kindes, konnte es jedoch nicht stoppen. Das MĂ€dchen ging weiter auf Nebula zu und trieb die Klinge dadurch tiefer in ihre Eingeweide. Es schlug die Arme um sein Ă€lteres ich. Noch im selben Moment sandte es Licht aus und verschmolz mit ihr. Nebula ließ ihre Waffe fallen. Ihr Zorn und ihr Hass auf den ungebetenen Gast schienen vergessen. Henrik versuchte erneut, sie anzusprechen. “Nebula?” Perplex sah die Blondine zuerst auf ihre HĂ€nde und dann zu ihm auf. “Henrik?!” Anschließend ließ sie den Blick zu der unter TrĂŒmmern begrabenen Kreatur schweifen. “Du hast...”, rang sie mit der Fassung. “Unfassbar!” “S-Siehst du!”, strahlte er vor Überzeugung. “D-Das muss ein Traum sein!” Ihr jĂŒngeres Ich hatte ihr einen letzten Gedanken ĂŒbertragen, bevor es mit ihr verschmolz. “Noch ist er nicht vorbei!” Etwas musste noch getan werden. Nebula trat an die Kreatur heran und berĂŒhrte sie. Das Monster löste sich in einen schwarzen Nebel auf und verschmolz ebenfalls mit ihr. Eingeleitet von einem gewaltigen Donner, bröckelte plötzlich das Mauerwerk und die SĂ€ulen. Alles zerfiel erst zu TrĂŒmmern, dann zu Brocken und zum Schluss zu Staub. Die Finsternis lichtete sich. Nebula und Henrik fanden sich auf einer bunten Blumenwiese wieder, in deren Mitte sich eine einsame TĂŒr befand. Keine Spur mehr von dem GemĂ€uer und seinen Schrecken. “W-Was ist hier geschehen?”, fragte Henrik unsicher. “Ich bin mir nicht sicher”, antwortete Nebula. Es war ein Traum, welcher ihr den Spiegel vorhielt. Ihr die drei schlimmsten Fehler aufzeigte: Die Verletzlichkeit in ihrem Inneren, ihren Drang, diese durch nach außen demonstrierte StĂ€rke zu verbergen und der teuflische Fluch, der auf ihr lastete. Die Splitter ihrer Persönlichkeit, welche sie in diesem Traum gefangen hielten. Aber auch Hoffnung, Vertrauen und Mut. Die Werkzeuge, mit denen der SchlĂŒssel zu ihrer Freiheit erschaffen werden konnte. Etwas, das sie alleine nicht hĂ€tte schaffen können. Tief in ihrem Inneren spĂŒrte sie das. Aber sie war noch nicht soweit, es sich offen einzugestehen. Henrik deutete auf die TĂŒr vor ihnen. “I-Ist das der Ausgang?” “Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden!", ermutigte Nebula. Gemeinsam öffneten sie die TĂŒr und gingen in das weiße Licht, welches ihnen aus dem Durchgang entgegen strahlte. Kapitel 5: Phantomschmerz ------------------------- 🌱 Gleichzeitig schlugen Nebula und Henrik die Augen auf. Verwirrung machte sich in ihren Köpfen breit. So richtig begreifen, was gerade passiert war, wollte keiner von ihnen. Nebula spĂŒrte fremden Schweiß in ihrer Hand. Als sie realisierte, dass es Henrik war, der sie hielt, entzog sie sie peinlich berĂŒhrt. “Nimm deine Griffel weg!”, schimpfte sie. “Hurra, ihr seid aufgewacht!”, freute sich Annemarie, die noch immer zwischen den Betten saß. “Du hast es geschafft, Henrik!” “Was war das?”, fragte Henrik und setzte sich etwas benommen auf. “Es war so echt”, sagte Nebula. Henrik fasste sich an die Stirn. Ihm war schwindelig. Nebula betrachtete, wie ihre Wunden verheilten. Das Tempo war selbst fĂŒr ihre VerhĂ€ltnisse ungewöhnlich. Offenbar verschwanden sie, weil sie wachte und ihr nun klar war, dass sie zuvor trĂ€umte. “Wir haben uns Sorgen gemacht”, meinte Annemarie. “Er war in meinem Kopf
”, murmelte Nebula, wenig begeistert. Sie erinnerte sich an alles, was in dem Traum vorgefallen war. Bei dem Gedanken daran, dass Henrik nun ihre Ängste und SchwĂ€chen kannte, erröteten ihre Wangen noch mehr. “D-Du bist schon wieder in meine PrivatsphĂ€re eingedrungen!”, fuhr sie den Braunhaarigen daraufhin an. Schreien tat ihr gut. Es half ihr, nicht weiter nachzudenken. DarĂŒber, was in ihrer Seelenwelt vorgefallen war und dass Henrik alles mit angesehen hatte. “A-Aber...”, versuchte sich Henrik zu verteidigen. “Nix aber! Du warst in meinem Kopf! D-Das war ĂŒbergriffig!” “E-Entschuldigung.” Annemarie lĂ€chelte. Ob aus Freude oder aus Verzweiflung ĂŒber den von Nebula kĂŒnstlich heraufbeschworenen Streit, blieb ihr Geheimnis. “Hast du mir geholfen, Nebula zu wecken?”, fragte Henrik das MĂ€dchen. “Das warst allein du”, verneinte sie. “Ich habe euch nur angefeuert.” Nebula verwuschelte Annemaries orangene Haare. “Das hast du gut gemacht.” GlĂŒcklich ĂŒber das Lob, strahlte das MĂ€dchen wie heiterer Sonnenschein. “Und ich?”, fragte Henrik. “H-Hab ich das auch gut gemacht?” Nebula ging nicht darauf ein. “Was ist eigentlich geschehen?”, fragte Matthew. “Ich bin eurem Bruder zu Valerias Grab gefolgt. Er hat Blumen niedergelegt. Er hat aber nichts mit dem zu tun, was mir widerfahren ist.” “Aber wer hat dir das dann angetan?”, fragte Henrik besorgt. Die Blondine seufzte. “Ein... schwarzes Phantom.” Sie glaubte selbst nicht, was sie da gerade eben sagte. Sie hatte schon viel Böses gesehen, doch in der Regel ging es von Menschen aus und nicht von irgendwelchen Hirngespinsten. Stillschweigend nahmen es die Anwesenden hin. Sie wollten fassen, was gerade eben passiert war. Doch man ließ ihnen keine Zeit dazu. Hinter den Betten brach die Wand mit einem lauten Krach ein und Tageslicht stieß durch den aufgewirbelten Staub. Sofort verkroch sich Henrik unter seinem Bett. Sein verletztes Bein rebellierte in der Schiene, doch das war ihm in diesem Moment herzlich egal. Annemarie stolperte von ihrem Stuhl und brachte ihn dabei zu Fall. Sie rannte ans Ende des Zimmers zu Matthew und klammerte sich an ihn. Nebula sprang aus ihrem Bett, drehte sich in der Luft und wandte sich der Bedrohung zu, als sie landete. Der Staub legte sich. Eine schwarze Gestalt krallte sich an den RĂ€ndern des aufgebrochenen Mauerwerkes fest. “Oh nein, diesmal nicht, Freundchen!”, sagte die Blondine voller Abscheu. "Koche in meinen Venen, Bloodbane!” Auf Befehl trat das Blut blubbernd aus den pulsierenden Adern ihres Armes aus und formte eine schwarze Klinge in ihrer Hand. Das Phantom brĂŒllte sie an und streckte ihr dabei sein ausdrucksarmes, augen- und nasenloses, glattes Gesicht entgegen. “Man, bist du hĂ€sslich!” Nebula stĂŒrmte vor und stach zu. Der Eindringling zerfiel sofort zu schwarzem Rauch und gab den Blick durch das Loch auf die Stadt frei. Nebula ließ ihre Waffe wieder verschwinden. “D-DĂ€mon! I-Ihr s-seid ein D-DĂ€mon!”, schlotterte Matthew. “Ihr habt grĂ¶ĂŸere Probleme!”, erwiderte Nebula. Sie ging zur Seite und erlaubte den anderen durch die klaffende Wunde im Stein auf die Ortschaft zu schauen. Drei RauchsĂ€ulen stiegen von verschiedenen HĂ€usern auf und aus der Richtung der Kirche, welche man durch das Loch sehen konnte, tönten KampfgerĂ€usche. “Oh, es brennt!”, bemerkte Annemarie und schmiegte sich noch mehr an Matthew. “Was geht hier vor?!”, fragte dieser mit Nachdruck. “Diese Dinger greifen die Stadt an”, antwortete Nebula mit grimmigem Gesichtsausdruck. “Und nun?!” “Ich werde sie aufhalten!” Sie nahm ihren GĂŒrtel und ihr Schwert an sich und band ihre AusrĂŒstung um. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schwang sie sich durch das Loch auf das Vordach. Von dort sprang sie auf die Straße und rannte dem Zentrum des Geschehens entgegen. Sie spĂŒrte eine Konzentration von Mordlust, deren Wut sich bei der Kirche sammelte. Matthew stand der Stress ins Gesicht geschrieben. Der Moment, den er schon immer gefĂŒrchtet hatte, war nun gekommen. Jetzt musste er sich beeilen. Schnell weg von hier! Er riss sich von dem MĂ€dchen los, das ihn festhielt, stolperte aus dem Raum hinaus und rannte wie von der Tarantel gestochen auf und davon. “Hey!”, rief ihm Annemarie nach. Aber Matthew hörte nicht auf sie. Er rannte weiter den Gang entlang und die Treppe hinunter in den Eingangsbereich. Annemarie fĂŒhlte den Impuls, ihm zu folgen. “Warte!”, schrie sie. Doch Matthew ignorierte sie. Das MĂ€dchen rannte ihm nach. Unterdessen zog Stille im Zimmer ein. Henrik traute sich jetzt unter dem Bett hervor. “Wo sind denn alle hin?”, sprach er laut zu sich selbst, als er realisierte, dass er nun ganz allein war. Er sah durch das Loch in der Wand. Auf die brennenden HĂ€user. Der Gestank der Feuer drang allmĂ€hlich durch die Öffnung in das Zimmer ein. Henrik rutschte fast das Herz in die Hose. Sofort kroch er wieder unter das Bett und beschloss, dort zu verweilen, bis Nebula das Chaos beseitigt hĂ€tte. Die Rauchschwaden aus den benachbarten HĂ€usern hĂŒllten die Stadtkirche ein. Der Geruch der Asche und der Glut kroch Nebula schon von weitem in die Nase, als sie sich dem Gotteshaus nĂ€herte, das von den schwarzen Phantomen attackiert wurde, und reizte ihr Riechorgan, sodass sie beinahe niesen musste. Die Glocke im Turm des GebĂ€udes im gotischen Stil lĂ€utete ununterbrochen. Ihr unverwechselbarer Ton, welcher normalerweise den Alltag der Menschen strukturierte, verkam nun zu einem Alarmsignal. Chaos war auf dem Platz vor der Kirche ausgebrochen. Die schwarzen Schatten verleiteten die Menschen zu glauben, die Tore der Hölle hĂ€tten sich geöffnet. Nun suchten sie im Inneren der Kirche nach Sicherheit. Derweil stellten sich die Stadtwachen einem verzweifelten Kampf gegen die Kreaturen aus der Hölle. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie, griffen Menschen an und steckten HĂ€user in Brand. Zu Recht fragten sie sich, womit sie diese Strafe verdient hatten. Immerhin waren sie treue AnhĂ€nger des Namenlosen Gottes, welchen sie jeden Sonntag anbeteten und in Gedanken um Rat fragten, wenn sie ein Problem hatten, fĂŒr das sie allein keine Lösung fanden. NatĂŒrlich waren die Menschen, denen Gott antwortete, dĂŒnn gesĂ€t. Und noch seltener die unter ihnen, welche noch einen gesunden Geist vorweisen konnten. Anders als den Zivilisten war den Stadtwachen klar, dass ein Gebet sie nicht retten wĂŒrde. Wenn der Herr im Himmel ĂŒberhaupt jemanden half, dann denjenigen, die sich selbst helfen. Sie mussten ihre Pflicht tun und die Bewohner beschĂŒtzen. Doch das erklĂ€rte noch immer nicht, wer die Tore zum Fegefeuer offen stehen gelassen hatte. Die Stadtwache tat ihr Bestes, die BĂŒrger zu schĂŒtzen. Mutig wehrten sie die rasiermesserscharfen Klauen und Klingen der UngetĂŒme ab, so gut es ihnen möglich war. Einem der WĂ€chter gelang es, eine der Kreaturen zu erschlagen. Sein Speer durchbohrte die Gestalt aus schwarzen Pech und ließ sie in Rauch aufgehen. Die anderen wohnten dem Schauspiel unglĂ€ubig bei. Ein DĂ€mon war soeben zurĂŒck in die Hölle geschickt worden. Der WĂ€chter konnte sein GlĂŒck kaum fassen und starrte seine Waffe perplex an. Seine Verwunderung wĂ€hrte nicht lange. Hinter ihm versetzte ein anderes Phantom einen seiner Kameraden in einen abscheulichen Traumschlaf und nahm ihn als NĂ€chstes ins Visier. Eine schwarze Klaue grub sich in den RĂŒcken des tapferen Mannes. Er brach zusammen und begann bald hektisch zu atmen und wild um sich zu schlagen. Welcher böse Traum ihn wohl plagte? Die ĂŒbrigen Wachen gaben ihr Bestes, die Monster zu beschĂ€ftigen. Aber sie hatten keine Chance gegen die fliegenden Abscheulichkeiten und deren rasiermesserscharfen Klauen und Messer. Ein Kratzer der Phantome genĂŒgte, sie in ihren eigenen AlbtrĂ€umen einzusperren. Jeder Mensch fĂŒrchtete irgend etwas. Niemand war davor gefeit, mit seinen schlimmsten Ängsten konfrontiert zu werden. WĂ€hrend die WĂ€chter versuchten, Boden gutzumachen, verbarrikadierten sich die GlĂ€ubigen in der Kirche und klammerten sich an die Hoffnung, in den Armen des namenlosen Gottes Schutz vor der teuflischen Bedrohung zu finden. Die langen TĂŒren des Portales wurden mit einigen BĂ€nken verriegelt. Vor Furcht gelĂ€hmt, fanden sie sich zusammen in ihrer Stunde der Not. Betend hockten die Menschen vor dem Abbild des Herrn und baten um einen Engel, der sie erretten möge. AngsterfĂŒllt umklammerten Kinder ihre MĂŒtter und Frauen ihre MĂ€nner, wĂ€hrend sie besorgt den langsam verstummenden Schreien und verklingenden KampfgerĂ€uschen lauschten. Dann wurde es still. Vorsichtig streckten die Ersten ihre HĂ€lse. Die Neugier hatte sie gepackt. War es vorbei? Hatten sie es ĂŒberstanden. Zuerst zaghafte Seufzer wurden zum erleichterten Aufatmen. Sie waren sich sicher, dass ihr bedingungsloser Glaube sie gerettet hatte. Der Priester erhob die HĂ€nde zum Strebewerk meterweit ĂŒber ihm und dankte dem namenlosen Gott im Stoßgebet fĂŒr sein Einschreiten. Die ersten Schutzsuchenden wagten es aufzustehen. Plötzlich wurde die junge Ruhe jĂ€h gestört. Eines der kunstvollen Fenster im linken Seitenschiff zerbarst. Einem der Phantome gelang es, einzudringen. Das Heiligtum wurde entweiht! Zielstrebig rannte die finstere Gestalt zum Altar. Die GlĂ€ubigen in seiner NĂ€he wichen ihm kreidebleich vor Angst aus. Die Kreatur baute sich vor dem Priester auf. Das leere schwarze Gesicht begann, weibliche ZĂŒge anzunehmen und Haare wuchsen aus dem kahlen SchĂ€del. Der Ă€ltere Mann bekreuzigte sich. Er hatte nicht damit gerechnet, das Gesicht, das er einst verteufelte, noch einmal wiederzusehen. Es Ă€ngstigte ihn bald mehr, als die Kreatur selbst. Der Geistliche verspĂŒrte ein Stechen in der Brust, fasste sich an selbige und brach tot zusammen, ohne dass das Phantom etwas zutun musste. Panik setzte ein. Annemaries orangene Haare wehten im Wind, als sie Matthew hinterher rannte. Sie konnte sein Handeln nicht verstehen. Wo konnte er auf einmal hin wollen? Mit den Laufschritten eines ausgewachsenen Mannes mitzuhalten, war eine fast unlösbare Aufgabe fĂŒr das MĂ€dchen. Der Abstand zwischen ihr und Matthew wurde immer grĂ¶ĂŸer. Sie musste sich alle MĂŒhe geben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Als es schon fast passiert war, bremste er abrupt ab und betrat ein unscheinbares Haus am Stadtrand. Völlig außer Atem, erreichte auch Annemarie das GebĂ€ude. Sie mĂŒhte sich, trotz ihrer geringen GrĂ¶ĂŸe, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen. Als Nebula endlich den Platz vor der Kirche erreichte, konnte sie gerade noch mit ansehen, wie die wenigen noch verbliebenen Stadtwachen von den Phantomen in das Reich der AlbtrĂ€ume geschickt wurden. Sofort danach wurde sie von den Abscheulichkeiten wahrgenommen und angegriffen. Nebula war sich der Flinkheit der Kreaturen schmerzlichst bewusst, und wĂ€hlte entsprechend ihre schnellste Waffe aus ihrem Arsenal. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!”, befahl sie ihrem schwarzen Speer zu erscheinen, indem ein Blitz vom Himmel hinab in ihre ausgestreckte Hand einschlug. Sie hatte keine Zeit sich darum zu sorgen, möglicherweise von Schaulustigen hinter FensterlĂ€den beobachtet zu werden, als die Phantome auf sie zugestĂŒrmt kamen. Andererseits wĂ€re wohl kaum ein Zivilist kĂŒhn genug, nicht sofort zu fliehen. “Kettenblitz!” Einer elektrischen Entladung gleich, schoss sie daraufhin im Zickzack von Gegner zu Gegner und versetzte jedem von ihnen einen vernichtenden Treffer. Die Phantome zersetzten sich allesamt zu schwarzen Rauch. Nebula sah sich auf dem Platz vor der Kirche um. Die Stadtwachen lagen trĂ€umend auf den Pflastersteinen und versuchten, die grausamen TrĂ€ume zu ĂŒberleben. Leis, ganz leis, kĂ€m der Tod. Nebula wusste nicht, wie sie ihnen hĂ€tte helfen können. Noch immer strahlte die Mordlust hell wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Es kam aus dem Inneren des Gotteshauses. Die Blondine beschloss, ihre Aufmerksamkeit dem heiligen, steinernen Gebilde zuzuwenden. Vorsichtig trat sie an die KirchentĂŒren, welche von einem mĂ€chtigen gotischen Portal eingefasst wurden. RĂŒtteln an den Griffen brachte keinen Erfolg. Der Zugang zur Kirche blieb weiterhin versiegelt. WĂ€hrend sie die TĂŒren maltrĂ€tierte, spĂŒrte sie Widerstand. Etwas auf der anderen Seite verhinderte, die TĂŒren zu öffnen. Da half nur noch rohe Gewalt! Ein beherzter Tritt gegen die sakrale Pforte löste das Problem. Gott möge es ihr vergeben! Im Inneren erschraken die Menschen, als die Barrikaden mit unmenschlicher Kraft zur Seite geschoben wurden. Das Tageslicht, welches durch die aufgebrochene KirchentĂŒr hinein strömte, wurde von Nebulas Silhouette durchbrochen. Entschlossen ĂŒberschritt sie die Schwelle und trat ein. Sofort erblickte sie eines der Phantome, wie es ĂŒber dem toten Prediger hockte, den es mutmaßlich zuvor getötet hatte. Nebula wollte kein Risiko eingehen und ging sofort zum Angriff ĂŒber. Da ihr Speer seine volle Kraft nur im Freien freisetzen konnte, sah sie sich gezwungen, ihre Waffe zu wechseln. “Koche in meinen Venen! Bloodbane!” Gungnir zerfloss und aus der entstandenen Masse formte sich das dĂ€monische Schwert. Die pechschwarze Gestalt stĂŒrmte indes mit einem Dolch auf die Söldnerin los. Nebula wusste, ein Treffer dieser Waffe und sie wĂŒrde das Schicksal der WĂ€chter vor der Kirche teilen. Auf ein weiteres Erlebnis dieser Art konnte sie getrost verzichten. Drum wich sie den Stichen und Hieben aus, so gut es ging oder parierte mit ihrem Schwert. Immer dann, wenn sich die teuflischen Klingen kreuzten, spĂŒrte sie, dass diese Waffe eine TĂ€uschung war. Etwas Nicht-Existentes, nur ein Gedanke, welcher mit Gewalt in eine materielle Form gezwungen wurde. Bilder schossen einer Collage des Schreckens gleich mit jeder BerĂŒhrung der Klingen durch ihren Kopf. Sie sah Menschen mit Fackeln und Mistgabeln, getrieben von Angst und Hass, ein Haus anzĂŒnden. ZwangslĂ€ufig erinnerte sie sich an Matthews Worte. “Ich verstehe, was du mir sagen willst”, sprach Nebula, als die Vision vorĂŒber war. Doch die Kreatur interessierten ihre Worte wenig. Bloodbane und das Trugbild der fremden Teufelswaffe mussten eine Resonanz eingegangen sein. Bei diesen diabolischen Tötungsutensilien war selbst dies im Bereich des Möglichen. Man musste einfach mit allem rechnen. Die fragmentierten Visionen zeigten Nebula, in dieser Kirche versteckten sich die Leute, welche eine Unschuldige in ihrem eigenen Haus verbrannten. Als das Phantom nach vorn preschte, sprang Nebula zur Seite und begab sich flink hinter es. Mit einem gezielten Stoß des Bloodbane wurde die Kreatur erschlagen und löste sich in Rauch auf, wie die anderen zuvor auch. GlĂŒcklicherweise war dieses Exemplar ebenfalls nicht so gefĂ€hrlich wie jenes, das sie zuerst angegriffen hatte. Im Gegenteil. Sie ĂŒberkam das GefĂŒhl, jedes dieser Wesen war schwĂ€cher als das zuvor. Die Exemplare auf dem Platz vor der Kirche waren ebenfalls ein Leichtes fĂŒr sie gewesen. Woran das wohl liegen mochte... Immerhin schien die Gefahr gebannt. Es war fĂŒr die schutzsuchenden Menschen die Gelegenheit, einmal durchzuatmen. Aber die Achterbahn der GefĂŒhle sollte nicht stillstehen. Im nĂ€chsten Moment zerplatzte die Hoffnung, wie eine Seifenblase und noch mehr Fensterscheiben brachen. Die ĂŒbrigen Phantome drangen voller Mordlust von allen Seiten in das Mittelschiff ein, bereit, Klingen und Klauen gegen unbewaffnetes Volk einzusetzen. Die Menschen realisierten, dass auch im Gebet keine Erlösung fĂŒr ihre SĂŒnden lag. Sie sprangen auf und versuchten panisch aus der Kirche zu entkommen. Wie sollte Nebula in diesem Chaos den Überblick behalten und die Kreaturen aufhalten? “Verflucht, rennt nicht alle durcheinander!”, entfuhr es ihr. Bevor sie reagieren konnte, verdampften urplötzlich alle ihre Gegner, einer nach dem anderen. Metallisches Klingen wies auf die Wurfmesser hin, welche einzig auf dem Boden zurĂŒckblieben. Inzwischen hatten die meisten das Gotteshaus verlassen. “Das hĂ€tte ins Auge gehen können!”, sprach eine unbekannte Frauenstimme. “Wer ist da?”, forderte Nebula die Unbekannte auf, sich erkennen zu geben und wandte sich mehrfach um, auf der Suche nach der Herkunft der Stimme. Eine Person landete hinter ihr. Sie war von dem Deckenleuchter gesprungen, von dem aus sie wer weiß wie lange zugesehen hatte. Auf die Idee ĂŒber sich zu schauen, war Nebula nicht gekommen. Sofort drehte sie sich zu ihr um. Vor ihr stand eine athletisch gebaute, aber dĂŒnne Frau mit blasser Haut. Sie war um mindestens einen halben Kopf grĂ¶ĂŸer als Nebula und trug einen buschig vom SchĂ€del ausstrahlenden Pferdeschwanz ihres kirschroten Haares. Rot strahlten auch Teile ihrer grĂ¶ĂŸtenteils dunkelgrauen Kleidung. Besonders der Umhang an ihrer linken Schulter provozierte diesen Effekt. Auf dem RĂŒcken hing eine Armbrust. Sie trug weitere Wurfmesser an GĂŒrteln um ihre Oberschenkel. Sie besaß ebenfalls einen Dolch, den sie an ihrer HĂŒfte trug. Sie war sprichwörtlich und wahrhaftig bis an die ZĂ€hne bewaffnet. “Wer seid Ihr?”, verlangte Nebula zu wissen. Die Fremde strich sich lĂ€ssig durch die HaarstrĂ€hnen ihres einseitigen Ponys. “Man nennt mich Cerise”, antwortete sie in einem selbstgefĂ€lligen und arroganten Tonfall. “Eigentlich hatte ich keine Lust, Euch schon wieder zu retten...” “Schon wieder?” “Habt Ihr Euch nicht gefragt, wie Ihr zurĂŒck in die Taverne gekommen seid?” HochnĂ€sig sah sie sie an. ”Als ob ein kleines Kind Euch hĂ€tte tragen können. Leicht seid Ihr ja nicht unbedingt, obwohl Ihr so klein seid!” Wollte Cerise damit andeuten, dass sie zu dick ist? “Und jetzt hĂ€tte es wegen Eurer Inkompetenz fast noch mehr Opfer gegeben.” “Sagt das noch Mal!!”, entrĂŒstete sich Nebula. Ihr kam in den Sinn, wie oft sie sich in letzter Zeit beobachtet fĂŒhlte. “Ihr verfolgt mich also. Das macht Ihr sicher nicht aus Spaß an der Freude. Sagt, wer verschwendet dafĂŒr sein Geld?” “Was, kein Dankeschön?”, wich die Rothaarige aus. “Von jemanden Eures Standes hĂ€tte ich mehr Anstand erwartet.” “Ihr wisst, wer ich bin?” “Die Frau, die sich bekloppte Pseudonyme zulegt!” Nebula war das erste Mal seit langem wirklich entsetzt. “Dann habt Dank fĂŒr die Hilfe, Cerise!”, sprach sie, mehr aus Schock als aus Dankbarkeit. “Na bitte, geht doch. Nun muss ich aber leider los.” Cerise wandte sich ab und kletterte mit Hilfe der mit eisernen Krallen bewĂ€hrten Fingerkuppen ihrer Handschuhe eine Wand hinauf und stieg auf dem Sims eines kaputten Fensters. “Werden wir uns noch einmal begegnen?” Cerise hielt kurz inne. “Vermutlich nicht.” Dann setzte sie sich in Bewegung, nur um erneut anzuhalten. “Im SĂŒden der Stadt findet Ihr ein Haus. Eilt Euch, oder der kleinen Annemarie wird es schlecht ergehen.” Dann entschwand sie durch das Fenster. “Halt! Wartet!” Doch Cerise dachte nicht im Traum daran zu gehorchen. Sollte Nebula wirklich gehen, ohne nach den Stadtwachen zu sehen, welche noch immer Qualen litten? Wenn sie es tĂ€te, könnte es zu spĂ€t sein. Aus diesem Grund entschloss sie sich, Annemarie ohne Umwege zu Hilfe zu eilen. Egal wie sehr sich das MĂ€dchen auch mĂŒhte, sie konnte nicht durch das Fenster sehen. Sie war einfach zu klein. Drum fasste sich Annemarie ein Herz und öffnete die HaustĂŒr. Überraschenderweise hatte Matthew vergessen, sie abzuschließen. Vorsichtig schlich die Kleine auf Zehenspitzen durch den Eingangsbereich. Es war dunkel und von Matthew gab es keine Spur. Am Ende des Ganges stand eine TĂŒr leicht offen. Lichtstrahlen fluteten aus dem Spalt in die Dunkelheit. Leise schlich sie sich nĂ€her und nĂ€her. Dann konnte sie endlich einen Blick erhaschen. Matthew befand sich darin und kĂŒmmerte sich um eine bandagierte menschliche Gestalt. “Du musst damit aufhören!”, sprach er der Person zu. Die Gestalt umklammerte einen Dolch in ihrer Hand. “Du kannst sie nicht alle töten!” Die bandagierte Person gab einige Laute des Missfallens von sich. Annemarie versetzte der Anblick einen Schreck und ließ sie einen Schritt zurĂŒck gehen. Die Diele unter ihr wurde zum VerrĂ€ter, als sie ein Ă€chzendes Quietschen von sich gab. Sofort wurde Matthew auf sie aufmerksam. “Wer ist da?!” Aus der Brust der bandagierten Person stieg dunkler Rauch auf. Er sammelte sich ĂŒber dem Bett und verdichtete sich zu einer Gestalt. "Nein! Nicht!", rief Matthew, als er es bemerkte. “Das kostet dich zu viel Kraft!” Annemarie rannte so schnell sie konnte zurĂŒck zum Ausgang. Das Phantom riss die TĂŒr ein und folgte ihr. In der Dunkelheit stolperte das MĂ€dchen ĂŒber einen nicht identifizierbaren Gegenstand und fand sich auf dem harten Boden wieder. Im letzten Moment, kurz bevor die Kreatur die Kleine erreichen konnte, fiel die HaustĂŒr aus den Angeln und etwas warf sich dem Monster entgegen. Annemarie traute sich nicht aufzusehen und hörte nur SĂ€belrasseln. “Was machst du hier?!”, schimpfte es auf einmal. Annemarie blickte auf und erkannte Nebula. “Ich bin Matthew gefolgt.” Plötzlich trat besagter Mann unter den Rahmen der völlig zerstörten ZimmertĂŒr. Er signalisierte ihnen, dass sie zu ihm kommen sollen. Nebula verbarg ihre Überraschung nicht, als sie die bandagierte, schwer atmende Gestalt im Bett liegen sah. “Wer ist das?”, wollte sie wissen. “Valeria”, erklĂ€rte Matthew. “Ich fand sie nach dem Brand. Seither pflege ich sie. Marcus weiß nichts davon. Ich
 wollte nicht, dass er sie so sehen muss.” “Und dennoch pflegt Ihr sie...” Nebula spĂŒrte die böse Energie, welche sich in dem Dolch in Valerias Hand konzentrierte. “Wo hat sie diese Waffe her?” “Ich weiß es nicht. Sie hatte sie schon, als ich sie fand.” “Das ist eine Teufelswaffe!”, belehrte die Blondine. “Damit ruft sie die Phantome.” “Ich weiß. Ich wollte sie aufhalten. Aber ihr Hass ist zu stark. Jemand muss sie stoppen. Aber... Ich habe nicht die Kraft dazu.” “Weil du sie auch liebst, stimmt's?”, fragte Annemarie. “Wenn Ihr es nicht könnt, werde ich es tun”, bot sich Nebula an. Sie trat an das Bett heran und griff nach dem schwarzen Dolch. Valeria wollte ihr Instrument der Rache nicht aufgeben. Schlampe!, schrie sie sie in Gedanken an. Aber ihre verbrannten StimmbĂ€nder waren nicht zu mehr in der Lage, als einem armseliges Röcheln. Der Einsatz der Teufelswaffe hatte sie ausgelaugt. Nein!, protestierte sie. Sie war außerstande, sich der Kraft der ihr unbekannten Frau zu erwehren. Nein!, schrie ihr Geist verzweifelt. Ihr fehlte die Kraft, ein weiteres Phantom zu erzeugen. Nebula entriss ihr den Dolch. Kaum war er nicht mehr in ihrer Hand, erschĂŒtterten schwere AnfĂ€lle Valerias gepeinigten Körper. Ihr Atem wurde hektischer, sie hustete und zitterte, bis sie verstummte. Diesmal starb sie wirklich. Matthew konnte die TrĂ€nen nicht zurĂŒckhalten und weinte aus tiefster Seele. Nebula betrachtete den Dolch in ihrer Hand, wĂ€hrend er allmĂ€hlich seinen Widerstand aufgab und mit ihr verschmolz. Ein endloses Meer aus schwarzen Äther erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen. Licht, ohne eine sichtbare Quelle, als kĂ€me es aus dem Raum selbst, erhellte das grenzenlose Nichts. Einen halben Meter ĂŒber der bizarren stillen See schwebte eine blasse Frau mit weißen Haaren, verhĂŒllt von einem blutroten Kleid mit RĂŒschen und angenĂ€hten Rosen. Sie erweckte den Anschein, auf irgendetwas oder irgendwen zu warten. Nach einer Weile ließ sie sich auf die OberflĂ€che der verflĂŒssigten Finsternis sinken, bis sie auf ihr stand, wie der Messias persönlich. Grimmig guckend, fixierte sie einen imaginĂ€ren Punkt irgendwo im leeren Raum vor ihr. Plötzlich schoss etwas vor ihr aus der SchwĂ€rze, sprang ĂŒber sie und versank hinter ihr wieder in den Untiefen. Unbeeindruckt schritt die Frau auf der Stelle und richtete sich so neu aus. Das Wesen durchstieß erneut die OberflĂ€che des pechschwarzen Meeres. Prompt strecke sie ihren Arm aus und packte das Geschöpf. Es sah aus wie eine Mischung aus Aal und Fisch mit rasiermesserscharfen Flossen. Doch seine natĂŒrliche Bewaffnung half ihm wenig, dem festen Griff seiner Peinigerin zu entkommen. “Da bist du ja, Nummer vierundvierzig”, sprach die Weißhaarige. Dann fĂŒhrte sie die Kreatur zu ihrem Mund und begann sie StĂŒck fĂŒr StĂŒck, Happen fĂŒr Happen, bei lebendigem Leibe zu verzehren. Kaum war der Dolch ein Teil von ihr, erkannte Nebula seine wahre Natur. Sein Name war Mirage und er besaß die Macht, jegliche Vorstellung des TrĂ€gers RealitĂ€t werden zu lassen und so auch Valerias Hass eine Form zu geben. Die Phantome entsprangen der Fantasie einer gepeinigten und rachsĂŒchtigen Frau, die das Opfer des Hasses anderer geworden war. Denn oft ist der Mensch schlimmer als der Teufel. 🌱 Zögerlich öffneten die MĂ€nner der Stadtwache die Augen. Die verschwommenen Silhouetten von neugierigen Anwohnern erschienen vor ihnen. Sie waren gekommen, nachdem die Opfer der Phantome aufhörten, sich hektisch zu regen, um ihre Neugier zu stillen. Der Fluch der Phantome hatte keine weiteren Opfer eingefordert. Die WachmĂ€nner konnten sich nicht erklĂ€ren, was mit ihnen passiert war, also versuchten sie es erst gar nicht. GerĂŒchte ĂŒber die Ereignisse, sollten sich abermals schnell in der Stadt ausbreiten. Die Sonne versank am Horizont. Eine gespenstige Stille lĂ€hmte die sonst so lebendige Stadt. Angst hatte sie fest im Griff. Dennoch blieb die Zeit nicht stehen. Henning saß noch immer in seiner Zelle. Endlich kam einer der Wachen und ließ den verĂ€ngstigten Jungen frei, denn es gab keinen Grund, ihn noch lĂ€nger gefangen zu halten. “Steh auf!”, befahl die Wache, als er sich trotz offener TĂŒr nicht bewegte. Er konnte nicht begreifen, dass er nun frei war. Nachdem Nebula gegangen war, kam der Hauptmann der Wache erneut, um ihm weitere Fragen zu stellen. Er konnte die Schmach, dass ausgerechnet ein Weib mehr herausbekommen hatte, als seine besten MĂ€nner, nicht verknusen. Mit Gewalt versuchte er noch mehr Informationen aus Henning herauszuprĂŒgeln. Doch wo nichts war, konnte man nichts erfahren. Die SchlĂ€ge sollten nun wirklich ein Ende haben? Gesicht und Körper des Jungen waren von HĂ€matomen ĂŒbersĂ€t, nachdem man ihn misshandelte. Und dies waren nur jene Verletzungen seiner physischen Gestalt. Welchen Schaden seine Seele davongetragen hatte, konnte niemand einschĂ€tzen. Der Wachmann verlor die Geduld und zerrte Henning aus der Zelle. Ohne jede Entschuldigung fĂŒr seine Gefangennahme und die Folter, obwohl er nichts falsches getan hatte, setzte man ihn nun vor die TĂŒr. Da er sich nicht besser zu helfen wusste, machte er sich auf den Heimweg. Zuhause angekommen, umarmten ihn seine Eltern. Sie spĂŒrten sein Zittern. Er spĂŒrte die WĂ€rme ihrer Umarmung. Aber niemand sah ihn in der Finsternis versinken. Als sich die Nacht ĂŒber die Stadt legte, tönte eine wĂŒtende Stimme durch die Gassen. Es war fast, als wĂŒrde sie mit ihrer Kraft das Schild der Taverne in Schwingung versetzen. GĂ€ste verließen das Etablissement aus Sorge um ihre eigene Unversehrtheit. “Gebt mir endlich was zu trinken!!”, forderte der stockbesoffene Mann am Tresen. Doch der Schankwirt tat einen Teufel, ihm noch mehr einschenken. Vor dem Mann sammelten sich bereits die KrĂŒge. “Los macht schon!”, tönte er erneut. “Gebt mir was zu saufen!” “Ihr habt genug gehabt!”, erwiderte der Wirt. Plötzlich sprang der Betrunkene von dem Hocker, auf dem er saß, packte sein GegenĂŒber und zog ihn gewaltsam auf den Tresen. “Ich will was trinken!” “Hey!”, empörte sich ein anderer Gast. Drei andere MĂ€nner brauchte es, um den SĂ€ufer unter Kontrolle zu bringen und den Wirt zu befreien. “Ihr wisst nicht, wann Schluss ist!”, belehrte einer der MĂ€nner. “Ach halt doch deine Fresse!”, entgegnete der SĂ€ufer. Die couragierten Kunden versuchten den Mann aus der Taverne zu buchsieren. “Jetzt mache es dir nicht unnötig schwer!”, sprach der zweite Mann. “Gebt mir mehr Bier! Ich will vergessen!” “Nix da! Du hast schon deinen Anstand vergessen!”, meinte der dritte Mann. “Leckt mich! Allesamt!” Auf halbem Weg fuhr fĂŒr einen kurzen Moment ĂŒbermenschliche Kraft durch den Körper des Betrunkenen, als hĂ€tte er kein Bier, sondern den Zaubertrank von Miraculix konsumiert. Er befreite sich unter angestrengten Grunzen und schlug dem Mann zu seiner linken derb ins Gesicht, sodass dieser benommen rĂŒckwĂ€rts ging. Ein zweiter beantwortete die Aggression mit einem Schlag in die Magengrube und ließ den stark alkoholisierten Unruhestifter zusammenzucken. Doch nur kurz. Immerhin hatte er genug Intus, um ein ganzes Bataillon zu betĂ€uben. Er erlangte seine KrĂ€fte zurĂŒck und schlug die anderen MĂ€nner. Der zweite und der dritte Mann mussten einstecken. Ein unkoordiniertes Gewitter von FaustschlĂ€gen prasselte auf sie ein. In der Zwischenzeit fing sich der erste wieder und landete einen entscheidenden Treffer, der den Besoffenen rĂŒcklings auf einen Tisch warf, an dem noch andere GĂ€ste saßen und dem Schauspiel aus vermeintlich sicherer Entfernung beiwohnten. Eine handfeste KneipenschlĂ€gerrei bekam man immerhin nicht alle Tage geboten. Doch ihre Neugier bezahlten sie nun. Vor Schreck fielen sie rĂŒcklings von ihren Sitzgelegenheiten, als der Tisch unter der Krafteinwirkung des auf ihn aufkommenden Mannes zusammenbrach und sich die Reste von Ale und Schnaps auf seinen Kopf ergossen, als die fallenden KrĂŒge ihren Inhalt ĂŒber seinem Kopf entleerten. Schleunigst brachten sich die nicht an der SchlĂ€gerei beteiligten GĂ€ste in Sicherheit. Stöhnend blieb der Betrunkene liegen, bis ihn seine Kontrahenten packten und an die frische Luft zerrten. Er flog fast aus der TĂŒr hinaus und landete mit dem Gesicht im Schlamm. Sofort raffte er sich auf und wollte zurĂŒck in die Taverne stĂŒrmen, seinen Gegnern eine Abreibung verpassen. Aber er rannte nur gegen eine ausgestreckte Faust, taumelte im Kreis, sah Sterne trotz der Wolken und kippte nach hinten um. So verweilte er eine Weile, bis er aufstand und zum nĂ€chsten Wirtshaus ging. Einen Leichnam zu bestatten, war eine schmutzige Arbeit. Überall an Nebulas Körper befand sich nun Schmutz. Unter ihren FingernĂ€geln war es schwĂ€rzer als in einem Pechkessel. Erde bedeckte ihre Unterarme und ihr Gesicht. Mindestens einmal hatte sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt und sich so beschmutzt. Außerdem roch der Gestank ihrer AusdĂŒnstungen alles andere als appetitlich. Nebula hatte Matthew dabei unterstĂŒtzt, Valeria so wĂŒrdevoll zu bestatten, wie es situationsbedingt möglich war. Danach ließ sie ihn auf seinen Wunsch allein und beschloss, in einem Badehaus etwas gegen ihren Eigengeruch zu unternehmen. Sie musste sich gedulden, bevor ein Zuber fĂŒr sie frei wurde. Dann war es endlich so weit. GenĂŒsslich ließ sie ihren Körper in das heiße, schaumige Wasser gleiten. Doch der Genuss verging ihr alsbald. Sie fĂŒhlte Augen in ihrem Nacken. Ob diese Cerise sie noch immer von irgendwo aus beobachtete? Sie sah sich um. Verschiedenste Frauen hatten sich eingefunden und genossen gemeinschaftlich das Ritual der Reinigung. Alte und junge, große und kleine, dicke und dĂŒnne. Einige unterhielten sich. Eine lebendige AtmosphĂ€re. Sie alle spĂŒlten den Schmutz des Tages ab, so wie sie es tat. Keine dieser Frauen war heute in der Kirche gewesen. Angst haben, erkannt zu werden, musste sie nicht. Nach solch einem Erlebnis kĂ€m gewiss niemand auf die Idee, baden zu gehen - außer ihr natĂŒrlich. Gezwungenermaßen ließ sie ihr Bad an den Tag denken, an dem ihr Henrik begegnete. War dieser Lustmolch tatsĂ€chlich in das Damenbadehaus eingedrungen, unter dem Vorwand sich bei ihr bedanken zu wollen. Sie starrte auf die TĂŒr. Mit seinem verletzten Bein wĂŒrde es ihm schwer fallen, das heute zu wiederholen. Ein diabolisches Grinsen zierte ihr Gesicht. Wie gemein von ihr! Eigentlich wollte sie ihm gegenĂŒber nicht so fies sein. Bei dem Gedanken an ihn, wurde ihr auf einmal ganz seltsam zu Mute. Sie bekam ein merkwĂŒrdiges Kribbeln im Bauch, wie eintausend Schmetterlinge. Sie wollte es nicht wahrhaben. Konnte es sein, dass sie in ihn
 Nein! Auf keinen Fall! Doch das Kribbeln intensivierte sich, fĂŒhlte sich an, als wollten die Schmetterlinge nach Außen brechen. Dann plötzlich: Ein donnerndes Grollen, wie bei einem Unwetter in weiter Ferne. Blasen stiegen aus dem Wasser auf. Das Kribbeln verflog und ein ĂŒbler Geruch breitete sich an seiner statt aus. Nun ging es ihr besser. Hatte sie vielleicht etwas falsches gegessen? Die LautstĂ€rke ihres Donnerwetters zog die Blicke der anderen GĂ€ste auf sie. So viel dazu, nicht aufzufallen... Peinlich berĂŒhrt, versank sie im Schaum und wĂŒnschte sich, unsichtbar zu sein. Nachdem sie sauber zurĂŒck in die schmutzige Kleidung gestiegen und so unauffĂ€llig wie möglich aus dem Badehaus entschwunden war, kehrte sie zur Taverne der BrĂŒder zurĂŒck. Auf einmal kreuzte ein torkelnder Tollpatsch ihren Weg. Warf sich fast auf sie, als er das Gleichgewicht verlor und stĂŒrzte. Es war ihr sehr unangenehm, also schubste sie ihn von sich weg. Er landete im Dreck, rappelte sich auf, wollte aufstehen, doch das GebrĂ€u in seinem Magen zwang ihn auf die Knie zurĂŒck. Er musste sich auf die Straße ĂŒbergeben. “Widerlich!”, kommentierte die Blondine. Mehr als ein Brummen brachte der Betrunkene nicht zu Strande. “Wir haben es wohl ĂŒbertrieben?” Erneut nur brummen. Nebula hob ihn an und erkannte zwischen den Resten von Erbrochenen, dem Straßenschlamm und dem mutmaßlich aus einer SchlĂ€gerei stammenden Schwellungen in seinem Gesicht Marcus, den Ă€lteren der BrĂŒder. “Was ist denn mit Euch passiert?” “Ich wollte was trinken!”, antwortete Marcus. “Habt Ihr scheinbar zu genĂŒge!” “Sie haben mir nichts mehr gegeben!” Nebula half Marcus beim aufstehen. Er wischte sich das Erbrochene und den Schlamm aus dem Gesicht. Sie sah ihn voll des Bedauerns an. “Ihr kommt jetzt mit mir zur Taverne und schlaft Euren Rausch aus.” Marcus musste schnell einsehen, dass es bei der brutalen Schönheit keine Widerrede gab. Ohne weiteren Widerstand zu leisten, resignierte er und ließ sich von Nebula zur Taverne eskortieren. Anschließend fiel er wie ein Stein in sein Bett. Eine weitere Woche verging. Nebula ging nicht mehr ohne ihre Kutte vor die TĂŒr. GerĂŒchte von einer Heldin mit ĂŒbermenschlichen KrĂ€ften machten den Umlauf. Schwarze Fee nannte man sie. Obgleich sie ihr mit Furcht begegnen oder sie vergöttern wĂŒrden, wollte Nebula nichts damit zu tun haben. Sie konnte es nicht gebrauchen, urplötzlich eine lokale BerĂŒhmtheit zu sein. Drum zog sie ihre Kopfbedeckung stets so tief, dass sie selbst fast nichts mehr sehen konnte. Irgendwie gelang es ihr, von niemandem angesprochen zu werden. Henrik langweilte sich sehr in seinem Bett. Den halben Tag schon. Die Schiene wie eine Fessel. Es war zu frĂŒh, um aufzustehen. Was sollte er also tun? Dann kamen Annemarie und Nebula zur TĂŒr herein. Die Blonde legte ihre Kutte ab und fĂŒhlte sich befreit. Das MĂ€dchen trug wie immer ihr Buch mit dem blauen Einband bei sich. “Willkommen zurĂŒck!”, grĂŒĂŸte er seine Begleiterinnen. “Wo wart ihr denn?” “Ich habe Nebula aus meinem Buch vorgelesen.” Stolz hielt sie es hoch. Volkes MĂ€rchen stand groß auf ihm geschrieben. Doch die Schriftzeichen sagten Henrik ĂŒberhaupt nichts. “Worum geht es in deinem Buch?”, fragte er. “Aber das steht doch drauf”, gab sich das MĂ€dchen unverstanden. Nebula sah sie streng an. “Ach so, du kannst ja nicht lesen.” Nebula schaute noch strenger. Doch Annemarie war sich keiner Schuld bewusst und lĂ€chelte fröhlich und unschuldig. Dann rannte sie zu Henrik und setzte sich auf das Bett. “Ich bin aber auch noch nicht so gut”, gestand sie ein. “Warum lernen wir es nicht zusammen?” Annemarie las aus dem Buch vor und Henrik lauschte ihr. Nebula nahm sich einen Stuhl und sah den beiden zu. Bald begannen sie mit ihren Fingern den Buchstaben zu folgen und versuchten, die Silben auszusprechen. Nebula fĂŒhlte sich unweigerlich an ihre Kindheit erinnert, als sie von ihrem KindermĂ€dchen das Lesen gelehrt bekam. “Die Mistress muss lesen können, damit sie sich bilden kann”, hatte sie immer gesagt. “Kein Prinz mag eine Prinzessin mit mehr Stroh im Kopf, als ein Kornspeicher.” Liselotte. Sie fragte sich, wie es ihr wohl ergangen war. Fortan lasen Henrik und Annemarie jeden Tag die MĂ€rchen des Volkes. Jedes Mal klappte das Lesen besser. FĂŒr beide. Und so konnte Henrik die Zeit nutzen, die ihn seine Verletzung vom Leben fernhielt, und endlich lesen lernen. Nach ungezĂ€hlten weiteren Tagen und NĂ€chten hatte die Schiene ihren Dienst getan. Der Arzt kam ein letztes Mal, um sie zu entfernen. Endlich war Henrik wieder frei! Bald darauf packten sie ihre sieben Sachen. Nebula erinnerte sich an den Brief, den sie erhalten hatte. Sie musste schnellstmöglich nach Ewigkeit. Durch Henriks Verletzung hatten sie kostbare Zeit verloren. Die konnten sie nur wieder wettmachen, wenn sie den Weg ĂŒber Faringart gingen. Ein Ort, bekannt als die Stadt der JĂ€ger. Sie verabschiedeten sich von den BrĂŒdern. Wieder nötigte Nebula Henrik, sĂ€mtliches GepĂ€ck zu tragen. Als die Jahreszeiten ins Land zogen, sah Matthew tatenlos mit an, wie sich Marcus ins UnglĂŒck stĂŒrzte. Fast alles Geld versoff er bei der Konkurenz. Jener, bei der er noch kein Hausverbot erteilt bekommen hatte. WĂŒrde Marcus sich totsaufen oder wĂŒrde ihn vorher kein Wirt mehr an seinen Tresen lassen? Das musste unbedingt aufhören! Er konnte es nicht mehr verantworten, seinem Bruder zuzusehen, wie er immer weiter in die AbwĂ€rtsspirale aus Alkohol und Gewalt hinein rutschte. Er wusste, dass sein Bruder nur seinen Kummer betĂ€uben wollte. Deshalb beschloss er, ihm endlich die Wahrheit zu sagen. Das er Valeria gefunden und heimlich gepflegt hatte. Das er sie selbst auch begehrte. Dass sie nun bei seinem Zweithaus im Garten lag. Nur den Teil mit den Morden ließ er aus. Monatelang wollte Marcus nicht mehr mit ihm sprechen. Doch dann trafen sie sich eines Tages an Valerias Grab, als sie ihr beide gleichzeitig einen Strauß Blumen mitbrachten. Anstatt sich anzuschreien, hielten sie einander die HĂ€nde und beteten fĂŒr Valerias Seele. Der Mond schien in einer klaren Nacht durch das Fenster. Ein MĂ€dchen mit dunklen Haaren lag in ihrem Bett und trĂ€umte. Die TĂŒr öffnete sich. Henning betrat das Zimmer seiner Schwester und setzte sich auf das Bett. Das einfallende Licht des Erdtrabanten ließ den Gegenstand in seiner Hand funkeln. Das spitze KĂŒchenwerkzeug wippte auf und ab in seiner unruhigen Hand. Begeistert starrte er mit irrem Blick auf die Klinge in seiner Hand. Plötzlich rĂŒhrte sich seine kleine Schwester. Hastig ließ er das Messer unter dem Ärmel seines Oberteiles verschwinden. “Hallo, BrĂŒderchen”, sprach die Kleine. “Was machst du hier?” Als sie die Arme nach ihm ausstreckte, ließ er sich zur Seite fallen und erlaubte dem MĂ€dchen so, ihn fest zu drĂŒcken. Die Kleine Schloss schloss ihre Augen wieder und schlief weiter. Er fĂŒhlte ihren Atem auf seiner Haut. Henning holte das Messer wieder hervor. Er spielte erneut mit ihm herum. Die Reflektionen des Mondlichts wurden ĂŒberall an die WĂ€nde geworfen. Dann sah er auf seine kleine Schwester und wieder auf die Klinge. WĂŒrde er den letzten Schritt auch noch gehen? Kapitel 6: Rendezvous im Mondschein ----------------------------------- 🌱 Die drei roten Augen des schwarzen Vogels stachen aus dem Dunkel der Nacht hervor. Er segelte durch die Finsternis und steuerte einen Baum mitten im Wald an. Die EmpfĂ€ngerin hockte auf einem dicken Ast des mĂ€chtigen GewĂ€chses und streckte dem Vogel eine schmale Hand mit langen Fingern, gehĂŒllt in einen schwarzen Handschuh, entgegen. Er landete auf ihr und wurde alsbald von einer zweiten sanft gestreichelt. Ein Windstoß wehte durch das GeĂ€st. Die Haare der Frau auf dem Ast wurden zum Spielball der heftigen Briese. Die Frau untersuchte den Vogel. Am Kropf des sonderbaren Tieres befand sich ein Halsband mit einem kleinen zylinderförmigen GefĂ€ĂŸ. Sie öffnete den Verschluss und entnahm einen winzigen Brief. Die Schrift konnte sie dank ihren scharfen Augen mĂŒhelos entziffern. Er enthielt einen Auftrag und die benötigten Informationen, um ihn zu erfĂŒllen. Kaum war die Nachricht gelesen, verbrannte sie zu Asche. Aus einer Tasche holte die Frau ihrerseits ein winziges Pergament und einen Griffel hervor, um ihre Antwort zu verfassen. Matriarchin, ich habe verstanden. Der Auftrag wird zur vollsten Zufriedenheit des Klienten erledigt werden. Ich werde keine Spuren hinterlassen. Sie beendete ihren Brief mit einem Schwur auf die Mutter der Zwietracht - wen auch immer sie damit meinen mochte - und steckte das SchriftstĂŒck dem Vogel zu. Dann hob sie ihren Arm. Die Kreatur krĂ€chzte zweimal, schwang sich in die LĂŒfte und flog dem Mondschein entgegen. Die Unbekannte machte sich ihrerseits auf den Weg. Frank war schon frĂŒh in den Morgendunst hinausgegangen, da er seiner Liebsten einen Strauß Bergblumen steigen wollte. Er fand so gleich, was sie begehrte: Blau war der Adelheid die liebste Farbe. Doch weiter oben gab es noch mehr von ihnen. Ein Stein löste sich. Hektisch versuchte Frank noch halt zu finden, doch er rutschte ab. Als der Schmerz nach ließ, der auf die Landung gefolgt war, und er sich sicher war nicht tot zu sein, rappelte sich der tapfere Bursche auf. Ein paar Blessuren und SchĂŒrfwunden brachte ihm das Klettern ein, doch ernsthaft verletzt schien er nicht zu sein. “Ze fix, i hob ma den Oasch gebrochn!”, stieß er lauthals fluchend aus und befĂŒhlte dabei seinen Allerwertesten. Dann kehrte er den Berg entnervt den RĂŒcken. Auf dem Heimweg wollte er Zeit sparen und nahm eine AbkĂŒrzung durch eine Schlucht. Er war nur ein StĂŒck gegangen, als er eine Blutspur auf dem Boden entdeckte. “Mei God, wo kimmd des Blut ha?!”, sprach er, um sich selbst Mut zu machen, weiter zu gehen. Die Spur fĂŒhrte ihn um eine Ecke. Dort saß ein MĂ€dchen in einer Tracht. Sie lehnte an der Felswand. Frank kannte sie. “Himme, Oasch und Zwirn, Des is ned wahr!”, tat er seinem Entsetzen Kund. Es war die Adelheid. Ihr Trachtenkleid blutĂŒberströmt und in fetzen Gerissen, der linke Arm zertrĂŒmmert und zerkratzt und ihr Brustkorb aufgebrochen. Vom bösen Wolf, da war Frank sich sicher. Schnell wollte er zurĂŒck in die Stadt und den JĂ€gern Bescheid geben. Doch dann hallte das Geheul der hungrigen Bestie durch die Schlucht. Frank nahm die Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Er spĂŒrte die ErschĂŒtterung des sich nĂ€hernden Unheils. Der Versuch schneller zu sein, war vergebens. Ein mannsgroßer, grauer, pelziger Schatten warf sich auf ihn und zerbiss seinen Nacken. Nebula, Henrik und Annemarie erreichten Faringart. Es war gut eine Woche her, dass sie Schleierfirst den RĂŒcken gekehrt hatten. Stadt der JĂ€ger nannte man den Ort, den sie just erreichten. Dies wurde jedem klar, der nur die Augen aufsperrte und sich umsah. Wo links die WaidmĂ€nner ihre TrophĂ€en feilboten, gerbten rechts die Ledermacher die HĂ€ute der erlegten Tiere. “Woah, das ist ja voll beeindruckend hier!”, staunte Annemarie, als sie sich umsah. “Faringart versorgt halb Morgenstern mit Jagdbeute aller Art”, erklĂ€rte Nebula, stets bemĂŒht, nicht zu weit unter ihrer Kutte hinauszuschauen. “Uff!”, stöhnte Henrik unter der Last seines GepĂ€cks. “Schön, wenn es euch beiden hier so gut gefĂ€llt”, sagte er anschließend. Die Beule auf seinem RĂŒcken, welche von dem riesigen Sack geformt wurde, war noch grĂ¶ĂŸer als je zuvor. “Willst du mir damit etwas sagen?”, fauchte ihn die Blondine vorwurfsvoll an. “Das Z-Zeug ist ganz sch-schön schwer!” “Höre auf zu klagen! Oder willst du einer Lady zumuten, schwer zu schleppen?” “Du bist v-viel stĂ€rker als ich.” “Na und?!” Henrik konnte sich seiner masochistischen Vorliebe fĂŒr ihre sadistische Ader nicht erwehren. Er war ihr hoffnungslos verfallen. Aber er traute sich nicht, sie auf seine GefĂŒhle anzusprechen. Was sollte diese starke und schöne Frau, diese Augenweide von einer Amazone, mit ihm anfangen, der er sich nur zu verstecken weiß, wenn es brenzlig wird. Nein, sie wĂŒrde seine GefĂŒhle niemals erwidern! Nebula sah sich verlegen zu ihrem Begleiter um. Nachdem er selbstlos in ihren Albtraum gekommen und sie vor sich selbst gerettet hatte, Ă€nderte es ihr Bild von ihm. Sie dachte viel zu oft an ihn. Und das gefiel ihr nicht! Darum ließ sie ihn wieder schwer tragen. Das geschah im ganz Recht, so unverfroren in ihren Kopf einzudringen und ihn nicht mehr zu verlassen. Auf einmal wurde es wuselig auf dem Markt. “Da böse Woif hod den Frank und de Adelheid gefressn!”, rief eine dicke Frau. “Oh na, des is jo schrecklich!”, antwortete ein dĂŒnner Mann. Nebula horchte auf. Annemarie zerrte am Arm der Söldnerin. “Warum reden die alle so komisch?”, fragte sie unverfroren. “Ich versteh’ kein Wort.” “Diese Leute sind ein bisschen eigen”, antwortete Nebula. “Gute JĂ€ger, aber eigen.” Henrik schnaufte und stöhnte weiter unter seiner Last. “Sagt, guter Herr”, sprach die Blondine zu einem der aufgeregten Stadtbewohner, “was hat sich zugetragen?” “Hobt Ihr 's ned gehört? Da Frank und de Adelheid wurdn vom Woif gefressn!”, antwortete der Mann. “Den Teil habe ich verstanden!”, zischte sie genervt. “Was hat es mit dem Wolf auf sich?” “Seid Ihr ned vo do? 's dreibt si a besonders garstiga Isegrim herum. Ea frisst ois, wurscht ob Mensch oda Viech. Und besonders gern frisst ea de Herzn.” Annemarie klammerte sich an Nebula. “Ich hab Angst”, sagte sie. “Wenn am Viech endlich oana des Fell ĂŒba de Oahn ziang wĂŒrde, kanntn mia nochds wieda ruhig schlafa!”, fuhr der Mann fort. “Ich kann nicht mehr!”, Ă€chzte Henrik und setzte sein GepĂ€ck mit lautem Scheppern ab. Nebula funkelte ihn an, als wĂ€re ein Wort von ihm schon zu viel. Doch sie sorgte sich wohl mehr um ihr Hab und Gut, welches so unsanft den Boden gekĂŒsst hatte. “D-Du hast dich doch sch-schon mal mit einem Rudel Wölfe angelegt”, fuhr Henrik fort. "Das stellt fĂŒr dich doch kein Problem dar, o-oder?" UnglĂ€ubig beĂ€ugte der Einheimische die ein Meter achtundfĂŒnfzig große Fremde. “Du bisd Jagerin, Madl?” Das konnte er sich einfach nicht vorstellen. “Nicht ganz”, Widersprach sie und öffnete ihre Kutte weit genug, um das Schwert an ihrem Bund freizulegen. “Ich bin eine Söldnerin.” “Dann gehst du am Besdn moi zum Fiast, Madl!” Georg, der FĂŒrst vom Finsterwald, stand auf dem Podest wie der Hahn auf dem Mist und krĂ€hte seine Parolen. Seine grauen Haare wehten im Wind. Um ihn herum versammelte sich das Waidmannsgefolge der Umgebung und lauschte seiner flammenden Rede. Anders als das einfache Volk, verfiel er keinem eigentĂŒmlichen Dialekt. “Wollt ihr weiter zusehen, wie Isegrim eure Buben und MĂ€dl ermordet? Wie das Mistvieh uns alle bedroht?” Dann zeigte er in die Menschenmenge. “Du, mein Freund! Was ist, wenn der Wolf dein Weib frisst?” Er zeigte auf jemand anderen. “Und du mit deinen sieben Schwestern. Willst du sie nicht beschĂŒtzen?” Zufrieden lauschte er dem Jubel der JĂ€ger. “Am Gerbe i des Leda!”, skandierte Einer “Des Vieh werd mei neia Bettvoalega!”, prahlte ein Zweiter. Georg lĂ€chelte von einem Ohr zum anderen, als er die aufgeheizte Meute erblickte, in der ein jeder versuchte, sein GegenĂŒber verbal zu ĂŒbertreffen. Nur zwei ließen sich nicht von der Stimmung anstecken. Der eine war der vor zwei Jahren zugezogene JĂ€ger Clay. Ein Mann, der nur selten sprach und niemals zur Wichtigtuerei verleiten ließ. Aber die zweite, ziemlich kleine Person unter der Kutte kam ihm fremd vor. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. “Ihr”, sprach er sie an. “Wieso seid Ihr so schweigsam?” “Ich ziehe es vor zu leisten, statt zu prahlen!”, rief die unbekannte Person aus der Menge. “Ihr seid nicht auf den Mund gefallen. Wollt Ihr mir nicht Euer Gesicht zeigen?” Die Kutte fiel und enthĂŒllte Nebulas goldblonden Haare. Alle JĂ€ger staunten, da sie einen Mann erwartet hatten. Bis auf Clay, welcher weiter schwieg. Als ob es ihn nicht mehr ĂŒberraschte. “Gebt mir einen Kreuzbogen und ich beweise Euch, dass aus meinem Mund mehr als nur heiße Luft kommt.” Georgs Mundwinkel schnellten vor Entsetzen zu Tale. UnglĂ€ubig schĂŒttelte Clay mit dem Kopf. Daraufhin sprach keiner mehr mit Nebula. Die Versammlung löste sich auf, als Georg zur Jagd ins Horn stieß. “Hier, fangt!”, rief es auf einmal hinter Nebula. Blitzschnell wandte sie sich der Stimme zu und konnte gerade noch die Armbrust fangen, die der schweigsame JĂ€ger ihr zuwarf. Als einziger war er geblieben. “Ihr sagtet, man solle Euch einen Kreuzbogen geben”, erklĂ€rte sich Clay. “Ich habe ein Pferd, doch ich kann nicht gleichzeitig reiten und schießen. Wenn Ihr wirklich so gut schießen könnt, MĂ€dchen, dann wĂŒrde ich Eure Hilfe gern in Anspruch nehmen.” “Nennt mich nicht ‘MĂ€dchen’!” “Wieso? Seid Ihr etwa doch ein Kerl?” Brummend stellte Nebula ihren Unmut zur Schau. “Wie heißt Ihr denn?” “Nebula.” “Freut mich. Mein Name ist Clay.” Er reichte der Blondine die Hand. Nebula erwiderte die Geste. Egal ob Wolf, BĂ€r oder Berglöwe. Die Raubtiere des Finsterwald fielen den Bögen der WaidmĂ€nner zum Opfer. Nebula und Clay durften gegenĂŒber den anderen nicht nachstehen. Ein Grauwolf flitzte durch den Herbstwald. Nebula saß hinter Clay auf dem Schimmel und spannte den geliehenen Kreuzbogen. Dadurch hatte sie keine Hand mehr frei und musste sich mit den Schenkeln und Waden am Körper des Pferdes wie eine Zange festklammern, um nicht herunterzufallen. Im vollen Galopp jagten sie den Grauwolf. Nebula beugte sich an der imposanten Erscheinung von Mann vor ihr vorbei und nahm das Raubtier mit gespannter Armbrust ins Visier. Sie betĂ€tigte den Abzug. Ein Klicken und das Projektil wurde vom ruckartig entspannenden Strick nach vorn katapultiert. Der Wolf wusste nicht, wie ihm geschah, als sich das Geschoss in seinen Nacken bohrte, ihm das RĂŒckenmark durchtrennte und augenblicklich tötete. Das Tier wurde aus der Bahn geworfen, ĂŒberschlug sich und kam dann zur Ruhe. Clay und Nebula saßen ab und ernteten die FrĂŒchte ihrer Arbeit. “Euer Umgang mit dem Kreuzbogen ist wahrlich meisterlich”, staunte der JĂ€ger, als er den perfekt durchstoßenen Nacken des Raubtieres in Augenschein nahm. “Keiner dieser aufgeblasenen Möchtegerne wĂ€re dazu fĂ€hig.” “Ich verspreche nie etwas, das ich nicht halten kann”, versicherte Nebula. “Solcher Menschen gibt es leider viel zu wenige.” Dann unterbrach Clay die Konversation. Stattdessen zĂŒckte er sein HĂ€utungsmesser und befreite den Wolfskörper vom Pelz. Sie hatten das erste Tier erlegt und wĂŒrden hier nicht aufhören. Gegen Abend trafen sich die JĂ€ger, um ihre Beute zur Schau zu stellen. Die MĂ€nner lobten sich gegenseitig. “Und, wia vui hobt Ihr gschossn?” “Zwoa. Und Ihr?” “I ealegte gleich via!” Georg freute sich ĂŒber die erfolgreiche Jagd. Zwar konnte niemand mit Sicherheit sagen, dass die Bestie unter den erschlagenen Raubtieren war, doch um die Pöbel zu beschwichtigen, reichte es allemal. Plötzlich wurde es laut. Georg schaute in die Menge und erspĂ€hte die vorlaute Blonde, wie sie ein BĂŒndel mit mindestens zehn Fellen ĂŒber ihrer Schulter trug und vor Stolz schwellender Brust auf dem Platz aufmarschierte, wie ein ĂŒberdekorierter General bei einer MilitĂ€rparade. Auf mehrmalige Nachfrage bezeugte Clay, dass sie alle Tiere selbst geschossen hatte. Ihm ließ sie nur die eine Beute, deren Fell er trug. Zu spĂ€ter Stund feierte ganz Faringart das große JĂ€gerfest. Es gab Weißwurst, Sauerkraut, Knödel und Bier. Annemarie schlief schon, aber Henrik feierte mit. Er saß neben einem hĂŒbschen MĂ€dchen mit langen blonden Haaren. Die Tochter des Försters. Er hatte sie zuvor noch nie gesehen, aber er fand, dass sie ein nettes LĂ€cheln hatte. Sie war bestimmt mindestens drei Jahre Ă€lter als er, doch das störte ihn wenig. “Wie hoasst du?”, fragte das MĂ€dchen. “Mei Name is Henrike.” “D-Das ist ja lustig”, antwortete er. “Ich bin Henrik.” “Des mua a Wink des Schicksals sei. Mia soidn heiradn.” Panik stieg in dem Schmied auf, wie einst die Hitze in seiner Werkstatt. “W-W-Was?” “Beruhig di, i necke di doch grod." Sie hob ihren Bierkrug an und sah fordernd zu Henrik, bis er es ihr gleich tat. “Du bisd a siassa Buab. Zum Wohl!” Sie stießen an und schĂ€kern fast das ganze Fest miteinander. Durch den Zauber des Gerstensaft kamen sie sich immer nĂ€her. Irgendwann stahlen sie sich davon. Nebula spĂŒrte, dass sie vor Clay wirklich geglĂ€nzt hatte. Doch er beeindruckte sie auch. Er konnte genauso saufen wie sie. “Wieso trinkt Ihr nicht?”, fragte Clay, als er bemerkte, dass Nebula noch immer am ersten Krug Bier festhielt. “Schmeckt es nicht?” “Es ist so gehaltlos”, antwortete sie. “Und sie haben hier nur DĂŒnnbier.” “Mit der Zeit gewöhnt man sich selbst an das.” Es blieb ihr nicht verborgen, dass der Mann immer wieder zum Himmel aufsah. “Wieso schaut Ihr andauernd rauf?” “Seht Ihr den Mond?”, fragte er leicht angeheitert. “Bald schon wird Vollmond sein. Dann zeigen sich die wahren Monster.” Er legte eine Kunstpause ein. “Haben Ihr und Eure Begleiter vor, lĂ€nger zu bleiben, Nebula?” “Wir sind nur auf der Durchreise. Morgen oder ĂŒbermorgen wollen wir weiterziehen.” “So bald schon? Dann erlaubt mir wenigstens noch einmal mit Euch auf die Jagd zu gehen. Diesen Monat darf ich noch ein paar Tiere erlegen.” Das Jagdrecht lag bei den Adligen. Doch FĂŒrst Georg verlieh jedem JĂ€ger die Erlaubnis eine festgelegte Zahl an Tieren pro Monat zu erlegen. Sie verabredeten sich fĂŒr den kommenden Tag zur Rotwildjagd. 🌱 Henrike schlug im fremden Bett die Augen auf. Ihr Arm ertastete die andere Seite des Bettes. Sie erfĂŒhlte eine Person neben sich. Erschrocken stellte sie fest, dass es der Junge war, mit dem sie auf dem Fest getrunken hatte. “I war doch ned etwa umtriebig mid am?”, sprach der Schock aus ihr. Henrik schlief zufrieden, tief und fest wie ein Stein. “Moment moi, i droge no mei Kleidl”, fiel ihr auf. Dann kam die Erinnerung zurĂŒck. Sie hatten weiter getrunken und der Junge stahl einen Kuss. Dann entfernten sie sich vom Fest, als sie das BedĂŒrfnis nach Zweisamkeit verspĂŒrten. Doch weiter als bis zum Bett, hatten sie es nicht geschafft. Henrik war volltrunken wie ein Sack hinein gefallen und sofort eingeschlafen. Erleichtert setzte sie sich auf und sah noch einmal auf den jungen Mann. “Du bisd a siassa Buab”, flĂŒsterte sie und streichelte seine Wange. Sie stand auf und zog ihre Schuhe wieder an. Vorsichtig steckte sie ihren Kopf aus der TĂŒr. Am Morgen aus dem Zimmer eines Jungen zu schleichen, könnte ihren Ruf schĂ€digen, tĂ€te es jemand beobachten. Als sie sich sicher war, dass sie niemand sah, schlich sie sich aus dem Gasthof und machte sich auf den Weg nach Hause. Wenig spĂ€ter kam Henrik zu sich und verfiel bei dem Gedanken, was sich letzte Nacht seiner Meinung nach zutrug, in Panik. Unter SchweißausbrĂŒchen schritt er wenig spĂ€ter im Zimmer auf und ab. Nebula trieb die Frage um, wie ein einfacher JĂ€ger zu einem stolzen Schimmel gekommen war. Auch aus diesem Grund stimmte sie zu, noch einmal mit ihm zu jagen. Aber sie wollte auch in Erfahrung bringen, ob er vielleicht mehr wusste, als er zugab. Gejagt wurde entweder am Morgen oder am Abend, wenn das Licht der DĂ€mmerung schwach war und dem JĂ€ger die Tarnung erleichterte. Darum musste Nebula noch im Schutz der Dunkelheit aufbrechen, um Clays abgelegene HĂŒtte rechtzeitig zu erreichen. Der imposante Mann stand bereits vor seiner JagdhĂŒtte und raufte seinen Bart. Das GebĂ€ude hatte eine TĂŒr, zwei Fenster an der Front und ein kaum wahrnehmbares drittes im Fundament an der Giebelseite. Zudem erspĂ€hte sie den Stall des Schimmels und einen kleinen Holzverschlag nicht weit entfernt. “Guten Morgen”, grĂŒĂŸte Nebula. “Was schaut Ihr so skeptisch?” “Ihr tragt keine Fernwaffe”, antwortete Clay. “Wie wollt ihr Rotwild schießen?” Nebula hatte mental ausgeblendet, das sie Gastraphetes unmöglich vor seinen Augen entblĂ¶ĂŸen könnte, und daher nicht an Ersatz gedacht. Clay verschwand kurz in der JagdhĂŒtte und kam mit der Armbrust vom Vortag und einem Köcher wieder heraus. “Hier, Ihr könnt die hier haben. Ich bevorzuge sowieso den Bogen.” Benno, der Förster, war gerade dabei Holzscheite zu schlagen, als er seine Tochter heimkehren sah. Sofort unterbrach der korpulente Mann sein tun. Mit finsterer Mine, empfing er das MĂ€dchen. “Griaß God, Pappa”, begrĂŒĂŸte Henrike ihren Vater fröhlich. “Wo bisd du gwen, Henrike?”, löcherte er sie vorwurfsvoll. “Hosd du di mid Burschn herumgetriebn?!” “Na, wos redest du do fia oan Schmarrn? I war zua lang auf am Fest. 's war zua dunkl um heim zua gengan. HĂ€ttest aa keman soin.” “Schmarrn. Fia sowas hob i koa Zeid.” Bennos Blick viel auf den gigantischen Haufen Holz, den er noch schlagen musste. “De vadammdn Knechte san beim Bam schlogn zua floassig! Wenn du ma heifd wuist, kannst du ma und den Jungs scheene WoasswĂŒrschd brĂŒhn.” “Du denkst oiwei grod os Essn!” Eingeschnappt stiefelte das blonde MĂ€dchen hinein ins Försterhaus, um einen Kessel fĂŒr die WeißwĂŒrste anzusetzen. Der Schimmel zog einen Karren mit dem erlegten Wild hinter sich her. Nebula und Clay liefen nebenher. Sie trug die Armbrust am Riem ĂŒber der Schulter und er fĂŒhrte das Pferd am Zaumzeug. Die Jagd war fĂŒr sie gut gelaufen. Sie transportierten mehrere Kadaver zurĂŒck zur JagdhĂŒtte. “Eine Frage treibt mich um”, sprach Nebula, als sie glaubte, es sei der richtige Zeitpunkt dafĂŒr gekommen. “Wie kommt ein einfacher JĂ€ger zu einem Pferd?” “Ich habe es gewonnen”, behauptete Clay. “Jemand meinte, er könnte besser schießen als ich. Tja, nun gehört sein Pferd mir.” Langsam kam die HĂŒtte in Sichtweite. “Ihr sagtet auf dem Fest, das bei Vollmond die waren Bestien erscheinen. Was habt Ihr damit gemeint?” “Nehmt das GeschwĂ€tz eines Betrunkenen nicht fĂŒr voll!” Nebula spĂŒrte, dass er verbal einen Graben zog. Doch so leicht wĂŒrde sie ihn nicht vom Haken lassen. “Was verheimlicht Ihr?” “Das soll nicht Eure Sorge sein, MĂ€dchen!” Sie erreichten Clays HĂŒtte. Der JĂ€ger löste den AnhĂ€nger vom Geschirr des Pferdes und fĂŒhrte das Tier in seinen Stall. Er begann die Kadaver zu entladen und in seinen Arbeitsschuppen zu transportieren. “Entweder helft Ihr, oder Ihr geht!”, tadelte er. “Ich hasse Leute, die nur im Weg stehen!” Nebula half den Karren zu entladen. Vielleicht wĂŒrde es Clays Zunge lösen. Die Zeit verging wie im Fluge. “Nun solltet Ihr aber wirklich gehen!”, empfahl Clay mit Nachdruck. “Das Ausweiden der Beute ist nichts fĂŒr schwache Nerven.” “Ich halte das schon aus.” “Geht!!” Er wirkte gereizt und zugleich gehetzt. Als ob ihm die Uhr im Nacken saß. Offensichtlich, dass dieser Mann etwas verheimlichte. Doch freiwillig wĂŒrde er es nicht preisgeben. Sie entschied sich, seiner Forderung zu beugen. Vorerst. Sie gab ihm die geborgte Armbrust zurĂŒck, hĂŒllte sich in ihrer Montur ein und machte sich auf den RĂŒckweg nach Faringart. Henrik war noch immer total aufgelöst und ging auf und ab. “I-Ich bin noch nicht bereit fĂŒr s-so eine Verant-w-wortung!”, murmelte er vor sich hin. Annemarie trat in sein Zimmer ein und musste gleich bei dem Anblick lachen. “Wenn du so weiter machst”, sagte das MĂ€dchen, “dann grĂ€bst du dich in den Boden ein.” Wie aus einer Trance gerissen, sah er Annemarie schockiert an. “Was ist denn los?” “I-Ich bin noch viel zu jung fĂŒr ein Kind!” “HĂ€?” “T-Tschuldigung. Was ist denn, Annemarie?” “Nebula sucht dich.” “Oh, dann will ich sie nicht warten lassen.” Gemeinsam gingen sie zum Stadttor. Nebula fiel sofort auf, dass Henrik seine vom Schweiß benetzten HĂ€nde rieb, schnell atmete und ihr nicht in die Augen sehen konnte. “Noch Restalkohol im Blut?”, fragte sie. “Er redet nur wirres Zeug”, kommentierte Annemarie. “Er hat gesagt, er bekommt ein Kind. Das geht doch gar nicht. Die bringt doch der Klapperstorch!” “Was?” Die Blondine verzog den Mund zum spöttischen grinsen. “D-Du erinnerst d-dich an das MĂ€-MĂ€dchen vom F-Fest?”, fragte Henrik, sein Stottern schlimmer als ĂŒblich. “Wir ha-ha-haben
” Lautstarkes Lachen platzte aus Nebula heraus. Sie konnte es einfach nicht mehr bei sich halten. Ihr wurden die Knie weich. “W-Was ist da s-so lustig?!”, fragte Henrik ungehalten. “Was? Du
” Sie konnte kaum sprechen. “... willst mit ihr
” Ihr GelĂ€chter wurde immer lauter und sie musste sich den Bauch halten. “Ha ha ha!” “W-Was ist, wenn sie jetzt e-ein Kind er-erwartet?” “Dann war es unbefleckte EmpfĂ€ngnis.” “D-Du glaubst nicht, d-das ich m-mi-mit einer F-Frau
?” Nebula hatte sich gerade erst beruhigt, doch ihr Lachflash kehrte zurĂŒck. “Niemals!” “Sch-schönen Dank! D-Danke, dass du meine S-Sorgen so ernst nimmst!” Plötzlich tauchte ein braunes Pferd am Ende der Straße auf. Es kam aus Richtung des Waldes und es schien, als ob niemand auf ihm reiten wĂŒrde. Als es nĂ€her kam, wurden Rufe des Entsetzens laut. Über den RĂŒcken des Tieres lag ein blutĂŒberströmter Waldarbeiter. Ihm fehlte eine Hand und tiefe Kratzer zierten seinen ganzen Körper. Henrik packte Annemarie und hielt ihr die Augen zu. "Hey!", beklagte sich die Kleine. Sofort eilte Nebula zu dem Verletzten hin. “Bitte
 Hilfe!”, sprach er vollkommen entkrĂ€ftet. “Was ist Euch zugestoßen?”, fragte die Blondine. “De Foastwirtschoft... Ogriff... Monsta...” Bevor der Mann noch mehr zu sagen vermochte, verließen ihn seine KrĂ€fte und er verlor das Bewusstsein. Ein paar Schaulustige hatten einen Medikus herbeigerufen. Man zog den Verletzten vom Pferd und der Arzt untersuchte ihn. Doch der stellte schnell Fest, das sein Patient ein Fall fĂŒr den Bestatter war. “Was fĂŒr eine Forstwirtschaft?”, fragte Nebula ohne speziellen Adressat. “Dort lebt Henrike!”, alarmierte der Schmied. “Heißt so der Klapperstorch?”, fragte Annemarie, der Henrik noch immer die Sicht nahm. “Schnell, wir mĂŒssen dorthin!”, flehte Henrik. “Annemarie!”, befahl Nebula. “Du gehst in den Gasthof und wartest dort auf uns. Und du gehst mit niemanden mit!” Dann schnappte sich die Söldnerin ihren Begleiter und wuchtete ihn gegen seinen Willen auf das Pferd des Toten. Anschließend bestieg sie es ebenfalls. “Weißt du wo die Försterei ist?” Als Henrik nickte, trieb sie das Pferd an und galoppierten in Windeseile aus der Stadt. Annemarie blieb allein zurĂŒck und sah ihnen besorgt nach. Wenigstens könnte sie sich auf ihrem Zimmer mit den MĂ€rchen ablenken, welche ihr jedes mal Freude bereiteten, wenn sie sie las. Der Schimmel stand in seinem Stall und kaute genĂŒsslich auf Heu herum. Im Arbeitsschuppen wurde noch immer Tagewerk verrichtet. Die schmutzige Arbeit, die Jagdbeute auszuweiden und zu zerkleinern, war sehr anstrengend und krĂ€ftezehrend. FĂŒr Clay jedoch sein tĂ€glich Brot. Mit jedem Hieb des Beils fĂŒhlte er seinen Hunger wachsen. Zuvor musste das Fleisch noch gepökelt werden, um es haltbar zu machen. Also rieb er es mit zermahlenen Steinsalz ein und fĂŒllte es anschließend in die bereitgestellten FĂ€sser. Bald wĂŒrde er den Großteil in die Stadt bringen, um ihn weiter zu verkaufen. Ein wenig behielt er fĂŒr sich selbst. Diese StĂŒcke waren besonders blutig, so wie er es am liebsten mochte. Wenn er in das Fleisch biss, konnte er fast noch das Herz des Tieres schlagen fĂŒhlen. FĂŒrs Erste war er fertig. Er wusch sich die HĂ€nde in einer Wasserschale und ging dann zurĂŒck zur JagdhĂŒtte. In einer Mischung aus Wehmut und Respekt sah er zum Himmel auf, wo der Mond schon sichtbar war. Diese Nacht wĂŒrde eine Vollmondnacht werden. Er sah noch einen Moment hin und wandte sich dann um und verschwand in der HĂŒtte. Der braune Hengst trug seine Passagiere zur Forstwirtschaft. Der Wind blies ihnen ins Gesicht und wehte Nebula die Kapuze vom Haupt. Henrik umklammerte ihren Bauch, um wĂ€hrend ihres gemeinsamen wilden Ritts nicht vom Pferd zu fallen. Er fĂŒhlte ihren Atem, wĂ€hrend er an ihrem Wappenrock halt suchte. Als sie ihr Ziel erreichten, bot sich ein Bild der VerwĂŒstung. Der leblose Körper eines Waldarbeiters hing ĂŒber einen Stapel BaumstĂ€mme. Blutspuren und blutige Fetzen, zum Teil aus Stoff zum Teil aus einst Lebendigem, lagen auf dem spĂ€rlich mit Gras bewachsenen Boden verstreut. Nebula zog die ZĂŒgel an und signalisierte dem Pferd zu traben. Je nĂ€her sie dem Haus des Försters kamen, desto mehr seiner Knechte fanden sie. Einer lehnte an der Hauswand. Ein weiterer war rĂŒcklings nahezu um einen Baum gewickelt. Eine große Kraft hatte ihn gegen den Stamm geschleudert. Alle wiesen ein Loch im Brustkorb auf. Nebula mutmaßte, dass man spĂ€ter kein Herz finden wĂŒrde. Und letztlich stolperten sie ĂŒber das, was sie fĂŒr die Überreste des Försters hielten. Nebula stoppte das Pferd und stieg ab. Henrik wollte es ihr gleich zu tun, verhakte sich im SteigbĂŒgel, verlor das Gleichgewicht, drehte Pirouetten wie eine Ballerina, versuchte durch hektisches Luftrudern mit den Armen in festen Stand zu gelangen, scheiterte klĂ€glich und schlug, Gesicht voraus, auf einer Grasnarbe auf. Nebula hörte ihn fallen und sah nach ihm. “Echt jetzt?!”, entrĂŒstete sie sich. Henrik hob den Kopf und sprach: “Tschuldigung.” “Lass stecken und steh auf!” Der Tollpatsch stĂŒtzte sich ab und erhob sich. Nebula untersuchte derweil die Szenerie nach Spuren ab. Ihr fiel ein gigantischer Pfotenabdruck in einer schlammigen PfĂŒtze auf. Es sah aus wie die Spur eines Wolfes oder Hundes, doch viel grĂ¶ĂŸer. War ihr Urheber gleichzeitig der Grund fĂŒr das Massaker? “Henrike!”, rief Henrik urplötzlich und begann, das Kreuz der Quere ĂŒber den Claim zu flitzen. Dann fror er unvermittelt bei einem Schuppen in seiner Bewegung ein. Nebula konnte nicht sehen, was ihn derart entsetzte, also ging sie zu ihm. “Henrike”, rief der Schmied erneut und verschwand in dem Schuppen. Als Nebula um die Ecke gebogen kam, sah sie den Grund fĂŒr sein Verhalten. Er hielt das MĂ€dchen vom Fest in seinen Armen. Sie lehnte an der Wand und saß in einer Lache ihres eigenen Blutes, welches aus dem ausgefransten, zerfetzten Stumpf ihres rechten Oberschenkels floss. Vom Rest ihres Beines gab es keine Spur. “Du musst wach bleiben!”, sprach er ihr zu, legte sie in seine Arme und rĂŒttelte an ihr. Sie hob noch einmal ihren Kopf. Ausdruckslose Augen suchten Blickkontakt. “Na schau, da Siasse Buab”, wisperte Henrike in gebrochenen Worten. Sie streckte ihre Hand aus und berĂŒhrte Henriks Wange. Der Junge beugte sich zu ihr herunter, da er dachte, sie wolle ihm etwas sagen, bekam aber stattdessen den gestohlenen Kuss erwidert. “Do hosd du ihn wieda”, sagte sie. Dann starrten ihre Augen ins Leere und ihre Hand fiel kraftlos von Henriks Wange herunter. Vorsichtig legte er den Körper des MĂ€dchens ab. Mit weit aufgerissenen, von TrĂ€nen geschwollenen Augen sah er Nebula an. “S-Sie ist t-t-tot!”, stotterte er. “Das tut mir Leid”, bekundete seine ReisegefĂ€hrtin ihr MitgefĂŒhl. Henrik sah an sich herunter und ihm wurde bewusst, dass er ĂŒberall mit dem Blut der Försterstochter besudelt war. “D-D-Da ist so viel Blut!”, stieß er voll des Horrors aus. “Ihr Blut...” dann ĂŒberkam es ihn und er musste sich zur Seite beugen und ĂŒbergeben. Nebula wollte ihm irgendwie helfen, doch er ließ es nicht zu und stieß sie von sich. Dann rannte er davon und wurde erst viele Meter weiter wieder langsamer. Nebula wusste, dass er allein sein und seinen Schmerz herausschreien wollte. Dennoch wollte sie aufpassen, dass der Grund fĂŒr dieses Massaker nicht auf die Idee kam, sie mit seinem Besuch zu beehren, wenn sie nicht damit rechneten. 🌱 Als die Toten begraben waren, kehrten Nebula und Henrik in die Stadt zurĂŒck. Der Junge musste jetzt allein sein und zog sich in sein Gemach im Gasthof zurĂŒck. Nebula wollte ihm seine Ruhe lassen. Der Tod hinterließ erbarmungslos seine Spuren. Er konnte das Leben eines Menschen nachhaltig verĂ€ndern. Und noch viele wĂŒrden Ă€hnliche Erfahrungen machen mĂŒssen, wenn keiner kommen und dem Treiben der Bestie Einhalt gebieten wĂŒrde. Das Monster könnte ĂŒberall sein. Wie sollte sie es finden? Sie benötigte Hilfe! Und die konnte ihr nur noch der FĂŒrst gewĂ€hren. Einzig er oder sein Sohn durften eine weitere Treibjagd anordnen. Aus diesem Grund bat sie um eine Audienz. Man ließ sie lange warten. Zu lange! Als sie drauf und dran war, die Geduld zu verlieren, öffnete sich endlich die Pforte. Sie trat vor den FĂŒrstenthron in dem Jonathan, der Sohn des FĂŒrsten, saß, und vollzog einen damenhaften Knicks, um dem Erbprinzen ihre Ehrerbietung zu beweisen. “Was kann ich fĂŒr Euch tun?”, fragte er. “Ist Euer Vater zu sprechen, Eure Lordschaft?”, fragte sie respektvoll. “Wie ich sehe, vermag es Euer vorlauter Mund auch freundliche Worte zu finden.” Er mĂŒsste auf ihr Verhalten bei der Treibjagd anspielen. Er lehnte sich zur rechten Seite und stĂŒtzte das Gewicht seines Oberkörpers auf den Ellenbogen. “Mein Vater ist zur Zeit unpĂ€sslich. Doch es sei Euch gestattet, mir an seiner statt Eurer Anliegen vorzutragen.” “Habt Ihr schon vom Angriff auf die Forstwirtschaft gehört, Hoheit?” “Berichte dieses
 Ereignisses erreichten bereits mein Ohr. Es ist gar abscheulich, wie die Bestie wĂŒtete.” “Ich fand einen Pfotenabdruck. Er war riesig groß. Kein Wolf wĂŒrde solch Spuren hinterlassen. Bitte, ruft eine weitere Treibjagd aus, bevor die Kreatur wieder tötet.” “Riesige AbdrĂŒcke? Habt Ihr ĂŒber den Durst geschĂ€pselt, Weib?” “Ihr glaubt mir nicht?” “NatĂŒrlich nicht! Solch ein Humbug passt auf keine Kuhhaut! Geht, und bindet einem der JĂ€ger diesen BĂ€ren auf. BĂ€renpfoten sind doch grĂ¶ĂŸer als die eines Wolfs.” “Ich bitte Euch.” “Papperlapapp!” Jonathan lehnte sich von der einen Seite zur anderen und deutete mit der Hand an, dass Nebula den Thronsaal verlassen soll. “Und nun, schleicht Euch!” “Das ist unverantwortlich!”, klagte die Söldnerin. Doch der Erbprinz schenkte ihr keine weitere Beachtung. WĂ€chter kamen und machten Anstalten, sie mit Gewalt zu entfernen, wenn es denn sein mĂŒsse. “Ist ja schon gut!”, sagte Nebula und verließ den FĂŒrstensitz. Noch auf dem gepflasterten Weg im Garten des Anwesens stieg die Wut in ihr auf und ihre Augen wechselten kurz die Farbe. “Na schön!”, schnaubte sie. “Wenn Ihr mir nicht helfen wollt, findet sich ein anderer.” Keiner der JĂ€ger wollte sie begleiten und das geltende Jagdrecht fĂŒr sie missachten. Nur die Herrscher dĂŒrften zur Jagd blasen oder JĂ€gern den Abschuss gestatten. TĂŒr an TĂŒr wurde zugeschlagen, als sie ihr Anliegen vortrug. Wohl auch, weil sie ihr das große Mundwerk vor und den Erfolg bei der Treibjagd ĂŒbel nahmen. “Feige Hunde!”, fluchte sie. Jetzt blieb ihr nur noch eine Alternative: Der schweigsame JĂ€ger und seine Geheimnisse. Seine Hilfe hoffte sie nicht in Anspruch nehmen zu mĂŒssen. Er war ihr suspekt. Aber wenn er ihr nicht half, dann wusste sie auch nicht weiter. Zwar war sie ein wenig bewandert in der Jagdkunst, doch einem echten Waidmann konnte sie dennoch nicht das Wasser reichen. Sie hoffte, Clay könnte die Spuren besser deuten. Als sie endlich das Haus des einsamen JĂ€gers erreichte, war die Nacht bereits hereingebrochen. Der Mond stand vollstĂ€ndig am Himmel und erhellte die Finsternis. Man konnte außergewöhnlich gut sehen. In der HĂŒtte brannte kein Licht. Alles wirkte verlassen. Der Schimmel war unruhig in seinem Stall und zerrte an dem Strick, mit dem er angebunden war. Etwas verstörte ihn. Tiere spĂŒrten die Gefahr stets vor dem Menschen. Nebula trat an das Tier heran und streichelte es. “Was hast du denn?”, fragte sie, als ob es antworten könnte. “Ruhig.” Aber das Pferd beruhigte sich nicht. Im Gegenteil. Es stellte sich auf die Hinterhufe und trat nach ihr. Seine Instinkte sagten dem Tier, das es die Flucht ergreifen soll. Sie konnte noch rechtzeitig ausweichen und entschied, dass es zu gefĂ€hrlich war, dem Tier zu nahe zu kommen. Stattdessen ging sie zur JagdhĂŒtte und machte sich an der TĂŒr zu schaffen. Sie stellte fest, dass sie nicht abgeschlossen war. Im Inneren herrschte Totenstille. Sie sah eine Öllampe im einfallenden Mondlicht und entzĂŒndete sie. Ihr Schein bestĂ€tigte, das niemand anwesend war. Nebula sah sich weiter in der HĂŒtte um. Hinten in einer Ecke, ziemlich verborgen, fand sie ein merkwĂŒrdiges Brett, halb mit Stroh bedeckt. Sie entfernte das vertrocknete Material und das Brett entpuppte sich als FalltĂŒr in einen Keller mit WĂ€nden aus massivem Stein. Sie stellte die Lampe ab und sprang in das dunkle Loch. Hinab ins Ungewisse. “Was tut ihr hier?!”, fragte eine erboste Stimme. Nebula sah in die Richtung, aus der sie kam. Von einem Fenster direkt unter der Decke fiel das Mondlicht ein und brachte die schwarzen Haare des JĂ€gers zum GlĂ€nzen. Clay saß halb nackt auf dem Boden, seine Handgelenke und Knöchel in viel zu große Schellen gehĂŒllt. Die Fesseln waren mit dicken Ketten an der Wand befestigt. Nebula starrte den JĂ€ger an. “Lebt Ihr gerade einen Fetisch aus?”, fragte sie trocken. “Raus!”, war die einzige Antwort, die sie erhielt. “Nein! Erst sagt Ihr mir, was hier gespielt wird!” “Ich hab gesagt, Ihr-” Er stoppte mitten im Satz, als eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper fuhr. Er begann sich zu winden und seine Haut lief rot an vor Anstrengung. “Was ist mit Euch?!” “RAUS!!”, wiederholte der JĂ€ger fordernd, so laut es seine schmerzentstellte Stimme zuließ. Seine Muskeln schwollen an und aus der Haut wuchsen schwarze Haare. Unter Qualen verformten sich Kopf und HĂ€nde. Eine Schnauze bildete sich, Krallen wuchsen und die Behaarung verdichtete sich. Bis aus Clay ein Wesen wurde, das mehr Tier als Mensch war. Die Kreatur fletschte mit den ZĂ€hnen. Speichel tropfte in SturzbĂ€chen. Die Schellen an den Gelenken saßen inzwischen fest wie angegossen, nachdem das Volumen seiner Glieder zugenommen hatte. Die Bestie rĂŒttelte an ihren Ketten. Staub löste sich an den Haken, mit denen sie in die Wand getrieben waren. Nebula ging einen Schritt zurĂŒck. Unterdessen zerrte Clay mit immer mehr Gewalt an seinen Fesseln. Die PrĂ€senz des Vollmondes raubte ihm den Verstand. Der Hunger eines Raubtieres plagte ihn. Seine Augen glĂŒhten vor Wahnsinn. Er roch nur noch das frische Fleisch seiner Beute. Das zarte, aromatische und frische Fleisch der Frau, die ihm gerade gegenĂŒberstand. Nach und nach lösten sich die Bolzen der Halterungen. Bis er die Freiheit erlangte und ihn nichts mehr daran hinderte, auf seine Beute los zu stĂŒrmen und seine ZĂ€hne in sie zu schlagen. Kapitel 7: Lupus Sanginue ------------------------- 🌱 Henrik lag auf dem Bett und kĂ€mpfte noch immer mit dem Schock. Den Anblick des blutĂŒberströmten MĂ€dchens konnte er nur schwer verdauen. Plötzlich klopfte es an der TĂŒr. “Nein!”, rief er. Doch das Klopfen hörte nicht auf. Henrik wollte allein sein. Also stand er auf, um den Klopfer zum Schweigen zu bringen. Es wurde schon dunkel. Wer konnte um diese Zeit etwas von ihm wollen? Er schloss die TĂŒr auf und Annemarie kam ungefragt hinein gestĂŒrmt, noch bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. Sie setzte sich auf sein Bett. “W-Was willst du hier?!” fragte er, halb gereizt und halb aufgelöst. “Und w-wieso bist du noch wach?” “Ich kann nicht schlafen”, antwortete die Kleine. “U-Und da s-soll ich helfen?” “Nein, ich will DIR helfen.” “Kein I-Interesse!” “Du weißt doch, ich kann Dinge sehen. Ich dachte, wenn wir dahin gehen, wo es passiert ist, bekomme ich vielleicht eine Vision. Und das hilft vielleicht.” “Funktioniert das nicht nur bei HĂ€nden?” Annemarie zuckte mit den Schultern. “Versuchen kann man es doch.” “Frag doch lieber N-Nebula.” “Ne, ich frage dich!” “Das ist viel zu g-ge-gefĂ€hrlich!” “Feigling! Feigling!”, stichelte die Kleine. Henrik versuchte, sie von seinem Bett herunterzuziehen, in der Hoffnung, er könne wieder in den Laken versinken. Sein Ziel: Sie aus dem Zimmer buchsieren. Er war wirklich nicht dazu aufgelegt, mit dem Kind auf Monsterjagd zu gehen. Die Kleine gab nicht nach. Bald schon zerrte sie an ihm, satt er an ihr. “Mach schon!”, versuchte sie, ihn zum Mitkommen zu bewegen. Letztlich ergab er sich ihrem DrĂ€ngen und lenkte ein. “Na schön! Wir gehen!” Denn Schlaf finden konnte er auch nicht. In Faringart gab es keine Torwachen, so wie in Henriks Heimatstadt BĂ€renhag. Er und Annemarie mussten sich einzig vor den Patrouillen der NachtwĂ€chter in Acht nehmen, welche mit Laternen bewaffnet durch die Straßen zogen und stĂŒndlich in unverstĂ€ndlichem Dialekt die Uhrzeit ausriefen. Sie schafften es mit MĂŒhe und Not, die Wachen zu umgehen und machten sich auf den Weg. Mitten in der Nacht erreichten sie, was von der Forstwirtschaft ĂŒbrig war. Sie gingen an den aneinander aufgereihten, frischen GrĂ€bern der Bewohner vorbei, welche Henrik Stunden zuvor half auszuheben. Provisorische Holzkreuze zierten die hastig aufgeschĂŒtteten GrabhĂŒgel. Henrik konnte nicht einmal hinsehen. Er schĂŒttelte seinen Kopf in der Hoffnung, das Bild der sterbenden Henrike wĂŒrde hinaus purzeln und er mĂŒsse es nicht lĂ€nger ertragen. Henrik fĂŒhrte Annemarie zum Pfotenabdruck. “D-Den Abdruck haben wir gefunden”, sagte er und zeigte mit dem Finger darauf. Die Kleine hockte sich vor der Spur hin. Beobachtete, wie sich das Mondlicht in dem feuchten Schlamm spiegelte. Begeistert zog es sie in ihren Bann. “W-Wolltest du nicht irgendetwas finden?”, drĂ€ngelte der Schmied. Er fĂŒrchtete, dass das Monster jeden Moment auftauchen könnte. Das MĂ€dchen fasste in den Schlamm und hatte prompt eine Vision. “Was siehst du?” “Da ist ein Mann, der wird zum Wolf” “Blödsinn! Das gibt es doch gar nicht!” Annemarie schmollte. Sie ballte die HĂ€nde zu fĂ€usten und streckte die Arme vom Körper weg. “Wenn du mir nicht glaubst, dann gehe ich eben allein!” Dann stapfte sie demonstrativ in den Wald hinein. “Mo-Moment, wo willst du hin?” Henrik entschied, ihr besser zu folgen. Er fĂŒrchtete, sie könnte der Kreatur in die Pranken laufen. Sie durchquerten den Wald und erreichten eine weitere Lichtung. Der Boden war durchzogen von silbrig glĂ€nzenden Adern. Henrik musste feststellen, dass sie sich immer weiter von bekannten Pfaden entfernten. “Du, wir s-sollten wirklich umkehren”, empfahl das braunhaarige NervenbĂŒndel besorgt. “Nö!”, verweigerte sich das Kind. “Aber-” Ein Wolfsheulen schnitt ihm das Wort ab. “Da kommt er!”, kĂŒndigte Annemarie an. “Was, du hast uns zum Monster gefĂŒhrt?!” “Hab ich doch gesagt!” Plötzlich brach ein grauer Schatten aus dem Wald gegenĂŒber den beiden aus. Eine Kreatur, wie eine Mischung aus Mensch und Wolf. “Das gibt’s doch nicht!”, graute es Henrik. Bis ihm klar wurde, dass er lieber weglaufen sollte. Er packte Annemarie und zerrte sie mit sich. Der Werwolf musste sie bereits als seine Beute gewittert und ihre hektischen Fluchtversuche ausgemacht haben. Er rannte auf allen Vieren auf sie zu. In der Dunkelheit ĂŒbersah Henrik einen Stein und stĂŒrzte. Dabei riss er die Kleine mit sich zu Boden. “Hey!”, beschwerte sich Annemarie. Die Bestie war nur noch dreißig Meter entfernt. Bald wĂŒrde sie sie zerfleischen. Annemarie hielt noch immer Henriks Hand. “Der Boden”, sagte sie. “Was ist damit?”, fragte Henrik unter Stress. “Ich habe es gesehen. Du musst ihn benutzen.” “B-Benutzen?” WĂ€hrend er noch ĂŒberlegte, kam der Tod mit Riesenschritten unaufhaltsam nĂ€her. Henrik sah sich die Adern im Stein genau an. Es musste sich um ein natĂŒrliches Vorkommen von Silber oder einem Ă€hnlichen Edelmetall handeln. “Bitte funktioniere!” Kurz bevor sie der Werwolf erreichte, ließ Henrik Annemarie los und schlug mit beiden HandflĂ€chen auf den Boden. Ein greller Blitz erhellte die Nacht, wie jener damals in Greymores Arena. Das GerĂ€usch von aufgespießten Fleisch erfĂŒllte die Luft, begleitet von einem erbĂ€rmlichen Jaulen. Henrik sah auf und traute seinen Augen nicht. Vor seinen HĂ€nden ragten mehrere silberne, scharfe Spitzen empor. Zwei von ihnen hatten die Bestie getroffen. Eine durchstieß die Schulter, die andere den Oberschenkel. Dampf trat aus den Wunden empor, als wĂŒrde das Edelmetall das Untier verbrennen. Unter Schmerzen war die Kreatur bestrebt, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Der Werwolf umfasste das Silber. Auch von den InnenflĂ€chen seiner Pranke stieg Rauch auf. Als er sie zerbrochen und aus dem Fleisch gezogen hatte, ergriff er sichtlich verstört die Flucht. “W-War ich das?” Henrik betrachtete seine HĂ€nde. “W-Woher wusstest du das?” “Ich hab deine rechte Hand gelesen, als wir gerannt sind.” “Das hast du ohne hinzusehen gelesen?” “Deine Lebenslinien haben es mir verraten. Alles was man schmieden kann, beugt sich deinem Willen. Das habe ich dir gesagt!” Henrik erhob sich und ergriff eine der aus dem Boden ragenden Spitzen. Sie war brĂŒchig und weich, wie man es von Silber kannte. Aus diesem Grund stellte niemand Waffen aus reinem Silber her. Eine Legierung wĂ€re vielleicht stabil genug, brĂ€uchte jedoch noch immer einen harten Kern aus Eisen oder Stahl und sie mĂŒsste oft erneuert werden. Als er sein Werk weiter befĂŒhlte, bemerkte er, dass er sich in seinen Gedanken verlor. Auf einmal kniff er die Augen zusammen und verzog den Mund. Annemarie sah ihn verwundert an. “Musst du mal?”, fragte sie. “N-Nein. Ich versuche, sie zu v-verformen”, erklĂ€rte er sich. “O, da passiert aber nix.” “Es b-beugt sich wohl nur, wenn es Lust dazu hat.” Henrik schnappte Annemaries Hand. “Wir sollten hier verschwinden. Wer weiß, ob das M-Mo-Monster zurĂŒck kommt.” Gemeinsam rannten sie zurĂŒck nach Faringart, wĂ€hrend der graue Werwolf tief im Wald seine Wunden leckte. 🌱 Ein Sonnenstrahl drang durch das Kellerfenster ein und verriet den angebrochenen Morgen. Das Licht fiel auf den am Boden liegenden Clay, mĂŒhte sich, ihn wach zu kitzeln. Bis zu diesem Moment, ohne Erfolg. Er hatte zwar seine menschliche Gestalt angenommen, war aber noch nicht wieder aufgewacht. Ein obszön lautes GerĂ€usch erfĂŒllte das steinerne Kellergeschoss. Die Finger an Clays auf dem RĂŒcken fixierten HĂ€nden zuckten und er schlug seine Augen auf. Was die Sonne nicht vermochte, vollbrachte dieser Krach. Verwirrung hatte sich in ihm breit gemacht, wie es nach jeder Vollmondnacht der Fall war. Behutsam setzte er sich auf und bemerkte, dass er sich in der Mitte des Raumes befand. Der Blick noch getrĂŒbt, konnte er nicht in die Ferne schauen. Er erinnerte sich, dass er sich selbst gefesselt hatte. Die Schellen schlangen sich zwar noch immer um seine Gelenke, doch ihre Enden waren nicht mehr an der Wand befestigt. Überrascht musste er feststellen, dass sie verknotet waren. Clay sah sich um, als sein verschwommenes Sichtfeld klarer wurde, und entdeckte Nebula in einer Ecke lehnend. Sie riss den Mund auf und Clay erkannte, das der abscheuliche Krach, der ihn geweckt hatte, ihr lautes Schnarchen war. “Hey, wacht auf!”, rief er der schlafenden Schönheit zu. Nebula sah gĂ€hnend auf. “Ihr seid aufgewacht”, stellte sie fest. “Euer Organ ist nicht zu ĂŒberhören.” “Das sagen meine Begleiter auch immer...” Clay streifte die viel zu großen Schellen von Armen und Beinen ab. “Was war letzte Nacht?”, fragte die Blondine. “Ihr habt ganz schön zugebissen.” Sie fasste sich in den Nacken, wo ein Teil ihrer Kleidung fehlte. Clay wurde umgehend kreidebleich. “Ich habe Euch gebissen?!”, fragte er fassungslos. “Wie kann es dann sein, das Ihr nicht tot seid? Der Biss verwandelt einen Mann in einen Werwolf. Aber eine Frau bringt er einfach nur um. Darum gibt es auch keine weiblichen Werwölfe.” Seinen Blick kurz abwendend, fĂŒgte er hinzu: “Oder zumindest sollte es die nicht geben.” Was er wohl damit meinte? “Nun, Euer Biss ist anstandslos verheilt.” Sie prĂ€sentierte ihr im Nacken zerrissenes Oberteil. Darunter war nicht ein Kratzer zu erkennen. “Heißt das, ich bin
” Der JĂ€gersmann gab ein gequĂ€ltes Lachen von sich. “Nein. Das hĂ€ttet Ihr bemerkt! Der ersten Verwandlung geht eine lange und schwere Infektion voraus. Das ist es wohl auch, das weibliche Opfer normalerweise tötet.” Nebula schwieg daraufhin andĂ€chtig. “Wie kann es sein, das Ihr nicht gestorben seid?” “Vielleicht, weil ich selbst ein Monster bin.” Sie zeigte ihm das rote GlĂŒhen ihrer Augen. Entsetzt starrte sie der JĂ€ger an. Zwar wusste er, wie der Wahn die Augen eines Wolfes zum GlĂŒhen bringen konnte, aber das hatte er auch noch nicht gesehen! “Ich weiß, wie Ihr Euch fĂŒhlt. Die Kontrolle zu verlieren und dann Dinge zu tun, die man nicht entschuldigen kann, ist mir sehr wohl auch bekannt.” Dann setzte sie ein gezwungenes LĂ€cheln auf. “Außerdem wart Ihr ĂŒberraschend leicht zu besiegen.” “Deshalb seid Ihr wohl auch eingeschlafen.” Der lustigen Aussage folgte sofort ein ernster Ton. “Ihr hĂ€ttet mich dennoch töten sollen. Von uns beiden, bin ich mit Abstand das abscheulichere Monster.” “Ihr lebt in Einsamkeit und meidet die Menschen. Mehr kann man nicht erwarten.” “Dennoch sind mir bereits Menschen zum Opfer gefallen.” Nebula horchte auf. “Bevor ich nach Faringart kam, hatte ich alles, was sich ein Mann wĂŒnschen kann. Eine liebende Frau, einen mutigen Sohn und eine schöne Tochter. Eines Nachts
” Er pausierte - musste wohl die Worte finden. “...ĂŒberfiel mich ein weißer Werwolf und biss mich. Irgendwie ĂŒberlebte ich. In der darauffolgenden Vollmondnacht verlor ich das erste Mal die Kontrolle und habe jene gejagt und gefressen, die mir alles bedeutet haben!” “Ihr habt Eure Familie angegriffen?” Clay senkte den Kopf und bejahte stillschweigend. Nebula dachte zurĂŒck an den Tag, als sie im Palast die Kontrolle verlor. Die Leben, die sie in dieser Nacht genommen hatte. ”Ihr wart nicht bei Verstand. Euch trifft keine Schuld.” “Aber sie sind dennoch alle tot! Ich habe am nĂ€chsten Morgen mit eigenen Augen gesehen, was der Biss meiner Frau angetan hat.” FĂŒr eine Weile erfĂŒllte die Stille den Kellerraum. “Nach meiner Tat musste ich fliehen. Eines Tages erreichte ich Faringart mit nichts außer meinem Bogen. Meine Bestiensinne erlaubten es mir, als JĂ€ger ein neues Leben aufzubauen.” “Jetzt ist aber mal Schluss mit dem ganzen Selbstmitleid!”, unterbrach ihn Nebula. “Da wird man ganz depressiv von. Ich bin nicht hergekommen, um Euch jammern zu hören! Ich brauche Eure Hilfe! Ich suche ein richtiges Monster. Das ist Eure Gelegenheit, Buße zu tun!” Nebulas Worte waren harsch. Aber Clay kĂŒmmerte das nicht. Etwas an ihrem Geruch war ihm so vertraut und dennoch Ă€ngstigte es ihn zutiefst. War es ihre dĂ€monische HĂ€lfte? Er war nicht imstande, es einzuordnen. GefĂ€hrliche Neugier erfasste ihn. “Was verlangt Ihr von mir?” “Ich wollte Euch als FĂ€hrtenleser. Doch als Werwolf könnt Ihr mir viel nĂŒtzlicher sein. Ihr vermögt es wahrscheinlich, den anderen direkt zu wittern.” Nebula spĂŒrte, wie die Lebensgeister in den Mann zurĂŒckkehren. Sie interpretierte es so, dass er das GefĂŒhl hatte, gebraucht zu werden. Also setzte sie noch einen oben drauf. “Hört auf zu jammern und fĂŒhrt mich zu seinem Versteck, damit ich ihm die Kerze löschen kann!” Henrik war frĂŒh am Morgen in die KĂŒche gegangen, um sich Material zum Üben zu beschaffen. Mit der Unterseite seines Oberteils nach oben gebogen, floh er aus der leeren KĂŒche des Gasthofes. Bei jedem Schritt klirrte und klang es. Er eilte sich auf sein Zimmer zu gelangen, bevor ihn jemand erwischte. Er verschwand in seinem Raum und stieß die TĂŒr mit dem Fuß hinter sich zu. “Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich gemacht habe!”, sprach er zu sich selbst. Schnell entleerte er den Inhalt des gefalteten Oberteils auf dem Bett. Messer, Gabeln und Löffel purzelten heraus und fielen auf die Decke. Henrik schwebte etwas fĂŒr das entwendete Essbesteck vor. Er hockte sich auf den Boden vor dem Bett und ergriff einen Löffel. Ich habe echt einen Sockenschuss, dachte er. Er hielt den Löffel auf Abstand und erhob ihn mit gebeugtem Arm auf Augenhöhe. Seine Augen fixierten das archaische eiserne EssgerĂ€t und ließen nicht mehr von ihm ab. Henrik konzentrierte sich mit aller Macht auf den Suppenaufnehmer in seiner Hand. Jeden Moment wĂŒrde es passieren. Etwas musste passieren! Doch passierte nichts. Der Löffel blieb das, was er war. Ein Löffel. EnttĂ€uscht ließ Henrik seinen Arm fallen, ohne das Besteck dabei loszulassen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?, tadelte er sich selbst. Plötzlich fĂŒhlte er eine fremde Bewegung in seiner Hand. Er fĂŒhrte das EssgerĂ€t erneut vor seine Augen und musste feststellen, dass es seine Funktion völlig verĂ€ndert hatte. Nun war es eine Gabel. UnglĂ€ubig ließ er sie fallen und ergriff eines der Messer. WĂ€hrend er es anstarrte, bog es sich nach hinten, als versuche es, vor seinem Blick zu fliehen. Das konnte nur zwei Dinge bedeuten. Entweder war Henrik der grĂ¶ĂŸte Illusionist seiner Zeit oder Metall beugte sich tatsĂ€chlich seinem Willen. Clay konnte das Blut seiner Beute wittern. Er fĂŒhrte Nebula zu dem Ort, an dem Stunden zuvor das Leben ihrer Begleiter auf dem Spiel stand. Aber das war ihnen nicht klar. Sie wussten beide nichts mit den seltsamen Silberformationen anzufangen, wie sie aus dem Boden sprossen, als seien sie wie ein Pflanze gewachsen. “Was ist das?”, fragte Nebula, als sie einen der silbernen Stalagmiten berĂŒhrte. “Ich weiß es nicht”, antwortete Clay. “Ich weiß nur, dass das Blut des Wolfes an ihnen haftet.” Er deutete auf die abgebrochenen Spitzen auf dem Boden, welche mit einer rotbraunen verkrusteten Patina ĂŒberzogen schienen. Nebula bemerkte, dass er einen Sicherheitsabstand zu den Gebilden zu halten versuchte, als ĂŒbertrugen sie die Pest. “Wenn Ihr nĂ€her ran kĂ€mt, könntet Ihr mehr sehen.” “Ich kann nicht! Das ist Silber!” “Mögt Ihr keine Edelmetalle?”, scherzte Nebula, obwohl ihr die alten Legenden sehr wohl bekannt waren. “Silber wirkt toxisch auf Werwölfe”, begann Clay zu erklĂ€ren, da er glaubte, sie wisse es nicht. “Es verbrennt unsere Haut und vergiftet unser Blut.” “Ich weiß. Ich wollte Euch erheitern.” Clay hielt seine Nase in den Wind. Die FĂ€hrte des anderen Werwolfs wurde nun immer klarer. Doch er konnte noch mehr riechen. Angstschweiß. “Hier hat jemand gegen den Werwolf gekĂ€mpft... und sich fast dabei in die Hosen gemacht.” “Das tut mir Leid ... fĂŒr Eure Nase”, scherzte Nebula. “Wer auch immer das war, hat den Wolf in die Flucht geschlagen.” “Das könnt Ihr alles riechen? Hat das vielleicht mit diesem Silber zu tun?” Nebula dachte unweigerlich an Henrik, hatte dieser immerhin ein zerbrochenes Schwert mit bloßen HĂ€nden zusammengefĂŒgt. Da schien es nicht so abwegig, dass diese Gebilde sein Werk waren. “Ich bringe ihn um!” “Den Wolf?” “Nein, Henrik!” Sie ballte die Hand zur Faust. “Wer ist das?” “Ein Trottel! Wie kann er sich nur so in Gefahr begeben und auf eigene Faust auf Monsterjagd gehen?” “Ihr meint, er hat den Wolf verfolgt und dabei dies hier vollbracht? Mir scheint, wer auch immer dieser Henrik ist, muss sehr mĂ€chtig sein.” “W-W-Was?”, Nebula begann zu kichern. “Alles nur das nicht! Ein Idiot ist er!” “FĂŒr Euch ist er mehr als nur das, habe ich Recht?” “Ja, ein Riesenidiot!” Nebula setzte sich wĂŒtend in Bewegung. “Jetzt lasst uns keine weitere Zeit mit dummen GeschwĂ€tz verlieren und zeigt mir, wo dieser Werwolf sein Versteck hat!” Sie folgten der FĂ€hrte ĂŒber die Lichtung und wieder hinein in den Wald. Hoch im GeĂ€st saß ein Schatten in schwarzer Kleidung. Dunkle Handschuhe spannten eine Armbrust. Das eingefĂŒgte Projektil war vollkommen mit einer Legierung ĂŒberzogen, welche einen hohen Silberanteil aufwies. Ein Geschoss, wie geschaffen fĂŒr die Jagd nach Lykantrophen. Die Waffe wurde von ihrem TrĂ€ger auf die linke Armbeuge gelegt und an der rechten Schulter angelehnt. Durch dichte HaarstrĂ€hnen hindurch schauten die Augen eines Killers auf der Suche nach einem Ziel. Erneut ragte die Nase des JĂ€gers hinauf in die Luft. Der typische Geruch des Waldes erfĂŒllte Clays Riechorgan. Im SĂŒden, in etwa zweihundert Meter Entfernung, befand sich eine Rehmutter mit ihrem Jungen. Im Westen durchstreifte eine Rotte halbstarker ÜberlĂ€ufer den Forst, auf der Suche nach Fressbarem. Auf einem Baum im Westen schlief eine vollgefressene Wildkatze. Die Maus mundete ihr bestimmt vorzĂŒglich. Doch mittendrin war der Gestank der Abscheulichkeit. Clay und Nebula folgten der FĂ€hrte. Plötzlich zuckte das Ohr des Waidmanns unter dem GerĂ€usch einer herranschnellenden Bedrohung. Sofort warf sich der Mann auf seine schöne Begleitung, um sie zu schĂŒtzen. “Hey, was soll das?!”, beklagte sich Nebula, als er sie zu Boden riss. Im nĂ€chsten Moment schlug ein Bolzen im Baum neben ihnen ein. “Wir werden angegriffen!”, erklĂ€rte sich Clay. “Ja, offensichtlich!” Nebula drĂŒckte den schweren Mann von sich. “Runter von mir! Ich kann selbst auf mich aufpassen!” Sie sah zu dem Projektil, welches nur noch zur HĂ€lfte aus dem Stamm herausragt. “Außerdem galt dieser Anschlag sowieso Euch.” Clay erkannte, aus welchem Material der Bolzen gefertigt war, und stimmte ihr zu. Er nahm seinen Bogen, den er ĂŒber der Schulter trug, und legte einen Pfeil aus dem Köcher an. Nebula streckte ihren Arm aus. “Verfehle niemals dein Ziel, Gastraphetes!” Es bestand kein Grund mehr, es lĂ€nger zu verheimlichen. In seiner stoischen Gelassenheit nahm Clay es augenscheinlich hin, dass diese Frau eine Waffe offenbar aus dem Nichts herbeirufen konnte. Aber seine Instinkte rieten ihm zu Ă€ußerster Vorsicht mit diesem Weibsbild. “Wenn er sich zeigt, ist er tot!”, sagte Nebula selbstsicher. “Gastraphetes, Nachladen!” Die Teufelswaffe lud und spannte sich von selbst. Nebula legte die Waffe an und wartete auf eine Gelegenheit, sie einzusetzen. Clays feiner Geruchssinn trat erneut in Aktion. Zwischen all den GerĂŒchen war noch etwas anderes. Eine sanfte feminine Duftnote flutete seine Nebenhöhlen. “Nicht er wird tot sein”, sagte er, “sondern sie. Die uns angreift, ist eine Frau. Ich kann sie riechen.” Er nahm noch einen tiefen Atemzug. Der Duft der Frau, die ihn töten wollte, betörte ihn. Er inhalierte ihn wie KrĂ€uterbalsam. “Sie ist gerade in ihren fruchtbaren Tagen.” “Eure tierischen Sinne sind zutiefst beeindruckend!” Insgeheim dachte Nebula, dass er sich auffĂŒhrte, wie ein RĂŒde, der einer lĂ€ufigen HĂŒndin nachstellte. Ein GerĂ€usch versetzte Clays Ohr erneut ins Zucken. “Achtung!” Nebula reagierte sofort und feuerte das Gastraphetes ab. Sein Bolzen und der der Fremden Armbrust stießen mitten im Flug genau aufeinander und prallten voneinander ab. “Eure Schießkunst beeindruckt mich immer wieder!”, staunte der JĂ€ger. “Das ist die besondere FĂ€higkeit dieser Waffe. Solange ich ein Ziel habe, trifft sie. Einen Bolzen im Flug könnte ich auch nicht treffen. Könnt Ihr mir sagen, wo das MiststĂŒck ist?” “Sie muss irgendwo dort hinten sein.” Er deutete nur mit den Augen auf eine dichte Baumgruppe, die von BĂŒschen flankiert wurde. “Sie bleibt in sicherer Entfernung, sodass ich ihr Herz nicht schlagen hören und ihre Position nicht genau bestimmen kann.” “Also weiß sie auch um die FĂ€higkeiten eines Werwolfs Bescheid." “Davon mĂŒssen wir ausgehen.” MordlĂŒsternes Grinsen verzerrte Nebulas Gesicht. “Na wollen wir mal sehen, ob wir sie nicht herauslocken können!” Sie streckte erneut den Arm zur Seite weg. “ErschĂŒttere die Grundfesten der Welt, Quake!” Nach der Anrufung tauschte die Armbrust den Platz mit einem Schwert. Ein absurd großes, wie Clay meinte. Nebula hob die Waffe mit Leichtigkeit an und der Unterkiefer Clays senkte sich mit steigender Gradzahl des aufgespannten Höhenwinkels weiter zu Boden. Wie konnte diese kleine Frau, die ihm kaum bis zum Kinn ragte, eine so gewaltige Waffe heben? Nebula ließ die Klinge in Richtung der BĂ€ume zu Boden schnellen. “Erdrutsch!” Ein Graben riss auf und setzte sich bis zu der Baumgruppe fort. Die Pflanzen verloren ihren Halt und kippten zur Seite um. Eine feminine Gestalt sprang mit wehenden Haaren und Umhang aus ihrem Versteck auf den Boden und eilte sich ein neues zu finden. Clay spannte seinen Bogen und schoss. Der Pfeil bohrte sich in der Höhe in einen der nicht umgestĂŒrzten BĂ€ume, in der einen Moment zuvor noch der Kopf der Fremden war. Hinter einem dicken Stamm suchte die AttentĂ€terin Schutz und sah auf den letzten verbliebenen Silberbolzen in ihrem Besitz. In dieser Situation war ein Angriff aussichtslos. Gegen einen Werwolf und einen Waffenmeister zugleich, konnte sie nicht gewinnen. Hier wĂŒrde sie nichts finden, außer den Tod. Darum beschloss sie, sich zurĂŒckzuziehen, verstaute den Bolzen und suchte nach einem sicheren Fluchtweg. Auf dem Boden war sie fĂŒr zwei Gegner mit Fernwaffen zu verwundbar. Mit Hilfe ihrer Handschuhe, deren Fingerkuppen mit Krallen bewehrt waren, kletterte sie den Stamm des Baumes hinauf und nutzte das Blattwerk, um im Schutz des GeĂ€st zu entkommen. Clay schnĂŒffelte, aber konnte ihre AusdĂŒnstungen nicht mehr riechen. “Sie ist weg”, verkĂŒndete er. Schade, fĂŒgte er in Gedanken an. Insgeheim hoffte er, der Besitzerin dieses wundervollen Duftes eines Tages von Angesicht zu Angesicht gegenĂŒberzustehen. Nebula entspannte sich und Quake verschwand. Der FĂ€hrte des Monsters zu folgen, nahm eine weitere Viertelstunde in Anspruch. Der Geruch fĂŒhrte Clay und Nebula zu einem Felsvorsprung mit einer kleinen Höhle. Das einfallende Licht verlor sich rasch im finsteren Loch. Der Boden vor der Höhle war weich und feucht und Spuren von Mensch und Tier hatten sich in ihm verewigt. “Sind wir hier richtig?”, fragte Nebula. “Meine Nase irrt sich niemals”, versicherte Clay. “Oder ist es nicht wahr, dass Ihr gerade eure Periode habt, MĂ€dchen?” Nebula ĂŒberkam eine Mischung aus zorniger Erregung und quĂ€lendem Scham. Sie lief rot an und wandte sich von Clay ab. “W-Was fĂ€llt Euch ein, Ihr P-Perversling!”, quĂ€kte sie beschĂ€mt. “Das ist meine PrivatsphĂ€re! Das geht Euch gar nichts an!” “Ha ha ha!” Das GelĂ€chter triggerte eine inbrĂŒnstige Wut in der Söldnerin. Nebula zog ihr Schwert und ließ es unter Clays Kinn ragen. “Genug ist genug!” Feuriges Rot brannte in ihren Iriden. “Sachte, sachte!” Nebula steckte ihr Schwert zurĂŒck an ihren Bund. “Spart Euch das einfach!” Sie ließ ihre Blicke in das finstere Loch in der Felswand vor ihnen schweifen. “Dort ist der Werwolf also drin... Ein GlĂŒck, dass wir Fackeln mitgenommen haben.” Clay reichte ihr die Beleuchtungskörper. “WĂŒnscht Ihr meine Begleitung?” “Nein. Geht zurĂŒck nach Faringart. Falls die Höhle einen zweiten Ausgang hat und der Wolf die Stadt angreift, sollte jemand anwesend sein, der es mit ihm aufnehmen kann.” “Ich verstehe!” Clay begab sich eilig auf den RĂŒckweg. Nebulas skeptische Blicke folgten ihm. Etwas stank ihr an der Geschichte, die sie von ihm aufgetischt bekommen hatte. Sie wollte keinen zweiten Wolf im RĂŒcken haben, wenn sie drauf und dran war, einen zu jagen. 🌱 Auch mit der Macht des Bösen in den Venen, war Nebula im Dunkeln genauso blind wie jeder andere. Darum musste auch sie eine Fackel entzĂŒnden, bevor sie es wagen konnte, den Spuren zu folgen. Tief fĂŒhrten sie in die Finsternis hinein. Der Boden der Grotte war mit Matsch bedeckt. Ein Teil eines menschlichen Oberschenkels erinnerte sie daran, dass sie sich bei diesem UngetĂŒm wenigstens nicht zurĂŒckhalten musste. Es wĂŒrde die volle Macht ihres Arsenals zu spĂŒren bekommen, das hatte sie beschlossen. Je weiter sie eindrang, desto mehr abgenagte Überreste stachen aus dem Matsch hervor. Die WĂ€nde der Höhle verĂ€nderten ihre Beschaffenheit. Mehr und mehr wirkten sie, als wĂ€ren ihre Schöpfer nicht Zeit und Natur, sondern fleißige HĂ€nde gewesen. Die willkĂŒrlich anmutenden Formen des Ganges glichen sich stetig einem Quadrat an und in der Ferne erspĂ€hte Nebula ein Licht. Es fĂŒhrte sie in einen großen runden Raum. Hier waren die WĂ€nde mit Holz verkleidet und es schien, als gĂ€be es in etwa vier Metern Höhe einen Laufsteg mit einem GelĂ€nder. Die Verkleidung der Wand wies viele tiefe Kratzspuren auf. GegenĂŒber der Passage befand sich ein großes metallisches Gitter, welches möglicherweise zu einem weiteren Ausgang fĂŒhrte. An den Seiten gab es mehrere kleine Öffnungen, die ebenfalls vergittert waren. Nebula ging bis in die Mitte des Raumes und nahm ihn in Augenschein. Plötzlich vernahm sie hinter sich ein Schleifen, gefolgt von einem Knall. Sie wandte sich dem GerĂ€usch zu und musste feststellen, dass nun ein massives Eisengitter den Eingang versperrte, den sie just genommen hatte. “Willkommen im Zwinger!”, tönte eine Stimme von oben. Nebula sah sich auf der Suche nach ihrer Herkunft um. “Zeigt euch!”, forderte sie. “Aber wo wĂ€re dann der Spaß?” Die Gitter links und rechts von ihr hoben sich und mehrere Tiere, Kreuzungen zwischen Wolf und Hund - WolfsblĂŒter - betraten ZĂ€hne fletschend die Arena. “Ihr hĂ€ttet nicht hierher kommen sollen!” Knurrend zogen die Tiere ihre Kreise um ihre vermeintlich wehrlose Beute. Unterdessen erreichte Clay Faringart. Ein Halbstarker und ein MĂ€dchen kamen ihm entgegen, als er den Marktplatz betrat. Clay kannte die Beiden. Sie waren Nebulas Begleiter. HĂ€tte er sie nicht bereits zusammen gesehen, hĂ€tte er zumindest den Jungen an seinem Geruch erkannt. Er roch meilenweit nach Angst und Feigheit. Er war eindeutig dieser Henrik, von dem Nebula gesprochen hatte. Aber auch das MĂ€dchen wieß eine seltsame Duftnote auf. “Kann ich euch helfen?”, fragte der JĂ€ger. “Wir warten schon lange auf Nebula”, erklĂ€rte Henrik. “Wisst Ihr vielleicht wo sie ist.” “Ich kann euch nicht helfen”, log Clay, in der Hoffnung sie blieben in der Stadt. Das MĂ€dchen sah ihn fragend an. Es war fast, als durchschaue sie seine LĂŒge. Obendrein roch sie so merkwĂŒrdig. Nach Tinte und altem Pergament, statt nach Schweiß, Schlamm und Dreck, wie andere Kinder. Nicht dezent und schwach, sondern penetrant und aufdringlich. So viel konnte sie nimmer in dem Werk gelesen haben, welches sie stets mit sich fĂŒhrte. “Sag mal, wer - oder viel mehr was - bist du eigentlich?”, fragte er das Kind. “Ich?”, antwortete die Kleine. “Na die Annemarie.” So hatte er es nicht gemeint. “Du riechst nach Tinte.” “Ich lese gern.” Clay ĂŒberlegte, ob seine Phantasie ihm Streiche spielte. Aber ein vollkommen anderer Geruch beunruhigte ihn viel mehr, als dieser sich dazwischen mischte und alles andere unwichtig erscheinen ließ. Der abscheuliche Gestank des anderen Werwolfs. Selbst als Werbiest empfand Clay diesen Geruch als herausragend widerlich. Seine PrĂ€senz bedeutete, die Kreatur trieb in der NĂ€he der Stadt ihr Unwesen. “Entschuldigt mich”, sagte er und begab sich zurĂŒck zum Stadttor. Mehrere verĂ€ngstigte Leute rannten ihm schon von weitem entgegen. Das war keineswegs ein gutes Zeichen! Als der JĂ€ger das Tor erreichte, sah er den Grund fĂŒr die Angst der Bewohner: Mitten auf der Straße stand der Lykantroph. Seine Schulter, eine der Pranken und sein Bein von verheilten Brandwunden verziert, die er sich beim Kontakt mit dem Silber auf der Lichtung zugezogen haben musste. Regungslos starrte er auf die Stadt, als warte er noch auf seine Einladung zum großen Fressen. Wildes Bellen und Knurren erfĂŒllte die Höhle. Der Meister der Wolfshunde war sich seiner sicher und grinste zufrieden. Darauf trainiert Angst und Schrecken zu verbreiten, wĂŒrden seine Tiere genau das tun, was er von ihnen erwartete: Diese Frau in StĂŒcke reißen! Ein Rudel ausgehungerter Hunde mit dem Blut wilder Bestien in ihren Adern macht kurzen Prozess mit seiner Beute. Aber die aggressiven Laute schlugen schnell in klĂ€gliches Jaulen und Wimmern um. Nach und nach wurden sie weniger, bis sie endgĂŒltig verebbten. Das Grinsen hing dem Bestienmeister nun arg schief in der Visage. Er musste einen Blick in den Zwinger riskieren. Was er sah, schockierte ihn zutiefst. Überall war Blut. Doch es gehörte nicht der Frau, sondern seinen Wolfshunden. Jeder einzelne von ihnen lag zu Tode massakriert auf dem Boden. Einigen war der Kopf abgeschlagen worden. Andere hatten Gliedmaßen eingebĂŒĂŸt oder lagen aufgeschlitzt in einer Lache ihres eigenen Lebenssaftes. “AllmĂ€chtiger!”, stieß der Mann voller Entsetzen aus. “Falsche Adresse”, sprach es auf einmal hinter ihm. Mit einem krausen und irritierten Blick wandte er sich der Quelle zu und umklammerte dabei das GelĂ€nder hinter seinem RĂŒcken. Es war die Frau, die ihr Ende durch seine Hunde finden sollte. Stattdessen fand er sich nun mit der Spitze eines merkwĂŒrdigerweise völlig unbefleckten Schwertes konfrontiert, welches sie auf sein Gesicht richtete. Nebula hatte ihn bereits an seiner Stimme erkannt und war nicht ĂŒberrascht, als sie dem Meister der Hunde von Angesicht zu Angesicht gegenĂŒber stand. Der Mann am Ende ihrer ausgestreckten Waffe war kein Geringerer als Jonathan, der Sohn von FĂŒrst Georg. “Ihr werdet mir das hier erklĂ€ren!”, forderte die Söldnerin nach Antworten. “Was ist das fĂŒr ein Ort? Wieso waren die Hunde hier?” “Und Ihr glaubt, dass ich mich dazu erniedrige, Eure Fragen zu beantworten?” “Nun, wenn Ihr es vorzieht, in kleine feine Scheibchen geschnitten zu werden, anstatt mir ein paar Fragen zu beantworten, so will ich Euch diesen Wunsch gern erfĂŒllen!” Um ihre Drohung zu untermalen, stieß Nebula ihr Schwert nĂ€her an seinen Kopf heran und bremste erst um Haaresbreite vor Jonathans Auge ab. Jonathan hing an seinem Leben, weshalb er angesichts der DrohgebĂ€rden der Blondine einlenkte. ”Na schön! So sei es! Ich werde Euch alles erzĂ€hlen!” Er versuchte der Klinge auszuweichen und beugte sich dabei rĂŒcklings ĂŒber das GelĂ€nder. “Aber bitte, tötet mich nicht! Ich flehe Euch an!” Entschlossene MĂ€nner passierten den Eingang zur Stadt und Clay, welcher noch immer unbeweglich unter dem Torbogen stand und es vorzog, den grauen Werwolf mit finsteren Blicken in Schach zu halten. Gib mir den Jungen!, tönte eine Stimme im Kopf des JĂ€gers. Werwölfe waren in der Lage, telepathisch Kontakt mit ihresgleichen aufzunehmen. Sogleich verneinte Clay die Forderung. Nein, das werde ich nicht tun! Unterdessen umzingelten die anderen die Bedrohung und spannten ihre Bögen. Die Pfeile bohrten sich in das Fleisch des Monsters, schienen aber nicht die geringste Wirkung zu entfalten. Der Graue zog sie unbeeindruckt heraus und stĂŒrzte sich anschließend auf die JĂ€ger. Ein gewaltiger Hieb mit der Pranke warf einen von ihnen mit immenser Wucht um. Der Mann prallte auf den Boden, ohne sich noch einmal zu rĂŒhren. Einem anderen trafen die Klauen an der SchlĂ€fe und zertrĂŒmmerten ihm den SchĂ€del. Auch er wurde meterweit durch die Luft geschleudert. Einer nach dem anderen fielen die MĂ€nner dem Monster zum Opfer. Als er sich um sie gekĂŒmmert hatte, wandte sich der Graue wieder Clay zu. Gib mir den Jungen!, forderte erneut eine hallende Stimme in Clays Kopf. Niemals!, weigerte er sich telepathisch. Dann hole ich ihn mir einfach! Und töte jeden, der sich mir in den Weg stellt! Versuche es doch! Der Werwolf stieß ein furchteinflĂ¶ĂŸendes BrĂŒllen aus. Clay antworte mit einem ebenwĂŒrdig monströsen Laut. Dann legte er Bogen und Köcher ab. Er löste seine GĂŒrtel, ließ sie zu Boden fallen und entledigte sich seines Oberteils. Er sah zu den Menschen hinter sich. “Keine Angst, ich beschĂŒtze euch!”, versprach er. In Menschengestalt hĂ€tte er keine Chance gegen die Kreatur. Ihm blieb keine andere Wahl, als sein Geheimnis zu enthĂŒllen “Ich habe viel zu lange weggesehen!” Unter entsetzlichen Schmerzen verwandelte er sich in ein Werbiest. Seine guten Absichten erkannten die Bewohner von Faringart nicht. Alles was sie sahen war wie einer der ihren sich als Monster entpuppte. Voller Entsetzen und Abscheu starten sie auf Clay und hatten noch mehr Angst als zuvor. Der andere hatte sich die Verwandlung aus sicherer Entfernung angesehen. Ein zweites Mal brĂŒllten sich grauer und schwarzer Werwolf an, bevor sie sich in einen Kampf auf Leben und Tod stĂŒrzten. Auf allen vieren rannten sie aufeinander zu. Sie sprangen sich an und umschlossen sich in einer Umarmung des Todes. Auf den HinterlĂ€ufen stehend, versuchte jeder seine ZĂ€hne in den Nacken seines Gegners zu schlagen, ihm die Halsschlagader zu zerfetzen, auf das er jĂ€mmerlich verbluten sollte. Ihre MĂŒhen untersetzt von aggressiven Knurren und BrĂŒllen. Als das keinem von beiden so richtig gelingen wollte, lösten sie sich und traten jeweils etwas zurĂŒck. Der Graue begann abwechselnd mit der rechten und der linken Pranke zuzuschlagen. Clay wehrte die SchlĂ€ge ab. Aber schnell stellte er fest, dass der andere Wolf ihm in KrĂ€ften ĂŒberlegen war. Möglicherweise weil dieser Menschen fraß und sich nicht nur mit blutigem Tierfleisch begnĂŒgte. Ein mĂ€chtiger Schlag beförderte ihn zu Boden und hinterließ vier parallele Furchen auf seiner Brust. Der Graue packte ihn und beugte sich ĂŒber ihn. Dumm von dir, sich gegen mich zu stellen!, belehrte er Clay und ließ seine Stimme in dessen Kopf dröhnen. Wir hatten eine Übereinkunft! Warum musstest du sie brechen? Er erhob eine Klaue, um seinem Gegner den Todesstoß zu versetzen. Wir sehen uns in der Hölle!, dachte Clay und knurrte dabei verĂ€chtlich. Soweit sollte es nicht kommen. Der graue Wolf zuckte unverhofft zusammen. Von seinem RĂŒcken stieg weißer Qualm auf, als stĂŒnde er in Flammen. Er versuchte verzweifelt zu entfernen, was ihn plagte. WĂ€hrend er sich drehte und wendete, lag fĂŒr einen Augenblick ein betörender Duft in der Luft, verschwand aber sofort wieder. Die Verzweiflung seines Gegners, gereichte Clay zum Vorteil und er rammte ihm die Klaue in die Brust. Er durchbrach den Brustkorb des Grauen und drang dort ein, wo das Leben schlug, um es ihm zu entreißen. Der aschfarbene Werwolf brach umgehend tot zusammen. Clay ließ das entrissene Herz zu Boden fallen, sank auf alle Viere und verwandelte sich zurĂŒck. Dabei verheilte auch seine Wunde. Er verharrte so fĂŒr eine unbestimmte Zeit. Als er seine Sinne wiederfand, kehrte Nebula mit dem Sohn des FĂŒrsten als ihren Gefangenen zurĂŒck. Sie musste den Mann weder fesseln noch knebeln. Er folgte ihr aus freien StĂŒcken. Eine Flucht hielt er fĂŒr ausgeschlossen. Clay hockte sich hin und starrte den blutigen Arm mit Entsetzen an, mit dem er zuvor seinen Gegner umgebracht hatte. Die Abscheu hatte ihn mit voller Wucht getroffen. Er wollte nie wieder jemanden töten mĂŒssen und dennoch hatte er. “Was habe ich getan?”, fragte Clay, als Nebula ihn erreichte. “Das Richtige”, antwortete diese. Jonathan fiel auf die Knie, als er den grauen Wolf tot auf dem Boden liegen sah. Bei genauerer Inspektion des Kadavers entdeckte Nebula einen silbernen Bolzen. Auf dem Marktplatz enthĂŒllte Jonathan sein Wissen, nachdem er von Nebula auf ihre einzigartige, liebenswerte und charmante Art und Weise darum gebeten wurde: Mit einer Klinge an seiner Kehle. Beide standen auf dem gleichen hölzernen Podest, auf dem zuvor die Treibjagd ausgerufen worden war. WĂ€hrenddessen wurde dem inzwischen wieder bekleideten Clay der Eintritt nach Faringart von den anderen JĂ€gern verwehrt. Seine ehemaligen Kameraden bedrohten ihn mit ihren Bögen, ihren ArmbrĂŒsten und ihren Sauspießen. Henrik und Annemarie warteten vor den Toren auf Nebulas RĂŒckkehr, mit dem GepĂ€ck bereits zur Abreise geschnĂŒrt. Sie wollten Faringart schnell hinter sich lassen. “Mein Vater und ich tragen die Verantwortung fĂŒr die Wolfsangriffe!”, gestand Jonathan. “Das erschlagene Monster vor den Toren der Stadt
 ist euer FĂŒrst.” Eine Welle des Entsetzen fuhr durch die versammelte Bevölkerung. “Vor vielen Jahren wurde Vater von einem schneeweißen Wolf gebissen”, fuhr der Erbprinz fort. Clay horchte auf. Dank seiner Werwolfsinne konnte er die Ansprache auf dem Platz bis vor das Tor der Stadt deutlich verstehen. “Seither hat sich mein Vater in jeder Vollmondnacht in ein Monster verwandelt”, fuhr Jonathan fort. “Ich ließ ihm einen Zwinger errichten und durch Training gelang es ihm, selbst bei Vollmond bei klaren Verstand zu bleiben.” “ErzĂ€hlt, warum es dennoch Übergriffe gab!”, forderte Nebula. “Vater wusste um eure Angst. Er wusste, wie gespalten die Stadt war. Wie jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht war und mehr Beute erlegen wollte, als alle anderen. Drum fiel er von Zeit zu Zeit jemanden an, um die Angst zu schĂŒren.” Die Menschenmenge wurde wĂŒtend und begann mit Dingen nach Jonathan zu werfen. “Vabrecha!”, rief es. “Mörda!” “Aber versteht doch, es war nur zu eurem Besten! Man entfernt ein krankes Tier, damit die Herde gesund bleibt. Ihr hattet ein gemeinsames Ziel. Niemand hat mehr gegen den anderen, sondern mit dem anderen gearbeitet. Es war endlich Frieden in der Stadt.” “Warn des Madl und da Junge etwa kranke Viecher?!”, regte sich ein BĂŒrger auf. “I drahe dia den Hals um, du Drecksau!” “Die gestörte Logik eines kranken Geistes!”, merkte Nebula an. “Vergesst nicht, auch von den Hunden zu erzĂ€hlen!” “Wos fia Hunde?”, rief es aus der Menge. “Euer FĂŒrst konnte nicht ĂŒberall sein”, antwortete Nebula anstelle Jonathans. “Darum hat er WolfsblĂŒter gezĂŒchtet und sie abgerichtet, Menschen anzugreifen.” “Unvazeihlich!”, rief ein aufgebrachter Einwohner. “Schaut Euch die Menschen an, vor denen Ihr Euch verantworten mĂŒsst”, sagte Nebula. Sie nahm das Schwert von Jonathans Kehle. Dann stieg sie vom Podest herab. Was nun mit ihm geschah, war ihr herzlich egal. Er war es nicht wert, einen Gedanken an ihn zu verschwenden! Darum ist auch nichts zu seinem Schicksal bekannt. Die anderen JĂ€ger gingen zur Seite und machten ihr den Weg frei. Sie ging die Hauptstraße entlang, direkt zu Clay. “Ich hĂ€tte viel frĂŒher etwas tun sollen”, bedauerte der enttarnte Werwolf mit gesenktem Kopf. Er wirkte auf Nebula, wie ein getretener Hund. “Doch ich wurde selbstsĂŒchtig. Ich wollte mein neues Leben nicht verlieren. Also ignorierte ich den Gestank des FĂŒrsten, wo ich nur konnte und im Gegenzug half er mir mein Verlies zu bauen und meine Spuren zu verwischen. Und nun habe ich dennoch alles verloren.” “Schaut!”, orderte Nebula und geleitete ihn weg von den JĂ€gern zu ihren Begleitern. “Die Bewohner von Faringart mögen Euch zwar fĂŒrchten und verachten, doch keiner von uns wĂŒrde das tun.” Sie zeigte auf Henrik. “Ein Junge mit mysteriösen KrĂ€ften.” Dann auf Annemarie. “Ein MĂ€dchen, das jedermanns Zukunft kennt, aber nicht die eigene Vergangenheit.” Als letztes deutete sie auf sich selbst. “Und das Weib, in dem der Teufel wohnt.” Nun streckte sie ihren Arm aus und reichte ihm die Hand. “Da ist ein Werwolf in bester Gesellschaft.” “Bietet Ihr mir tatsĂ€chlich an, Euch zu begleiten?”, fragte Clay unsicher. “Spricht etwas dagegen?” “Habt Ihr keine Angst, dass ich hungrig werden könnte?” “Zur Not könnt Ihr Henrik fressen.” “Ihr seid zu gĂŒtig!” Dass Clay auf ihren Spaß einstieg, war ein gutes Zeichen. ”Ihr gebt einem Mann, der alles verloren hat, ein neues Heim. Seid Ihr sicher, dass Ihr vom Teufel besessen seid?” “Ihr könnt weiter vor Euch selbst davon laufen oder mir folgen und mit Eurer Kraft dabei helfen, gegen das Böse zu kĂ€mpfen.” “Dann will ich Euch folgen.” Er ergriff Nebulas Hand. “Willkommen, neuer GefĂ€hrte.” Die vier begaben sich auf die Reise. Clay musste staunen, als Henrik wieder fast unter dem Gewicht eines gewaltigen Sacks zusammenbrach und es irgendwie dennoch stemmte. “Übrigens, Junge”, sagte er. “Ich habe ein Pferd. Lasst es uns holen und Euch von dieser Last befreien!” Kapitel 8: Das große Bankett ---------------------------- 🌱 Der Finsterwald trennte Nebula und ihre Begleiter von der Hauptstadt Ewigkeit. Ein Forst, von dem man sagte, er sei so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden berĂŒhrte. Ganz so schlimm, wie es die Geschichten behaupteten, war es zwar nicht, trotzdem freute sie der Anblick der Lichtung, auf der sie wenig spĂ€ter ihre Zelte aufschlugen. Die mehrtĂ€gige Reise in die Hauptstadt bot Gelegenheit, miteinander per Du zu werden. Der Platzmangel tat sein Übriges. Den neuesten Zuwachs angemessen in einem der Zelte unterzubringen, gestaltete sich schwierig. Deshalb erstanden sie vor ein paar Tagen in einem kleinen Dorf ein weiteres. So blieb es Henrik erspart, sich mit Clay in eines zu quetschen. WĂ€hrend sie alle zur Ruhe gebettet lagen, riss ein aufgeregtes Schnauben den JĂ€ger mit dem Bestienblut aus seinem unruhigen Schlaf. Jene MĂ€nner, welche dazu verdammt sind, ein Wolf zu sein, konnten in der Nacht niemals Ruhe finden. Stetig quĂ€lten sie JagdtrĂ€ume, in welchen sie in Wolfsgestalt ihrer Beute hinterherjagten. Jedes Mal mit der Angst verbunden, dass es sich am nĂ€chsten Morgen als RealitĂ€t herausstellte. Deshalb riss es Clay mit Leichtigkeit aus seinem unheilvollen Schlaf. Vorsichtig streckte er den Kopf aus der Öffnung des Zeltes. Sein Pferd zerrte an dem Strick, welcher es an einem nahen Baum fesselte. Irgendetwas war da draußen. Oder irgendjemand. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Sein unerwarteter Aufbruch blieb nicht unbemerkt. Mit der Nase zum Himmel gerichtet, versuchte der Werwolf mögliche Gefahren anhand des Geruches auszumachen. Es war noch immer mitten in der Nacht. Fast alle Waldbewohner schliefen zu dieser Zeit. Ein Schwarm FledermĂ€use war auf der Jagd nach Insekten. Ihre KlickgerĂ€usche im Ultraschallbereich klingelten in Clays Ohren wie ein Orchester Hundepfeifen und machten ihn fast Wahnsinnig. Es war eine Erleichterung, als sie sich so weit entfernten, dass er sie nicht mehr hören konnte. Eine Eule nutzte ebenfalls die Nacht, um sich den Bauch vollzuschlagen. Am Fuße eines Baumes, in etwa hundertfĂŒnfzig Metern Entfernung, machte sich der SiebenschlĂ€fer an einem Pilz zu schaffen, der aus einem morschen Baum empor geschossen war. Und sĂŒdlich des Lagers wĂŒhlte ein Igel nach köstlichen RegenwĂŒrmern. Soweit deutete nichts auf eine Bedrohung hin. Clay schlich weiter um das Lager herum. Plötzlich veranlasste ihn ein GerĂ€usch zu einem hektischen Sprung zur Seite. Er wich im letzten Moment einem versilberten Dolch aus. Das Wurfgeschoss zog einen bekannten Geruch hinter sich her. Sie ist es, dachte Clay voller Erregung. Irgendwo im Blattwerk hielt sich die AttentĂ€terin verborgen. Er bot sich ihr als Ziel an. Ein weiterer Dolch folgte auf seine Einladung. Dank seiner schnellen Reflexe, wich er auch dieser Bedrohung aus. Verstohlene Tritte und leises Knacken von Ästen veranlassten ihn, sein Messer zu ziehen. Hinter ihm sprang eine schwarz gekleidete Gestalt aus einem Busch und stĂŒrzte sich auf ihn. Clay wehrte den Angriff mit seinem HĂ€utungswerkzeug ab. JĂ€ger und Beute durchbohrten einander mit stechenden Blicken. Clay musterte das Äußere der Frau. “Ihr seid nicht von hier”, stellte er anhand ihres Äußeren fest. Rote Augen, rote Haare, aschfahle Haut und leicht spitz zulaufende Ohren. Die Rothaarige tat die Aussage ihres Ziels mit einem Brummen ab und sprang in einem hohen Salto nach hinten weg. Dabei versetzte sie Clay einen Tritt gegen den Unterkiefer, welcher seinen Kopf unfreiwillig nach oben neigte. Sie landete anschließend ein gutes StĂŒck entfernt wieder sicher auf dem Boden. Clay duckte sich in letzter Sekunde weg, als seine Gegnerin einen weiteren Angriff an ihre Kombination anfĂŒgte, wie ein Glied an einer Kette. Mehrere Dolche bohrten sich hinter ihm in einer Reihe in einen Baumstamm. Als er wieder zu der Fremden sah, konnte er sie erst nirgends mehr ausmachen. Sie war unglaublich flink. Er konzentrierte sich. Ein Rascheln! Über ihm! Die AttentĂ€terin stĂŒrzte sich aus den Baumwipfeln auf ihn. GeistesgegenwĂ€rtig packte Clay ihre Arme und warf sie ĂŒber seinen Kopf hinein in einen Busch. Danach tauschte er sein Messer gegen den Bogen ein und spannte ihn mit einem Pfeil aus dem Köcher. Die Rothaarige rappelte sich umgehend wieder auf und wollte ihren Angriff auf Clay fortsetzen, bevor er den Pfeil loslassen konnte, nur um mitten im Sprung kehrt zu machen. Das Echo eines metallischen Klingen wurde von den StĂ€mmen und BlĂ€ttern der BĂ€ume zurĂŒckgeworfen. Sie parierte den Versuch eines anderen, sie zu erschießen. “Gastraphetes, nachladen!” Clay und die Fremde sahen sich um. Nebula stĂŒrmte plötzlich zwischen einigen blattreichen StrĂ€uchern hervor, die schwarze Armbrust auf die Angreiferin gerichtet. “Eure Reflexe sind ausgezeichnet, Cerise!”, lobte die Blondine. “Vielen Dank fĂŒr das Kompliment”, erwiderte die Rothaarige. “Moment mal!”, hakte Clay ein. “Du kennst diese Frau?” “Allerdings!”, erklĂ€rte Nebula und warf ihrem Begleiter einen kurzen Blick zu. “Das ist Cerise. Sie verfolgt mich schon eine Weile!” Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut der blassen Rothaarigen zu. “Ihr steckt also auch hinter den Angriffen auf Clay. Ich hĂ€tte es mir denken können. Wieso vergreift Ihr Euch jetzt an meinen Begleitern?” Cerise lockerte sich und wechselte aus der Kampfbereitschaft in eine aufrechte, aber entspannte Haltung. “Vergreifen ist so ein hartes Wort...” Ihre Arme ließ sie locker zur Seite herunterhĂ€ngen. “Nehmt doch nicht gleich immer alles so persönlich.” Jedes ihrer Worte klang in Nebulas Ohren wie eine Provokation. Sie schoss einen Bolzen direkt vor Cerises linken Fuß in den Boden. “Haltet Euer vorlautes Mundwerk, Ihr rothaarige Hexe!” Sie richtete die Waffe erneut auf Cerises Oberkörper. “Gastraphetes, nachladen!” Die Armbrust gehorchte. “Aber wenn ich meinen Mund halte, kann ich nicht antworten.” Clay erwiderte mit einem drohenden Knurren. “Ich erhielt den Auftrag, diesen entlaufenen Flohzirkus auszuschalten.” “Warum?” “Was interessiert mich das?” “Ihr wollt ihn töten, ohne einen Grund zu haben?!” “Ein Auftrag ist ein Auftrag. Wir stellen keine Fragen nach dem Grund.” Schnell - zu schnell fĂŒr Clay und Nebula - riss Cerise eine Kugel aus ihrem GĂŒrtel und warf sie schwungvoll auf den Boden. Sofort breitete sich dichter weißer Rauch aus, der alles verhĂŒllte. Nebula schoss sofort in die Richtung, in der sie Cerise vermutete, hatte aber nicht das GefĂŒhl, sie getroffen zu haben. Clay wollte es ihr gleichtun, doch die Sehne riss. Als sich der Rauch gelegt hatte, war Cerise verschwunden. “Wo ist das MiststĂŒck?”, machte Nebula ihrem Ärger Luft. “Sie ist weg”, sagte Clay nach einem ausgiebigen Atemzug durch sein Werwolfriechorgan. “Euer Bogen!”, bemerkte Nebula. “Das kann man reparieren”, meinte der Waidmann. Als sie sich sicher waren, dass die Gefahr vorĂŒber war, entspannten sich beide und kehrten zum Lager zurĂŒck. Am Morgen setzten die Vier ihre Reise fort. Annemarie saß, zusammen mit dem GepĂ€ck, auf Clays Pferd, wĂ€hrend der JĂ€ger es am Zaumzeug fĂŒhrte. Nach einigen Stunden erreichten sie Ewigkeit. Aus jeder Himmelsrichtung fĂŒhrte eine lange BrĂŒcke ĂŒber den See, in dessen Zentrum Ewigkeit, die Hauptstadt von Morgenstern, auf einer Insel lag. Des Werder gewaltiges Felsmassiv wurde von mĂ€chtigen Festungsmauern eingefasst. EhrfĂŒrchtig betrachteten Henrik und Annemarie das Stadttor. Beide hatten noch nie so hohe Mauern gesehen. “Wow!”, staunte Henrik. “Wohnen hier Riesen?”, fragte Annemarie unbedarft. Clay amĂŒsierte die NaivitĂ€t des Kindes. “Das ist immerhin unsere Hauptstadt”, sagte Nebula. Vor und nach ihnen drĂ€ngten Menschen und Wagen hinein in die Stadt. Ein Aufkommen, das selbst fĂŒr die Hauptstadt außergewöhnlich war. An den Toren kontrollierten Wachen die Papiere der Reisenden. “Was wollen die ganzen Menschen hier?”, fragte Annemarie. “S-Sie veranstalten vielleicht ein T-Turnier”, mutmaßte Henrik. Endlich erreichte Nebulas Gruppe das Stadttor. Der WĂ€chter beĂ€ugte sie skeptisch. Ihr Gesicht kam ihm so bekannt vor. “Eure Papiere!”, forderte er schließlich nach einer kurzen Denkpause. Nebula reichte ihm einen Brief. Der WĂ€chter rollte das SchriftstĂŒck auf und machte große Augen. Verunsichert gab er ihr den Brief zurĂŒck. “Ihr könnt passieren.” Die vier durchschritten das Tor. Hinter der Mauer befand sich rechts vom Tor eine Stallung. Sie hatten GlĂŒck und bekamen den letzten freien Platz fĂŒr ihr Pferd. Beschlagene Hufe klapperten auf dem gepflasterten Platz und Rösser wieherten, als unerwartet eine Kutsche vorfuhr. Sie kam genau vor der Gruppe zum Stehen. “W-Was macht denn diese Kutsche hier?”, wunderte sich Henrik ĂŒber ihr Erscheinen. Der Kutscher schwang sich von seinem Sitz und kam der Gruppe entgegen. Er ging umgehend zu Nebula. “Willkommen, Herrin!”, sprach er und verbeugte sich. “Ihr und Eure Begleitung seid herzlich eingeladen zu einer Stadtrundfahrt!” “Wer hat das veranlasst?”, fragte die Blondine misstrauisch. “Die Prinzessin, Herrin”, antwortete der Kutscher. “Als sie erfuhr, dass Ihr in Begleitung kommt, veranlasste sie diese Fahrt. Es ist ihr Willkommensgeschenk.” Sie stiegen ein, um die SehenswĂŒrdigkeiten von Ewigkeit gezeigt zu bekommen. Wie durch ein Wunder fasste die kleine Passagierkabine sie alle vier. Das GefĂ€hrt setzte sich in Bewegung und SehenswĂŒrdigkeiten kamen in Sichtweite. Als erstes passierten sie ein mehrstöckiges quadratisches GebĂ€ude, dessen Dach in der Mitte eine große Kuppel besaß. Zwischen zehn Meter hohen SĂ€ulen befanden sich die langen und schmalen EingangstĂŒren. “Zu Euer Rechten seht Ihr die große Bibliothek”, erklĂ€rte der Kutscher. "In ihr werden verschiedene Werke der Literatur aufbewahrt. Ein jeder, der wissbegierig ist, ist es gestattet, ihr Angebot zu nutzen.” Als nĂ€chstes durften sie ein großes Gotteshaus bestaunen. Es besaß gleich vier GlockentĂŒrme mit weit in den Himmel hinauf ragenden spitzen, an deren Enden goldene Kreuze befestigt waren, in deren Mitte sich Ringe befanden. Die Front zierte ein wunderschön gestaltetes Rosettenfenster, dessen Ausmaße alles ĂŒbertrafen, das Henrik bisher gesehen hatte. “Bestaunt zu Eurer Linken den Dom von Ewigkeit", fuhr der Kutscher fort. "Seit jeher werden hier die Herrscher gekrönt. Eigentlich wurde der Dom jedoch zu Ehren des namenlosen Gottes errichtet. Nebula war diese Stadtrundfahrt offenkundig zu langweilig. Sie lag mehr auf ihrem Sitz, als dass sie saß, und schlief. Der sperrangelweit offene Mund ermöglichte Henrik, das Vibrieren ihres Gaumens zu beobachten, wĂ€hrend sie nach Herzenslust schnarchte. Henrik wollte seinen Blick erst nicht von ihr lassen. Doch dann weckte eine marmorne Drachenstatue seine Aufmerksamkeit. “Kutscher!”, rief der Junge daraufhin. “Was hat es mit der Statue auf sich?" “Ein Geschenk von Aschfeuer”, antwortete der Mann. “Nach Ende des Krieges hat das Imperium uns dieses Ding zum Geschenk gemacht. FĂŒr sie hat der Drache eine besondere Bedeutung. Manche sagen, im Krieg hĂ€tten die Spitzohren echte Drache gegen Morgenstern ins Feld gefĂŒhrt.” “Echte Drachen?!” “Keine Angst! Das ist nur ein AmmenmĂ€rchen. So etwas wie Drachen gibt's doch gar nicht! Oder habt Ihr schon mal einen gesehen.” “N-Nun, nicht w-wirklich.” Dennoch beunruhigte Henrik die Erscheinung des UngetĂŒm. Sie wirkte so lebensecht. “Nur die Ruhe, Junge”, beruhigte dieser. “Es ist ja nicht so, dass die Statue eines Tages zum Leben erwacht und in der Stadt Amok lĂ€uft." Der Mann setzte ein Grinsen auf, das man in der Kabine allerdings nur erahnen konnte. Die Kutsche erreichte die letzte SehenswĂŒrdigkeit. Auf dem großen Platz vor dem Königspalast kam sie zum Stehen. “Sind wir schon da?”, fragte Annemarie. “Jawohl, wir haben unser Ziel erreicht”, verkĂŒndete der Kutscher. “Hey, N-Nebula”, sprach Henrik sachte und stupste sie leicht an. “Wir sind da.” Doch sie reagierte nicht. “So wird das nichts, Kleiner!”, sagte Clay. Daraufhin versetzte er Nebula einen heftigen Ruck. Sie schreckte auf, rutschte vom Sitz, kam auf den Knien auf und stĂŒtzte sich am Sitz gegenĂŒber ab. Dadurch war ihr Kopf unfreiwillig zwischen Henriks Beine geraten. Erschrocken riss der Junge die Arme in die Luft. Nebula lief rot an, als ihr bewusst wurde, zwischen wessen Schenkeln sie sich befand. Sie fuhr auf, nur um Henrik eine Ohrfeige zu verpassen. “Lustmolch!”, schimpfte sie. “A-Aber ich
”, versuchte sich der Braunhaarige zu rechtfertigen. AmĂŒsiert musste sich Clay beim Lachen den Bauch halten. Der Kutscher öffnete die TĂŒr und die Vier stiegen aus. Ein atemberaubender Springbrunnen mit Wasserspeiern verschiedenster Art schmĂŒckte das Zentrum des Platzes. UnzĂ€hlige FontĂ€nen schossen nach Oben und zur Seite. Ein langer Weg fĂŒhrte vom Platz ab, links und rechts ĂŒberspannt von den Ästen der Zierkirschen. Am Ende des Weges erwartete sie der Eingang des Schlosses. Ein pompöses Portal, welches eindeutig geschaffen wurde, um zu gefallen. Ein von SĂ€ulen gestĂŒtzter Überbau mit zinngefassten Butzenfenstern umspannte den gesamten Innenhof in Hufeisenform. An den WĂ€nden kletterte der Efeu empor und Moos hing von den Wasserspeiern mit DĂ€monenfratzen. Am Eingang auf der anderen Seite wurden sie bereits erwartet. 🌱 Die Palastwachen geleiteten die Gruppe hinein ins Innere. Der Fußboden des royalen Herrschersitzes wurde von Bodenplatten aus dunklem Marmor bekleidet. Vier SĂ€ulen durchzogen den Eingangsbereich in der Mitte und stĂŒtzten die mĂ€chtige Deckenkonstruktion. An jeder von ihnen stand eine Wache. Unterschiedliche Zierobjekte waren an und um die SĂ€ulen gruppiert. Hinter ihnen schlang sich eine gebogene Treppe auf zwei Seiten hinauf in das erste Obergeschoss. Links und rechts durchbrachen Passagen zu den SeitenflĂŒgeln die Mauern. Licht fiel durch die Fenster und die gewaltige Kuppel ĂŒber ihren Köpfen ein. Von der Mitte der Kuppel hing ein gewaltiger Kronleuchter herunter, gehalten von einer langen Kette. Nebula schaute aus, als ob sie etwas bedrĂŒckte. Henrik fĂŒhlte sich von der schieren GrĂ¶ĂŸe eingeschĂŒchtert. Clay versuchte, die unbehaglichen GerĂŒche nach Wachs und Ruß auszublenden. Annemaries Augen funkelten vor EntzĂŒckung ĂŒber all den Glanz und Prunk. Gemeinsam schritten sie die Treppe auf der linken Seite hinauf. Der eigentliche Thronsaal wurde von Licht aus ĂŒberlebensgroßen Fenstern geflutet. Ein roter Teppich lag auf den Marmorplatten und fĂŒhrte ankommende Besucher zum Herrschaftssitz des Monarchen. Der König saß in seinem Thron und rechts von ihm stand eine junge Frau. Doch der Sitz der Königin war schon seit langer Zeit unbesetzt. Die WĂ€nde verschönerten Wappenbanner und GemĂ€lde einstiger Herrscher. Über dem Thron hing ein ganz besonderes Bild. Es zeigte den König und die Königin. Die Gemahlin an der Seite des Herrschers, hielt ein kleines BĂŒndel von Menschlein in den Armen. Nebula konnte die Darstellung ihrer Mutter nicht lĂ€nger ertragen. Obwohl sie daran glaubte, dass man nicht missen konnte, was man nicht kannte, ĂŒbermannte sie die Sehnsucht nach mĂŒtterlicher Zuwendung. Sie war bei Nichten die einzige, deren GefĂŒhlswelt von diesem Kunstwerk wie von einem brutalen Sturm auf See durcheinandergewirbelt wurde. FĂŒr einen Moment glaubte sie, ein bösartiges Knurren zu vernehmen. Aber just in dem Moment, als sie sich schickte, seine Ursache zu finden, verstummte es. Die junge Frau neben dem König stĂŒrmte plötzlich auf Nebula zu und umarmte sie. “Schön, dass du gekommen bist!”, begrĂŒĂŸte sie sie. Henrik verblĂŒffte der Anblick der beiden MĂ€dchen, die sich fast glichen, wie ein Ei dem anderen. Nur das Haar der einen war um einiges lĂ€nger. Und da war noch etwas, das sie unterschied. Doch es wollte ihm partout nicht einfallen, was es war. Ob sie Schwestern waren? “Ich lasse dich nicht an deinem großen Tag im Stich”, erklĂ€rte Nebula. “Du hast Freunde am Hof?”, wollte Clay wissen. Nebula und die Fremde lösten sich. “Das ist Prinzessin Emelaigne”, erklĂ€rte Nebula. “Wir sind seit langer Zeit Freunde.” “F-Freut mich, Eure B-Bekanntschaft zu m-machen”, sprach Henrik. Die Anwesenheit von gleich zwei wunderschönen MĂ€dchen verunsicherte ihn. “Sie wird bald einen Prinzen heiraten.” “Deshalb ist die Stadt so in Aufruhr”, erkannte Clay. “Sie heiratet einen Prinzen aus Aschfeuer.” “Aschfeuer?!” “Ein Botschafter wird kommen, und die Einzelheiten aushandeln.” “Och, eine Hochzeit!”, gluckste Annemarie freudig. “Darf ich das BlumenmĂ€dchen sein? Bitte, bitte, bitte, bitte
” “Na klar darfst du”, sagte die Prinzessin. “Nebulas Freunde sind auch meine Freunde!” “Juhu!” Der Rotschopf hĂŒpfte verzĂŒckt auf und ab. “Doch Nebula und der König mĂŒssen noch etwas besprechen”, nahm Emelaigne der Kleinen den Wind aus den Segeln. “Außer Nebula mögen alle den Thronsaal umgehend rĂ€umen.” Sie sah zu einer der Wachen. “Zeigt ihnen ihre GemĂ€cher!” “Jawohl, Eure Hoheit!”, bestĂ€tigte dieser und geleitete die anderen hinaus. Nebula und Emelaigne schritten derweil zum Thron und begannen ein langes GesprĂ€ch mit dem Herrscher von Morgenstern. Nachdem ihnen ihre Zimmer gezeigt wurden, beschlossen Henrik, Annemarie und Clay den Rest des Tages damit zu verbringen, ĂŒber die MĂ€rkte zu ziehen. Annemarie wĂŒnschte sich Spielzeug und Henrik begleitete sie. Clay konnte nicht viel mit den Kindern und ihren SehnsĂŒchten anfangen. Darum trennten sich ihre Wege. Auch, weil er einen wichtigen Weg gehen musste. Sein Bogen war noch immer kaputt. Die Hauptstadt von Morgenstern musste doch mit einem anstĂ€ndigen Bogner aufwarten können! Endlich entdeckte er ein entsprechendes GeschĂ€ft. Der Besitzer war ein Ă€lterer Mann mit blassem Teint und engen Augen. Er trug höchst eigentĂŒmliche Kleidung, wie sie weit im Osten ĂŒblich war. Er musste einst von weit her gekommen sein. Vielleicht sogar von den legendĂ€ren östlichen Inseln. Der Mann kam sofort auf Clay zu, als dieser sich der Bogenmacherei nĂ€herte. “Einen interessanten Bogen habt Ihr da”, eröffnete er und streckte die HĂ€nde aus. Er hatte einen deutlichen Akzent. In der Stimme hallte zudem die Lebenserfahrung des Mannes wieder. “Aber er singt nicht mehr.” “Das ist leider wahr”, gestand Clay ein. “Wie Ihr seht, die Sehne ist gerissen” Er ĂŒbergab die Waffe. “Wollen wir schauen, was wir tun können.” Der Mann ging zu seiner Werkbank und spannte Clays Bogen in den Schraubstock ein, sodass die beiden Enden mit der Sehne nach oben zeigten. “Wisst Ihr”, sprach der alte Mann, wĂ€hrend er sich am Jagdwerkzeug zu schaffen machte. “Es ist schon eine Weile her, dass ich einen Bogen aus meiner Heimat gesehen habe. Zuletzt als kleiner Bub in der Lehre meines Vaters. Wie kommt ein westlicher JĂ€ger zu so einer Waffe?” “Sie ist ein FamilienerbstĂŒck.” “Dann habt Ihr vielleicht Vorfahren aus meiner alten Heimat?” “Vielleicht.” Den Bogen hatte er einst vom Vater seiner Frau bekommen. Er war das einzige, das er bei seiner Flucht bei sich hatte und das einzige, was ihn mit seinem alten Leben verband. Der alte Mann arbeitete schnell und effizient und so war die Sehne gewechselt und eingespannt. “Es ist vollbracht.” Er löste den Bogen aus dem Schraubstock und ĂŒbergab ihn seinem Besitzer. “Das macht dann fĂŒnf Schilling.” Er hielt die Hand auf und lĂ€chelte dabei, genau wie man es den kleinen MĂ€nnern aus dem Osten nachsagte. Nachdem er den Bogener fĂŒr seine Dienste entlohnt hatte, bedankte sich Clay und verließ das GeschĂ€ft mit einer runderneuerten Waffe ĂŒber der Schulter. Ungesehen von der getriebenen Menschenmasse zu ihren FĂŒĂŸen, schlich Cerise unter schwarzer Kutte verborgen ĂŒber die DĂ€cher. Es war ein helllichter Tag, doch der rothaarigen Schattengestalt gelang es trotzdem, fĂŒr die Augen der anderen unsichtbar zu sein. Eine sanfte Briese streichelte ihr Gesicht. Sie verfolgte ihr Ziel entgegen dem Wind. Diesmal wĂŒrde er sie nicht verraten können. Ihr Atem, ihre Schritte, jedes verrĂ€terische GerĂ€usch, ging unter in einem Meer aus Tumult und Tamtam, in dem jeder Laut zu monotonem Rauschen verkam. Das Ziel bog an einer Kreuzung ab. Die Verfolgerin sprang vom Dach auf ein hölzernes GelĂ€nder und von ihm aus ĂŒber die schmale Gasse auf das GelĂ€nder des Balkons eines gegenĂŒberliegenden Hauses. Mit der Hilfe einer Lampe, schwang sich die Rothaarige um die Kurve und landete sicher auf einem weiterem GelĂ€nder. Sie balancierte in gehockter Haltung auf ihm, bis sich eine Trennwand vor ihr auftat, welche den einen Balkon von dem direkt nebenan abgrenzte. Das kam ihr wie gerufen. An ihr kletterte sie zurĂŒck auf das Dach und setzte die Verfolgung fort. “Die will ich haben!”, strahlte Annemarie und prĂ€sentierte die Puppe, welche ihr Herz erobert hatte. Henrik sah sie sich an. Sie trug ein besticktes blaues Kleid, kleine schwarze Pantoffeln und hatte goldene Haare aus Stroh. “Findest du nicht, sie sieht aus wie Nebula?”, grĂŒbelte der Rotschopf. “W-Was?!”, schreckte Henrik auf. Er musste sich unweigerlich vorstellen, wie die Söldnerin darauf reagieren wĂŒrde, mit einem Kinderspielzeug verglichen zu werden. Vermutlich wĂŒrde sie der Puppe umgehend den Kopf abreißen. Und danach ihm, weil er sie Annemarie gekauft hatte. Er war nicht bereit, dieses Risiko zu tragen. “T-Tue sie besser w-wieder zurĂŒck”, schlotterte er vor Furcht. Annemarie stĂŒlpte die Unterlippe ĂŒber die Oberlippe und Feuchtigkeit quoll aus ihren Augen. Sie war drauf und dran, jeden Moment zu weinen. “Na sch-schön!”, ließ sich der Junge erweichen. “Juhu!”, freute sich Annemarie. Sie war sofort wie ausgewechselt. Die TrĂ€nen innerhalb eines Wimpernschlages getrocknet. Noch bevor Henrik zum Tresen des Spielwarenladen schreiten konnte, fiel sein Augenmerk auf das Preisschild. Sofort wurde ihm schwindlig. Da waren eindeutig zu viele Zahlen! “Nein, das kann ich nicht kaufen!”, stieß er aus. Wieder machte Annemarie ein Gesicht, als ob der Weltuntergang unmittelbar bevorstĂŒnde, und nur dieses Spielzeug war im Stande, ihn abwenden. “N-Na schön!”, ließ sich Henrik abermals erweichen. Er nahm seinen Geldbeutel und zĂ€hlte das bisschen Gold, das er noch ĂŒbrig hatte. “Ab heute nur noch E-Essen wie im Knast...”, murmelte er. “W-Wasser und hartes Brot...” Er kramte seine MĂŒnzen zusammen und erfĂŒllte den Herzenswunsch des MĂ€dchens. Sicher lag die Armbrust in den HĂ€nden der gedungenen Mörderin, als sie mit geneigtem Kopf und zugekniffenem rechten Auge ihr Ziel fixierte. Die mit einer Silberlegierung ĂŒberzogene Spitze des Bolzen zeigte direkt auf den großen muskulösen Mann und folgte jeder seiner Bewegungen. Er schlenderte ahnungslos inmitten einer Menschenmenge. Kein Geruch und kein Laut warnte ihn vor seinem bevorstehenden Ableben. Als Cerise sich ihres Schusses sicher war, betĂ€tigte sie den Abzug und der Bolzen ging auf die Reise. Das Geschoss bahnte sich seinen Weg durch den Raum. Plötzlich schreckten die Massen eilig zur Seite, als eine Kutsche in einem Mordstempo ĂŒber die Straßenkreuzung bretterte, ohne jede RĂŒcksicht auf Verluste. Genau im rechten Moment, sodass der Bolzen im hölzernen Rahmen der Passagierkabine stecken blieb und das Leben des Mannes verschont wurde. Als sie ihren Schuss ins Leere gehen sah, setzte sich die Rothaarige wieder in Bewegung. Sie durfte ihr Ziel keinesfalls aus den Augen verlieren. Heute wĂŒrde die Beute zu ihren FĂŒĂŸen liegen! Ein weiteres Mal legte sie an. Doch das GlĂŒck war ihr nicht hold und auch dieser Versuch scheiterte, als sich der Mann genau in dem Moment nach den Senkeln seiner Stiefel bĂŒckte, als sie den Abzug betĂ€tigte. Der Bolzen verfehlte und wart nie mehr gesehen. Vom Pech verfolgt, beschloss die Rothaarige, zu ihrem Ziel aufzuschließen. Wenn es ihr nicht gelang, ihm aus der Entfernung auszuschalten, so wĂŒrde es im Schutz der Menschenmasse garantiert gelingen. Das sicherste Versteck fĂŒr einen AttentĂ€ter war der PrĂ€sentierteller. Zwischen den Passanten konnte sie sich ungesehen anschleichen. Sie sprang vom Dach hinab in einen Heuwagen am Straßenrand und rollte sich aus ihm heraus. Eilig tauchte sie im GedrĂ€nge unter und schmiegte sich zwischen den Körpern der FußgĂ€nger hindurch, immer nĂ€her ihrem Ziel entgegen. Ihr Stilett war unter dem langen Ärmel der schwarzen Kutte verborgen und bereit, tief in das Fleisch ihres Opfers hinein zu schneiden. Aber dann geschah etwas, worauf sie nicht vorbereitet war. Unerwartet drehte der Wind und riss ihren Geruch mit sich. Ihr Duft stieg dem Ziel in die Nase und veranlasste seine Flucht. Ein weiterer Fehlschlag! Es war, als wollte eine höhere Macht verhindern, dass dieser Mann heute durch ihre Hand sterben wĂŒrde. Sie hatte schon viele Leben genommen, doch noch nie hatte eines ihrer Ziele einen vollbesetzten himmlischen Chor von Schutzengeln auf seiner Seite, welche nicht nur in jeder erdenklichen Oktave sangen, sondern auch ĂŒber es wachten. Welche ErklĂ€rung gab es sonst dafĂŒr, dass ihr keiner ihrer AnschlĂ€ge gelingen wollte? Sie ließ sich dazu hinreißen, dem Mann zu folgen. Eigentlich wĂŒrde sie niemals vorstĂŒrmen, ohne vorher die Lage zu prĂŒfen, doch ihre anhaltende PechstrĂ€hne nagte an ihren Nerven. Sie wollte diesen verdammten Lykantrophen endlich zum Teufel schicken! Schubsend und schiebend ging es nur langsam voran, bis sie endlich aus der homogenen Masse auszubrechen vermochte. Eine Menschenmenge stellte nicht nur die perfekte Tarnung dar, sondern konnte gleichermaßen ein unĂŒberwindbares Hinderniss sein, wenn es einmal schnell gehen musste. Zwischen erbosten Rufen und verdutzten Blicken vorbei, schob sich Cerise ins freie, wo sie ihr Ziel gerade noch in eine leere dunkle Gasse einbiegen sah. Ein wohlbekannter Duft erregte Clay. Er wusste nun, dass er verfolgt wurde. Eilig verließ er die Straße und flĂŒchtete in eine Gasse. Er gedachte der AttentĂ€terin eine Falle zu stellen und legte sich auf die Lauer. Es war genug! Heute wĂŒrde er ihr Spiel von Katz und Maus beenden. Er musste nicht lange warten, bis sein Jagdmesser endlich zum Zuge kam. Jemand war hinter ihm. Er griff an. Eilig wich Cerise zurĂŒck. Dass er die Dreistigkeit besaß, ihr eine Falle zu stellen, war unerhört! “Ihr wollt Euch mir im Messerkampf entgegenstellen?!”, fragte sie mit gewohnt provokanten Unterton in ihrer Stimme. “Wollt Ihr Euch nicht lieber freiwillig hinlegen und sterben?”, setzte sie ihr Sticheln fort. “Ich hatte heute einen echt beschissenen Tag und das macht es fĂŒr uns beide leichter!” “Wieso wollt Ihr mich töten?”, fragte Clay. “Könnt Ihr Euch das nicht selbst beantworten?” Ein verstimmtes Brummen verließ seinen Mund. “Ihr seid der JĂ€ger, der seine Frau und Kinder gefressen hat. Mehr muss ich nicht wissen. Mir persönlich ist das egal, aber fĂŒr jemanden ist es Grund genug, Euch töten zu lassen.” Clay machte sich auf einen Frontalangriff gefasst, als Cerise unvermittelt auf ihn zu stĂŒrmte. Er streckte seinen Arm nach vorn aus, um zuzustechen. Die AttentĂ€terin trat zurĂŒck, streifte ihre Kutte ab und warf sie auf Clay. WĂ€hrend er sich aus dem KleidungsstĂŒck befreite, eilte sie um ihn herum, um ihn hinterrĂŒcks zu erstechen. Clay setzte Cerises abgelegte Kutte gegen sie ein und schlug sie ihr entgegen. Das Stilett entglitt Cerises Griff und fiel zu Boden. Clay sah seine Chance, packte die Rothaarige an beiden Armen und drĂŒckte sie an eine nahegelegene Hauswand. Er machte sie vollkommen bewegungsunfĂ€hig, als er seine Knie gegen ihre Schenkel presste. Entgeistert sah Cerise ihr Opfer an. Sie war ihm ausgeliefert. Sie spĂŒrte das harte Mauerwerk in ihrem RĂŒcken und der Atem des Mannes auf ihrer Haut. Das Gesicht des Mannes dem ihren so nah, fragte sie sich, wie es so weit kommen konnte. Ließ sie sich tatsĂ€chlich von ihm wie eine blutige AnfĂ€ngerin ĂŒberrumpeln? Sie verstand nicht, was mit ihr geschah. “Sagt mir wieso!”, forderte sie eine Antwort. “Wieso kann ich Euch nicht töten?” “Was redet ihr da?”, fragte Clay unverstĂ€ndig und zugleich erregt vom Objekt seiner Begierde direkt vor seinen Augen. Das Biest in ihm wollte der Frau die Kleider vom Leib reißen und es auf offener Straße sofort schamlos mit ihr treiben. “Jeder Anschlag auf Euch ist schief gegangen.” Clay glaubte, so etwas wie Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören, als sie ihn fragte: “Mit welcher Hexerei habt Ihr mich verwunschen, um Euch vor dem Tod zu bewahren?” “Ich habe nichts dergleichen getan!” “Aber wieso will es mir nicht gelingen, Euch umzubringen?” Beide sahen sich einen Moment lang in die Augen. Eine Spannung, stark genug, um eine moderne Großstadt mit Strom zu versorgen, lag in der Luft. “Habt Ihr schon mal daran gedacht, dass Ihr mich gar nicht töten wollt?” Cerise antwortete nicht auf diese Frage. “In Faringart hattet Ihr Eure Chance.” Die Rothaarige schwieg noch immer. “Ihr hĂ€ttet nur zusehen mĂŒssen, wie mich der andere Werwolf zerfleischt.” Kein Wort verließ Cerises Lippen. “Doch Ihr habt stattdessen ihn getötet und mich gerettet!” Die Augen der attraktiven AttentĂ€terin weiteten sich. Sie hatte nicht erwartet, mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. “Ich gestatte niemanden, mir zuvorzukommen!", rechtfertigte sie sich. "Euer Leben gehört mir!” “Warum nehmt Ihr es dann nicht?” Clay löste seinen Griff um sie und breitete seine Arme aus. “Los, nehmt Euch, was Euch gehört!!” Cerise fand darauf keine Worte mehr. In jenem Moment gab es nur eine passende Antwort. Sie umschloss Clay mit ihren Armen und kĂŒsste ihn leidenschaftlich. Als sich ihre Lippen trafen, schoss ein elektrisches GefĂŒhl durch ihrer beider Körper. Clay packte sie und drĂŒckte sie zurĂŒck an das harte Mauerwerk. Danach setzten ihre Zungen den Kampf von eben auf einem gĂ€nzlich anderen Schlachtfeld fort. 🌱 Die Kutsche des wichtigsten Gastes ĂŒberquerte die sĂŒdliche BrĂŒcke der Hauptstadt. Zuvor hatte die Stadtwache fĂŒr freies Geleit gesorgt. Pechschwarze Pferde zogen das GefĂ€hrt. Die Kabine bestand aus Ebenholz, verziert mit Ornamenten aus Blattgold und dunkle Gardinen verhinderten jeden Blick hinein in ihr Inneres. Die Kutsche erhielt Geleit von einem Reitergeschwader der Armee von Morgenstern. Eine Hand öffnete zaghaft einen Spalt und gab so einen Ausschnitt der Außenwelt preis. “Wir sind also in Ewigkeit?”, fragte eine Frauenstimme in der Dunkelheit. Sie gehörte Lezabel, der Prinzessin von Aschfeuer. “Das ist die Hauptstadt der freien Menschen”, bestĂ€tigte ein junger Mann. Sein Name war Alaric und er bekleidete den Rang des zweiten Prinzen des Imperiums. Die Frau pfiff abfĂ€llig. “Ich hatte sie mir opulenter vorgestellt, lieber Bruder. Doch was rede ich, es sind immerhin nur Menschen.” Derweil fuhr die Kutsche vor dem Palast vor. Der Kutscher stoppte das GefĂ€hrt und öffnete danach seinen Passagieren die TĂŒr. Alaric wagte als erster seinen fahrbaren Untersatz zu verlassen. Sein Haupt verbarg er unter einer schwarzen Kapuze. Er schaute hinauf in den Himmel und wurde von der Sonne geblendet. SchĂŒtzend hielt er die Hand vor das Gesicht. “Gebt acht, wir sind hier nicht in Vanitas!”, riet die Schwester. “Ich vermisse die Wolken! Diese Sonne ist furchtbar!” Drei Gestalten entstiegen der Kutsche und folgten ihm. Offenbar sollten sie seine Leibwache darstellen. “Hoffentlich ist diese Menschenfrau so minderwertig, wie der Rest dieser niederen Rasse”, spuckte Lezabel aus. “Dann kann unser Bruder ruhigen Gewissens eine richtige Frau heiraten und befleckt unsere Blutlinie nicht mit dieser Rassenschande!” Alaric wandte sich der Kutsche zu. “Wenn diese Frau Ehre besitzt”, fĂŒhrte der Prinz aus, “so will ich sie in unserer Familie willkommen heißen. Die Rasse spielt keine Rolle! Es sind die Taten eines Individuums, auf die es ankommt.” “Wenn Ihr meint
” “Wollt Ihr gar nicht aussteigen?” “Habt Ihr mal Euren Spaß auf diesem... Bankett. Ich muss noch einen alten Freund von mir besuchen.” Lezabel streckte ihre Hand aus der Passagierkabine und signalisierte dem Kutscher, er solle die TĂŒr wieder schließen und weiterfahren. Das GefĂ€hrt setzte sich in Bewegung und verschwand in Begleitung der Reiter alsbald vom Platz. Zusammen mit seiner Leibwache, schritt der Prinz an dem dekorativen Brunnen vorbei, unter den KirschbĂ€umen hindurch, dem Portal des Palastes entgegen. Nebula lud ihre Begleiter zu einem lehrreichen Mittagessen ein. Henrik und Annemarie waren der Einladung gefolgt, aber Clay ließ schon seit heute Morgen nichts mehr von sich hören. Ungeduldig und gereizt klopfte die Blondine mit den Fingern im Takt auf der Tischplatte. “Wo bleibt er?”, fragte sie zornig in die Runde. “I-Ihm wird doch ni-nichts passiert sein?”, sorgte sich Henrik. “Unsinn! Wir sind hier am sichersten Ort in ganz Morgenstern!” “Ich denke, ihm geht es gerade richtig gut!”, versicherte Annemarie. “W-Woher, willst d-du das wissen?”, erkundigte sich Henrik. “Das ist nur so ein GefĂŒhl”, antwortete der Rotschopf, “aber ich fĂŒhle, das er gerade sehr viel Spaß hat.” “Wenn du das sagst”, flötete Nebula ingrimmig. "Gott soll ihm gnĂ€dig sein, wenn er spĂ€ter noch auftaucht!" Sie hoffte fĂŒr Clay, dass er eine verdammt gute Ausrede parat hatte, um seine Abwesenheit zu entschuldigen. Ein schummriger Schein war alles, was die roten Gardinen passieren ließen. Er erhellte das kleine Zimmer einer zweitklassigen Absteige irgendwo in der Stadt in zwielichtigen Ambient. Ein Bett, ein Beistelltisch und ein Schrank befanden sich in diesem Raum. Das Nötigste, wenn man hier zu nĂ€chtigen gedachte. Doch einen Ort wie diesen sucht man aus anderen GrĂŒnden auf. Lustvolles Stöhnen hallte von den WĂ€nden wieder. Clay kniff die Augen zusammen und seine Finger gruben sich in das Bettlaken ein. Heiliger Rubertus, flehte er in Gedanken, wĂ€hrend sich die angestaute Energie entlud. “Was habt Ihr dort unten fĂŒr Teufelszeug getrieben?”, fragte er außer Atem und völlig am Ende seiner KrĂ€fte, als die ReizĂŒberflutung ausgestanden war. Unter der Decke erhob sich eine Wölbung. Sie kroch an ihm hinauf, bis sie das Ende erreichte. Lange, kirschrote StrĂ€hnen kamen zum Vorschein und hingen hinunter in sein Gesicht, als sich Cerise beidarmig ĂŒber ihn stĂŒtzte. Ihre Haartracht war nicht mehr in einem Pferdeschwanz gebunden, sondern hing frei herunter. Sie berĂŒhrten ihre Schultern, ihren Nacken und ebenfalls ihre SchlĂŒsselbeine. Clay wollte den Blick nicht mehr von ihr lassen. Sie fuhr mit ihrer Zunge ĂŒber die Oberlippe. “Ich verstehe mich nicht nur auf das Töten”, entgegnete die blasse Schönheit. “Einen guten Mord muss man feiern können.” “Es gab doch gar keinen Mord.” “Aber ich bin zum Sterben schön.” “Wenn Ihr so weitermacht, wird es mich noch töten!” “WĂ€re das nicht ein wundervoller Tod?” Cerise ließ sich langsam auf den muskulösen Mann unter ihr sinken. Clay fĂŒhlte die Erregung wie Blitze durch seinen gesamten Körper schießen, als seine Haut erneut mit jener der AttentĂ€terin in Kontakt kam. Er umschlang sie mit seinen Armen und drĂŒckte ihre Brust an die seine. “Und was wollt Ihr dagegen tun?”, fragte Cerise ihn anschließend. Sie hauchte dem Schwarzhaarigen ins Ohr. “Mich beißen?” Nach diesen Worten entzog sie sich seiner Umarmung und erhob ihren Körper wieder. Plötzlich wurde sie von Clay gepackt und auf den RĂŒcken gedreht. Sie stieß ein katzenartiges GerĂ€usch aus. “Wollt Ihr mich gleich noch einmal nehmen?” Der Mann brachte sich ĂŒber ihr in Stellung. “Solange ich keinen Pelz trage, kann ich Euch beißen, so viel ich will!” Er senkte sein Haupt und knabberte an Cerises OhrlĂ€ppchen herum. “Ist das ein Angebot?”, fragte sie erregt. “Da willige ich freudig ein! Ja, beißt mich, mein Wölfchen! Bitte, beißt mich!” Nur allzu gern erhörte er ihr Flehen. Nebulas Ungeduld erreichte eine neue QualitĂ€t. Sie wollte nicht mehr lĂ€nger auf einen Mann warten, der nicht mehr erscheinen wĂŒrde. Die Kerzen im Kronleuchter ĂŒber dem Tisch waren auch schon zur HĂ€lfte herunter gebrannt. “A-Also ich gl-glaube, der k-kommt heute nicht mehr!”, warf Henrik ein. Er konnte nicht ahnen, dass Clay gerade ganz andere Dinge im Kopf hatte, als mit diesem Übungsessen seine Tischmanieren zu trainieren. “Dann fangen wir ohne ihn an!”, erhob Nebula ihre Stimme erbost. “Wisst ihr, was das vor euch ist?” Sie deutete auf den gedeckten Tisch. “M-Messer und Ga-Gabeln?”, fragte Henrik. “Teller und Becher?”, ergĂ€nzte Annemarie. “Falsch!”, erwiderte Nebula. “Das sind nicht nur Messer und Gabeln, Teller und Becher. Vor euch ist der Tisch eingedeckt fĂŒr ein ausgelassenes Festmahl.” “Wir haben Hunger”, begann Annemarie unerlaubt zu singen, “haben Hunger, haben Hunger haben Durst! Ich will jetzt essen!” Zornesadern traten aus dem sonst so hĂŒbschen Gesicht der Blondine hervor. “W-Was hast d-du, Nebula?”, versuchte Henrik vorsichtig den Grund fĂŒr ihre Erregung in Erfahrung zu bringen, da er sie sich nicht erklĂ€ren konnte. “Dies ist eine Übung!”, antwortete sie. “Wenn ihr es bis heute Abend nicht schafft, euch die grundlegenden Benimmregeln zu Tisch anzueignen, dann werde ich euch nicht auf das Bankett mitnehmen!” “Was?!”, entrĂŒstete sich Annemarie. “Der Botschafter ist niemand geringeres als der zweite Prinz von Aschfeuer”, fuhr Nebula fort. “Ich werde nicht zulassen, dass ihr in seiner Anwesenheit Schande ĂŒber mich und den Gastgeber bringt! Ihr werdet nun als erstes Lernen, welches Besteck zu welchem Gang benutzt wird.” “Warum sind da ĂŒberhaupt so viele Gabeln und Messer?”, ĂŒberlegte Annemarie. “R-Reichen nicht d-die HĂ€nde?”, grĂŒbelte Henrik. Nebulas Laune wurde durch diese Aussage nicht besser. “W-Was ist?” Die Blondine atmete schwer. “Also gut, hört mir zu”, sprach sie ein wenig gefasster. “Der Teller ist das Zentrum des Mahls. Um den Teller wird alles gruppiert, das man zum gediegenen einnehmen der Mahlzeit benötigt. Rechter Hand beginnend mit dem Suppenlöffel, folgt dann das Messer fĂŒr die Vorspeise und anschließend jenes fĂŒr den Hauptgang. Zur linken Hand habt ihr analog die Gabeln fĂŒr Vorspeise und Hauptgang. Links davon der Brotteller. Das Besteck fĂŒr die Nachspeise findet ihr ĂŒber eurem Teller.” “W-Welchen Teller jetzt?”, unterbrach Henrik verwirrt. Nebula stöhnte genervt. “Na der direkt vor deiner Nase”, sagte Annemarie. Wenigstens schien sie mitzudenken. Das beruhigte Nebula etwas. “Die Becher fĂŒr die GetrĂ€nke werden, beginnend bei dem Alebecher, ĂŒber den Messern platziert. Dort seht ihr also von rechts nach links Alebecher, Weissweinbecher und Rotweinbecher.” Nebula atmete kurz durch. “Auf dem Tisch befinden sich ebenfalls Wasserschalen, um die HĂ€nde von Speiseresten zu reinigen. Die Finger werden nicht - und ich wiederhole - NICHT an der Tischdecke abgewischt!” Entgeistert sackte Henrik zusammen. “W-Wie soll i-ich mir das alles merken?”, fragte er niedergeschlagen in die Runde. Die Teller und Becher sprangen in die Höhe, als Nebula aus Verzweiflung ihren Kopf auf die Tischplatte schlug. Clay lag noch immer zufrieden im Bett des abgelegenen Gasthauses und genoss den Anblick, als die verfĂŒhrerische Rothaarige ihren nackten Körper allmĂ€hlich verhĂŒllte. Er hatte bei weitem nicht genug. Sein Hunger nach ihr war noch lange nicht gestillt. Am liebsten wĂŒrde er sie sofort noch einmal nehmen. Nichts in der Welt wĂŒrde mit diesem Feuersturm der Leidenschaft konkurrieren können. Doch er fĂŒhlte sich von angenehmer MĂŒdigkeit ans Laken gefesselt. Cerise spĂŒrte seine lĂŒsternen Blicke. “Ihr seid wirklich ein Biest”, kommentierte sie sein Glotzen. “Stunde um Stunde und Ihr seid immer noch nicht vollends befriedigt?” “Wundert es Euch?”, erwiderte der JĂ€gersmann. “Eigentlich nicht.” Vollkommen bekleidet, band sie nun ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. “Ich könnte mir selbst auch nicht widerstehen.” “Wieso habt Ihr das getan?” “Was getan?” “Mit mir geschlafen.” “Weil ich es wollte! Behauptet jetzt nicht, es hĂ€tte Euch nicht gefallen!” “Wie soll es nun mit uns weitergehen?” “Was, werdet Ihr jetzt etwa anhĂ€nglich?” Sie legte StĂŒck fĂŒr StĂŒck ihre Waffen an. Es dauerte lange, denn es waren viele an der Zahl. “Wir hatten Spaß zusammen. Nicht mehr. Deshalb muss man nicht gleich heiraten.” “Ich meine, ob Ihr mich immer noch töten wollt?” Ein Grinsen erschien auf ihren Lippen. “Nicht, wenn Ihr mich weiter so gut unterhaltet.” “Habt Ihr keinen Auftraggeber, den Ihr Bericht erstatten mĂŒsst?” “Mir wird schon was einfallen.” Nach diesen Worten und dem Befestigen der Armbrust an ihrem RĂŒcken verließ die AttentĂ€terin das Zimmer und ließ Clay allein zurĂŒck. 🌱 Am Abend versammelte sich die Festtagsgesellschaft im linken FlĂŒgel des Palastes. Die Tafel wurde in Hufeisenform aufgebaut, sodass die Mitte des Ballsaales fĂŒr TĂ€nze zur VerfĂŒgung stand. Musikanten und Barden standen fĂŒr die akustische Untermalung bereit. Nebula und ihre Begleiter hatten einen Platz am rechten unteren Ende der Tafel erhalten. Auf ihren Wunsch. Sie wollte sich nicht auf den PrĂ€sentierteller setzen. WĂ€hrend sie es vorzog, sich erneut unter einer Kutte zu verbergen, wenn auch eine des Anlasses angemessene, saßen Henrik und Annemarie in ungewohnt feiner Gewandung zu Tisch. Auch Clay war zu ihnen gestoßen. Allerdings hatte er ihnen weder verraten, wo er all die Stunden verbracht hatte, noch was ihm in dieser Zeit widerfahren war. Die anderen hatten es widerwillig hingenommen, um keine Szene zu machen. Clay saß links neben Nebula, Annemarie rechts. Und neben dem MĂ€dchen hatte Henrik seinen Platz gefunden. Er war froh, Annemarie zwischen sich und Nebula zu haben. Sein Herz wĂŒrde sonst explodieren. Am Kopf der Tafel saßen der König und die Prinzessin mitsamt den royalen Beratern. Neben der Prinzessin war ein Platz frei. Er gebĂŒhrte dem Ehrengast, dem Botschafter des Kaiserreichs. Alle anderen GĂ€ste fanden entweder auf der linken oder der rechten Seite Platz. Die TĂŒr zum Ballsaal öffnete sich und ein Mann trat ein, um die Ankunft jenes Botschafters anzukĂŒndigen. “Der zweite Thronfolger des Kaiserreichs Aschfeuer:”, sprach er, “BegrĂŒĂŸt mit mir unseren durchlauchtigsten Gast, Prinz Alaric von Aschfeuer!” Er trat beiseite und verneigte sich so tief er konnte, ohne dass ihm das Kreuz brach. Ein Mann mit langem Mantel und einer schwarzen Kapuze betrat in Begleitung mehrerer LeibwĂ€chter den Saal. Er setzte seine Kopfbedeckung ab und enthĂŒllte seine spitzen Ohren, welche zwischen seiner aufgewĂŒhlten Frisur vom SchĂ€del abstanden. Die GĂ€ste beĂ€ugten ihn perplex. Viele hatten nicht damit gerechnet, dass der Botschafter tatsĂ€chlich eines der Kinder des Kaisers seien wĂŒrde. Alaric streifte seinen Mantel ab und Übergab ihn an einen seiner LeibwĂ€chter. Danach nahmen dieser und die anderen eine Position nah des Ausgangs ein, und warteten auf weitere Befehle ihres Meisters. Eine Palastwache trat an Alaric heran. “Eure Hoheit, darf ich um Eure Waffe bitten?”, fragte er so respektvoll wie möglich und deutete auf dessen Schwert, welches nun durch das Fehlen des Mantels fĂŒr alle sichtbar geworden war. “Hier sind Waffen nicht gestattet.” “Meine Waffe?!”, entrĂŒstete sich der Elf. “Wollt Ihr mich beleidigen? Sie ist ein Zeichen meiner Ehre! Verlangt Ihr von mir, meine Ehre abzulegen?!” “Aber natĂŒrlich nicht! Aber die Regeln-” Der König signalisierte mit einer Handbewegung, dass es dem Gast gestattet war, seine Waffe zu behalten. Daraufhin verneigte sich die Wache und trat beiseite. “Ich glaube, er geht sogar mit dem Ding ins Bett”, lĂ€sterte Nebula. Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um einem Lachen vorzubeugen. Alaric sah sich um. Sein Gesichtsausdruck wirkte wenig begeistert. Seine Erwartungen an das Königreich der Menschen waren sowieso niemals besonders hoch gewesen, doch offenbar wurden sie noch bei weitem unterboten. Seine Ehre gebot es, dass er es schweigend hinnahm, um den Gastgeber nicht zu beleidigen. Er schritt rechter Hand um das Hufeisen herum und kam so an Nebula und den anderen vorbei. Alarics und Nebulas Augen trafen sich fĂŒr einen Moment. Ein seltsames GefĂŒhl ĂŒberkam beide gleichermaßen. Nachdem sie kurze Blicke ausgetauscht hatten, setzte er seinen Weg fort und nahm seinen angestammten Platz neben der Prinzessin ein. Das Festmahl konnte nun beginnen. Nachdem die Nachspeise serviert und verzehrt war, begannen die TĂ€nze. Entgegen Nebulas BefĂŒrchtungen, war es ihren Begleitern gelungen, halbwegs anstĂ€ndiges Verhalten zu Tisch an den Tag zu legen. Zwar verwechselte Henrik die Salat- mit der Fischgabel, doch war dieses Malör niemandem aufgefallen. WĂ€hrend Henrik und Annemarie sich nun auf der TanzflĂ€che austobten, sah Nebula zum Stuhl der Prinzessin und dem des Botschafters. Dies war das Ergebnis einer Kette von Ereignissen, die vor drei Jahren ihren Anfang nahm. Das wilde Treiben kam allmĂ€hlich zu einem Ende. Mindestens eine halbe Stunde hatten sie getanzt. Nun rĂ€umten die Paare nach und nach die TanzflĂ€che, um fĂŒr das große Finale des Banketts Platz zu schaffen: Dem Tanz des Botschafters mit der Prinzessin. Henrik und Annemarie waren die letzten, die zu ihren Sitzen zurĂŒckkehrten. Prinz Alaric erhob sich und reichte Prinzessin Emelaigne die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Gemeinsam schritten sie um die Tafel herum und betraten die Mitte der TanzflĂ€che. Dort angekommen, reichten sie einander die rechte Hand und begannen sich zu umkreisen. Sie sprangen dabei abwechselnd mit dem linken und dem rechten Bein ab und kamen sich dabei mal nĂ€her, und mal entfernten sich. Die Musikanten spielten ihre Instrumente und die GĂ€ste klatschten verzĂŒckt im Takt. Plötzlich stoppte Alaric in seiner Bewegung. Er sah seine Tanzpartnerin mit ernstem Blick an, legte eine Hand auf ihre Wange und neigte dabei ihren Kopf ein StĂŒck. “Wie ist es um Eure Ehre bestellt?”, fragte er sie unerwartet. Sie verstand nicht. “Wenn man etwas verspricht, sollte man es auch halten. Habe ich nicht Recht?” Er ließ ihre Wange los, streckte seinen Arm zur Seite aus und spreizte die Finger seiner Hand. “Und meinem Bruder wurde die Prinzessin versprochen!” Nebulas Augen weiteten sich. Diese Pose kannte sie nur zu gut. Von sich selbst. Als plane der Prinz aus Aschfeuer vor versammelten GĂ€sten eine böse Macht zu entblĂ¶ĂŸen. “Trenne Körper und Geist!”, sprach der Elfenprinz, “Anima!” Sein Arm hĂŒllte sich in blaue Flammen ein. Zwischen ihnen schimmerte etwas schwarz GlĂ€nzendes hervor. Fast wie ein lebendiges Wesen wand es sich an Ober- und Unterarm hinunter. Alarics Hand umklammerte das TeilstĂŒck unter der Spitze. Eine lange schwarze Kette war nun um seinen Arm gewickelt und kam einfach nicht zur Ruhe. An ihrem Ende befand sich eine metallene Klinge. Sie wirkte und handelte fast wie eine Schlange. Also verfĂŒgte er tatsĂ€chlich ĂŒber vergleichbare KrĂ€fte? AngsterfĂŒllt trat die Prinzessin zurĂŒck. Alaric stieß die Kette zu seiner Tanzpartnerin. Sie durchdrang Emelaigne, ohne ihr einen körperlichen Schaden zuzufĂŒgen. Doch auf ihren Weg riss sie etwas mit sich. Eine weiße Energie entwich ihrem Körper und sammelte sich in Alarics linker Hand. Anima hatte ihre Seele aus ihr herausgezogen. Vollkommen versteift blieb das MĂ€dchen stehen und zeigte keinerlei Bewegung mehr. Laute des Entsetzens fuhren durch die Festtagsgesellschaft. Alle waren wie gelĂ€hmt. Einem der Musikanten entglitt die Laute. Einem Adligen fiel der Becher aus der Hand, sodass sich der Rotwein ĂŒber die Tischdecke ergoss. Ein anderer fiel vom Stuhl, bei seinem Versuch aufzustehen und Schutz zu suchen. Die Wachen umklammerten ihre Waffen und posierten hilflos in DrohgebĂ€rden, um ihre eigene Furcht zu verbergen. Nebula wollte aufspringen und einschreiten. Doch Annemarie verhinderte es, indem sie ihre rechte Hand umklammerte. “Was soll das?!”, stellte sie sie zur Rede. Dabei fiel ihr Blick unvermittelt auf das Gesicht des MĂ€dchens und sie sah dessen angstvoll geweiteten Augen. Sie wirkten, als seien sie auf die GrĂ¶ĂŸe von Untertassen angewachsen. Sie spĂŒrte das Schlottern des MĂ€dchens. So hatte sie Annemarie noch nie erlebt. “Nein!”, wimmerte der Rotschopf. “Du darfst nicht gegen ihn KĂ€mpfen! Er ist zu stark!” “Ich kann doch nicht-” “NEIN! Du wirst verlieren! Du wirst-!” “Aber ich-” Sie stockte, als laut HandflĂ€chen auf der Tischplatte aufschlugen. Der König hatte sich erhoben. Nun deutete er mit zitternden, nacktem Finger und Beben in der Stimme auf den Prinzen der Schwarzelfen. “Wachen! Ergreift ihn!” Auch ihn plagte die Furcht. Doch Angst zu haben, war ein Luxus, den er sich als Herrscher von Morgenstern nicht erlauben durfte. Wenn er Angst zeigte, wer sollte dann seinen Untertanen Zuversicht spenden? “Betrug ist unehrenhaft!”, verkĂŒndete Alaric derweil lauthals und wandte sich den Besuchern zu, von denen nur wenige fassten, was sich vor ihren Augen zutrug. “Das ist nicht Emelaigne Morgenstern! Lasst euch nicht von eurem eigenen König an der Nase herumfĂŒhren!” Als die Wachen dem Befehl ihres Königs Folge leisten und Alaric gefangen nehmen wollten, stellten sich ihnen die LeibwĂ€chter des Prinzen kampfbereit und mit gezogenen Schwertern, entgegen. “SchĂŒtzt den Prinzen!”, sagte einer von ihnen. “MĂ€nner, ihr seid im Weg!”, tadelte Alaric. “Seht zu, dass ihr Land gewinnt, oder wollt ihr ebenfalls eure Seelen verlieren?!” “Jawohl, Eure Hoheit!” Die LeibwĂ€chter manövrierten sich an den Palastwachen vorbei, wĂ€hrend sie es nicht unterließen, sie weiter mit ihren Waffen zu bedrohen. Als seine MĂ€nner nicht mehr in Reichweite waren, schwang Alaric seine Waffe und vollzog eine volle Drehung. Dabei fuhr Anima durch die Körper seiner Gegner, wie zuvor durch jenen der falschen Prinzessin, und abermals entriss sie eine weiße Energie, welche der Prinz in seiner linken Hand konzentrierte. “Ich sagte, ergreift ihn!”, forderte der König. Doch seinem Befehl leistete keiner mehr Folge. Alaric stand im Zentrum eines Zirkels aus Wachsfiguren. MĂ€nner, starr und steif in ihrer Bewegung eingefroren, standen da und Umklammerten noch immer ihre Waffen. Ihre Augen fischig, matt und ohne Glanz. Alaric gab seinen LeibwĂ€chtern ein Zeichen und setzte zum Gehen an. “Kommt, wir verlassen diese Scharlatane!”, sprach er zu seinen Begleitern. Und es hatte ganz den Anschein, als wĂŒrde es niemand mehr wagen, ihn aufzuhalten. Die zuerst in sich gekehrte, stille Angst der GĂ€ste erwuchs rasch zu ausgeprĂ€gter, gerĂ€uschvoller Panik. Sie wollten fliehen, aber wohin? Der einzige Ausgang des Ballsaals war auch der, den Alaric von Aschfeuer nahm. Noch immer gefesselt vom eisernen Griff des zierlichen, kleinen MĂ€dchens, sah sich Nebula zur UntĂ€tigkeit verdammt. “Lass mich los, du Göre!”, tobte sie. Es war ihr gar nicht aufgefallen, dass Annemarie ihre Hand ergriffen hatte. Aber inzwischen ließ sie sie nicht mehr los. “Nein!”, weigerte sich das verĂ€ngstigte Kind. “Wenn ich das tue, wirst du sterben.” Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und starrte sie voller Verzweiflung an. “W-Was ist hier e-eben p-passiert?”, haspelte Henryk einen Satz zusammen, als er endlich seine Sprache wiederfand. “Ich weiß es nicht”, antwortete Clay. Die Haare auf seinen Armen hatten sich aufgestellt. Jede einzelne Faser rief “Gefahr” und seine tierischen Instinkte befahlen ihm, den Palast und die Stadt auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Nicht wegen des Elfenprinzen. Er spĂŒrte noch etwas viel Böseres. Arngrimir, der Hofzauberer, hielt nichts mehr auf seinem Platz. Beinahe unmöglich agil fĂŒr einen Mann seines Alters, sprang der Hofzauberer von seinem Stuhl. Er eilte zur still und starr verharrenden falschen Prinzessn und nahm sie in Augenschein. “Interessant!”, sagte er, wĂ€hrend er mal in die eine, mal die andere Richtung um sie herum schritt und dabei jeden Millimeter ihres Körpers musterte. Er berĂŒhrte ihre Hand und bewegte ihre Finger. Sie ließen sich anstandslos in eine andere Position bringen und behielten ihre neue Lage bei. Das Gleiche, als er ihren Kopf packte und vorsichtig neigte. “Höchst interessant!” Als nĂ€chstes sah er in ihre Augen. Sie hatten noch immer ihre Farbe, doch ihr Glitzern war erloschen. Wie ein Feuer, dem der Brennstoff fehlte. Es hatte den Anschein, als wĂŒrden sie einfallendes Licht schlucken. Als falle es in eine Untiefe hinein. In ein bodenloses Loch, das kein Ende nahm. “Wie Bitte?!”, eschauffrierte sich Nebula. “Was ist daran interessant!” Sie gab noch nicht auf, ihre Freiheit von Annemaries Hand zurĂŒckzuerlangen, und zerrte weiter. Aber die ließ sie einfach nicht los. Nebula funkelte das MĂ€dchen mit ihren rotglĂŒhenden Augen an. “Lasse sofort meine Hand los oder ich hacke deine ab!”, schĂŒchterte sie das Kind ein. Und es wirkte. Annemaries griff lockerte sich. Nebula riss sich von dem Rotschopf los und eilte der Erstarrten entgegen. Sie drĂ€ngte den neugierigen Zauberer bei Seite und umarmte ihre Freundin. “Was ist mit dir?”, fragte sie sie. NatĂŒrlich erhielt sie keine Antwort. Derweil mĂŒhten sich die ĂŒbrigen Palastwachen auf Befehl des Königs, die aufgescheuchte Festtagsgesellschaft zu beruhigen. Der Zauberer sah sich derweil ihre unglĂŒcklichen Kameraden an, die ebenfalls das Schicksal teilten, erstarrt zu sein. Er konnte auch bei ihnen identische Symptome bestĂ€tigen. “Das ist wirklich sehr interessant”, murmelte er immer wieder. “Könnt Ihr noch etwas anderes sagen?!”, fauchte Nebula den königlichen Berater an. “Oh, vergebt mir!”, entschuldigte sich Arngrimir. Das PhĂ€nomen dieser vermeintlichen Versteinerung hatte ihn so sehr in seinen Bann gezogen, dass er nicht in Betracht zog, wie seine Aussagen auf andere wirken könnten. “Was ist mit ihnen geschehen?” “Ich bin mir nicht sicher.” Der Zauberer zog weitere Kreise um die Opfer des Prinzen. “Aber er könnte ihnen die Seele gestohlen haben.” “Dieses spitzohrige Dreckschwein!” Vorsichtig legte Nebula die vermeintliche Prinzessin auf den Boden und kniete sich neben sie. “Ich werde dich retten!” Sie erhob sich und trat Arngrimir gegenĂŒber. “Wie kann ich ihnen helfen? Wie ist es ĂŒberhaupt möglich, jemanden die Seele zu stehlen?” “Er hatte eine Teufelswaffe.” Eine andere ErklĂ€rung fiel ihm nicht ein. “Trenne Körper und Geist”, wiederholte Nebula Alarics Worte. “So hat er sie beschworen.” WĂ€hrend sie in die Leere starrte, sah sie die AblĂ€ufe vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Sie fixierte den bĂ€rtigen Mann im Magiergewand. “Wenn ich Euch seine Hand bringe, könnt ihr sie dann retten?” “Es wĂ€re möglich.” “WĂ€re auch eine klare Aussage möglich?” “Die Seelen mĂŒssen nicht zwangslĂ€ufig in seiner Hand verbleiben.” Nebula Augen funkelten abermals rot auf. “Dann schleife ich eben seinen stinkenden, massakrierten Kadaver zu Euch.” Zwei mutige Wachen wurden von Anima durchdrungen, als sie versuchten, den Prinzen von Aschfeuer aufzuhalten. Auch ihre Energien sammelte Alaric auf. Nun waren die MĂ€nner Teil dieses Wachsfigurenkabinett des Grauens, wie schon die anderen vor ihnen. “Eure Hoheit”, sprach einer seiner LeibwĂ€chter Alaric unvermittelt an. “Darf ich fragen, warum Ihr vorhin im Thronsaal-” “Nein darfst du nicht!”, fiel ihm der Prinz ins Wort. “Entschuldigt, Eure Hoheit!” “Diese Frau war nicht die Prinzessin”, antwortete er nun doch auf die Frage. “Sie haben uns belogen. Und wer lĂŒgt, ist ehrlos! Wenn ich etwas verabscheue, ist es Ehrlosigkeit!” “Verzeiht die Frage, aber woher wusstet Ihr es?”, fragte ein zweiter LeibwĂ€chter. “Prinzessin Emelaigne von Morgenstern soll einen Leberfleck unter dem linken Auge haben”, erklĂ€rte Alaric. “Und diese hatte k-” Er stockte. Plötzlich kam es ihm wieder in den Sinn. Er erinnerte sich, dass er in der Tat jemanden gesehen hatte, auf den diese Beschreibung zutraf. “Was ist, Eure Hoheit?” “Diese Frau unter der Kutte!” Er war schon im Begriff, sich umzudrehen, als er etwas nĂ€her kommen fĂŒhlte. Und es war ihm keineswegs freundlich gesonnen. Jemand kam im rasantem Tempo aus dem Thronsaal gerannt. Dabei handelte es sich um seine Bekanntschaft von vorher. Nur ihre Kutte hatte sie abgelegt. Die Ähnlichkeit mit der jungen Frau, deren Seele er genommen hatte, war erstaunlich. Ihre HĂ€nde umklammerten den Griff eines riesiges Schwert. Es war so gewaltig, dass es den Anschein hatte, sie könne es kaum tragen. So gewaltig, dass es den Boden entlang schliff, den Teppich aufschlitzte und den Steinboden zertrĂŒmmerte. “Bastard!”, schrie sie ihm mit wehklagender Stimme entgegen. Die LeibwĂ€chter brachten sich vor Alaric in Position, doch ihr Schutzbefohlener wollte ihre Dienste nicht, quetschte sich zwischen ihnen hindurch und fing den Hieb des riesigen Schwertes mit der Kette von Anima ab, welche er zwischen beiden HĂ€nden spannte. Trotz dessen breitete sich hinter ihm eine Druckwelle aus, welche seine MĂ€nner von den FĂŒĂŸen riss, bis zum Ende des Ganges jedes einzelne Fenster zerschmetterte, den Staub der letzten Dekade aufwirbelte und sĂ€mtliche Fackeln löschte, sodass es finster wurde. Einzig die erstarrten Wachen blieben stehen. Alaric und die Frau starrten sich an. Rote glĂŒhende Augen sahen in rote glĂŒhende Augen. “Beeindruckend”, erkannte der Prinz die FĂ€higkeiten seiner Gegnerin an. Sie war die TrĂ€gerin des Muttermals. Sie war die, die er suchte. Er konnte sein Herz vor Aufregung und Freude klopfen hören, angesichts eines weiteren ehrenvollen Kampfes. “Ihr seid also die Echte!” Inzwischen war die kleine Annemarie in TrĂ€nen ausgebrochen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden HĂ€nden. Der Gedanke, sie nicht aufgehalten zu haben, quĂ€lte sie. Die Zukunft ihrer Freundin lag an einem finsteren Ort, von dem es keine Wiederkehr gab. Henrik umarmte das Kind. “D-Das war schr-schrecklich, ich weiß”, versuchte er sie zu trösten. “A-Aber alles wird gut!” Clays Riechorgan nahm erneut diesen merkwĂŒrdigen Geruch nach altem Pergament bei dem MĂ€dchen war. Warum rochen ihre AusdĂŒnstungen wie eine ganze Bibliothek? Dieses Kind war ihm schon vom ersten Moment an suspekt. “Gar nichts wird gut”, flennte Annemarie. “S-Sag sowas n-nicht!” Annemarie schlang ihre Arme um Henrik und legte ihren Kopf auf seine Schulter. “Sie wird sterben!”, weinte sie. Die TrĂ€nen, die aus ihren Augenwinkeln quollen, waren seltsam dunkel, fast wie Tinte. “B-Blödsinn!”, versicherte Henrik, der sie nicht sehen konnte. “N-Nicht unsere fachmĂ€nnische A-Arschaufreißerin!” Das MĂ€dchen wischte sich die TrĂ€nen aus dem Gesicht, sodass keine Spur von ihnen blieb. Es löste die Umarmung und ergriff Henryks HĂ€nde. Ein flĂŒchtiges LĂ€cheln zuckte ĂŒber Annemaries Lippen, als sie ein weiteres Bild der Zukunft empfing. Sie sah Henryk tief in die Augen. “Es gibt nur einen, der sie retten kann. Und das bist du!” “W-Was, i-ich?”, stotterte der braunhaarige Junge unglĂ€ubig. Kapitel 9: Tod und Wiedergeburt - Teil 1 ---------------------------------------- 🌱 Alaric und Nebula kreisten mit ihren Waffen verkeilt umeinander, wĂ€hrend die LeibwĂ€chter nur untĂ€tig zusehen konnten. Ihnen war bewusst, wenn er einem anderen Waffenmeister gegenĂŒberstand, wĂ€ren sie nur im Weg. “Ich hĂ€tte nicht gedacht, dass dieses Land einen so starken Waffenmeister hervorbringen könnte”, bemerkte Alaric. “Und dann ist es auch noch die Thronerbin. Ihr werdet meinem Bruder ehrenhafte Söhne gebĂ€ren. Hervorragend!” “Schaut, wie hervorragend ich Euch in StĂŒcke hacken kann!”, drohte Nebula. Sie konnte es auf den Tod nicht ausstehen, auf eine GebĂ€rmaschine reduziert zu werden. “Ach wirklich?!” So schnell, wie Alaric sein Bein anhob und nach ihr trat, konnte sie nicht reagieren. Seine Kraft stieß sie gegen die Wand hinter ihr. Schmerz lĂ€hmte sie und machte es ihr unmöglich, die folgenden Tritte abzuwehren. “Ihr schwingt große Reden”, belehrte Alaric, wĂ€hrend er nicht aufhörte, Nebula mit seinem Stiefel zu maltrĂ€tieren. “Lernt zuerst Euch selbst zu schĂŒtzen!” Er erdreistete sich, ihr altkluge RatschlĂ€ge zu geben, wie einen Rekruten in der Soldatenschule. Sie konnte spĂŒren, wie sich die Kraft der Tritte durch ihren ganzen Leib fortsetzte, um sich letztlich auf die Wand hinter ihr zu ĂŒbertragen. Risse breiteten sich allmĂ€hlich im GemĂ€uer aus. Als der Elf mit einem letzten Stoß nachlegte, brachte es die Wand hinter Nebula zum bersten und sie stĂŒrzte hinaus in den menschenleeren Hof. Auf dem Weg nach unten, streifte sie die Krone eines Kirschbaums, riss ein paar Äste mit sich und schlug dann begleitet von TrĂŒmmerteilen zu seinen Wurzeln auf dem Boden auf. Alaric trat an das Loch in der Mauer heran. Er war ĂŒberrascht festzustellen, dass die Prinzessin noch nicht ĂŒberwĂ€ltigt war. Sie hielt sogar noch immer ihre Waffe. Die ganze Zeit hatte sie sie nicht losgelassen. Ein ehrenhafter Krieger lĂ€sst bis zum bitteren Ende nicht von der Waffe ab! Er sprang nun selbst hinunter und landete ein paar Meter von ihr entfernt. Nebula versuchte aufzustehen. Sie drehte sich auf den Bauch und musste husten. Dabei brachte sie ihr schwarzes Blut zum Vorschein. Alaric beobachtete ihre gequĂ€lten Versuche, wieder aufrecht zu stehen. “Ich muss zugeben, Eure Willenskraft ist beeindruckend.” “Spart Euch den Atem!”, giftete die Blondine, wĂ€hrend sie Quake als StĂŒtze nutzte und sich an ihm nach oben zog. “Bitte ergebt Euch, Prinzessin Emelaigne. Eine Niederlage einzusehen, ist keine Schande. Es zeugt von Besonnenheit! Ich möchte es vermeiden, Euch zu töten.” “Und wie nennt Ihr das eben?”, fragte sie, als sie wieder fest auf dem Boden stand. “Von den paar Tritten sterben die unseren nicht. Also bitte, wahrt Eure Ehre und ergebt Euch, bevor ich zu letalen Mitteln greifen muss. Ich möchte meinem Bruder nicht erklĂ€ren mĂŒssen, warum ich die Braut erschlagen habe.” “Ihr hört nicht auf von Ehre und Euer eigenen Überlegenheit zu reden und seid trotzdem nichts weiter als ein feiger Hund. Oder habt Ihr nicht im Ballsaal eine hilflose Frau angegriffen? Ist das vielleicht ehrenhaft?!” “Ihr meint diese Hochstaplerin? LĂŒgner haben keine Ehre und verdienen keine Gnade.” “Erspart mir gefĂ€lligst Euren Ehrenkomplex!” Sie erhob Quake und stĂŒrmte auf Alaric zu. Doch der Prinz wehrte den Angriff ab, wie den anderen zuvor. Die Wucht des Aufpralls breitete sich hinter ihm im Innenhof aus, wĂŒhlte Staub auf und ließ BlĂ€tter tanzen. WĂ€hrend er Quake mit Anima parierte, drĂŒckte er Nebulas Arme nach oben und trat sie erneut gegen den nun ungeschĂŒtzten Oberkörper. Der Stoß katapultierte sie durch die Luft. Sie prallte rĂŒcklings gegen eine SĂ€ule und fiel anschließend auf die Knie. Keuchend stĂŒtzte sie sich abermals auf ihr Schwert. Eine leichte Briese spielte mit Prinzessin Lezabels Haaren und ließ es in StrĂ€hnen um ihre langen, spitzen Ohren tanzen. Die Dunkelheit der Nacht war fĂŒr sie viel ertrĂ€glicher als der unerbittliche Sonnenschein des Tages. Sie musste sich nicht mehr vor der grellen Sonne im Inneren der Kutsche verstecken. Die KĂŒhle der spĂ€ten Stund tat ihr gut. Nahezu wie ihre von dunklen Wolken verhangene Heimat, in der niemals ein Sonnenstrahl den Boden berĂŒhrte und sĂ€mtliches Licht aus der Erde selbst an die OberflĂ€che trat. Sie hatte sich vor der Drachenstatue eingefunden. Das Friedensgeschenk von Aschfeuer, nachdem die Kampfhandlungen mit dem Reich der freien Menschen aufgrund eines tragischen Vorfalls eingestellt wurden. Dieser Drache war ein wertvolles Geschenk. Nichts bedeutete der kaiserlichen Familie mehr, als ihr Machtsymbol. Es war nun höchste Zeit, einen alten Freund zu treffen. Jemanden, der lange in dieser Stadt die Stellung wahrte und ihre RĂŒckkehr mit absoluter Sicherheit ersehnte. Hustenreiz und ĂŒbler metallischer Geschmack auf ihrer Zunge ĂŒberkamen Nebula bei dem Versuch, sich aufzuraffen und wieder aufzustehen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, nur um erneut blutigen Auswurf vorzufinden, als sie sie wieder herunter nahm. Er ist zu stark, gestand sie sich ein. Doch nichts lag ihr ferner, als aufzugeben. Das Leben - nein die Seele - ihrer besten Freundin stand hier auf dem Spiel! “Habt Ihr denn immer noch nicht genug?”, fragte Alaric selbstsicher, wĂ€hrend Nebula sich quĂ€lte, zu stehen. “Ihr gebt nicht auf, Prinzessin. Das rechne ich Euch hoch an!” Er musste unbedingt verhindern, dass sie zu sehr ihrer Wut verfiel. “Aber bitte, gebt endlich auf, bevor Ihr eine Grenze ohne Wiederkehr ĂŒberschreitet!” “Ich verzichte auf Eure Besorgnis!”, spie sie verĂ€chtlich aus. Keuchend richtete sich die Blondine auf. Sie versiegelte Quake und hob den Arm. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Ein Blitz fuhr von oben herab und schlug in ihrer Hand ein. Alarics Augen weiteten sich. “Ihr besitzt eine weitere-”, wollte er in Verwunderung ausstoßen, wurde jedoch mitten im Satz unterbrochen, als seine Gegnerin plötzlich verschwand, hinter ihm wieder erschien und um ihn herum die ElektrizitĂ€t zuckte und knackte. Ein paar Schnitte taten sich auf. An seinem Arm, an seiner Brust und auf der Wange. Keine dieser Wunden war wirklich tief. Nebulas Angriff fehlte es an Kraft. Der Elf wandte sich zu ihr, sah sie taumeln und um Gleichgewicht ringen. Es war offensichtlich, dass sie ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Zornig wandte sie sich zu ihm hin. “Gebt sie mir zurĂŒck!”, forderte sie energisch. “Gebt mir Caroline zurĂŒck!” “Ist das der Name der Hochstaplerin?” “Sie ist keine Hochstaplerin!” “Was habt Ihr eigentlich mit ihr zu schaffen?” “Schnauze! Gebt sie mir zurĂŒck!!” Kopflos und ohne nachzudenken, stĂŒrmte sie auf den Prinzen zu. Alaric schwang Anima und stieß es ihr entgegen. Als es eigentlich mit ihr in BerĂŒhrung hĂ€tte kommen mĂŒssen, geschah nichts. Doch als sie ihn passierte, bemerkte sie, dass sich nur noch Luft dort befand, wo zuvor eine Waffe war. Sie wandte sich ihrem Gegner zu und musste feststellen, dass ihre Waffe von der immer lĂ€nger werdenden Kette festgehalten wurde. “Was?” Nebula starrte fassungslos ihre leeren HĂ€nde an. “Anima vermag es, Geist und Körper zu trennen.”, erklĂ€rte der Prinz. “Ich besitze die FĂ€higkeit, weiße Seelen zu absorbieren. Deshalb nennt man mich Soul Eater.” Alaric blieb völlig ruhig, wĂ€hrend er sprach. “Leider ist es mir nicht möglich, Eure Waffen ebenfalls aufzunehmen.” Er wiederholte seinen Angriff von eben und entriss Nebula fast ihr gesamtes Arsenal mit einem einzigen Streich. Gastraphetes, Mirage und Quake hingen zusammen mit Gungnir und einigen anderen Teufelswaffen, die Nebula noch nie zuvor zeigte, aufgereiht wie bei einer Perlenschnur an Anima. “Wie kann sie mehr als eine...” Die schiere Menge an Teufelswaffen ĂŒberraschte den Elf. Den Meisten gelang es nur eine, vielleicht zwei zu beherrschen. Diese Frau besaß sieben und konnte frei zwischen ihnen wechseln. Nebula war am Ende ihrer KrĂ€fte. Die gewaltsame Abtrennung der Teufelswaffen, schwĂ€chte sie zusĂ€tzlich. Ihre Arme fĂŒhlten sich schwer wie Blei an und ihre Beine trĂŒgen sie wohl nicht viel lĂ€nger. Sie sah sich einem Feind gegenĂŒber, welcher sie mĂŒhelos in die Tasche stecken konnte. Die Wut begann die Kontrolle zu ĂŒbernehmen. Ein erbarmungsloses Feuer in ihrem Herzen wollte sie verschlingen. Dieses GefĂŒhl! Es war genau wie damals. Nebula spĂŒrte einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf und presste beide HĂ€nde an ihr Gesicht. “Arrrrrgh!”, schrie sie auf. Zwischen ihren Fingern blitzte das Rubinrot ihrer Augen hervor. Die Pein ließ ihre Knie wackelig werden. Sie bewegte sich RĂŒckwĂ€rts, wĂ€hrend sie die Wellen des Schmerzes durchlebte. Alaric beobachtete das Geschehen mit Sorge. Das abscheuliche Kreischen Nebulas verebbte. Ihre Arme fielen schlaff zur Seite und sie ließ den Kopf hĂ€ngen. “TöTEn!”, sagte sie. Ihre Stimme war nicht wiederzuerkennen. Sie hob ihr Haupt an. Pulsierende schwarze Adern entstellten ihr Gesicht. “IcH wERdE DiCH TöTEn!!!” Die Kraft kehrte in ihre Gliedmaßen zurĂŒck. In ihren beiden HĂ€nden konzentrierte sich schwarze Masse und formte jeweils entartete Klingen. Alaric hatte dies noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, aber er wusste, was es zu bedeuten hatte. Nun ist sie verloren, erkannte er betrĂŒbt. Ohne Vorwarnung attackierte Nebula ihn. Eine violette Aura vergrĂ¶ĂŸerte die LĂ€nge ihrer schwarzen Schwerter auf das Dreifache. Sie prĂŒgelte ohne Verstand auf den Prinzen ein. “StIRb! STirB! StIRb!” Sie realisierte in ihrem Wahn nicht einmal mehr, dass Alaric alle ihre SchlĂ€ge parierte. Erst der Schock eines stechenden Schmerzes holte sie in die RealitĂ€t zurĂŒck. Die schwarzen Adern in ihrem Gesicht verschwanden und ihre Schwerter lösten sich auf. Ein Blick nach unten verriet ihr den Grund fĂŒr das eisige GefĂŒhl von KĂ€lte, welches sie urplötzlich durchdrang. All der Schmerz war so unwirklich, wie das Schwert des Elfen, welches bis zur Parierstange in ihrer Brust steckte und schwarz benetzt aus ihrem RĂŒcken austrat. Sie war heimgekehrt, nur um nun hier zu sterben? Einfach absurd! Sie wĂŒrde lachen, tĂ€te es nicht so unglaublich weh. “Ihr habt mir keine Wahl gelassen, Prinzessin”, bedauerte Alaric. “Der Tod ist besser, als das, was Ihr im Begriff seid zu werden!” Seine Worte klangen in ihren Ohren nach Heuchelei. Dann ging er einen Schritt rĂŒckwĂ€rts und zog dabei sein Schwert aus ihrem Körper. Leblos fiel die Geschlagene zu seinen FĂŒĂŸen. Alaric ließ Anima verschwinden und gab so Nebulas Waffen frei. Sie stĂŒrzten im Kreis um sie herum zu Boden. Alaric hockte sich neben die Geschlagene und drehte sie auf den RĂŒcken. Er sah in ihre starren blauen Augen. “Wirklich eine Verschwendung”, kommentierte er. “Warum musste es soweit kommen?” Dann schloss er ihre Lider und erhob sich wieder. Es gab keinen Grund mehr fĂŒr ihn, hier noch lĂ€nger zu verweilen. Er kehrte zurĂŒck zum Palasteingang. Als er ihn erreichte, kamen ihm seine LeibwĂ€chter entgegen. “Eure Hoheit”, sagte einer. “Was seid ihr fĂŒr LeibwĂ€chter?”, tadelte sie Alaric. “Ich habe mich um das Problem bereits selbst gekĂŒmmert!” Die anderen zwei zerrten just in jenem Moment einen Jungen mit braunen Haaren zur TĂŒr heraus. Er wirkte schwĂ€chlich und dachte nicht im Traum daran, Widerstand zu leisten. “Eure Hoheit, den haben wir aufgegriffen, als er versucht hat, uns zu folgen”, erklĂ€rte einer von ihnen. “Was sollen wir mit ihm machen?” Der Elfenprinz sah ihn sich genau an. “Was willst du?”, fragte er. “Ich will z-zu ihr. Z-Zu Nebula.” “Nebula?” Gab sich die Prinzessin diesen Namen? “Du meinst-?” “Ja. W-Warum h-hat sie Euch n-noch nicht den A-Arsch aufgerissen?” “Was ist das fĂŒr eine Ausdrucksweise? Haben dir deine Eltern nie Manieren beigebracht?” Alaric grĂŒbelte erneut. Er gab seinen Leuten das Zeichen, Henrik loszulassen. “Sie war eine ehrenhafte Frau. Sie kĂ€mpfte fĂŒr das, was sie liebte.” “W-War?” Sofort rannte der Junge los, an Alaric vorbei, der Prinzessin entgegen. “Wieso habt Ihr ihn gehen lassen?”, fragte ein LeibwĂ€chter verwirrt. “Was ist mein Sieg wert, wenn ich ihr den letzten Respekt ihres Gefolgsmann verwehre?” Insgeheim wĂŒnschte er sich wenigstens einen Untertanen, welcher seiner Familie nicht aus Zwang, sondern aus freien StĂŒcken, so treu ergeben war, wie dieser Junge der Prinzessin. Unterdessen erreichte Henrik Nebula. Er sah die Teufelswaffen, die sich im Kreis um Nebula gruppiert hatten. In ihrem Zentrum lag sie in einer immer grĂ¶ĂŸer werdenden schwarzen PfĂŒtze. Ihr Blut! Henriks Gesichtsausdruck verfinsterte sich und seine Schritte wurden langsamer. Als er sie endlich erreichte, hockte er sich neben sie. Seine Schenkel tauchten platschend in die Lache ein und er nahm sie in den Arm. Presste ihren reglosen Körper an sich und begann bitterlich zu weinen. 🌱 Drei Jahre zuvor am königlichen Hof von Ewigkeit. Ein Grau verhĂŒllte den Thronsaal, als sei auch er unter einem gewaltigen Leichentuch bedeckt. Der König von Morgenstern saß geistesabwesend in seinem Thron. Erst seine Frau und nun seine Tochter. Es war mehr, als ein Mann aushalten konnte. Seitdem man ihm vom Mord an Prinzessin Emelaigne in Kenntnis gesetzt hatte, fĂŒhlte er sich innerlich tot. Vor dem erhobenen Königssessel kniete Lord Greymore mit gesenktem Haupt auf dem roten Teppich. “Lasst mich nach Spuren suchen, Eure MajestĂ€t”, bat er den König. “Ich werde den Mord an Prinzessin Emelaigne rĂ€chen!” Er wagte nicht, sein Haupt zu heben und seinem Lehnsherrn seine TrĂ€nen aufzubĂŒrden. Der König reagierte nicht auf ihn. “Eure MajestĂ€t!”, machte Greymore erneut auf sein Anliegen aufmerksam. “Als König von Morgenstern ist es Eure Pflicht-” Er wurde jĂ€h von einem metallischen Klingen unterbrochen. Graymore hob den Kopf und sah, dass die Königskrone auf ihn zurollte. Unverstanden sah er seinen Lehnsherren an. “Wenn Ihr so viel besser wisst, wie sich der König nach dem Mord an seiner einzigen Tochter zu verhalten hat, solltet vielleicht Ihr der König sein, Greymore.” Der Ritter wischte sich die TrĂ€nen aus den Augen. “Ich will Euer Handeln in keinster Weise kritisieren, Eure MajestĂ€t.” Der König erhob seine Stimme. “Dann haltet Eurer altkluges Mundwerk und geht mir aus den Augen!” Greymore konnte den Schmerz des Königs vollkommen nachvollziehen. Als ein wahrer Mann, steckte er die wĂŒtenden Schreie des Königs weg und ergriff die Krone. Er erhob sich und brachte sie dem König zurĂŒck. “Eure MajestĂ€t, die ist Euch wohl heruntergefallen.” Der König riss ihm sein Herrschaftssymbol aus der Hand. Greymore verneigte sich. “Ihr entschuldigt mich.” Dann machte er kehrt Marsch und verließ den Thronsaal. Auch wenn der König ihn nicht unterstĂŒtzen wollte oder konnte, beschloss er, den Auftraggeber der Meuchelmörderin ausfindig zu machen. Solange der Strippenzieher hinter dem Mord an seiner Verlobten nicht seine Klinge zu spĂŒren bekommen hĂ€tte, wĂŒrde er keine Ruhe mehr finden. Schnaubend stiefelte Greymore die gewundene Treppe hinunter und ging an den SĂ€ulen in der Mitte der Eingangshalle vorbei. Er durchquerte den Innenhof und schwang sich auf sein Pferd, das er auf dem Platz vor dem Palast zurĂŒckgelassen hatte. Er ritt auf dem kĂŒrzesten Weg zum Ausgang der Stadt. Auf sein Signal hin öffneten die Wachen das Tor und Greymore begann seinen Rachefeldzug auf eigene Faust, an dessen Ende nichts als Verderben auf ihn warten sollte. Ein gequĂ€lter Schrei hallte durch das Schloss. Wo bin ich? Wer bin ich? Was ist geschehen? Wirre Gedanken schossen durch den Kopf der Prinzessin. Alles war in einen roten Schleier getaucht. Blut sickerte aus den Fugen an der Wand und ergoss sich auf den Boden. Emelaigne erinnerte sich noch an den Weg in ihr Gemach und stieg die Treppe hinauf, dem blutigen Sturzbach zum Trotz. Angekommen im Gang, der zu ihren RĂ€umlichkeiten fĂŒhrte, schmerzen die unglaublich hell leuchtenden Fackeln in ihren Augenhöhlen, als wollten sie sie ihr herausbrennen. Endlich erreichte sie die TĂŒr und riss sie aus den Angeln. Das Brett fiel zu Boden. Das unverstĂ€ndliche FlĂŒstern einer schwarzen Silhouette lockte sie zu ihrem Spiegel. Rubinrot glĂ€nzende Augen funkelten sie aus ihr heraus an. “Komm!”, sĂ€uselte die Stimme in der Finsternis. Vorsichtig nĂ€herte sich Emelaigne dem Spiegel. Die Silhouette nahm Gestalt an. Bald erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild. Es trug, im Gegensatz zu ihr, nicht ein mit Blut besudeltes Brautkleid, sondern ein feuerrotes Gewand. Die Haare waren schneeweiß. UnglĂ€ubig befĂŒhlte sie ihr Abbild. “Bin ich das?”, fragte sie ihre eigene Projektion, als ob sie eine Antwort erwartete. Plötzlich bewegten sich die Mundwinkel ihres Spiegelbildes und die flĂŒsternde Stimme sprach erneut zu ihr. “Ich halte dir den Spiegel vor.” Fassungslos wich die Prinzessin vom Spiegel zurĂŒck und fĂŒhrte ihre HĂ€nde an ihr Gesicht heran. Wie war es möglich, von dem eigenen Spiegelbild eine Antwort zu erhalten? Bang blickte sie zwischen den Fingern ihrer Hand hindurch. Das konnte nicht wirklich sein! Sie musste trĂ€umen! “Es gibt keinen Grund es zu leugnen! Du willst das Blut in Strömen fließen sehen!” “Niemals! Ich bin kein Monster!” “Glaubst du das wirklich? Schau, Blut klebt bereits an deinen HĂ€nden!” Emelaigne nahm die HĂ€nde aus dem Gesicht und erkannte, dass die Stimme aus dem Spiegel die Wahrheit sprach. Sie waren rot, getrĂ€nkt in Blut. “Nein!”, wimmerte sie voll des Entsetzens. “Sieh dich um und erkenne die Wahrheit!” "Aahhhrrr!" Sie schrie den Spiegel an. Die sprechende Reflektion verstummte, als der Spiegel urplötzlich Risse bekam und zersprang. Der mattrote Schleier vor ihren Augen löste sich auf und das Blut, welches bis eben hoch zu ihren Waden stand, versickerte im Boden, als sei es nie da gewesen. Nur von ihren HĂ€nden wollte es nicht weichen. Erst jetzt bemerkte sie, dass das besudelte Brautkleid in Fetzen gerissen an ihrem Leib hing. Emelaigne tat, wie das Spiegelbild ihr geheißen hatte, und sah sich um. Sie entdeckte mehrere ĂŒbel zugerichtete Leichen. Es handelte sich um die königlichen Palastwachen. Eine lag an der TĂŒr, weitere verstreut in ihren GemĂ€chern. Emelaigne erinnerte sich nicht, doch sie spĂŒrte, dass sie sie umgebracht hatte. VerĂ€ngstigt kauerte sie sich in Fötusstellung zusammen und weinte. In jenem Moment stĂŒrmten weitere Wachen den Raum und umzingelten Emelaigne. Die Wachen streckten ihr ihre Waffen entgegen, doch die Prinzessin nahm es nicht fĂŒr voll. Sie war zu sehr mit der Furcht vor sich selbst beschĂ€ftigt. Inzwischen war eine Woche vergangen. Eine Magd trug einen Eimer mit Wasser einen spĂ€rlich ausgeleuchteten Gang entlang. In ihm schwamm ein Schwamm. In der anderen Hand hielt sie ein StĂŒck Seife. Links und Rechts waren die WĂ€nde mit vergitterten TĂŒren versehen. Sie trennten die Kerkerzellen von dem Gang ab. In ihnen hatte man den Abschaum des Königreiches eingesperrt. Am Ende des Ganges bewachten zwei schwer bewaffnete MĂ€nner eine massive eiserne TĂŒr mit einem winzigen Sehschlitz, der sich nur von außen öffnen ließ. “Was willst du hier, Dienstmagd?”, fragte der eine WĂ€chter unfreundlich. “Die Gefangene bekommt keinen Besuch!”, verwies der andere. “Ich bin auf Befehl des Hofzauberers Arngrimr hier!”, entgegnete die blonde Magd. “Ich soll sie waschen und sie fĂŒr die VorfĂŒhrung vorbereiten.” “Wenn dem so ist”, sagte der erste WĂ€chter und erlaubte ihr zu passieren. Ein Lichtstrahl fiel in die finstere Kammer ein, als die EisentĂŒr geöffnet wurde. Eine schemenhafte Gestalt hielt sich schĂŒtzend die zusammengeketteten HĂ€nde vor das Gesicht, um nicht geblendet zu werden. Ein WĂ€chter trat ein und hing eine Fackel in eine Halterung an der Wand. Sofort wurde die winzige Zelle ausgeleuchtet. Die Magd folgte und begab sich umgehend zu der Gefangenen. Sie stellte den Eimer ab und begann sich an den schmutzigen und zerfetzten Gewandung des apathischen weiblichen Wesens vor ihr zu schaffen zu machen. Ein versifftes und zerrissenes Kleid. Unmöglich zu sagen, wie es einmal ausgesehen haben möge. Doch dann stoppte sie ihr Tun und sah den WĂ€chter böse an. “Was ist, Magd. Mache weiter!”, befahl der Mann. “Wollt Ihr dabei zusehen, wie ich sie wasche?”, empörte sich die Blondine. “Fehlt es Euch gĂ€nzlich an Anstand?” Der WĂ€chter trat aus der Zelle heraus. “Wenn du fertig bist, klopfe drei mal.” Dann schlug er die TĂŒr zu. Die Magd setzte ihre Arbeit fort. Sie entkleidete das MĂ€dchen vor sich, welches weder Widerstand leistete, noch sie unterstĂŒtzte. Kurz ĂŒberlegte sie, wer sie wohl war und warum sie in schweren Ketten lag. Doch dann besann sie sich ihrer Aufgabe zurĂŒck und begann den Dreck und das eingetrocknete, verkrustete Blut abzuwaschen. Darunter kam eine wunderschöne und zarte Haut zum Vorschein, was die Neugier der Bediensteten um die IdentitĂ€t der jungen Frau nur noch weiter anheizte. Noch immer lag eine bedrĂŒckende Stimmung in der Luft und erstickte den Thronsaal. “Hört auf Euer grausames Spiel mit mir zu treiben, Arngrimr!”, forderte der König. “Mein König”, sprach der alte Mann in langen GewĂ€ndern und mit einem zotteligen Bart. “Es ist wahr! Die Bestie, die vor ein paar Tagen im Schloss wĂŒtete, ist Eure Tochter.” “Aber sie ist tot!”, rang der mittelalte Mann mit der Fassung. “Mein Kind ist tot!” “Es muss wie ein Scherz klingen. Aber eine höhere Macht hat sie aus dem Totenreich zurĂŒckgeholt. Ihr wisst, ich studiere die Teufelswaffen. Es ist gewiss kein AmmenmĂ€rchen. Ich glaube, es war dieser Dolch. Wir haben ihn nicht bei ihr sicherstellen können, als die Wachen sie gefangen genommen haben.” “Ihr wollt mir also sagen, dass mein kleines MĂ€dchen jetzt ein Monster ist?” “Nein, Eure MajestĂ€t. Legenden sagen, es gibt Menschen, die eine Teufelswaffe fĂŒhren können. Die Prinzessin scheint jedoch ein außergewöhnlicher Fall zu sein...” “Dieser Teufel soll umgehend ausgetrieben werden. Ruft den Exorzisten!” “Verzeiht, aber ein Priester wird hier nicht helfen können.” “Gibt es noch eine Hoffnung fĂŒr meine Tochter?” “Sie ließ sich ohne weiteren Widerstand festnehmen. Deshalb denke ich, dass es fĂŒr ihre Seele noch nicht zu spĂ€t ist. Ich ließ sie sicherheitshalber in verwunschene Ketten legen, die die Finsternis im Zaun halten.” “Ihr habt meine Tochter in Ketten gelegt, Arngrimr?!” “Ich versichere Euch, das geschah nur zu ihrem Besten.” “Das hoffe ich fĂŒr Euch! Ich will sie sehen! Sofort!” “Ich ließ bereits alles in die Wege leiten. Sie sollten jeden Moment eintreffen.” Wie auf ein Stichwort kamen zwei Frauen, begleitet von mehreren Wachen, die Treppe hinauf. Die eine war besagte Königstochter. Schwere Ketten hielten ihre HĂ€nde zusammen. Sie schaute leer, wie innerlich tot. Die Frau neben ihr war die Magd, welche der Hofzauberer damit beauftragt hatte, Emelaigne zu waschen und spĂ€ter neu einzukleiden. Erst jetzt, wo die Prinzessin vom Schmutz und Dreck befreit war, wurde einem erst bewusst, wie Ă€hnlich sie und die Magd sich sahen. “Ihr habt tatsĂ€chlich die Wahrheit gesprochen!” Bis jetzt wollte es der König nicht glauben. "Und ich fĂŒrchtete, Ihr hĂ€ttet den Verstand verloren." Die Wachen fĂŒhrten die Magd und die Prinzessin nĂ€her zum Thron, hielten jedoch einen Sicherheitsabstand ein. Sie ließen Emelaigne nicht aus den Augen. “Und wer ist die andere?” “Sie ist eine Magd am Hof”, erklĂ€rte der Zauberer. “Sie sieht ihr so Ă€hnlich...” “Aus diesem Grund habe ich sie ausgewĂ€hlt, Eure Hoheit. Bis Eure Tochter wieder zu sich selbst findet, mĂŒssen wir der Öffentlichkeit einen Ersatz prĂ€sentieren. GerĂŒchte ĂŒber einen Anschlag auf die Prinzessin haben die Runde gemacht. Nun verlangt das Volk nach einem Lebenszeichen. Darum suchte ich eine Frau, welche der Prinzessin möglichst Ă€hnlich sieht, Eure Hoheit.” Er sah die Magd an. “FĂŒr’s erste wirst du den Platz der Prinzessin einnehmen!” Sprachlos starrte die blonde Frau den Hofzauberer an. Davon hatte er zuvor kein Wort gesagt! In der NĂ€he der Hauptstadt, in der Residenz eines einflussreichen Adligen, trug sich derweil schĂ€ndliches zu. Ein WĂ€chter drehte die Augen in den Höhlen und wĂŒrgte, als er Graymores Schwert zu spĂŒren bekam. Die Klinge hatte ihn vollkommen durchdrungen. Greymore zog seine Waffe heraus und ließ den Kadaver zu Boden fallen. Der Weg zu seinem Ziel stand ihm nun frei. Zitternd und zusammengekauert hockte ein Mann an der Wand des Raumes, neben dem Kamin. Die Flammen der brennenden Holzscheite warfen flackernde Schatten auf ihn. Er war ein einflussreicher Adliger. Doch seine Macht und sein Geld konnten ihm nun auch nicht mehr helfen, da er sich dem Zorn eines trauernden Racheengels entgegen sah. Graymore ließ die Spitze seines blutverschmierten Langschwertes auf dem Boden schleifen. Sein stechender Blick fuhr seinem GegenĂŒber durch Mark und Bein. “W-Was wo-wo-wollt Ihr?”, stotterte der Mann verĂ€ngstigt. “Gold? Ich habe Gold!” Greymore zeigte keine Reaktion. Dem Adligen ran das Leben durch die Finger wie Sand in einem Stundenglas. Graymore baute sich vor ihm auf und erhob seinen Schwertarm. “Wollt Ihr Macht?”, versuchte der Adlige zu dem Ritter durchzudringen. “Macht kann ich Euch verschaffen! Große Macht!” “Ich will Euer Gold nicht!” “Kein Gold! Eine Waffe. Stark genug, um Euch jeden Wunsch zu erfĂŒllen.” Greymore hielt inne und war bereit, seinen Worten zu lauschen. Er senkte sein Schwert. “Sprecht!”, forderte er ihn auf. “Und gnade Euch Gott, wenn Ihr meine Zeit verschwendet!” “Gewiss nicht! Gewiss nicht!” “Dann raus mit der Sprache!” “Habt ihr schon einmal von den Teufelswaffen gehört?” 🌱 ZurĂŒck in der Gegenwart. Mit einem heftigen Atemstoß erwachte Nebula in der Leere. Ein Ort, an dem es kein Licht und keine Schatten gab. Eine endlose schwarze Weite umgab sie. Vorsichtig stand sie auf. Wo bin ich?, ĂŒberlegte sie. Egal wo sie auch hin sah, kein Licht, kein Schatten. Sie fĂŒhlte keine Schmerzen mehr. Dieser Ort, dachte sie. Hier war ich schon einmal. Es war der Limbus. Dann sah sie zu ihren Stiefeln herab. Obwohl es hier nichts gab - nicht einmal einen Boden - fanden ihre FĂŒĂŸe halt. Vorsichtig verschaffte sie sich einen Überblick. Sie sah alles und dennoch nichts. Denn es gab nichts, das sie hĂ€tte sehen können. AllmĂ€hlich kam die Erinnerung zurĂŒck. Sie hatte dieses Nichts in der Tat schon einmal gesehen. Dieser Ort war jener, an dem sie sich in der Nacht vor drei Jahren wiederfand, als man ihr das erste Mal das Leben nahm. “Hey!”, schrie sie hinaus in das Nichts, als erwarte sie eine Antwort. Das Schweigen ĂŒberraschte sie wenig. “Was ist das fĂŒr ein schlechter Witz?”, fĂŒgte sie in ZimmerlautstĂ€rke an. Allerdings war ihr klar, dass es keiner war. AllmĂ€hlich dĂ€mmerte es Henryk, dass die Frau, fĂŒr die er bereitwillig alles aufgegeben hatte, um ihr zu folgen, nun an einem Ort war, an dem er sie nicht erreichen konnte. Sie wĂŒrde ihm nicht mehr sein Essen wegessen. Ihn nicht mehr als Perversling bezeichnen. Ihn nicht mehr einen Idioten schimpfen oder sich ĂŒber seine Tollpatschigkeit aufregen. Ihn keinen Staub mehr bei ÜbungskĂ€mpfen schlucken lassen. Ihn nicht mehr zwingen, das GepĂ€ck zu tragen, obwohl sie viel stĂ€rker war als er. Und er mĂŒsste auch nicht mehr ihre Versuche zu kochen hinunterwĂŒrgen. Nichts davon. Nie wieder. “A-Aber ich b-brauche dich doch!”, wimmerte er. “B-Bitte, komm zu mir zurĂŒck!” Seine TrĂ€nen tropften auf ihr Gesicht. Seit einer gefĂŒhlten Ewigkeit wanderte Nebula bereits in der Finsternis umher. Ob es in Wirklichkeit nur eine Stunde oder schon ein Jahrhundert war, konnte man nicht feststellen. Im Limbus gab es nichts, woran man das Voranschreiten der Zeit festmachen konnte. Wahrscheinlich gab es hier nicht einmal die Zeit selbst. Wer an diesem Ort angelangte, war dazu verdammt, bis auf alle Ewigkeit durch die Leere zu wandern. In der Vorhölle gab es keine Flammen und keine Folterknechte. Weder kochten unreine Seelen im eigenen Sud noch rĂŒhrte die Großmutter des Teufels in der Suppe der Verdammnis. Hier durchlebte man - wenn man das Leben nennen wollte - eine andere Tortur. Die Abwesenheit jeglicher Reize treiben jeden frĂŒher oder spĂ€ter in den Wahnsinn. Und dann wurde man ein Teil der Finsternis. Ein Schicksal, das nun auch Nebula bevorstand. Plötzlich fĂŒhlte sie etwas an ihrer Wange hinunterlaufen. Verwirrt sah sie sich um. Über ihrem Kopf hatte sich doch nicht etwa plötzlich eine Schlechtwetterfront zusammengezogen. Nichts. Nur noch mehr leere SchwĂ€rze. Eine FlĂŒssigkeit tropfte erneut auf ihre Wange. Nebula berĂŒhrte den Tropfen mit ihrem Zeigefinger und steckte ihn in den Mund. Ein salziger Geschmack breitete sich auf ihrem Gaumen aus. TrĂ€nen?, dachte sie spontan. Aus unbekanntem Grund verliehen sie ihr die Kraft, nicht zu verzweifeln. Aber woher kamen sie? “A-Aber ich b-brauche dich doch!” Das war Henrik! Seine Stimme drang irgendwie an diesen von allen guten Geistern verlassenen Ort. “B-Bitte, komm zu mir zurĂŒck!” Nebula horchte auf. Plötzlich flutete ein grelles weißes Licht die SchwĂ€rze. Es wurde immer stĂ€rker, bis es augenscheinlich den gesamten Limbus verschlang. Er soll doch der Einzige sein, der Nebula noch retten kann. Das hatte Annemarie gesagt. Aber hier konnte niemand mehr helfen. Das GefĂŒhl seiner Machtlosigkeit traf Henrik wie ein fallender Baum. Er kauerte hier neben der Leiche seiner ersten Liebe. Diese Erkenntnis fĂŒhlte sich an, als wĂ€re auch sein Herz stehen geblieben. Ein Dolchstoß bis tief hinein in seine Seele. Und sie war noch immer so schön. WĂ€re nicht all das Blut, könnte man glauben, sie hĂ€tte sich nur zum Schlafen niedergelegt und wĂŒrde jeden Moment die Augen aufschlagen. Alles, was er jetzt wollte, war wenigstens einmal ihre Lippen zu spĂŒren. Er beugte sich hinunter, schloss seine Augen und kĂŒsste sie auf den Mund. Derweil hatte sich die Blutlache bis hin zu den Teufelswaffen ausgebreitet. Langsam begann die schwarze Substanz, sie zu zersetzen. Das, was getrennt wurde, fand wieder zusammen. Das Blut begann zurĂŒck in Nebulas Körper zu fließen. Henrik kĂŒsste noch immer ihre Lippen. FĂŒr einen Augenblick machte eine Explosion aus Weiß die Nacht zum Tag. Als das Licht schließlich verebbte, erwachte Henrik aus seiner Trance und fĂŒhlte HĂ€nde, wie sie seinen RĂŒcken umschlossen. Wie Nebula seinen Kuss zaghaft erwiderte. Vorsichtig löste er sich von ihren honigsĂŒĂŸen Lippen und öffnete seine Augen, nur um sich anschließend im tiefen Blau ihrer zu verlieren. Als das grelle Licht durch die Fenster in den Ballsaal einfiel, schreckten die GĂ€ste abermals angstvoll wie aufgescheuchtes Federvieh zurĂŒck. Was bisher passiert war, reichte scheinbar noch nicht aus. Eine Explosion aus Licht, wie am jĂŒngsten Tag. Der namenlose Gott musste in dieser Nacht einen schlechten Tag gehabt haben. Dann versiegte der Schein. Was konnte das nur gewesen sein? Annemaries Weinen fand endlich ein Ende. Sie strahlte stattdessen fröhlich und lĂ€chelte von einem Ohr zum anderen. Clay gefiel die plötzliche Änderung ihres Verhaltens nicht. Menschen wechseln ihre Stimmung nicht von einem Moment auf den anderen, als betĂ€tige man einen Schalter. “Wieso bist du auf einmal so ausgelassen, Kleines?”, fragte er. “Weil nun alles gut wird”, antwortete sie. Clay wĂŒnschte, er könnte die Zuversicht des Kindes teilen. Er wurde dieses GefĂŒhl einfach nicht los. Diese Ahnung, dass noch etwas viel Schlimmeres passieren wĂŒrde. Wie Vögel, die schon Stunden vor einer Katastrophe die Flucht ergreifen. Oder vielleicht wurde er nur allmĂ€hlich verrĂŒckt. Der grelle Blitz ließ Alaric in der Bewegung einfrieren. Er und seine Leibwachen hatten den Platz vor dem Palast schon zur HĂ€lfte passiert, gerade eben den reichlich verzierten Springbrunnen hinter sich gelassen, als plötzlich die Nacht taghell und heller wurde. Wenn auch nur fĂŒr einen Moment. Eine große Macht strömte von dem Ort, dem sie eben erst den RĂŒcken gekehrt hatten. Aber es war nichts Böses. Einzig ein GefĂŒhl von WĂ€rme. Liebe. Alaric konnte es nicht einordnen. Er spĂŒrte, wie Emotionen eines Anderen in seinen Körper strömten. EhrfĂŒrchtig sah er sich um. ZurĂŒck zum Eingang des Palastes. Cerise musste sich geblendet abwenden. Heimlich hatte sie sich aus einer Ahnung heraus zum Palast geschlichen, ohne entdeckt zu werden. Nun hockte sie oben auf dem Dach. So war ihr das Drama keineswegs entgangen, aber einzugreifen wĂ€re Selbstmord gleichgekommen. Als das Licht erloschen war und sie wieder etwas sehen konnte, traute sie ihren Augen nicht. Das musste sie sich genauer ansehen, auch auf die Gefahr, vielleicht in einen Kampf verwickelt zu werden. Schnell kletterte sie vom Dach des Palastes herunter. Sie musste aus der NĂ€he betrachten, wie Lazarus dem Grab entstieg. Henrik und Nebula sahen einander in die Augen. Die TrĂ€nen quollen dem braunhaarigen Jungen nun noch stĂ€rker als zuvor. Doch dieses Mal waren es keine TrĂ€nen der Trauer, sondern von ausgelassener, ehrlicher und purer Freude. Sie war am Leben! Noch einmal beugte er sich nach vorn, um ihr einen weiteren Kuss zu geben. Nebulas Trunkenheit verflog. Als sie bemerkte, was Henrik im Schilde fĂŒhrte, nahm sie die HĂ€nde von seinem RĂŒcken, legte sie auf seine Brust und stieß ihn von sich. “Das reicht jetzt aber!”, waren ihre ersten Worte nach der wundersamen Auferstehung. Henrik ließ sie los, fiel wortlos nach hinten und landete auf seinem GesĂ€ĂŸ. Derweil stand die wieder frisch unter den Lebenden weilende auf und betrachtete ihren Körper. Alle Wunden aus dem Kampf mit dem Prinzen waren spurlos verschwunden, als hĂ€tten sie nie existiert. Ebenso der Schmerz. Einzig ein schmaler ovaler Spalt in ihrem Oberteil zeugte davon, dass es nicht nur ein böser Traum war. Das sie tatsĂ€chlich gestorben war. “Aber, Nebula!”, stieß Henrik beunruhigt aus. “Wie kann das sein?”, fragte sie ihn. “Was hast du... Ich war doch...” "Tod!", vollendete eine wohl bekannte Stimme. Cerise betrat die BĂŒhne. “Ich habe es mit angesehen. Auch das Geflenne von dem da.” Sie deutete auf Henryk. “Na großartig!”, grĂ€mte Nebula zu sich selbst. “Von den Toten auferstanden, um jetzt diese Plage am Hals zu haben!” “Am Besten hat mir gefallen, wie der Junge Euch gekĂŒsst hat.” Fassungslos sah Nebula Henrik an. “Du hast mich gekĂŒsst?!” Offenbar war ihr entfallen, dass sie den Kuss ihrerseits erwidert hatte. Oder vielleicht wollte sie es nicht wahrhaben. “Ä-Ähm...”, stotterte der noch immer hilflos auf seinem Hintern sitzende JĂŒngling. “I-Ich
 E-Entschuldigung!” Nebula lief rot an. Henrik war diesbezĂŒglich nicht besser. Beide schwiegen und mĂŒhten sich krampfhaft, aneinander vorbei zu sehen. “Wirklich?!”, entrĂŒstete sich die rothaarige Halbelfe ĂŒber das Verhalten der anderen beiden. “Habt ihr zwei gerade keine anderen Probleme, als einen Kuss?” Fragend sahen sie beide an. “Zum Beispiel die Typen da drĂŒben.” Cerise zeigte auf die anrĂŒckende Bedrohung. Alaric kam, begleitet von seinen Stiefelleckern, auf die drei zu. Anima zuckte bereits in blaue Flammen gehĂŒllt ĂŒber ihren Köpfen. Kapitel 10: Tod und Wiedergeburt - Teil 2 ----------------------------------------- 🌱   Angelockt von dem Lichtspektakel kehrten Alaric und seine LeibwĂ€chter zum Schauplatz des Kampfes zurĂŒck. Anstatt einer Leiche fand er die Frau, welche er besiegt und erschlagen glaubte, lebendig vor. Und nicht nur das. Auch der Junge von vorhin und eine ihm bis dato unbekannte Person befanden sich bei ihr. Es verlangte ihn nach AufklĂ€rung. Er beschwor Anima als DrohgebĂ€rde, bevor er sie zur Rede stellte. “Wie kann das sein?”, entfuhr es ihm. “Ich erschlug Euch!” “Tja, die ist nicht totzukriegen”, kommentierte die Fremde. Alaric musterte daraufhin die Rothaarige genauer. Die unzĂ€hligen Dolche und Wurfmesser, welche ĂŒberall an ihrer Kleidung angebracht waren und ihre unverkennbare Gewandung, exponierten sie als AttentĂ€terin. “Und wer seid Ihr?” Sie vollfĂŒhrte einen damenhaften Knicks. Nicht aus Respekt, sondern vielmehr aus Spott. “Cerise von den Schattenschwestern.” “Und wem wollt Ihr das Leben nehmen, Assassine?” “Wenn Ihr schön artig bleibt, dann niemandem.” Sie betrachtete ihre HĂ€nde und pulte den Dreck unter den stĂ€hlernen Krallen an ihren Handschuhen hervor, der vom herabklettern der Palastmauer zurĂŒckgeblieben war, anstatt ihre Aufmerksamkeit dem Prinzen zu widmen. “Ich bin eigentlich auch nur auf der Durchreise.” “Genug geredet!”, unterbrach Nebula. Sie streckte ihre beiden Arme aus und versuchte zu widerholen, was ihr bereits zuvor unter Einfluss der dĂ€monischen Macht gelungen war, und zwei Waffen gleichzeitig zu fĂŒhren. “Erstehe auf aus der Glut, Embershart!” In ihrer linken Hand nahm ein Schwert Gestalt an, das sofort wieder verglĂŒhte. “Durchstoße die Herzen meiner Feinde, Lancelot!” In ihrer rechten Hand entstand eine Lanze. Nebula sprang Kampfschrei schmetternd auf den Elfenprinzen zu. Sie landete vor ihm und den LeibwĂ€chtern, welche fĂŒr sie aussahen, als bewegten sie sich in Zeitlupe, und versetzte Alaric einen heftigen Tritt. Die Kraft ihres Angriffs lehrte Alaric das Fliegen und katapultierte ihn durch den Hofeingang und Meter weit ĂŒber den Platz, hinein in den großen Springbrunnen. Das Anima in seinen HĂ€nden zog eine Spur aus blauen Flammen hinter sich her. Bevor die LeibwĂ€chter auch nur reagieren konnten, stieß sich die Blondine erneut vom Boden ab, um den Kampf zum feindlichen Prinzen zu tragen. “Was war denn dass gerade?”, verlangte Cerise nach AufklĂ€rung. “I-Ich habe nicht d-den blassesten Schimmer!”, antwortete Henrik. Er war nicht in der Lage, den Bewegungen zu folgen. Alarics LeibwĂ€chter schienen etwas hilflos. Doch dann beschlossen sie, Alaric den Kampf gegen die Blonde zu ĂŒberlassen, da es ihnen sowieso nicht möglich war, dieses Niveau zu halten. Stattdessen zogen sie ihre Waffen und griffen Cerise und Henrik an. Gegen die beiden rechneten sie sich bessere Chancen aus. Der Junge suchte Schutz hinter einem der KirschbĂ€ume. Die AttentĂ€terin hingegen zĂŒckte einen Dolch und machte sich Kampfbereit. Die MĂ€nner stĂŒrmten zu dritt auf die Rothaarige zu und versuchten sie mit ihren Schwertern zu erstechen. Cerise wich jedem Angriff geschickt aus. Henrik beobachtete sie. FĂŒr ihn sah es aus, als tanze sie mit den Schwertern ihrer Gegner. Aber dann gelang es doch einem, sie zu treffen. Ein Schnitt erschien auf ihrem Oberarm. Aus ihrem Spiel mit den MĂ€nnern wurde Ernst. Cerise sprang ein StĂŒck zurĂŒck und inspizierte die Verletzung. “Aua!”, sagte sie. Diese schwertschwingenden Grobiane, denen es an jeglichem FeingefĂŒhl fehlte, und die wahrscheinlich auch zu dumm waren, sich ohne Anweisung ihres Herren selbst den Hintern abzuputzen, hatten es tatsĂ€chlich geschafft, sie zu verletzen. Diese Tatsache war unvereinbar mit ihrem Stolz, welcher so groß war, dass er mit Leichtigkeit den Palast ĂŒberragte. “Genug gespielt! Nun seid ihr dran!” Mit diesen Worten rannte sie auf die MĂ€nner zu, wich dem Schwerthieb des ersten LeibwĂ€chters aus und schlitzte fast gleichzeitig dem zweiten die Kehle auf. Als der dritte sein Schwert auf sie richten wollte, drehte sie sich blitzschnell um die eigene Achse, packte den ersten beim Kragen und stieß ihn in die Klinge des dritten. Als dieser nun versuchen wollte, sein Schwert aus seinem Kameraden zu ziehen, sprang sie mit einem einzigen Satz hinter ihn, packte seinen Kopf und brach ihm mit einem hĂ€sslichen knackenden GerĂ€usch das Genick. Fast gleichzeitig schlugen die Körper der drei MĂ€nner auf dem Boden auf. “Unfassbar!”, staunte Henrik aus seinem Versteck heraus. “Kleinigkeit!”, kommentierte die Rothaarige. “Davon werde ich nicht mal warm.” Plötzlich stĂŒrmten einige der Wachen aus dem Palasteingang heraus. Cerise wandte sich ihnen zu. “Ihr kommt auch erst dann, wenn die Party vorbei ist!”   Unterdessen bezogen Nebula und Alaric wĂ€hrend ihrer Auseinandersetzung den gesamten zur VerfĂŒgung stehenden Raum vor dem Palast mit ein. Sie bekĂ€mpften sich quer ĂŒber den Platz. Nachdem der Prinz zuvor im Brunnen gelandet war, konnte er gerade noch ausweichen, bevor die Prinzessin ihre Waffen in ihn treiben konnte. Stattdessen zerstörte sie das Becken des Brunnen, weshalb sich seither sein kĂŒhles Nass ĂŒber die Pflastersteine ergoss und den Boden in eine rutschige Schlitterpartie verwandelte. Alaric hatte seine MĂŒhen, die wilden Hiebe der Blonden abzuwehren. Eben erst machte sein Oberarm Bekanntschaft mit dem Spezialangriff des Embershart. Eine Wolke aus Glut umhĂŒllte ihn und Ă€scherte den linken Ärmel seiner noblen Kleidung ein. Auf seiner Haut blieben schmerzhafte Verbrennungen zurĂŒck. “Überschallstoß!” Der Elfenprinz formte mit der Kette seines Anima eine Barriere, mit der er den Angriff seiner Gegnerin abblockte. Die Wucht des Stoßes mit Lancelot schleuderte Alaric dennoch rĂŒcklings gegen eine Hauswand. Mit aller Macht wirkte er der Kraft entgegen und befreite sich aus seiner misslichen Lage, indem er im rechten Moment zur Seite sprang. Mit dieser Teufelswaffe zuzustechen kam dem Schuss mit einer Kanone gleich. Diese Frau war nicht nur auferstanden, sondern hatte auch einiges an StĂ€rke und Schnelligkeit zugelegt. Auch wenn ihre Bewegungen etwas unbeholfen und plump wirkten. Sie schien den Kampf mit zwei Waffen zu improvisieren. Alaric entschied sich dazu, sein Schwert zu Hilfe zu nehmen, welches er den schmerzenden Brandwunden zum Trotz mit der linken Hand fĂŒhrte, wĂ€hrend die rechte die Teufelswaffe Anima bewegte. Er stĂŒrmte vor und konfrontierte Nebula im Nahkampf, da ihm bewusst war, dass er auf Distanz gegen die Stoßkraft des Lancelot unterliegen wĂŒrde. Als es ihm gelang, beide Waffen gleichzeitig zu parieren, nutzte er die Zeit, um mit seiner Gegnerin ins GesprĂ€ch zu kommen. “Wie macht Ihr das?”, fragte er. “Erst kehrt Ihr von den Toten zurĂŒck und nun seid ihr nicht nur viel stĂ€rker, sondern könnt zwei Waffen gleichzeitig fĂŒhren.” “Ach das ist ungewöhnlich”, spottete Nebula. “Ich dachte, das ist immer so!” “Macht Euch nicht ĂŒber mich lustig!”, forderte Alaric. “Manche haben versucht mehrere Waffen zu fĂŒhren, doch sie sind fast alle wahnsinnig geworden.” “Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wovon Ihr da redet!” “Seid Ihr niemals darin unterwiesen worden, eine Teufelswaffe zu fĂŒhren?” Alaric spĂŒrte sein Schwert nachgeben. Er musste sich aus seiner misslichen Lage befreien, bevor das passierte, und trat nach Nebula. Sie wurde meterweit durch die Luft katapultiert, konnte jedoch sicher landen. Als ihre FĂŒĂŸe aufsetzten, ließ sie die Kraft des Trittes noch ein ganzes StĂŒck auf den glatten Pflastersteinen schlittern. “Dreckskerl!” Alaric holte bereits mit Anima aus. Nebula entschied sich, mit Lancelot zu kontern. “Dann lasst uns sehen, welche Waffe stĂ€rker ist!”, schrie Alaric. Die beiden Teufelswaffen, welche beide ihre LĂ€nge zu variieren vermochten, stießen mit voller Wucht zusammen. Weder Alaric noch Nebula gedachten daran nachzugeben, bis ein lauter Krach ertönte und Anima und Lancelot voneinander abprallten. Der RĂŒckstoß ließ beide Kontrahenten ins Taumeln geraten. Nebula fing sich zuerst und tauschte die Lanze gegen ihren den Donner beherrschenden Speer ein. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Wie ein Blitz stĂŒrmte sie auf Alaric zu. Dieser wollte gerade ihren Angriff parieren, als Nebula plötzlich verschwand. Zu spĂ€t dĂ€mmerte es ihn. Er wandte sich um und versuchte vergeblich, sich mit Anima zu schĂŒtzen, als ihn die Wolke aus heißer Glut traf und Embershart nicht nur seine Kleidung versenkte, sondern ihm ĂŒberall schmerzvolle Brandwunden zufĂŒgte. Nebula zog ihren Arm zurĂŒck und verfestigte Embershart dabei zu einer gewöhnlichen Klinge. Sie holte in einer vollen Drehung Schwung, zog die Teufelswaffe diagonal ĂŒber Alarics Körper und schlug ihm gleichzeitig Anima aus der Hand. Dabei erwischte sie ebenfalls den Kopf des Elfen. Blutend und um sein rechtes Auge beraubt, torkelte Alaric rĂŒckwĂ€rts. Wie konnte er nur so klĂ€glich versagen? Möglicherweise hatte er zuvor auf dem Bankett tatsĂ€chlich seine eigene Ehre beschmutzt und dies war nun die Strafe. Nebula nutzte seine SchwĂ€che und tauschte beide Waffen gegen Mirage aus, welches sie mit der rechten Hand fĂŒhrte. “Entfessele die Angst, Mirage!” Sie griff Alaric ein letztes mal an. “Ich wĂŒnsche Euch sĂŒĂŸe TrĂ€ume!”, sagte sie triumphierend, als sie den Dolch in seine Eingeweide trieb, wohl wissend, welches Leid ihm diese Waffe in den letzten Momenten seines Lebens zufĂŒgen wĂŒrde. Der Hofzauberer wĂŒrde mit seiner Leiche schon was anzufangen wissen. Ihre Augen funkelten und die sĂŒĂŸe Vergeltung ließ ein LĂ€cheln ihr Gesicht zieren. Alaric torkelte rĂŒckwĂ€rts und streckte seinen Arm nach ihr aus. Sein blutverschmiertes Gesicht war von Angst entstellt. Welche AlbtrĂ€ume ihn Mirage zeigte, wĂŒrde fĂŒr immer sein Geheimnis bleiben. Er fiel zu Boden. Die blauen Flammen des Anima erloschen zusammen mit dem Glanze in seinem Auge. Sie hatte gewonnen. Es war vorbei.   Ein abscheuliches GebrĂŒll hallte durch ganz Ewigkeit. Im Thronsaal schreckte Clay auf. Seine Ohren waren nicht nur in der Lage, das immer nĂ€her kommende monströse GerĂ€usch zu vernehmen, sondern auch das Lodern von Flammen und das Schlagen von mĂ€chtigen Schwingen. Was da kam, war kein normales Ungeheuer. Die Angst lĂ€hmte ihn. “Was hast du?”, fragte ihn Annemarie. “Es kommt!”, antwortete der Werwolf verstört.   🌱   Drei Jahre zuvor. Eerika schlenderte mit einem großen geflochten Weidenkorb auf ihrer Schulter ĂŒber den Marktplatz. Sie hatte ockerblonde geflochtene Haare. Es war Einkaufstag und wenn ihr Gatte von der Arbeit heimkehren wĂŒrde, wollte sie ihm etwas frisches zum Abendbrot kredenzen. Einige Äpfel, etwas Brot, einen Fisch und eine KĂ€seecke hatte sie bereits erstanden. Sie brauchte noch etwas Lauch und einen Salatkopf. Auf den Markt fand sich auch der ein oder andere GemĂŒseverkĂ€ufer. Aber Eerika hatte ihren Stand, den sie regelmĂ€ĂŸig aufsuchte. Der glatzköpfige Mann ĂŒberzeugte mit seinem Angebot. Es war ihr noch nie untergekommen, ein welkes Blatt an seinen Waren auszumachen. Er verkaufte die frischeste Ware in ganz Ewigkeit. “Guten Morgen, Eerika”, grĂŒĂŸte der freundliche Mann, der inmitten des GemĂŒses auf Kundschaft wartete, seine Stammkundin. “Sagt, wie geht es den deinem Tarben?” “Schuftet sich den RĂŒcken krumm”, antwortete sie. “Also alles wie gehabt?” “Ich sage andauernd, er solle seinen Meister bitten, ihm die extra Arbeit zu entlohnen.” “Aber er hat es noch nicht getan?” “Er fĂŒrchtet sich, dass sein Meister ihn hochkant hinauswirft.” Eerika berĂŒhrte mit der linken Hand ihren leicht konvexen Bauch. “Er hat Angst davor, unsere kleine Familie nicht ernĂ€hren zu können.” “Dennoch kann es so nicht weitergehen!” Dann schwenkte der Mann vom Smalltalk zum VerkaufsgesprĂ€ch um. “Was darf es denn sein?” “Einen Kohl und einen Lauch.” “Ich habe heute Morgen erst eine frische Lieferung von Bauer Knut erhalten.” Die Hausfrau sah sich die Waren an und traf ihre Wahl. Dann ging sie zum VerkĂ€ufer zurĂŒck und MĂŒnzen wechselten den Besitzer. Sie wollte sich gerade verabschieden, als etwas ihre Wange streifte. Sie spĂŒrte Blut ihre Wange hinunter laufen. Der freundliche GemĂŒseverkĂ€ufer fiel nach hinten um. Die Marktbesucher verstreuten sich panisch in alle Himmelsrichtungen. Erst jetzt wurde Eerika bewusst, was sich vor ihren Augen zugetragen hatte. Ein schwarzer Bolzen hatte ihre Wange gestreift und den Mann genau zwischen die Augen getroffen. Nun lag er tot hinter seinen ausgestellten Waren auf dem Boden. Die Furcht keimte in ihr auf. Sie verlor das Gleichgewicht und setzte sich vor Schreck auf ihr Hinterteil. Sie konnte sich noch abstĂŒtzen, doch die Waren in ihrem Korb verteilten sich ĂŒberall auf dem Boden. Sie verschwendete keinen Gedanken daran sie aufzuheben und floh ebenfalls vom Schauplatz des Mordes.   Sie hatte sich nach drei Wochen noch immer nicht daran gewöhnt, jetzt den Platz der Prinzessin eingenommen zu haben, ihre Kleider aufzutragen und Befehle zu erteilen, wo sie sie einst nur empfangen hatte. Alle wurden angewiesen, sie so zu behandeln, als sei sie Emelaigne Morgenstern, als sei sie die rechtmĂ€ĂŸige Thronerbin, und nicht irgend eine Magd von niederem Stande. WĂ€hrenddessen hockte die echte Prinzessin noch immer in der finsteren Isolationszelle. Bei dem Gedanken, Emelaigne allein im Verlies versauern zu lassen, wurde der Aushilfsprinzessin ganz flau im Magen. Sie beschloss ihr einen Besuch abzustatten. Sie nahm sich erneut einen Eimer und fĂŒllte ihn mit Wasser. Sie legte einen Schwamm ins kĂŒhle Nass und besorgte sich ein StĂŒck Seife. Genauso wie an jenem Tag, an dem sie sie das erste Mal sah. Als man ihr auftrug, sie zu waschen. Doch dieses mal tat sie es aus freien StĂŒcken. Als erlebe sie ein Dejavu, versuchten die Wachen sie zu stoppen. “Was wird das?!”, mahnte der eine. “Hier hat niemand Zutritt!” “Lasst mich herein!”, forderte die geadelte Bedienstete. “Ich will die Gefangene waschen!” “Unsinn!”, meinte der andere. “Wir können Euch nicht durchlassen! Arngrimr hat-” “Ihr sollt meinen Anweisungen Folge leisten”, erinnerte die blonde Frau die MĂ€nner an ihre Befehle. “Ich verlange, dass ihr mich herein lasst!” “Aber-” “Sie hat Recht. Wir mĂŒssen ihr gehorchen. Auf Geheiß des Königs.” Die Kerkerwachen öffneten widerwillig die TĂŒr und ließen sie eintreten. Danach wurde die EisentĂŒr wieder verriegelt. Sie kannte die Losung: Drei mal klopfen. Emelaigne saß in der Mitte des Raumes. Sie war noch immer mit den verwunschenen Ketten Arngrimrs gefesselt, welche angeblich die Macht besitzen sollten, die böse Energie zurĂŒckzuhalten. “Wie geht es Euch?”, fragte die Besucherin. Emelaigne sah der Stimme entgegen. “Mein Name ist Caroline.” Emotionslose Augen starrten die Magd im Prinzessinengewand an. “Du bist Emelaigne. Die Prinzessin.” “Prinzessin”, wiederholte Emelaigne. Es war seit Langem das erste Wort, das sie sprach. “Genau! Du bist die Prinzessin.” “Ich habe sie alle umgebracht!” Emelaigne schlug die Arme ĂŒber dem Kopf zusammen. Die Ketten rasselten. Ihr Gesicht war gezeichnet von Grauen und Abscheu. Dann bemerkte sie den Eimer in Carolines Hand und entriss ihn ihr. Sie zog sich mit ihrer Beute in eine Ecke zurĂŒck und begann wie wild mit dem Schwamm auf ihren HĂ€nden zu rubbeln. “Was machst du da?”, fragte Caroline. Kurz unterbrach Emelaige ihr tun. “Ihr Blut klebt noch immer an meinen HĂ€nden!”, antwortete sie mit Wahnsinn in ihrer Stimme. Caroline konnte aber kein Blut ausmachen. “Da ist keins!” “Ich muss es abwaschen!” Emelaigne begann erneut zu reiben. Und sie tat so, bis ihre HĂ€nde wund wurden. "Du tust dir weh!" Aber Emelaigne hielt nicht inne. Caroline hatte Mitleid mit der Prinzessin. Sie musste ihr helfen aus diesem Loch zu entkommen. Aber dafĂŒr mĂŒsste sie ihr zuerst helfen, mit ihren Taten klar zu kommen.   In den letzten Wochen gab es immer wieder willkĂŒrlich anmutende MordanschlĂ€ge in Ewigkeit. Diese Meldung ließ sich nicht mehr lĂ€nger geheim halten. Kunde von den Taten eines vermeintlich wahnsinnigen Mörders hatten inzwischen auf Umwegen auch das Ohr des Königs erreicht. Er hatte den Hauptmann der Wache zu sich rufen lassen. Der bĂ€rtige Mann mit den dunkelbraunen Haaren kniete vor seinem Herren. “Steht auf!”, befahl der Herrscher. “Ich ziehe es vor, meinem GegenĂŒber in die Augen zu sehen, wenn ich ein GesprĂ€ch fĂŒhre.” “Verzeiht, mein Herr!”, sagte der Hauptmann und leistete Folge. “Lasst mich Euch eine Frage stellen, Sir Anthony.”, eröffnete der König. “Wie kann es sein, dass meine Untertanen in Furcht vor einem Wahnsinnigen leben und der Hauptmann der Wache mir gegenĂŒber kein Sterbenswörtchen darĂŒber verliert, sodass ich es hinten herum von einem meiner Pagen erfahren muss?” “Mein Herr, gestattet Ihr mir offen zu sprechen?” “Ich bitte darum! Tut wie Euch beliebt.” “In den letzten Wochen ist viel geschehen. Ihr wart nicht mehr wiederzuerkennen. Drum dachte ich, ich könnte Euch wenigstens diese Sorge ersparen.” “Es ist nicht an Euch zu entscheiden, was ich mir zumuten kann und was nicht!” Aber der König musste sich wohl oder ĂŒbel eingestehen, dass es stimmte. “Dennoch will ich Euch fĂŒr Eure Umsichtigkeit danken.” “Die Stadtwache hat keinen Stein auf den anderen gelassen. Wir werden den Verantwortlichen zur Strecke bringen, Eure MajestĂ€t!” Sir Anthony wandte sich ab und verließ den Thronsaal. Ein blondes Gewitter huschte an ihm vorbei. Caroline trat an den Thron heran und kniete vor dem Herrscher nieder. “Mein König.” “Caroline!” Das Erscheinen des MĂ€dchens wunderte ihn. “Verzeiht, aber ich habe den Wachen befohlen, mich herein zu lassen.” Der König zeigte sich wenig Begeistert ĂŒber diese Störung. “Hört mich an, bitte.” “Was bedrĂŒckt dich?” “Eure Tochter. Ist Euch klar, wie sie dort unten gehalten wird?” Der König sah TrĂ€nen in vorwurfsvollen Augen. “Steh auf!”, befahl er in herrischen Tonfall. “Meine Tochter wĂŒrde niemals vor mir knien!” Caroline leistete Folge. “NatĂŒrlich weiß ich, wie es Emelaigne dort unten geht. Aber was bleibt mir ĂŒbrig? Sie ist gefĂ€hrlich. Meine Leute leben in Furcht vor ihr. Sie bleibt in dieser Zelle, bis sie keine Gefahr mehr darstellt!”   Es vergingen weitere Wochen. Der Hofzauberer kam von Zeit zu Zeit und versuchte mit mystischen Beschwörungen und magischen Tinkturen den Teufel aus Emelaigne auszutreiben. So behauptete er zumindest. In Wahrheit befriedigte er seine wissenschaftliche Neugier an seinem unfreiwilligen Versuchsobjekt. Die Studien an einem echten Waffenmeister waren zu verlockend. Ihm fiel auf, dass die regelmĂ€ĂŸigen Besuche der DoppelgĂ€ngerin einen Effekt auf den Geisteszustand der Prinzessin hatten. Daraufhin erlaubte er dem MĂ€dchen, Emelaigne einmal tĂ€glich einen Besuch abzustatten. Es war wieder an der Zeit. Die TĂŒr wurde entriegelt. Einen Menschen zu haben, mit dem sie ĂŒber ihre Erlebnisse sprechen konnte, half ihr mehr als alles andere. Emelaigne berichtete Caroline im Verlauf der letzten Wochen von dem Mord an ihr, von der finsteren SchwĂ€rze der anderen Seite und von der Stimme in ihrem Kopf, die ihr andauernd abscheuliche Taten schmackhaft machte. Caroline trat ihr gegenĂŒber. “Hallo Emmi!”, grĂŒĂŸte sie. “Hallo, Caro!”, erwiderte die Prinzessin. Inzwischen waren sie sich so nah gekommen, dass sie sich vertraut und ohne Scheu mit Kurzformen ihrer Namen ansprechen konnten. “Ich muss dir unbedingt etwas erzĂ€hlen”, eröffnete Caroline. “Heute ist es endlich so weit! Ich werde zum ersten mal an deiner Stelle vor das Volk treten.” “Schön fĂŒr dich! Ich habe diese VorfĂŒhrungen frĂŒher immer gehasst!” “Und jetzt ist das nicht mehr so?” “Ich wĂŒrde gern unter das Volk treten.” Sie hob ihre gefesselten Arme an. “Doch wie soll ich das hier bitte erklĂ€ren?” “DafĂŒr hast du ja mich!” Carolines Gesichtsausdruck verfinsterte sich. “In Zeiten wie diesen, braucht das Volk seine Prinzessin erst Recht. Es wird ihnen Hoffnung geben.” “Danke, Caro!” “Hast du noch einen Rat fĂŒr mich?” Sie hob ihrerseits die HĂ€nde an. Sie zitterten. “Ich bin tierisch aufgeregt!” Caroline zwang sich ein LĂ€cheln auf, welches ihre Angst jedoch nicht zu verbergen vermochte. “Sei einfach du selbst! Wenn die Prinzessin urplötzlich die Etikette achtet, wĂŒrde das Volk es nicht glauben. Ich tat es nie.” “Danke, Emmi. Ich werde es beherzigen!” Sie wechselten das Thema und sprachen ĂŒber allerlei verschiedene Dinge. Die Zeit verging wie im Fluge.   Vor dem Eingang des Palastes hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Nachdem die GerĂŒchte ĂŒber den angeblichen Tod der Prinzessin den Umlauf gemacht hatten, zog es sie alle her. Es verlangte ihnen danach, die Prinzessin zu sehen. Die Besucher waren so zahlreich, der Platz vor dem Palast war vollkommen ĂŒberfĂŒllt und die Wachen hatten ihre MĂŒhen, die Ordnung zu wahren. “Wo ist die Prinzessin?”, verlangte ein Mann Auskunft. “Zeigt uns de Prinzessin!”, skandierte ein anderer, welcher hörbar aus Faringart stammte. “Mia hom a Recht auf de Wahrheit!” Die Stimmen wurden immer lauter. Bis sich endlich die TĂŒren des Palastes öffneten.   Der HeckenschĂŒtze von Ewigkeit hatte sich im Glockenturm einer nahegelegenen Kirche verschanzt. In seinen HĂ€nden hielt er eine massive schwarze Armbrust. Er folgte jeder Bewegung des jungen MĂ€dchens, welches er fĂŒr die Prinzessin hielt. Wenn ich die Prinzessin erschieße, dachte er, werde ich berĂŒhmt. Er grinste zufrieden ĂŒber sich selbst und seine eigene GenialitĂ€t, wĂ€hrend er auf die passende Gelegenheit wartete, den tödlichen Schuss abzugeben. Er wĂŒrde treffen. Selbst zweihundert Metern Entfernung waren kein Problem. Alles was er brauchte, war ein Ziel. Und das hatte er. Er fixierte den hĂŒbsch frisierten Kopf ihrer Hoheit. Gastraphetes wĂŒrde es schon richten. Emelaigne saß unbeteiligt an der Wand neben der TĂŒr gelehnt und ertrug vollkommen teilnahmslos die Einsamkeit, bis sich die TĂŒr erneut öffnen und ihr Abendessen gebracht werden wĂŒrde - sofern man diesen Fraß als essbar bezeichnen wollte. Man hielt sie wie einen Verbrecher! Aber war es so unangemessen und widersprĂŒchlich, sie so zu behandeln? Nach allem Leid und Tod, das sie zu verantworten hatte? Mehrere der Wachen, welche durch ihre Hand den Tod fanden, hatten Familie. Sie hĂ€tte ein solches Monster lĂ€ngst töten lassen, anstatt es ins Verlies zu werfen. Sie war doch nichts weiter als ein bissiges Tier, welches Menschen anfiel! Vater sollte keine Gnade zeigen. Plötzlich riss sie das GesprĂ€ch der Wachen vor der TĂŒr aus ihrer Selbstgeißelung. “Und, was glaubt Ihr?”, plauderte der eine WĂ€chter ungezwungen drauf los. “Wird der AttentĂ€ter heute wieder zuschlagen?” “Das kann durchaus sein”, bestĂ€tigte der andere WĂ€chter genervt. “Ich meine, er hat in den letzten Wochen immer wieder jemanden umgenietet”, setzte der erste seine Rede unverfroren fort. “Ja, da habt Ihr Recht.” Der zweite wurde immer brummiger. Er konnte sich schönere Dinge vorstellen, als darĂŒber zu spekulieren, wann ein Verbrecher das nĂ€chste mal zuschlagen und jemanden ermorden wĂŒrde. “Es wĂŒrde mich nichtmal wundern, wenn er heute mitten in die Menge schießt.” Emelaigne horchte auf. “Vielleicht tut er das.” “Oder vielleicht erschießt er gleich die Prinzessin!” Der andere lachte. “Das dĂŒrfte ihm schwer fallen. Die hockt immerhin hinter dieser TĂŒr.” Emelaigne war sofort klar, dass sich Caroline in ernster Gefahr befand. Sie musste sofort aus dieser Zelle raus! “Wachen! Lasst mich raus!”, rief sie ihnen zu. “Als ob wir eine Mörderin rauslassen wĂŒrden!”, antwortete der erste WĂ€chter. “Ich bitte Euch! Ich will sie retten!” Die Angst um Caroline trieb Emelaigne dazu, um ihre Freilassung zu flehen. Sie stellte sich an die TĂŒr und begann zu klopfen. “Das können wir leider nicht verantworten!”, antwortete der zweite WĂ€chter. “Bitte!”, wimmerte sie wĂ€hrend das dumpfe Schlagen an das Metall allmĂ€hlich an Kraft verlor. Aber die MĂ€nner reagierten nicht mehr auf ihre Rufe. Emelaigne sackte zusammen und kniete vor dem Ausgang. Wenige Zentimeter Metall trennten sie von der Freiheit. Sie betrachtete die Ketten. Sie musste ihre Fesseln abstreifen. Eilig ging sie zur Wand und schlug ihre Handgelenke so fest sie konnte immer und immer wieder gegen den Stein, bis die Schellen brachen und von ihren Armen fielen. “Die spinnt doch!”, entrĂŒstete sich der erste Wachmann ĂŒber all dem LĂ€rm aus der Zelle hinter ihm. “Als ob wir dieses Monster freiwillig raus lassen wĂŒr-” Ein gewaltiger Knall. Eine deutliche Delle erschien in der TĂŒr. UnglĂ€ubig starrten beide Wachen auf das verbogene Metall. Mit einem weiteren Knall sprang die TĂŒr zwischen ihnen aus den Angeln. Die MĂ€nner fĂŒhlten einen starken Luftzug entweichen, als jemand in Windeseile an ihnen vorbei rannte. Ängstlich hielten sie ihre Fackeln in die schwarze Kammer und schauten nach, nur um festzustellen, dass die Prinzessin nicht mehr in ihr war.   Der Wind stand gĂŒnstig. Es war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Der HeckenschĂŒtze vertraute vollends in das dĂŒstere Mordwerkzeug in seinen HĂ€nden. Er stoppte seinen Atem, korrigierte ein wenig den Winkel und wollte den Abzug betĂ€tigen. Aber dann ĂŒberkam ihn das ungute GefĂŒhl, nicht allein zu sein. Anstatt zu schießen, wandte er sich um. Er stellte fest, dass er tatsĂ€chlich nicht allein war. Ein blondes MĂ€dchen in Lumpen stand vor ihm, das haargenau so aussah wie die Prinzessin. Ihre Augen glĂŒhten rot und in ihrer rechten Hand hielt sie ein schwarzes Schwert. Ihre Erscheinung Ă€ngstigte den Mann so sehr, dass seine zitternden HĂ€nde ungewollt die Armbrust abfeuerten. Der Bolzen traf das MĂ€dchen in die rechte Schulter. Unbeeindruckt zog sie das Projektil heraus und warf es weg. Noch im Flug verschwand es. Sie nutzte die Starre des HeckenschĂŒtzen aus und stĂŒrmte vor. Mit einem geschickten Schwung schlug sie ihm den Arm ab. Das Blut spritzte und Gastraphetes viel zusammen mit dem Unterarm zu Boden. Noch bevor er den Verlust seiner Gliedmaße realisierte, hatte das MĂ€dchen ihn bereits mit dem schwarzen Schwert durchbohrt. Sie kannte keine Gnade! Nur die Klinge hielt den Körper noch aufrecht. Das MĂ€dchen stemmte ihre Fuß gegen den Brustkorb und befreite ihr Schwert von der Last. Der HeckenschĂŒtze von Morgenstern stĂŒrzte in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Plopp auf dem Boden auf. Unter ihm breitete sich eine Blutlache aus.   Unterdessen hatte sich die Kunde von Emelaignes Ausbruch im ganzen Schloss verbreitet. Die Wachen brachten die falsche Prinzessin in Sicherheit und lösten die Versammlung auf. Caroline vernahm nur gedĂ€mpfte Schreie einiger Besucher. Der Zufall leitete ihre Augen zur Turmspitze der Kirche, wo sie glaubte ihre Freundin Emelaigne zu sehen, welche just in diesem Moment eine schwarze Masse in sich aufnahm.   Emelaigne trat an die schwarze Armbrust heran. Diese bizarre Waffe rief ein befremdliches und doch so vertrautes GefĂŒhl in ihrem Inneren hervor. Es war, als wĂŒrde diese Waffe zu ihr sprechen. Sie glaubte, ein leises FlĂŒstern zu hören. Verhalten sĂ€uselte ihr die Armbrust ins Ohr, sie solle sie aufheben. Ohne weiter zu zögern, griff Emelaigne nach ihr und nahm sie an sich. Genau in jenem Moment bĂŒĂŸte die Waffe ihre feste Form ein und lief als FlĂŒssigkeit ihren Arm hinunter. Dabei trat ihrerseits eine schwarze FlĂŒssigkeit dampfend aus ihrem Arm hervor, um sich mit der anderen zu vereinigen. Bald bildete sich eine homogene Masse, welche sich ins Körperinnere zurĂŒck zog. Emelaigne nahm ihren ausgestreckten Arm herunter und fĂŒhrte ihn in ihr Sichtfeld. Es war keine Spur mehr von der schwarzen FlĂŒssigkeit auszumachen. In ihrem Inneren fĂŒhlte sie eine noch bösartige Energie als zuvor. Eine Finsternis, welche ihre Substanz ins Wanken brachte. Ein Fremdkörper hatte begonnen sich in den klĂ€glichen Rest ihrer Seele hineinzufressen. Sie wollte nicht noch einmal die Kontrolle verlieren! Sie spĂŒrte mit jeder Faser das Fortschreiten des Prozesses. Ein stetig heftiger werdender Schmerz schoss wellenartig durch ihren SchĂ€del. Der Widerstand gegen die Finsternis wurde Sekunde um Sekunde unertrĂ€glicher. Sie presste ihre HĂ€nde an ihren Kopf. Ihre Finger vergruben sich in ihren Haaren. Mit zusammengekniffenen Augen schritt sie umher, ungeachtet, das sie sich noch immer oben im Glockenturm der Kirche befand und es kein GelĂ€nder gab. Als der Schmerz so stark wurde, dass sie ihn nicht mehr spĂŒren konnte, versagten ihr die Beine. Sie stieß mit dem Kopf gegen die Glocke und ging zu Boden.   🌱   ZurĂŒck in der Gegenwart. Der seltsame Krach ließ auch Nebula sofort aufhorchen, welche noch immer wie hypnotisiert auf die schwarze Kettenwaffe herab blickte. Sie sah sich um und entdeckte etwas am dunklen Nachthimmel. Es hatte FlĂŒgel und wirkte wie ein viel zu groß geratener Vogel. Doch die schliefen Nachts. Als es plötzlich sein Maul aufriss, trieb es eine weite zylinderförmige Stichflamme vor sich durch die Luft. Es kam nĂ€her und endlich erkannte sie, was es fĂŒr eine Kreatur war. Ein Untier, dass es eigentlich nur in Sagen und ErzĂ€hlungen geben dĂŒrfte. Bedeckt von Kopf bis Fuß mit Schuppen. Eine geflĂŒgelte Echse. Ein leibhaftiger Drache. Die Kreatur kam auf Nebula zu und landete nicht weit von ihr. Als der Drache landete, ließ die ErschĂŒtterung des Bodens sie fast das Gleichgewicht verlieren. Mit MĂŒhe hielt sie sich selbst aufrecht, bis sie der Schwanz des Monsters voll erwischte und von den FĂŒĂŸen riss. Henrik und Cerise hatten alles beobachtet und eilten ihr zu Hilfe, wĂ€hrend die Palastwachen nicht wusste, was sie tun sollten. Henrik und Cerise waren erleichtert zu sehen, dass der Schlag Nebula nicht verletzt hatte und es ihr gut ging. “Mein Gott!”, keuchte die Blondine, als sie aufstand. “Fast hĂ€tte ich noch Mal den Löffel abgegeben.” “E-Ein Dr-Dra-Drache!”, stotterte Henrik Ă€ngstlich. Er konnte nicht aufhören das UngetĂŒm anzustarren. Cerise schwieg. Sie wirkte nicht zu ĂŒberrascht. Oben auf den Schultern des Monstrum saß eine Person. Eine Frau mit langen glĂ€nzenden schwarzen Haaren und einem ebenfalls langen gewundenen Stock mit einer großen Perle aus Bernstein an seinem Ende. Die Perle hatte einen schwarzen Einschluss, der sie bald wie eines der Augen des Drachen wirken ließ. War es vielleicht eine Art Zauberstab? Der Drache senkte seinen Kopf, sodass sie mĂŒhelos absteigen konnte. Sie trug ein enges Korsett, lange, schwarze GewĂ€nder mit einem Pelzkragen, einen welligen Rock und hohe Stiefel. Sofort zog es sie zur Leiche von Alaric. “Was haben sie dir angetan, Bruder?”, monologierte sie. Nebula, Cerise und Henrik kamen vorsichtig nĂ€her. Als der Drache es bemerkte, fauchte er sie an, sodass ihnen ein heftiger Windstoß ins Gesicht blies. Sein Mundgeruch war schlimmer, als jeder Feuerodem hĂ€tte seien können. Ein Gestank, der sich gewiss aus den zahllosen Überresten unglĂŒckseliger Opfer der Bestie zusammensetzte, welche sich noch immer in den ZwischenrĂ€umen seiner ReißzĂ€hne befinden mussten. Die Übelkeit in ihren MĂ€gen, stoppte die Drei abrupt. Derweil vollfĂŒhrte die Unbekannte merkwĂŒrdige Bewegungen, welche zum Ziel hatten, die gesammelten Seelen zu ĂŒbernehmen. Es war der Tanz der Seelen. Die Essenzen aller Opfer von Anima ĂŒbertrugen sich von Alaric auf sie und sammelten sich in einem leuchtenden Orb, welcher ĂŒber ihrer Hand schwebte. Sie sah sie an, prĂŒfte ihre QualitĂ€t und verzog angewidert das Gesicht. “Wiederlich!”, sagte sie und ließ daraufhin die meisten von ihnen frei. Ihre Energien bewegten sich zum Palast und durchdrungen seine Mauern. Derweil bestaunte sie die eine, welche sie noch in ihrem Besitz behielt. “Diese hier ist perfekt.” Sie hockte sich neben Alaric und drĂŒckte die Energiekugel in seinen Brustkorb hinein. Der leuchtende Orb verschwand und Alarics Wunden schlossen sich. Allerdings blieb sein rechtes Auge weiterhin unbrauchbar. Blaue Flammen entzĂŒndeten sich, fast als ob auch Anika zu neuem Leben erwachte. Alaric schreckte auf. Er blickte durch sein verbleibendes Sehorgan in das Gesicht der Frau, die ihn ins Reich der Lebenden zurĂŒckgeholt hatte. “Sch...wester”, sprach er noch immer schwach. “Was habt Ihr getan?”, stellte Nebula die Frau zur Rede. “Warst du das?”, erwiderte sie wĂŒtend. “Hast du dich an meinem Bruder vergriffen?” “Beantwortet meine Frage!” “Sonst was? Vielleicht sollte ich Fafnir befehlen, dich vorlautes Menschlein zu rösten! Sein Mundgeruch reicht offenbar nicht aus, dich mit Ehrfurcht zu erfĂŒllen. Erst wagst du HĂŒndin es, die Hand gegen die Elfenrasse zu erheben und jetzt bist du auch noch vorlaut! Ich habe meine Bestien schon wegen geringerem StĂ€dte niederbrennen lassen!” “Seid Ihr etwa Prinzessin Lezabel?”, fragte Cerise. Die Frau musterte sie. Sah ihre nicht ganz so spitzen Ohren und die blasse Haut. Dann spuckte sie vor Abscheu auf den Boden, als wĂ€re sie es nicht Wert, dass sie ihr antwortete. “Raus mit der Sprache, wer seid Ihr?”, wiederholte Nebula. “Mein Name ist Lezabel von Aschfeuer. Ich bin die Ă€lteste Tochter des Kaisers. Ich bin fĂŒr die Sicherheit meines Bruders wĂ€hrend seines Besuchs verantwortlich.” “Dann waren die Schießbudenfiguren tatsĂ€chlich nur reine Ablenkung”, erkannte Cerise. Lezabel ĂŒberging ihren Kommentar. “Eigentlich hĂ€tten wir euch WĂŒrmer schon lange ausrotten können. Zu eurem GlĂŒck gibt es wichtigere Dinge in der Welt, welche die Aufmerksamkeit meines Vaters erfordern. Und ihr seid die MĂŒhe sowieso nicht wert!” Danach half sie Alaric auf den RĂŒcken von Fafnir. “Wie habt Ihr Euren Bruder wieder ins Leben zurĂŒckgeholt?”, fragte Nebula. Lezabel setzte sich nun selbst auf den RĂŒcken ihres Drachens, vor ihren Bruder. Der umklammerte ihre Taille, da er fĂŒrchtete, sonst herunter zu fallen. Daraufhin schlug Fafnir seine Schwingen und erhob sich in die LĂŒfte. Der Druck der Luftverwirbelungen ließ Henrik nach hinten kippen, wĂ€hrend die beiden Frauen stehen blieben. “Ich weiß nicht, warum ich dir Rede und Antwort stehen sollte, Menschlein.”, rief die elfische Prinzessin von oben herab. “Aber dein primitives Primatenhirn wird es sowieso nicht verstehen, also kann ich es dir auch sagen. Man nennt mich auch Soul Charmer. Ich gebiete ĂŒber weiße Seelen. Wenn die Seele rein ist, ist sogar ein Untermensch wie ihr noch etwas Wert. Ich bot eine Seele im Austausch fĂŒr die meines Bruders an. Sie nahm seinen Platz im Limbus ein. Und nun entschuldige mich. Ich muss meinem Vater berichten, das die Hochzeit abgesagt ist.” Sie signalisierte Fafnir, das er losfliegen solle. Doch gehen, ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen, kam fĂŒr Lezabel nicht in Frage. Auf ihrem Weg ĂŒber die Stadt, spieh der Drache mehrfach FeuerbĂ€lle auf die HĂ€user von unbeteiligten Zivilisten und steckte so, nur zum VergnĂŒgen seiner Herrin, ein ganzes Stadtviertel in Brand. Die schwachen Proteste des kraftlosen Alarics, der sie ermahnte, dass ihre Taten ehrlos und feige seien, kĂŒmmerten sie nicht im Geringsten. Als Lezabel genug VerwĂŒstung verursacht hatte, zog der Drache endlich davon. Lezabels hexenhafte Lache hallte noch lange in den Gassen Ewigkeits wieder.   Die Nacht war rot erleuchtet. “Zieht eine Feuerschneise!”, hallte ein Befehl. Die Flammen fraßen sich wie ein ausgehungertes Ungeheuer in die hölzernen Balken des Wohnhauses und verbrannten sie im rapidem Tempo zu Asche. Als es Feuer vom Himmel regnete, traf es das Dach und brachte es zum einstĂŒrzen. Die gesamte obere Etage war mit lautem Getöse unter dem Druck zusammengebrochen und auf das Erdgeschoss herabgefallen. Nun erfasste die Gluthitze sofort jeden Winkel. Brennende TrĂŒmmerteile schnitten Wege ab, versperrten AusgĂ€nge und separierten, was eigentlich eins war. Zwischen Flammen und Schutt saß ein kleines MĂ€dchen fest. Von Angst gelĂ€hmt, kauerte es inmitten der Feuersbrunst und klammerte sich an die Lieblingspuppe, deren Haare, die aus Stroh gefertigt waren, bereits an ihren Enden begonnen hatten, zu versengen. Auf der anderen Seite einer unĂŒberwindbar heißen Wand aus Feuer, versuchte eine etwa dreißigjĂ€hrige Frau verzweifelt sich dem Griffen eines Mannes zu entziehen. Ihr mĂŒtterlicher Instinkt befahl ihr, das MĂ€dchen zu retten, ungeachtet der Konsequenzen fĂŒr sie selbst. Der Mann gehörte zur Feuerwacht und war ebenfalls bemĂŒht, Leben zu retten. Zuerst musste sie aus der Gefahr gebracht werden. Aber ihr lebhafter Protest, ließ ihn seinerseits verzweifeln. “Lasst mich zu meinem Kind, Ihr Bastard!”, schrie die Frau. Sie war der Situation geschuldet nicht in der Lage, die Absichten des Mannes zu verstehen. “Lasst mich los!” “Gute Frau”, versuchte er sie zu beschwichtigen. “Das Haus wird jeden Moment einstĂŒrzen! Ihr mĂŒsst sofort hier heraus!” “Aber mein Kind! Was wird mit meinem Kind?” “Zuerst mĂŒsst Ihr Euch zusammenreißen! Sonst sterben wir alle!” Das Kind streckte die Hand nach der Mutter aus. “Mama!”, kreischte es. “Mama, hilf mir!” Dem FeuerwĂ€chter gelang es, dank seiner ihr weit ĂŒberlegenen Kraft, die Frau gegen ihren Willen aus dem brennenden Haus herauszuziehen. Im nĂ€chsten Moment stĂŒrzte ein Teil der Decke herab und versiegelte den letzten Fluchtweg aus dem Inferno mit einer weiteren Wand aus Feuer. “Nein!”, rief die Frau und streckte nun ebenfalls ihre Hand aus, als versuche sie die ihrer Tochter aus der Distanz zu ergreifen. Die Schreie erregten die Aufmerksamkeit von Nebula und Henrik. Sie hatten sich umgehend an den Rettungsarbeiten beteiligt, nachdem der Drache am dunklen Horizont verschwunden war. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um das Drama um das in einer brennenden Hausruine eingeschlossene Kind glimpflich zu beenden. “Was hat sich hier zugetragen?”, fragte Nebula die Frau. “Mein Kind!”, rief diese immer wieder. “Mein Kind!” “Ich konnte sie gerade noch retten”, erklĂ€rte der FeuerwĂ€chter. “Aber ihre Tochter ist noch immer dort drin und-” Nebula wollte nicht mehr auf das Ende des Satzes warten und stĂŒrmte Hals ĂŒber Kopf hinein in das Flammenmeer.  “D-Das ist Wa-Wahnsinn!”, rief ihr Henrik hinterher. Aber Nebula hörte ihn schon nicht mehr. In gebĂŒckter Haltung schlich sie an den brennenden TrĂŒmmerteilen vorbei, wĂ€hrend der heiße Qualm ĂŒber ihr in den Nachthimmel entwich. Sie packte einen umgefallenen Balken an einer Stelle, welche noch nicht brannte, und warf ihn zur Seite, als wöge er nichts. So verfuhr sie mit weiteren TrĂŒmmern, bis der Weg zu dem MĂ€dchen endlich frei war. Sie schnappte es, klemmte es wie ein Paket Wurst unter die Schulter, und eilte dem Ausgang entgegen, ungeachtet den Protesten des Kindes, welches unbedingt noch die Puppe aus den Flammen gerettet wissen wollte. Kurz bevor die Ruine endgĂŒltig dem Feuer nachgab und in sich zusammen stĂŒrzte, entkamen Nebula und das Kind aus den Flammen. Beide waren wohl auf, wenn auch von schwarzem Ruß bedeckt. Henrik fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn er sie noch immer fĂŒr lebensmĂŒde hielt. Die Blondine setzte das MĂ€dchen ab und hockte sich vor ihm hin. Sie sah ihm ernst in die Augen. “Deine Puppe kann man ersetzen.”, belehrte sie. “Dein Leben aber nicht!” Bevor sie das MĂ€dchen zu seiner Mutter zurĂŒck schickte, wollte sie ihm einen letzten Ratschlag fĂŒrs Leben mitgeben. “Übe lieber mit dem Schwert, statt mit Puppen zu spielen.” Danach ließ sie es zu seiner Mutter zurĂŒckkehren. “Los, deine Mutter wartet!” Beide fielen sich in ausgelassener Freude in die Arme. In dieser Nacht verloren sie ihr Hab und Gut, ihr Heim, aber wenigstens nicht einander. Der FeuerwĂ€chter kam und legte anerkennend seine Hand auf Nebulas Schulter. “Ihr seid eine wahrhaft mutige Frau”, sprach er und musterte ihre GesichtszĂŒge. Das Muttermal unter ihrem linken Auge erregte sein Aufsehen. “Moment mal, Ihr-” Sie unterbrach ihn, bevor er seine AusfĂŒhrung vollenden konnte. “- helft, wo Hilfe gebraucht wird”, beendete sie den Satz fĂŒr ihn. Danach wandte sie sich an Henrik. “Komm, sehen wir, wo wir noch helfen können!” Beide rannten davon, noch bevor ein Dank ausgesprochen werden konnte.   Nach einer anstrengenden Nacht, kehrten alle wieder im Palast ein. Auch Clay, der sich den Rettungsmaßnahmen im brennenden Stadtviertel spĂ€ter noch angeschlossen hatte, nachdem er es irgendwie vollbrachte, Annemarie zum Schlafen zu ĂŒberreden. Von ihm erfuhren Nebula und Henrik, das alle ihrer Seele beraubten Palastwachen das Bewusstsein zurĂŒck erlangten. Die von Prinzessin Lezabel als “widerlich” aussortierten Seelen, kehrten von selbst in ihre Körper zurĂŒck, nachdem sie freigelassen wurden. Den MĂ€nnern blieb, außer einer heftigen MigrĂ€ne, kein erkennbarer Schaden zurĂŒck. Es wĂŒrde ihnen sicher bald wieder gut gehen. Nur einer Seele war noch immer nicht zurĂŒckgekehrt. Am frĂŒhen Morgen des dritten Tages nach dem Angriff, entschloss sich Nebula ihrer Freundin einen Besuch abzustatten. Zuvor hielt sie Schuld und Scham davon ab. Nun kniete sie neben Caroline und hielt todtraurig ihre Hand. Es forderte ihr alles ab, nicht sofort in TrĂ€nen auszubrechen. Weinen? Sie? Das kam fĂŒr sie gar nicht in die TĂŒte! Man hatte Caroline inzwischen in einem mit feinsten Stoffen ausgelegten offenen Sarg aus Eichenholz zur Ruhe gebettet und sie in ihren GemĂ€chern aufgebahrt. Wie eine echte Prinzessin, die seit einhundert Jahren schlief und den Kuss ihres Prinzen erwartete. Lezabel benutzte Carolines Seele, um Alaric zurĂŒckzuholen, das stand zweifelsfrei fest. Nebula fĂŒhlte sich so machtlos. FĂŒr was hatte sie dem Tod ins Auge geblickt, wenn doch alles umsonst gewesen ist? RĂŒckblickend, tat ihr nichts so weh, wie es sie schmerzte, ihre Freundin in diesem Zustand zu sehen. Ihre Rettung in endlos weite Ferne gerĂŒckt. Davon getragen von den Schwingen einer mystischen Bestie. Unerreichbar. Über diese Gedanken verlor sie nun doch die Kontrolle ĂŒber ihre Emotionen. Ein GlĂŒck, dass es niemand sah. Kapitel 11: Die kalte Schulter ------------------------------ 🌱   Zur Geisterstunde blieb Nebula die nĂ€chtliche Ruhe verwehrt. Frost und KĂ€lte krochen in Arme und Beine und hielten sie vom schlafen ab. Als habe sie ihre Glieder in eiskaltes Wasser getaucht. Ihre Decke bot ihr keinen Schutz vor der KĂ€lte, denn das GefĂŒhl schien aus ihrem Inneren nach Außen zu strahlen. Als sie ihre Beine berĂŒhrte, wirkten diese allerdings wohl temperiert zu sein. Sie gab den Kampf um den Schlaf noch nicht auf. Unruhig wĂ€lzte sich die Prinzessin in ihrem Himmelbett. Ihr Geist versuchte den Körper zu ĂŒberreden, sich endlich der MĂŒdigkeit geschlagen zu geben. Der Erfolg ließ weiter auf sich warten. Letztlich setzte sie sich entnervt auf und zog den Schleier zur Seite. Ihr Haar war völlig durcheinander gewirbelt und der linke TrĂ€ger ihres Nachthemd hing lose ĂŒber ihren Oberarm. Sie blickte auf, dem Fenster entgegen. Der weiße Schein des Mondes fiel hindurch und traf auf sie und ihre hochherrschaftliche Schlafgelegenheit. Weil es mit dem Einschlafen einfach nicht klappen wollte, beschloss Nebula aufzustehen und sich die Zeit damit zu vertreiben, den Erdtrabanten zu bewundern. Sie tastete nach ihren Pantoffeln und schlĂŒpfte hinein. Langsam erhob sie sich und ging zur Garderobe. Durch die trĂŒben Fensterscheiben konnte sie den Mond nicht richtig sehen, so entschied sie sich fĂŒr einen kleinen Nachtspaziergang durch den Palast. Sie wĂ€hlte einen ihrer Mantel, streifte ihn ĂŒber und verließ ihr Zimmer. Sie folgte dem Gang bis zu einer mĂ€ĂŸig ausgeleuchteten Abzweigung, welche sie zu einem Aufgang fĂŒhrte. Sie nutzte die Wendeltreppe und erklomm die Dachterrasse des linken PalastflĂŒgels. Hier lag der Blick auf den Mond frei. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Ihre Begleiter wusste nun, wer sie wirklich war. Wie mussten sie mit anderen Augen sehen. Sie wollte keine Sonderbehandlung, nur weil sie eine Prinzessin ist. Aus diesem Grund beabsichtigte sie niemals es ihnen zu offenbaren. HĂ€tte sie ihr Vater nicht dazu gezwungen, wĂ€re dieses Geheimnis weiter gewahrt geblieben. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre Kindheit. Sie war niemals allein und die anderen Kinder spielten mit ihr. Jedoch merkte sie schnell, dass sie sie immer zuvorkommend behandelten. Sie wollte ernst genommen werden, aber die anderen MĂ€dchen versuchten stets sich bei ihr beliebt zu machen. Darum prĂŒgelte sie sich lieber mit den Jungen. Sie hoffte so wenigstens von ihnen akzeptiert zu werden. Doch den Makel falschen LĂ€chelns wurden ihre Freundschaften niemals los. Caroline war ihre erste echte Freundin. Aber was hatte ihr das eingebracht? Und ihre neuen Freunde? Sie dachte an ihre Begleiter. An Clay, den JĂ€ger. Der Versuch den Ort, welchen er seine Heimat nannte, vor einem Monster zu bewahren, hatte ihm eben jene Heimat gekostet. Er musste auf die harte Tour lernen, dass Menschen meist die grĂ¶ĂŸeten Monster sind und andere oft vorverurteilen ohne weiter nachzudenken. Nebula grĂŒbelte, warum sie ihn in ihre Gruppe aufgenommen hatte. War es aus Mitleid mit ihm oder nicht doch aus Mitleid mit sich selbst. Immerhin war sie jetzt nicht mehr lĂ€nger das einzige Monster der Gruppe. An Cerise, die AttentĂ€terin mit dem losen Mundwerk, dachte sie auch. Wie weit konnte sie einer Frau trauen, welche angeheuert wurde, einen ihrer Begleiter zu töten, nur um dann die eigene Sache zu verraten und die Geliebte eben dieses Mannes zu werden? Einer Frau, der ihr fleischliches Verlangen offenbar wichtiger war, als jeder schwur. Denn zu glauben, dass es tatsĂ€chlich Liebe sein sollte, widerstrebte ihr. Könnte Cerise ihnen nicht jederzeit aus einer Laune heraus in den RĂŒcken fallen? Annemarie, das obdachlosen MĂ€dchen, kam ihr in den Sinn. Sie war noch ein Kind, welches gern MĂ€rchen las. Es war unverantwortlich sie ĂŒberall hin mitzunehmen. Nebula hatte sie aus selbstsĂŒchtigen GrĂŒnden aufgenommen und nun reiste sie mit ihnen. Sie konnte sich nĂŒtzlich machen und in die Zukunft sehen. Außerdem meinte der Hofzauberer, dass sie ein Talent fĂŒr Magie habe. Aber entschuldigte das, sie in Gefahr zu bringen? Nebula grĂŒbelte, ob sie eigentlich nur an ihren eigenen Vorteil dachte und die KrĂ€fte des MĂ€dchens fĂŒr die Suche nach den Teufelswaffen missbrauchte. Und was war mit Henrik? Ein naiver Junggeselle, der ins Verderben und wieder zurĂŒck rennen wĂŒrde, wenn es nur bedeute, er könne bei ihr bleiben. Das hatten spĂ€testens die Ereignisse des Bankett deutlich gemacht. Ohne ihn wĂ€re sie nicht mehr hier. Er vollbrachte ein Wunder. Sie stand in seiner Schuld. Ein Junge in seinem Alter sollte sich jedoch in ein normales MĂ€dchen verlieben, mit ihr eine normale Familie grĂŒnden und ein hoffentlich langes friedvolles Leben fĂŒhren. Er sollte nicht auf der Suche nach mythischen Waffen die Lande bereisen und seinen Hals fĂŒr etwas riskieren, was er nicht verstand. Sie verstand es ja selbst nicht völlig. Ihr lag etwas an ihm, das konnte sie nicht leugnen. Vielleicht liebte sie ihn auch. In jedem Fall musste sie ihm vor sich selbst beschĂŒtzen. Besser es tat einmal kurz weh, als wenn er weiterhin auf einen Abgrund zusteuerte. Vielleicht konnte sie ihn als Schmied in Ewigkeit oder einer anderen Stadt unterbringen. Aber vorher wĂŒrde sie ihn grĂŒndlich untersuchen lassen, um SpĂ€tfolgen seiner Zauberei auszuschließen. Gleich morgen frĂŒh wollte sie zu Arngrimir gehen und sich untersuchen lassen. Das war die Gelegenheit, Henrik im Anschluss genauestens unter die Lupe zu nehmen.   Am nĂ€chsten Morgen setzte sie ihren Plan in die Tat um. Ohne das sie eine klare Aussage gemacht hatte, veranlasste es den Zauberer hektisch in seinem Labor umherzueilen, um seine drei Jahre alten Unterlagen zusammen zu tragen. Er studierte seine Notizen und grĂŒbelte, wie er seine Patientin untersuchen sollte. Dann kam ihm eine zĂŒndende Idee. “Ich wĂŒrde gern etwas versuchen.” Er griff in seine Robe und holte ein Messer hervor. “Erlaubt  Ihr, Prinzessin?” “Na los, macht schon!” Das ließ sich Arngrimir nicht zweimal sagen. Er packte Nebulas rechten Arm und fĂŒgte ihr eine tiefe Schnittwunde zu. Schwarzes Blut quoll hervor doch gleichzeitig begann sich die Wunde sofort wieder zu schließen. “Wie ich es erwartet habe!”, behauptete der Zauberer und verstaute das Messer wieder in seinen GewĂ€ndern. “So schnell sind Eure Wunden frĂŒher nicht verheilt. Ihr habt Euch in der Tat verĂ€ndert. Was ist in dieser Nacht mit Euch geschehen?” Nebula schwieg. “Wenn ich Euch helfen soll, mĂŒsst ihr den Mund aufmachen!” Die Prinzessin versuchte mit ihren Blicken den Fragen auszuweichen. Sie wollte nicht antworten, denn sie wollte sich nicht daran erinnern mĂŒssen. “Bitte teilt euch mit.” Nebula seufzte. “Was ist passiert?” “Na schön!”. Sie atmete durch, um sich selbst zu beruhigen. “Der Prinz aus Aschfeuer hat... mich umgebracht.” Sie verspĂŒrte den Drang davonzulaufen aber gehorchte ihm nicht. “Ich fand mich an einem dunklen Ort wieder. Dann sah ich auf einmal dieses grelle weiße Licht. Im nĂ€chsten Moment l-lag ich in Henriks Armen.”  Der letzte Teil ihrer Aussage viel ihr unglaublich schwer und bei dem Gedanken an ihren Austausch von ZĂ€rtlichkeiten, errötete sie. “... er kĂŒsste mich.” “Und hat Euch so von den Toten zurĂŒck geholt?” “Ich weiß, das klingt LĂ€cherlich. Aber ich schwöre, ich spreche die Wahrheit!” “Henrik sagtet Ihr heißt der Bursche, richtig Prinzessin?”, fragte Arngrimir sicherheitshalber noch einmal nach und bekam es durch zaghaftes Nicken bestĂ€tigt. “Er hat Euch wiedererweckt? Mit einem Kuss. Das ist Ă€ußert... mĂ€rchenhaft!” “Seither haben sich meine Waffen verĂ€ndert. Sie fĂŒhlen sich viel leichter an als zuvor.” ”Wirklich?” Arngrimir zupfte sich an seinem Bart. ”Das ist höchst interessant!” “Kann das vielleicht Henrik verursacht haben?” “Das vermag ich nicht zu beantworten. Vielleicht sollte ich den Jungen auch einmal untersuchen! Schickt Henrik bitte zu mir.”   Achtlos warf Cerise einige stumpf geschliffene hölzerne Übungswaffen auf einen Haufen. Sie hatte die anderen bereits in der Vergangenheit kĂ€mpfen sehen und war wenig von deren Performance angetan. Aus diesem Grund trieb sie ein paar Holzschwerter auf, um Clay und Nebula etwas Nachhilfe in der Kampfkunst zuteil werden zu lassen. Denn sie glaubte, das die beiden es bitter nötig hatten. Der Übungsplatz der Kaserne schien ihr fĂŒr dieses Vorhaben ausreichend zu sein. Da sie sowieso nichts besseres zutun hatte, wĂ€hrend der Hofzauberer den Jungen auf links drehte, willigte Nebula zu diesem Vorhaben ein. Es versprach ein lohnender Zeitvertreib zu werden, der Rothaarigen beim Training die eine oder andere mitzugeben. Clay wusste, dass er kein NahkĂ€mpfer war und sich das so schnell auch nicht Ă€ndern wĂŒrde. Er war ein JĂ€ger. Und die jagen meistens mit einem Bogen aus der Entfernung. Ihm war klar, dass er in einem Nahkampf untergehen wĂŒrde. Cerise nahm sich eine der Übungswaffen. “Na los, jetzt greift euch auch welche!”, forderte sie die anderen auf. “Das Prinzesschen darf zwei nehmen.” “Gebt mir gefĂ€lligst keine Kosenamen, oder es setzt was!”, forderte Nebula. “Ich habe Euch in der Nacht des Angriffs mit zwei Waffen auf den Elf einprĂŒgeln sehen.” “Immerhin habe ich gewonnen.” “Nachdem Ihr Euch zuerst habt erschlagen lassen. Das war einfach nur peinlich! Da macht mir Eure Drohung wenig Angst.” “Wollt Ihr mich beleidigen?!” “Es sah aus, als wolltet ihr Schnitzel klopfen.” Nebula brachte ihr Missfallen durch ein kurzes grimmiges Brummen zum Ausdruck und nahm sich zwei Holzschwerter vom Stapel. Clay nahm sich ebenfalls eins. Dann begaben sich alle drei zu einem bereits abgesteckten Kampfbereich. “Auf diese Weise wird seit Generationen jungen Schattenschwestern die Kampfkunst gelehrt”, begann Cerise zu erklĂ€ren. “FrĂŒh ĂŒbt sich, was ein guter Mörder werden will!” Sie deutete auf den mit einem Stock in den Staub gemalten Kreis, welcher einen Durchmesser von fĂŒnf Metern hatte. “Das ist ein Kampfspiel. Ziel ist es, den Gegner entweder aus dem Ring zu drĂ€ngen, bewusstlos zu schlagen oder drei Punkte durch Treffer zu erzielen.” “Euch bewusstlos zu schlagen, hört sich verlockend an”, giftete Nebula. “Es steht Euch frei, es zu versuchen.” “Und wie erlangen wir drei Punkte?”, fragte Clay. “Es gibt einen Punkt fĂŒr Arme und Beine. Zwei fĂŒr Bauch oder RĂŒcken. Und drei fĂŒr Brust und Kopf.” “Und wie viele, wenn ich Euch den Arsch versohle?”, erkundigte sich Nebula. “Keine! Außer Clay. Er bekommt so viele er will... wenn er es schafft.” Cerise glaubte ihr Hinterteil nicht in unmittelbarer Gefahr. “Punkte werden nur fĂŒr Treffer mit Waffen gezĂ€hlt. Allerdings darf der ganze Körper zum Einsatz kommen.” Die Rothaarige senkte die Übungswaffe. “TeufelskrĂ€fte und starkes Haarwachstum ist nicht gestattet! Und jetzt haben wir genug geplaudert!” Sie streckte sdie unbewaffnete Hand aus und machte eine Geste, welche die anderen aufforderte, sie anzugreifen. “Zeigt mal, wie lange ihr durchhaltet!” Clay und Nebula sahen sich erst ratlos an, folgten dann aber der Einladung.   Eine Stunde verging. Die Sonne wanderte ĂŒber das von Wolken befleckte Blau des Himmels. Erschöpft ließ sich Nebula rĂŒcklings mitten in den Ring auf den Boden fallen. Der Aufprall wirbelte eine kleine Wolke aus Staub auf. Ihre Arme und Beine spreizte sie von ihrem Körper ab. Die Holzschwerter entglitten ihrem Griff. “Ich bin KO!”, stöhnte sie entkrĂ€ftet. Sich die ganze Zeit auf zwei Waffen zu konzentrieren war geistig sehr belastend. Clay war ebenfalls völlig fertig. Nicht körperlich, sondern moralisch. Er wĂŒrde lieber aus sicherer Entfernung seiner Beute auflauern, als im Nahkampf mit einem Gegner zu rangeln. Er suchte sich ein schattiges PlĂ€tzchen, setzte sich auf den Boden und versuchte sich schöne Gedanken zu machen. “Das war wirklich intensiv”, meinte er. Cerise stand noch immer aufrecht in Kampfpose. Kein Zeichen von Anstrengung verunstaltete ihr Gesicht. “Was denn, war’s das schon?”, stichelte die AttentĂ€terin. “Mir tun Muskeln weh, von denen ich nicht wusste, dass ich sie habe!”, klagte die Kriegerprinzessin. “Wenigstens von Euch erwarte ich mehr Ausdauer, Clay!” “Wieso konnten wir keinen einzigen Punkt erzielen?”, grĂŒbelte Clay.  Cerise entspannte ihre Körperhaltung. “Weil die eine ihre beiden Waffen so schlecht aufeinander abstimmt, wie ein grottiger Barde Gesang und Lautenspiel und der andere einfach viel zu vorsichtig und defensiv kĂ€mpft.” Cerise wandte sich an Nebula. “Ihr habt zwei Arme und zwei Waffen. Dennoch benutzt ihr sie nie gemeinsam. Zwei Waffen bedeuten nicht automatisch doppelte Chance auf einen Treffer.” Sie fuhr mit der Analyse von Clay fort. “Clay, Ihr fĂŒhlt Euch nicht wohl, wenn Ihr nicht mit einem Bogen schießen könnt. Im Nahkampf seid Ihr zu zögerlich und versteckt Euch hinter der Waffe. Durch bloße Verteidigung gewinnt man aber keinen Kampf.” Nebula stĂŒlpte die Unterlippe ĂŒber die Oberlippe und blies Luft aus, sodass ihr Pony aufgewirbelt wurde. Sie fĂŒhlte sich belehrt, wie damals als kleines MĂ€dchen. Aber es zu leugnen, half ihr nicht. Ihre Fertigkeiten beim Kampf mit zwei Waffen ließen stark zu wĂŒnschen ĂŒbrig. Clay schien seinen Frust ĂŒberwunden zu haben. Er senkte den Kopf und ließ die Worte der Rothaarigen auf sich wirken. Nebula erhob sich und klopfte den Staub von ihrer Schokoladenseite. “Nein, das lasse ich so nicht stehen!” Sie loderte vor Kampfeswillen. “Ihr gebt niemals auf”, bemerkte Cerise. “Das ist eine gute Eigenschaft fĂŒr die Heldin einer Geschichte. In der RealitĂ€t sollte man aber wissen, wann Schluss ist.” Sie warf die Übungswaffen auf den Boden. “Ich werde es Euch einfacher machen.” Erneut nahm sie eine kĂ€mpferische Pose ein. “Versucht, mich zu treffen!” Cerise musste sie verspotten wollen. “Mit VergnĂŒgen!” Nebula stĂŒrmte brĂŒllend auf Cerise zu, als wolle sie sich selbst beweisen, dass doch nichts an den Worten der Rothaarigen dran war. Geschickt wich die AttentĂ€terin allen StĂ¶ĂŸen aus. In einem gĂŒnstigen Moment ergriff sie beide Arme ihres GegenĂŒbers und beendete so den Angriff ihrer Gegnerin. “Lasst mich los!”, beschwerte sich Nebula. Cerise seufzte. “Ihr habt es immer noch nicht verstanden!”   Eine Ewigkeit ließ ihn der Hofzauberer das KunststĂŒck des Messer verbiegens vorfĂŒhren, als seie er ein Schausteller und gebe eine Privatvorstellung. Dabei beĂ€ugte Arngrimir jede Bewegung des Jungen mit Argusauge. Zwar erhielt Henrik eine ErklĂ€rung, was der Mann mit dem zotteligen Bart damit bezweckte, doch wirklich begriffen hatte er es nicht. Danach untersuchte Arngrimir jede nur erdenkliche KörperflĂŒssigkeit. Ohne Befund. Man konnte dem alten Mann zumindest nicht vorwerfen, nicht grĂŒndlich zu sein. Schlussendlich war die Suche nach AuffĂ€lligkeiten ein Fehlschlag. Die Quelle von Henriks Kraft verblieb ein Mysterium. Nachdem Arngrimir Henrik sich selbst ĂŒberlassen und sich aus Frust ĂŒber ein RĂ€tsel, welches er nicht zu lösen vermochte, in seinem Labor verbarrikadiert hatte, um seinen Studien nachzugehen, wollte Henrik nach Nebula sehen. Er fand sie zusammen mit Clay, Cerise und einer frostigen Stimmung auf dem Übungsplatz vor. Nebula riss sich von Cerises HĂ€nden los und bewegte sich auf ihn zu. Henrik las in ihrem Gesicht eine gewaltige Unzufriedenheit ab. Er fragte sich, wie ihr Training verlaufen war. Scheinbar nicht so gut. Vielleicht wollte sie darĂŒber sprechen. “H-Hallo”, grĂŒĂŸte er und winkte verhalten. Doch sie ging einfach wortlos an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten. Schon wieder ließ sie ihn einfach stehen. “H-Hey, warte!”, rief er und lief ihr nach. “Was hast du?” Vorsichtig streckte er seinen Arm, als er sie einholte, und legte die Hand auf ihre Schulter. Nebula wandte sich ihm in einer Drehung zu und verpasste ihm gleichzeitig einen Schlag, der den Jungen sofort zu Boden warf. “Höre auf mir nachzulaufen, du Klette!”, schrie sie ihn an, wĂ€hrend er sich langsam aufrichtete. Henrik sah angstvoll und unverstĂ€ndig in ihre roten Augen, wĂ€hrend er allmĂ€hlich den Schmerz seiner geplatzten Oberlippe bemerkte. Er schmeckte den metallischen Anklang seines eigenen Blutes, welches in seine Mundhöhle eindrang. Nebula wandte sich wieder ab und setzte ihren Weg fort. Henrik blieb sitzen und befĂŒhlte die Wunde in seinem Gesicht.   🌱   WĂ€hrend die Überfahrt nach Eldora geplant wurde, nutzte die Gruppe die Zeit, um KrĂ€fte zu sammeln und zu trainieren. Nebula konnte einfach nicht ertragen, wie Cerise sie vorgefĂŒhrt hatte und trainierte Tag ein Tag aus den Kampf mit zwei Waffen. Die Kammerdiener munkelten, man könne sie selbst im Schlaf dabei beobachten, die Bewegungen auszufĂŒhren. Clay ĂŒbte mit seinem Bogen, damit er nicht aus der Übung gerit. Training fĂŒr den Nahkampf ging er jedoch gekonnt aus dem weg. Trotz seiner Muskeln wurde er einfach nicht damit warm. Ihn plagten sowieso andere Sorgen. Der Zyklus des Mondes schritt unaufhaltsam voran. Wenn Cerise nicht bei ihrem Liebhaber war, machte sie sich rah. Keiner außer ihr wusste, wo sie sich heimlich herumtrieb. Und Henrik versuchte der Prinzessin so gut es ging aus dem Weg zu gehen. So verging die Zeit wie im Fluge. Noch immer konnte Henrik an nichts anderes denken und war ganz durcheinander. Er wollte Nebula wirklich nicht auf die Nerven gehen. Aber sie hatte so traurig und frustriert ausgesehen. Als habe sie das BedĂŒrfnis mit jemanden zu sprechen. Und er wollte fĂŒr sie da sein. Ein Irrtum. Er war so naiv! Man konnte kein Wunder erleben und gleich darauf noch eins erwarten. Kein Gott der Welt war so großzĂŒgig. Sein Kiefer tat ihm immer noch weh. Der Schmerz sollte ihm ein Lehrmeister fĂŒr die Zukunft sein. Auch wenn er sie liebte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie die gleichen GefĂŒhle fĂŒr ihn hegte. Nun lag er im Bett und starrte die Streben an der Decke an. Der alte Mann mit dem Zottelbart hatte ihn fĂŒr Morgen erneut in dessen Labor bestellt. Vermutlich wartete noch mehr Besteck, das verbogen werden wollte. Über seinen Kummer schlief Henrik ein.   Auf einem langen stabilen Tisch reihten sich unterschiedliche Klumpen aus Gestein. Jeder von ihnen wies eine andere FĂ€rbung auf. Sie hatten alle ein unterschiedliches Gewicht und etwa die GrĂ¶ĂŸe einer kleinen Melone. In ihnen befanden sich Minerale. Die OberflĂ€che der meisten StĂŒcke glĂ€nzte im dem durch die Fenster einfallenden Sonnenlicht. Langsam trugen zwei Handlanger einen weiteren Klumpen heran und wuchteten ihn auf den Tisch zu den anderen. Dieser war viel schwerer. Vermutlich ein sehr dichtes Material. Nach getaner Arbeit verließen die Bediensteten das Labor des Hofzauberers. Im nĂ€chsten Moment klopfte es an der TĂŒr. “H-Hallo!”, sprach es kaum verstĂ€ndlich hinter ihr. “K-Kann ich eintreten?” Arngrimir erkannte die Stimme seines schĂŒchternen Versuchsobjekt. “Aber natĂŒrlich”, gestattete er. “Kommt herein, Junge!” Die TĂŒr öffnete sich und Henrik betrat das Alchemielabor. Er sah sich um, und bemerkte, es war aufgerĂ€umt worden. Von der Unordnung des Vortages konnte er keine Spur mehr ausmachen. Die blubbernden GlĂ€ser und SchlĂ€uche der Destillen waren verstummt und störende BĂŒcher auf andere Tische am Rand verbannt worden. Ebenso befanden sich die schweren Kessel nun dort, wo sie niemandem mehr im Weg standen. Der große Tisch in der Mitte des Raumes war jedoch neu und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Das Labor, der Ort an dem sonst ein Element in ein anderes transmutiert oder magische TrĂ€nke hergestellt wurden, war nicht mehr wiederzuerkennen. Gemeinsam schritten Henrik und Arngrimir an den großen Tisch. “Sind das Erze?”, fragte Henrik unbedarft. “Hervorragend! In der Tat. Es handelt sich um Brocken verschiedener Erze.” “W-Was soll ich d-damit anfangen?”” “Ich möchte sehen, welche Arten von Metall und Mineral Ihr kontrollieren könnt.” “W-Warum?” “Wir wollen beide diese Kraft verstehen lernen.” “I-Ich habe bereits S-Silbererz geformt.” “Dann sollte diese Aufgabe kein Problem fĂŒr Euch sein.”   Stunden zuvor arbeitete Arngrimir noch an einem anderen Experiment. Die Kammer fĂŒllte sich mit dem Kondenswasser, welches aus dem unter kleinem Feuer erhitzten Kolben entwich. SpĂ€t in der Nacht war ein Experiment im Gange. Es war die entscheidende Phase. Der finale Schritt, welcher ĂŒber Erfolg oder Scheitern entscheiden wĂŒrde. Ein kleiner Fehler könnte die Arbeit von Wochen zunichte machen. Tief in seine Gedanken versunken, wartete der Hofzauberer vor seiner Destille mit einem angekippten Laborglas auf den richtigen Moment, die kochend heiß siedende FlĂŒssigkeit im Kolben mit jener aus dem Glas in seiner Hand zu vereinen. Er wollte gerade vorsichtig einen Tropfen zugeben, als plötzlich die TĂŒr hinter ihm unsanft mit lautem klopfen traktiert wurde. Mitten in der Nacht erdreistete sich jemand ihn zu stören. Was fĂŒr eine UnverschĂ€mtheit! Er erschrak derart, dass ihm das Glas entglitt. Hektisch versuchte er es zu ergreifen, denn es durfte keinesfalls mehr als ein Tropfen der FlĂŒssigkeit in den Kolben geraten. Trotz all seiner MĂŒhen das Experiment zu retten, entzog sich das Glas mehrfach seinem Griff und letztlich scheiterte er. Der gesamte Inhalt ergoss sich in den Kolben und ĂŒber den Labortisch. Es folgte eine Verpuffung. Arngrimir stand entgeistert vor seinem gescheiterten Experiment. Einen Augenblick spĂ€ter ging er zur TĂŒr seines Labor und öffnete sie. Hinter ihr erblickte er die Prinzessin. “Störe ich?”, fragte Nebula. Als die Blondine den Mann erblickte, erkannte sie, dass er frontal in GĂ€nze mit Ruß bedeckt und sein zotteliger Bart nun vollends zerzaust und versengt war. Es roch verbrannt und ein blĂ€ulich-grĂ€ulicher Dunst hing schwer in der Luft. Nebula konnte sich bei diesem Anblick ein Lachen nicht mehr verkneifen. Arngrimir stampfte wĂŒtend auf wie Rumpelstilzchen. “Das war ein wichtiges Experiment!”, grĂ€mte er. “Ein bedeutender Fortschritt fĂŒr die Alchemie. Und dann kamt Ihr und habt alles ruiniert!” “Entschuldigung!” “Nichts ‘Entschuldigung’! Was wollt Ihr ĂŒberhaupt hier? Ich bestellte Euch erst fĂŒr Morgen in der FrĂŒh. Wisst Ihr, wie spĂ€t es ist?!” Der BĂ€rtige beĂ€ugte die Prinzessin. Unter ihrem Mantel guckte der Saum ihres Nachtgewand hervor. Sie musste spontan aufgestanden und zu ihm gekommen sein. Er seufzte. Es musste etwas wichtiges sein. “Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Lady Emelaigne?” “Es geht um Henrik”, eröffnete sein GegenĂŒber. “Dann kommt herein.” Er geleitete die Prinzessin in sein Labor. “Es ist kalt um diese Zeit. Ich sollte Euch einen Tee bereiten, damit Ihr Euch aufwĂ€rmen könnt.”   Henrik stand mit geschlossenen Augen vor einem der Erzklumpen und hatte beide HĂ€nde darauf gelegt. Der Brocken bestand aus dunkelgrauem Gestein und wurde von orangefarbenen Adern durchzogen. Vermutlich handelte es sich bei diesem Exemplar um eine Probe Eisenerz. Arngrimir beobachtete die MĂŒhen des Braunhaarigen, der ein Gesicht machte, als wĂ€re er inmitten einer anstrengenden Sitzung auf dem Abort. Schon eine Weile mĂŒhte sich Henrik ab - bisher nicht von Erfolg gekrönt. Auf diese Weise konnte das nichts werden. Der Junge war viel zu angestrengt und verklemmt, wo er es einfach passieren lassen musste. Henrik spĂŒrte unerwartet die Hand des alten Mannes auf seiner Schulter und unterbrach sein angestrengtes drĂŒcken auf der OberflĂ€che des Gesteins. Er wandte sich vom Tisch ab. “Versucht Euch zu entspannen, Junge”, riet Arngrimir. “Wieso s-soll ich mich dabei entspannen?”, fragte Henrik. “I-Ich war nie entspannt, w-wenn ich diese Kraft eingesetzt habe.” “ZaubersprĂŒche und Formeln mögen vom Verstand kommen, doch die Magie selbst kommt vom Herzen.” “U-Und wie soll mir das helfen?” “Ihr mĂŒsst es fĂŒhlen. Fixiert Euch nicht zu sehr auf die Sache. Wenn Ihr wollt, das dieser Stein Euch gehorcht, hilft es, an etwas zu denken, dass Euch Kraft gibt.” Henrik wandte sich wieder dem Gestein zu. Was mir Kraft gibt, grĂŒbelte er und legte danach beide HĂ€nde entspannt auf den Klumpen vor sich. NatĂŒrlich wusste er sofort, was er wollte. Vor seinem geistigen Auge erschien niemand anderes als die Prinzessin. Henrik stellte sie sich ihn freundlich anlĂ€chelnd vor, auch wenn ihm gerade nicht klar war, ob sie ihn jemals angelĂ€chelt hatte. Vor seinem geistigen Auge verfielen beide einander in einem nicht enden wollenden leidenschaftlichen Kuss. An Fantasie mangelte es ihm zumindest nicht. Plötzlich riss ihn das Klatschen des Hofzauberers aus seiner Trance. “Heureka!”, rief dieser. Henrik öffnete seine Augen und der Stein, welcher soeben noch einen halben Meter ĂŒber der Tischplatte schwebte, stĂŒrzte nun auf sie herab. Henrik sah er BestĂ€tigung suchend den Hofzauberer an, als wolle er wie ein kleiner Junge hören, das er es richtig gemacht hatte. “Hervorragend!”, lobte der Hofzauberer. Viel mehr vermochte er aber nicht zu sagen. Was er da sah, war keine gewöhnliche Telekinese. Dieser Junge besaß ein einzigartiges Talent, welches er nur allzu gern weiter untersuchen wĂŒrde.   Nachdenklich saß Nebula auf der Bank unter dem großen Baum auf der kleinen Insel inmitten des Teiches im Schlosspark. Mit gesenktem Kopf betrachtete sie ein blaues Buch. “Volkes MĂ€rchen” stand auf seinem Deckel geschrieben. Es war jenes Werk, mit dem sich Henrik selbst das Lesen beigebracht hatte. Dazu wĂ€re es wohl nie gekommen, wĂ€re er ihr nicht begegnet. Sie hatte sein Leben bereits verĂ€ndert. Doch stand es ihr zu, ihn noch weiter ihrem Einfluss auszusetzen? WĂ€re das ĂŒberhaupt gut fĂŒr ihn? In Gedanken versunken bemerkte sie nicht, wie Clay auf sie zu kam. “Prinzessin!”, sprach dieser sie an. Nebula sah zu ihm auf. “Du sollst mich nicht Prinzessin nennen!” “Wie du möchtest, Nebula.” “Was machst du hier?”, fragte die Blondine. “Ich bin deiner FĂ€hrte gefolgt.” “Meiner FĂ€hrte? Ich bin nicht irgendeine Beute!” Sie verhielt sich ihm gegenĂŒber abweisender als eine antihaftbeschichtete Bratpfanne. ”Was willst du von mir?!”, fuhr sie ihn an. Heute schien sie wieder besonders mies gelaunt zu sein. Clay setzte sich unaufgefordert neben Nebula auf die Bank. “Es geht um dein Verhalten Henrik gegenĂŒber. Hat der Junge das wirklich verdient?” “Er ist ein Idiot und SchlĂ€ge auf den Hinterkopf helfen beim denken.” “Du hast sein Gesicht getroffen.” “Kann man ja mal verwechseln.” “Mache dir etwas vor, solange du willst. Es ist offensichtlich, dass er dir wichtig ist!” Nebula wandte sich Clay zu, um ihm deutlich zu verstehen zu geben, was sie von seiner Einmischung hielt. “Was erdreistest du dich?! KĂŒmmere dich um deinen eigenen Kram!” Sie verspĂŒrte den Drang den Behauptungen des Waidmanns aus dem Weg zu gehen, klappte das Buch zu und wollte aufstehen. Doch Clay packte ihren Arm. “Hey!” “Hier geblieben, MĂ€dchen!” Er zog sie zurĂŒck auf die Bank und mit dem Gesichtsausdruck eines bockingen Kleinkindes setzte sie sich wieder auf den Hosenboden, und musste weiter seiner Predigt lauschen. “So leicht kommst du nicht davon!” Nebula legte das Buch neben sich auf der Bank ab. ”Du willst ihn von dir wegstoßen, weil du Angst hast, zu deinen GefĂŒhlen zu stehen.” Sie wandte ihren Kopf ab. Ein verleugnendes “Pfff” entwich ihren Lippen. “Warum hast du ihn mitgenommen?” “Er kann kochen.” “Das ist doch nicht alles. Du weißt genau, dass du ihn brauchst.” “Ja, als Koch!” “Sei doch einmal ehrlich zu dir selbst!” Einem weiteren “Pfff” folgte nur noch schweigen. Er konnte froh sein, nicht Henrik zu sein, sonst hĂ€tte sie ihm schon den Einband des Buches ĂŒber den SchĂ€del gezogen. Clay fuhr indes unbeirrt mit der Analyse ihrer GefĂŒhlswelt fort, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. “Deine GefĂŒhle sind ein BĂ€r und du hockst auf einen Baum, an dem die Bestie rĂŒttelt. Der Junge kann das Biest besĂ€nftigen. Darum hast du ihn mitgenommen.” Die Blondine wandte sich grimmig ihrem Begleiter zu. “Halt doch endlich deine Klappe! Du hast doch keine Ahnung!” “Wenn einer weiß, wie du dich fĂŒhlst, dann bin ich das! Schau!” Er deutete nach oben zum Himmel. ”Weißt du, was heute nacht ist?” Er pausierte kurz, um ihr die Gelegenheit zu geben, sich konstruktiv an der Unterhaltung zu beteiligen. Doch sie ließ sie ungenutzt verstreichen. “Vollmond!”, antwortete er schließlich auf die eigene Frage. Er nahm den Arm wieder herunter. ”Dann werde ich mich im Kerker anketten und hoffen, dass die Fesseln und StĂ€be halten und ich nicht ausbreche und im Wahn irgendjemanden in StĂŒcke reiße.” Er pausierte um durchzuatmen. “Wir haben dieses GesprĂ€ch schon einmal gefĂŒhrt, allerdings in vertauschten Rollen. Erinnerst du dich? Damals hast du mir geholfen und ein neues Zuhause gegeben, nachdem ich alles verloren hatte. Nun will ich dir helfen, bevor du das von dir stĂ¶ĂŸt, was dir wichtig ist.” Nebula begann vorsichtig zu schluchzen, aber verbarg es. Still und heimlich versuchte sie ihre Emotionen mit sich selbst auszumachen und zu verstecken, als habe sie Angst bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Sie sah Clay noch immer an, als sie das Verlangen zu Weinen mit Wut kompensierte. “Ich sagte doch, du hast keine Ahnung!” Sie ballte ihre Faust und begann auf Clays Brust einzuschlagen. “Keine Ahnung!”, wiederholte sie. Der großgewachsene Muskelmann legte seine Hand auf ihren RĂŒcken und drĂŒckte sie an sich. Er hatte kein Problem damit, sie zu beruhigen. Und wie durch ein Wunder hatte sie keins damit, es zuzulassen. Bald schon stellte sie das kraftlose Schlagen ein.   Falls es sein Ziel war ihn zu verwirren, so war es ihm Gelungen. Kurz nachdem Henrik den Stein schweben ließ, hatte der Zauberer bereits eine neue Idee. Henrik sollte versuchen, einen Gegenstand zu erschaffen. Also sammelte er sich und konzentrierte sich auf die ihm gestellte Aufgabe. Aus dem vorhandenen Material konnte er nicht viel machen. Er entschied sich fĂŒr etwas, seiner Zunft entsprechend. Eine Waffe. Aus dem kleinen Eisenbarren vor ihm schuf er zuerst eine glĂŒhende Kugel und formte dann aus ihr die Spitze eines Speeres. Als das WerkstĂŒck Gestalt angenommen hatte, erfasste es die Schwerkraft und es hinein in die Hand des Jungen. Interessiert trat Arngrimir heran und nahm Henrik das Erzeugnis aus der Hand. Er fĂŒhrte es vor sein kritisches Auge. Viel Verstand er nicht von der Schmiedekunst Doch die Speerspitze war solide geschmiedet und rasiermesserscharf, soviel konnte er sagen. Und das, obwohl Henrik weder Hammer und Ambos noch Schleifstein zur VerfĂŒgung hatte. Als einziges Hilfsmittel hatte er seinen eigenen Willen. Arngrimir ließ Henrik das Experiment mehrfach wiederholen. Mit jedem Versuch wurde es einfacher fĂŒr ihn und der Prozess beschleunigte sich. Henrik spĂŒrte, wie er besser und besser wurde. Arngrimir nahm sich den Braunhaarigen zur Seite. “Junge, Ihr habt ein außerordentliches Talent fĂŒr Magie”, eröffnete er. “So einen wie Euch trifft man nicht alle Tage.” Dann sah er ihm bedeutungsvoll in die Augen. “Könntet Ihr Euch vielleicht vorstellen, in Zukunft mein Gehilfe zu werden?” “A-Also i-ich
”, stotterte Henrik. “I-Ich glaube, i-ich...” Er war ĂŒberfordert. Wollte ihn der Zauberer tatsĂ€chlich als seine rechte Hand anheuern, obwohl er eigentlich ĂŒberhaupt nichts von Magie verstand? “Ich wĂŒrde Euch alles lehren, was ich weiß. Und Lehrlingsgeld mĂŒsstet Ihr auch nicht zahlen. Überlegt es Euch gut! Ihr hĂ€ttet bestimmt das Zeug dazu, eines Tages an meiner statt der Hofzauberer zu werden. Was sagt Ihr?” “I-Ich
” Der schĂŒchterne Braunhaarige konnte das unmöglich quasi zwischen TĂŒr und Angel entscheiden. Er brauchte dringend frische Luft und die verschaffte er sich auch, als er wie von der Tarantel gestochen aus dem Labor flĂŒchtete. Er rannte eine ganze Weile ohne nachzudenken. Mit der Zeit wurde er langsamer und merkte, dass ihn seine Beine in den Schlossgarten getragen hatten. Er war zu sehr beschĂ€ftigt mit seinen Gedanken, um sich noch daran zu erinnern, wie er hierher gekommen war. Als Lehrling hĂ€tte er die Aussicht, eines Tages der nĂ€chste Hofzauberer zu werden. Es hörte sich verlockend an. Bisher wagte er nicht zu trĂ€umen, in irgendeiner Form wichtig zu sein. Aber um das Angebot wahrzunehmen, mĂŒsste er Nebula und die anderen verlassen. Das kam gar nicht in Frage! Er schritt weiter durch den Schlossgarten und hoffte, dass die kĂŒhle Luft seine Gedanken fĂŒr ihn aufrĂ€umen wĂŒrde. Auf einmal hörte er Stimmen. Sie kamen ihm bekannt vor. Zögernd folgte er einem Weg zwischen Hecken hindurch, bis er einen Durchgang erreichte. Zaghaft lugte er hindurch und seine Augen weiteten sich. Er sah einen Weg, welcher zu einer BrĂŒcke fĂŒhrte. Die BrĂŒcke verband eine Insel auf einem kleinen kĂŒnstlichen See mit dem Rest der Anlage. Auf ihr befand sich ein großer Baum und unter ihm eine Bank. Henrik glaubte nicht, was er dort sah. Auf der Bank saßen Nebula und Clay. Und zum Entsetzen des Jungen schien sich die Blondine an den starken muskelbepackten Oberkörper des bĂ€rtigen Schwarzhaarigen zu kuscheln. Im nĂ€chsten Moment streckte sich Nebula und kĂŒsste Clay auf den Mund. Eilig zog Henrik seinen Kopf ein und brachte sich hinter der Hecke in Sicherheit. Langsam formte sich ein niederschlagendes Bild in seinem Kopf. Er glaubte nun zu verstehen. Das war die ErklĂ€rung, wieso sie so abweisend zu ihm war. Wieso sie seine GefĂŒhle nicht erwidern konnte. Er musste der Wahrheit ins Auge sehen. Sie interessierte sich nicht fĂŒr ihn. Muskelberge warn es, was sie anzog. Und damit konnte er nicht dienen. Hier konnte er nicht mehr lĂ€nger sein. Er musste erneut die Flucht ergreifen Kapitel 12: Vanitas ------------------- 🌱   Die Truppen des Foedus Lucis versammelten sich. Der Bund von Elfen, Menschen und Zwergen unter der FĂŒhrung von Antrium, dem Reich der Weißelfen aus den fluoreszierenden WĂ€lder, stellte die einzige ernstzunehmende Bedrohung fĂŒr das Kaiserreich Aschfeuer dar. Seit der Reichsspaltung, einem Ereignis von solchen Ausmaß, dass es vor langer Zeit das Ende der ersten Ära einlĂ€utete, trennte die Front einer Feuerschneise gleich den Kontinent Eldora in Ost und West. Der Konflikt zwischen den GroßmĂ€chten verlief seit vielen Jahre friedlich. Doch die Ereignisse der jĂŒngeren Vergangenheit entfachen die alten Flammen des Zorns von Neuem. Seither gab es immer wieder grĂ¶ĂŸere und kleinere Konfrontationen an der Grenze. Die jĂŒngsten militĂ€rischen Erfolge Aschfeuers drĂ€ngten die Gegenseite in die Enge, sodass sich die Mitglieder des Bundes gezwungen sahen, in die Offensive zu gehen. Erst kĂŒrzlich fiel Ruckenach, eine weitere Grenzprovinz, an die Schwarzelfen. Angeblich gab es auf Seiten des Bundes keine Überlebenden. Aus diesem Grund hatten die FĂŒhrer der Mitgliedstaaten beschlossen, vereint unter einem Banner gegen den tyrannischen Kaiser und seine Streitmacht ins Feld zu ziehen, um den Status Quo wiederherzustellen. Wenn es wirklich der Wahrheit entsprĂ€che, was man sich erzĂ€hlte, und es nicht nur eine Schauergeschichte war, mit der man nachts Kinder Ă€ngstigte, stand der Armee des Bundes hier im Schaanwald ihre bisher hĂ€rteste Schlacht bevor. Es war der Morgen vor dem Gemetzel mit den Schergen des Imperiums. Die Befehlshaber der teilnehmenden Truppen vollendeten just in diesem Moment ihren Schlachtplan. AllmĂ€hlich brachten sich die Bataillone in Stellung und formten eine Armee. In vorderster Front stand eine Phalanx aus fĂŒr den Krieg eingezogenen Menschen der Vasallenstaaten von Antrium. MĂ€nner jeden Alters, die fĂŒr ihre Lehnsherren Kriegsdienst leisten mussten. Sie bildeten einen Schildwall, in dem die MĂ€nner der ersten Reihe ihre massiven dreieckigen Schilde, welche sie an den linken Arm festgegurtet hatten, in den Boden rammten und sich mit der linken KörperhĂ€lfte dagegen stemmten. Zwischen der Mauer aus zum Teil wunderschönen Wappen und Verzierungen, steckten sie ihre mit Stahl bewĂ€hrten beidhĂ€ndig gefĂŒhrten Spieße hindurch. Die beiden hinteren Reihen taten es ihrem Vordermann mit ihren Spießen gleich. Um die verwundbaren Flanken dieser unbeweglichen Formation zu schĂŒtzen, befanden sich hĂŒnenhafte, kampfeslĂŒsterne Berserker aus Frys an ihren RĂ€ndern. Sie gehörten nicht zu den Vasallen, sondern suchten auf dem Schlachtfeld nach Gold und Ruhm. Die beidhĂ€ndig gefĂŒhrte Streitaxt jener WarĂ€ger flĂ¶ĂŸte schon aus der Distanz Respekt ein. Die Aufgabe dieser Söldnereinheiten war es, feindliche Infanterie vom Angriff aus den sumpfigen WĂ€ldern abzuhalten, welche fĂŒr die Reiter des Kaiserreich unpassierbar waren. Man wollte den Feind dazu provozieren, stattdessen einen Frontalangriff mit der Reiterei zu starten, der bei dem Versuch den Schildwall zu durchbrechen, vielen Gegnern das Leben kosten wĂŒrde. Hinter den SpeertrĂ€gern lauerten die BogenschĂŒtzen der Elfen auf ihre Ziele. Der Bund fĂŒhrte selbst keine Reiter ins Feld. Stattdessen leisteten die Zwerge aus den TiefstĂ€dten ihren Beitrag in Form ihrer gefĂŒrchteten Golems - riesige mechanische Krieger, deren Funktionsweise den anderen BĂŒndnispartnern wie Magie anmutete. Doch sie begrĂŒĂŸten diese Machina Mobile in ihren Reihen. Krieger, die niemals MĂŒde wurden, da sie kein Herz hatten und die keine moralischen Fragen quĂ€lten, da es ihnen einer Seele ermangelte. Wie es vor der Schlacht Sitte war, ritten die Befehlshaber ihre Untergebenen ab und heizten sie fĂŒr den bevorstehenden Kampf auf. Die Armee des Feindes erschien allmĂ€hlich am Horizont und rĂŒckte NĂ€her. Das Aufeinandertreffen schien unvermeidlich. Die Anspannung in der Luft fast schon greifbar. Doch dann blieben die feindlichen Truppen grundlos stehen, ohne sich einen weiteren Schritt zu rĂŒhren. Einige Zeit sah es so aus, als spielten sie mit der Geduld ihres Gegners. Als wollten sie den Kampf aussitzen oder versuchten, kopfloses VorstĂŒrmen der Armee des Foedus Lucis zu provozieren. Bis eine einsame Gestalt auf die Truppen der Allianz zu kam. Es war ein Mann unter einer Kutte. Die HeerfĂŒhrer vermuteten, dass es sich um einen Schwarzelf handelte. Eine Rasse, welche die Sonne verabscheute, da sie in ihrer Heimat nur die Aschewolken des Elendsschlund kannten. Und der leuchtende Feuerball am Himmel nutzte die letzten Tage des goldenen Herbst, um noch einmal unerbittlich seine Hitze von oben herab auf die Erde nieder gehen zu lassen. Welches Ziel verfolgte das Kaiserreich mit der Entsendung eines einzelnen. War es ein Abgesandter? Wollten sie zuerst einem Ambassadeur den Vortritt lassen und den diplomatischen Weg beschreiten?   Der Drache trug seine Passagiere sicher zurĂŒck nach Vanitas. Die Hauptstadt des Kaiserreich befand sich am Fuße des Elendsschlund, dem grĂ¶ĂŸten Vulkan der bekannten Welt. Von hier aus gebot Kaiser Volturian ĂŒber sein Reich. Das lebensfeindliche Aschland wurde schon von jeher durch die Schwarzelfen beherrscht. Über Kilometer transportierten gewaltige AquĂ€dukte Wasser aus fruchtbareren Gegenden des Reiches und machten die Ödnis urbar. In Vanitas liefen gleich fĂŒnf von ihnen zusammen und schufen ein Paradies in der AschewĂŒste. Aus der Luft betrachtet wirkte die Stadt wie ein sechszackiger Stern, dessen verbleibender Arm eine gewaltige steinerne BrĂŒcke ĂŒber einen Lavasee war, welche zu einem GebĂ€ude mit langen spitzen TĂŒrmen fĂŒhrte. Die Architektur betonte die ĂŒberwĂ€ltigende Höhe des Konstruktes, das wie bei einer Kirche an den Seiten von Strebewerk gestĂŒtzt werden musste, weil es sonst sein eigenes Gewicht nicht tragen könnte. Man nannte es den “Schwarzen Palast”. Grund dafĂŒr war das Material aus dem es bestand und die Farbe die es ihm verlieh. Man hatte den Kaisersitz und seinen einzigen Zugang vollkommen aus vulkanischem Basaltgestein errichtet. Diesen Palast steuerte die geflĂŒgelte Echse an. Unter dem von Aschewolken verhangenen Himmel diskutierten die Geschwister noch immer. Den Drachen konnte man angesichts des Streites, der auf seinem RĂŒcken ausgetragen wurde, nur bedauern. Alaric von Aschfeuer war nicht MĂŒde geworden, das unehrenhafte Verhalten seiner großen Schwester anzuklagen. “So stellt endlich Eure pausenlosen Appelle an mein EhrgefĂŒhl ein!”, forderte Lezabel ihren Bruder genervt zum Schweigen auf. “Solch Ballast besitze ich nicht.” “Bei Euch kommt jeder Appell zu spĂ€t, liebe Schwester”, meinte dieser. “Völlig grundlos die Zivilbevölkerung anzugreifen, ist nicht nur ehrlos, sondern auch feige und hinterhĂ€ltig!” “Die Menschlein waren frech. Sie hatten eine Lektion verdient.” “Man hat uns betrogen, in der Tat. Aber das ging nicht vom Volk aus.” “Ihr seid zu nachsichtig! Wir mĂŒssen sie zĂŒchtigen, sonst tanzt uns bald jeder auf der Nase herum!” “Wir reden nicht von kleinen Kindern, die man erziehen muss!” “Nein, wir reden von wertlosen Kreaturen”, verteidigte Lezabel ihr Handeln. “WĂŒrmer die in schmutzigen Löchern kriechen, die sie StĂ€dte nennen und blutige Ritterturniere und GladiatorenkĂ€mpfe als eine Form von Kultur verstehen. Sie fahren auf RaubzĂŒge, saufen vergorenen Honig und rauchen ungehemmt Kraut. Sie kennen keine Dichtkunst, keine Musik, keine Dramen, sind der MĂŒnze und der LĂŒge zugewandt und beten zu falschen Götzen. Wieso sollte man mit so etwas nachsichtig sein?” “Ihr werft unverfroren alle Menschen des Kontinents in einen Topf und rĂŒhrt einmal krĂ€ftig um! Menschen leben in allen Teilen der Welt anders. Und sie haben sehr wohl eine Kultur. Ihr könnt sie nicht ĂŒber einen Kamm scheren!” “Was interessiert es mich, in welchen Teilen der Welt sie welchem Frefel nachgehen?” “Es sollte Euch interessieren. Vielleicht können sie Euch noch etwas lehren.” “Das wage ich zu bezweifeln!” “Rasse, Herkunft oder Geschlecht spielen keine Rolle. Der Wert einer Person definiert sich durch ehrenhafte Taten. Letztlich sind auch wir nur Menschen mit spitzen Ohren.” “Das habt Ihr jetzt nicht wirklich gesagt?!” “Wieso hasst Ihr die Menschen so sehr?” “Das fragt Ihr noch, verehrter Bruder? Ihr wisst nur zu gut, was damals passiert ist! Wen sie uns genommen haben!” “Nicht nur Ihr leidet darunter. Ich und unser Bruder fĂŒhlen den gleichen Schmerz. Wir vermissen sie alle Gleichermaßen. Auch wenn ich kaum eine Erinnerung an sie habe. Es war ein tragisches UnglĂŒck.” “UnglĂŒck
”, Lezabel spuckte vor Abscheu hinab in die Tiefe. “Unsere Mutter starb durch die Hand eines Menschen.” “Es war ein Überfall von Barbaren.” “Alle Menschen sind Barbaren.” “Morgenstern hatte mit dem Überfall nichts zu tun. Auch sie mussten Verluste beklagen.” “Was interessiert mich irgendein totes Menschlein?” “Es war nicht irgend ein Menschlein.” Alaric seufzte. Es lagen noch etwa fĂŒnf Minuten Flugzeit vor ihnen und die wollte er nicht im Streit verbringen. Er sparte sich jedes weitere Wort, da seine Schwester ihre Ansichten sowieso niemals Ă€ndern wĂŒrde. DafĂŒr war ihm sein Atem zu schade.   🌱   Die mĂ€chtigen Schwingen des UngetĂŒms wirbelten Staub auf, als es seine Destination erreichte und im Hof des Schwarzen Palastes zur Landung ansetzte. Lezabel und Alaric saßen von Fafnir ab. Die Prinzessin streichelte ihren Drachen kurz und schickte ihn dann mit einer Handbewegung davon. Danach traten sie an die opulente Pforte heran. Die Wachen öffneten ihnen den Weg in das Innere. Gemeinsam begaben sich Alaric und Lezabel hinein in den Palast. Sie waren ihrem Vater, dem Kaiser, immerhin noch ihren Bericht schuldig. Aus dem Eingangsbereich zweigten drei Wege ab. Die Geschwister wĂ€hlten den mittleren. Ein langer Korridor folgte. Die WĂ€nde waren mit zahllosen Spiegeln verkleidet. WĂ€hrend die Geschwister gemeinsam den Thronsaal entgegen schritten, wurden ihre Spiegelbilder bis in die Unendlichkeit von den gegenĂŒberliegenden SpiegelflĂ€chen vervielfĂ€ltigt, immer dann wenn sie eines der Paare passierten. Zwischen den Spiegeln befand sich ab und an ein Zwischenraum, welcher fĂŒr einen Wandleuchter reserviert war. Die hellroten Flammen der Leuchtkörper tauchten das kalte Gestein in warmes Licht. Der Boden wurde von Ornamenten und Schriftzeichen verziert, deren Bedeutung sich nur jenem erschloss, der die Sprache der Elfen zu lesen vermochte. WĂ€hrend sie den Spiegelkorridor durchschritten, war es Alaric fĂŒr einen Moment so, als habe er jemanden seinen Namen flĂŒstern hören. “Alaric!” Er sah sich um und entdeckte im Augenwinkel eine dritte Person zwischen ihren Spiegelbildern. Doch schon einen Wimpernschlag spĂ€ter war sie nicht mehr sichtbar und kehrte auch nicht zurĂŒck. Sie verschwand viel zu schnell, als das Alaric in der Lage gewesen wĂ€re, sie zu erkennen. Das FlĂŒstern verstummte ebenfalls. Vermutlich war es nur eine Einbildung. Ein Trugbild. Ein Streich, den sein Verstand ihm spielte. Am Ende des Ganges weitete sich der Korridor in einen kleinen Vorraum, welcher abermals mit einer von Soldaten bewachten Pforte abschloss. Die Wachen öffneten die TĂŒr, als sich die Kinder des Kaisers nĂ€herten, und ermöglichten ihnen ohne Unterbrechung hindurch zu schreiten. Der Thronsaal selbst erstreckte sich mehrere Stockwerke in die Höhe. FĂŒr jeden Meter den der Raum in die Breite ging, reichte er gleich drei in die Höhe. Aus langen engen Fenstern viel das spĂ€rliche Licht des umliegenden Ödlands ein. Auch hier versorgten Fackeln an den WĂ€nden den Raum mit zusĂ€tzlichem Licht. In regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden schossen tragende Mauerpfeiler in die Höhe. An dem Punkt, an dem sie mit der Deckenkonstruktion aus ineinander greifenden Kreuzstreben zusammen trafen, bildeten mit Drachenrelief verzierte Kapitelle den Abschluss. Der Thron befand sich ganz am Ende an der Wand. Besucher, welche eine Audienz bei dem Kaiser erwirken konnten, mussten eine lange Treppe hinauf zu einer Plattform schreiten, von der aus sie mit dem Herrscher sprechen durften. Von jener Plattform ging eine weitere Treppe hinauf bis an das Podest des Throns. Hinter ihm wanden sich goldene Drachenskulpturen die Wand entlang, um einander schlussendlich zu berĂŒhren. Aus der Ferne schluckten die Ausmaße den einzelnen. Auf dem Drachenthron saß eine von Mantel und Kapuze aus feinstem Gewebe verhĂŒllte Gestalt. Es war der Kaiser von Aschfeuer. Volturian. Es hieß, dass diesen Mann niemand bezwingen konnte. Geschichten ĂŒber seine dĂ€monischen KrĂ€fte verbreiteten ĂŒberall dort, wo sie erzĂ€hlt wurden, Angst und Schrecken unter allem das atmete. Alaric und Lezabel betraten die Plattform und knieten vor ihrem Vater. Der Kaiser sprach kein Wort. “Vater, wir wĂŒnschen Euch zu berichten”, eröffnete Lezabel ungewohnt ehrfĂŒrchtig und zurĂŒckhaltend. Bei diesem Mann wagte sich niemand, der noch bei Verstand war, auch nur ein Zeichen von AufmĂŒpfigkeit oder fehlendem Respekt. “Wie Ihr es verfĂŒgt habt, sind ich und mein verehrter Bruder nach Morgenstern aufgebrochen und haben die Braut in Augenschein genommen.” Noch immer hĂŒllte sich Volturian im Schweigen. “Leider kam es zu unerwarteten Problemen”, fuhr Alaric fort. “Man versuchte Euch zu betrĂŒgen und setzte uns eine DoppelgĂ€ngerin als Braut fĂŒr Euren Sohn vor.” Der Kaiser lauschte weiterhin stumm den AusfĂŒhrungen seiner Kinder. “Wir sahen uns deshalb gezwungen, die Vereinbarung zum EhebĂŒndnis aufzukĂŒndigen”, fĂŒgte die Prinzessin an. “Wir haben es ihnen deutlich genug zu verstehen gegeben, sodass selbst sie es verstanden haben sollten. FĂŒr ihre freche Unverfrorenheit ließen wir die Menschlein entsprechend bezahlen, das versteht sich von selbst.” Volturians Lippen blieben versiegelt. “Allerdings mussten wir auch feststellen, dass es in der Königsfamilie einen Waffenmeister gibt”, berichtete Alaric. “Wir kreuzten die Klingen und die Auseinandersetzung endete... sagen wir in einem Unentschieden.” “Und dieser Waffenmeister ist niemand geringeres als Prinzessin Emelaigne von Morgenstern selbst”, ergĂ€nzte Lezabel. Auf einmal fuhr die verhĂŒllte Gestalt wie von unerwartetem Schmerz im Hinterteil geplagt auf und entledigte sich der Kapuze. Die Kaiserkinder kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn das Gesicht, welches unter ihr zum Vorschein kam, war nicht das, was sie erwarteten. Auf dem Thron saß nicht etwa ihr Vater, sondern stattdessen ihr Bruder Ammon  von Aschfeuer. Er war mitte zwanzig und das zweite Kind von Volturian und dessen verstorbener Gattin. Seine Schwester Lezabel war zwar die erstgeborene, jedoch kein Mann und somit wĂŒrde er eines Tages den Kaiser beerben. So zumindest verlangte es die Sitte. Jedoch orientierte sich der Kaiser lieber an den Leistungen seiner Kinder, was einen Konkurrenzkampf zwischen den beiden Ă€lteren Geschwistern zur Folge hatte. Jeder wollte den anderen ĂŒberbieten. Und Ammon wĂŒrde sich niemals von einer Frau um den Thron bringen lassen! Nicht einmal wenn diese Frau ĂŒber die Drachen gebot. “Liebster Bruder!”, stieß der zweite Prinz voll Verwunderung aus. “Ihr kleiner-!”, schimpfte Lezabel stattdessen. “- verehrter Bruder, wolltet Ihr gewiss sagen”, stichelte der vermeintliche Thronfolger. “Wieso sitzt Ihr auf dem Thron und gebt Euch als unser Vater aus?”, fragte Alaric. “Ich gebe mich nicht als Vater aus. Ich vertrete ihn, wĂ€hrend er auf Reisen ist”, erklĂ€rte Ammon. “Wo ist er?”, fragte Lezabel ungeduldig. “Er sagte, er wolle sich um ein lĂ€stiges Ärgernis im Osten kĂŒmmern.” “Was fĂŒr ein Ärgernis meint Ihr?”, verlangte Alaric zu wissen. “Einen Dorn in unserer Seite. Ich weiß nichts genaues. Ihr wisst doch, wie unser Vater ist. Er liebt seine Geheimnisse und behĂ€lt vieles fĂŒr sich.” Ammon von Aschfeuer betrachtete das Gesicht seines Bruders. “Alaric, was ist Eurem Auge widerfahren?” Das jĂŒngste der Kaiserkinder befĂŒhlte die tiefe Furche in seinem Gesicht, welche direkt ĂŒber sein ruiniertes rechtes Auge verlief. “Nichts. Narben zeugen von ehrenhaften Taten.” “Ihr verkehrt zu oft mit den primitiven Holzköpfen aus Frys!” Hochherrschaftlich schritt Ammon die Treppe hinab zu seinen Geschwistern. “Mich dĂŒrstet es nach Details zu eurem Bericht. Insbesondere was ihr ĂŒber die Prinzessin von Morgenstern sagtet. Sie besitzt eine Teufelswaffe und weiß sie auch zu fĂŒhren? Und ihr sagt die Hochzeit ab?!” “Sie wollten uns betrĂŒgen!”, klagte Alaric an. “Und wenn schon! Solch einen Schatz wĂŒrde ich auch nicht aus der Hand geben. Ihr wisst, dass ich noch eine Gemahlin brauche, um mit ihr einen Erben zu zeugen. Erst dann wird Vater abdanken und ich kann selbst den Thron besteigen. Und fĂŒr mich, den Meister des Zwillingsschwert, gibt es kein besseres Weib als ein solches, das selbst eine Teufelswaffe fĂŒhren kann.” Ammon wurde unvermittelt laut und bestimmend. “Ich will sie! Ihr werdet das umgehend rĂŒckgĂ€ngig machen, hört ihr! Oder ich lasse euch SpĂŒren, warum man mich Soul Tormentor nennt!” “Diesen Aufriss, obwohl sie nur ein Menschlein ist?”, fragte Lezabel voller Abscheu. “Ihr plant unser stolzes reines Blut mit dieser Mischlingsbrut zu verdrecken, die aus dieser Verbindung hervorgehen wĂŒrde.” “Ihr seid doch nur neidisch, liebe Schwester. Neidisch wegen der Geschichten ĂŒber die Schönheit dieser Frau. Goldene Haare, himmelblaue Augen, ein wohlgeformter Körper und pralle BrĂŒste. All das, woran es Euch ermangelt.” “Hört auf mit Eurem Schwanz zu denken!” “Könnt Ihr die Missgunst dieser Schlange hören, lieber Bruder?”, wandte sich Ammon an das jĂŒngste Kaiserkind. “Liebe Schwester, warum sonst teilt Euer Gemahl lieber mit Huren das Bett, als mit Euch?”, provozierte er Lezabel. Die konnte die Wut nicht mehr zurĂŒckhalten, welche in ihr aufstieg. Sie machte sich kampfbereit. “BĂ€ndige die Bestie, Draco Oculus!” In der FlĂ€che ihrer rechten Hand entstanden unzĂ€hlige schwarze Schmetterlinge und breiteten sich aus, um einen langen gewundenen Stab zu formen. Am einem Ende bildete sich eine Speerspitze, am anderen eine bernsteinfarbene Perle, welche von den AuswĂŒchsen der Windungen gehalten wurde. “Streut weiter diese LĂŒgen und Ihr werdet die Vorspeise meiner Drachen!” Ammon tat es seiner großen Schwester gleich und rief ebenfalls seine Waffen herbei. Er öffnete die rechte Hand. “Erhelle die Finsternis, Corona!” In einem gleißenden Licht materialisierte sich ein schneeweißes Schwert. Gleichzeitig öffnete er die linke Hand. “Verdunkele den Tag, Blackmoon!”. Ein weiteres Schwert erschien. Es schluckte sĂ€mtliches Licht, wodurch es wie ein konturloses schwarzes Gebilde erschien. “Lasst uns die Erbfolge gleich hier und jetzt festlegen, liebe Schwester!” Alaric wollte nicht tatenlos mit ansehen, wie seine Geschwister den Stammbaum stutzten. “Vielleicht atmen wir alle einmal tief durch und beruhigen uns!”, schritt er ein. “Mit Eurem Kleinkrieg beschmutzt Ihr die Ehre unseres Namens!” Das Temperament der anderen beiden begann abzukĂŒhlen und sie ließen ihre Waffen wieder verschwinden. Lezabel wandte sich ab und schritt die Treppe hinunter. “Ich habe sowieso besseres zu tun, als mich mit diesem schwanzgesteuerten Proleten abzugeben!”, kommentierte sie ihren eigenen Abgang. “Ja, geht Euch bei Euren schuppigen Freunden ausheulen!”, rief ihr Ammon nach. “Euer Gatte liegt bestimmt schon in den Armen seiner Hure.” Lezabel reagierte, indem sie ihm den ausgestreckten Mittelfinger ĂŒber ihre Schulter zeigte. Ammon wandte sich ebenfalls ab und ging zum Thron zurĂŒck. Nachdem er erneut Platz genommen hatte, wollte er weitere Informationen aus seinem kleinen Bruder herausholen. “Und nun erzĂ€hlt Ihr mir noch ein bisschen von Prinzessin Emelaigne!”, befahl er Alaric. “Habt Ihr unter UmstĂ€nden ihre Maße in Erfahrung bringen können? Schließlich muss noch ein Hochzeitskleid geschneidert werden.” Der jĂŒngere Bruder hatte kaum eine andere Wahl, als Folge zu leisten und die Fantasien seines Bruders weiter zu befeuern.   Die Schlacht endete, bevor sie begann. Wo man auch hinsah, bedeckten Leichenteile und die zerschmetterten mechanischen Körper der Golems den Boden. Blut vermischte sich mit Schmiermittel. Der Mann unter der Kutte wandte sich vom Feld des Verderbens ab und schloss wieder mit der Armee auf, aus deren Mitte er gekommen war. Die Truppen des Foedus Lucis waren geschlagen. Jeder Mann getötet, jeder Golem zerstört. Das Kaiserreich hatte dank des geheimnisvollen Mannes den Sieg davon getragen, ohne dass seine Soldaten auch nur einen Finger rĂŒhren mussten.   🌱   ZurĂŒck in Morgenstern. Die langen GĂ€nge des Palastes glichen verschlungenen Pfaden in einem Labyrinth. Wie sollte Henrik Nebula hier nur ausfindig machen? Zwar gab man ihm eine Wegbeschreibung, welche ihm jedoch kaum weiter half. FĂŒr ihn sah hier alles gleich aus. Sie wollte das MĂ€dchen besuchen, welches nicht wieder aufgewacht war. Die Prinzessin, welche vom Botschafter als FĂ€lschung bezichtigt wurde. Die GemĂ€cher der höhergestellten Persönlichkeiten befanden sich in den oberen Etagen des rechten PalastflĂŒgels. Dort begann er seine Suche. Auf seinem Weg entdeckte der Braunhaarige einen großen und wunderschön ausgestatteten Raum. WĂŒrdig, um einen König zu beherbergen. Aber niemand war hier. Henrik beschloss sich umzusehen. Ein Himmelbett, ein BĂŒcherregal, ein großer Spiegel, seidene Gardinen und ein sorgsam gewebter Teppich. Das alles fiel ihm auf dem ersten Blick auf. Seine Augen erblickten noch nie solch einen Luchs. Auch das ihm im Palast zugewiesene Quartier bot nicht, was dieser Raum zu bieten hatte. Damals in BĂ€renhag stellte ihm sein Lehrmeister nur einen verstaubten Raum im Dachgeschoss der Schmiede bereit. Da gab es keine Möbel, außer dem zerlumpten Bett, auf dem er schlafen musste, und den Regalen, in denen Rohstahl gelagert wurden. Das Ă€nderte sich, als er an die Stelle seines Meisters treten musste, nachdem dieser ĂŒberraschend das Zeitliche segnete. Dennoch war es weit von dem hier entfernt. “Was machst du da?!” Henrik war gerade eben vor das BĂŒcherregal getreten und schreckte wie ein beim Stehlen erwischtes Straßenkind zurĂŒck, als er die empörte Stimme Nebulas vernahm. “N-Nichts”, versicherte er nervös. “Geh da weg!”, forderte Nebula todernst, als sie eintrat. Er gehorchte sofort. Auf keinen Fall wollte er ihren Zorn auf sich ziehen. Derweil inspizierte sein Schwarm das Regal. Die MĂ€rchenbĂŒcher standen aneinander gereiht, so wie sie es gewohnt war. Doch dann fiel ihr auf, dass eines fehlte. Das Fabula Tenebris stand nicht am angestammten Platz am rechten Ende des Regals. “Du hast das schwarze Buch genommen!”, bezichtigte sie Henrik im kĂŒhlen Ton. Diese LektĂŒre war ihr frĂŒher immer ein RĂ€tsel gewesen. Ein ganzes Buch, in dem nur wenige Seiten beschrieben waren. Es erzĂ€hlte seine Geschichten keineswegs ĂŒber das geschriebene Wort. “N-Nein! I-Ich vergreife mich n-nicht an den Sachen von a-anderen!”, verteidigte er sich. “Nein, so etwas machst du nicht. Das DienstmĂ€dchen muss es verlegt haben.” Seit sie wieder im Palast war, ist sie so oft hier gewesen. Aber das Fehlen des Buches war ihr nicht aufgefallen. Sie hatte jedoch auch nicht explizit nach ihm gesehen. Wenn sie genau darĂŒber nachdachte, hatte sie auch nicht das GefĂŒhl, welches sie frĂŒher zu dem Buch hinzog. Konnte es sein, dass es schon lĂ€nger verschwunden war? Wann mochte es abhanden gekommen sein? “I-Ich habe nach dir g-gesucht”, informierte der braunhaarige Junge. “So? Im BĂŒcherregal war ich nicht”, spottete Nebula. “N-Nein.” Er sah peinlich berĂŒhrt nach unten und stieß seine Zeigefinger zusammen. “D-Der König hat uns alle bestellt. Da dachte ich, i-ich hole dich.” “Dann hast du jetzt deinen Zweck erfĂŒllt.” Nebula wandte sich ab und verließ die GemĂ€cher. Henrik blieb wie angewurzelt steht und sah ihr nach. Wie ein Paket, bestellt und nicht abgeholt. Sie war so kalt zu ihm. Er verstand nicht warum. Hatte er etwas falsch gemacht?   Nebula betrat im schnellen Schritt den Thronsaal. Zuvor stiefelte sie sichtlich ungehalten an einigen Wachen vorbei, die gewundene Treppe hinauf. Den Grund fĂŒr ihren Ärger behielt sie fĂŒr sich. Die Wachen hatten keine andere Wahl, als ihren empörten Gesichtsausdruck hinzunehmen. Als sie den Anwesenden im Thronsaal in die Augen sah, versuchte sie ein neutrales Gesicht aufzusetzen, um sie nicht unnötig zu verwirren. Neben dem König, dem Hofzauberer und ein paar Wachen, waren außerdem Annemarie und Clay anwesend. Und rechts von dem großgewachsenen JĂ€gersmann eine Person, von der sie dachte, sie hĂ€tte bereits die Stadt verlassen. Die halbelfische AttentĂ€terin mit den kirschroten Haaren: Cerise. “Was macht Ihr denn hier?!”, tat sie ihrer Verwunderung Kund. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Cerise direkt neben Clay, dem einstigen Ziel ihrer AnschlĂ€ge, stand. Sie zog ihr Schwert und drohte mit ihm. “Finger weg von meinen GefĂ€hrten!” Cerise schmiegte sich an Clay heran und streichelte ĂŒber seinen muskulösen Oberkörper, welcher zwar von Kleidung bedeckt aber dennoch deutlich zu spĂŒren war. “Meint Ihr vielleicht so?”, provozierte sie. “Ihr seid wirklich sehr Besitzergreifend!” “Clay, was ist hier los?” “Wir haben unsere
 Meinungsverschiedenheiten friedlich beigelegt”, meinte der JĂ€ger. “Wie Ihr ĂŒber mich hergefallen seid, bezeichnet Ihr als friedlich?” WĂ€re ein Spiegel in der NĂ€he gewesen, hĂ€tte Nebula ihren Kiefer bei der Fahrt zu Tale beobachten können. “Was schaut Ihr so?” Cerises Hand wanderte von Clays Brustkorb auf den RĂŒcken. “Neidisch?” Die andere Hand leistete Gesellschaft. Zusammen rutschen sie, dem RĂŒckrad folgend, hinunter bis auf sein Hinterteil und bearbeiteten es, wie zwei HĂ€lften einer Zitrone in der Presse. “Es wĂ€re doch eine Schande, dieses Prachtexemplar zu ermorden!” Nebula fand keine Worte mehr. Ein lautes RĂ€uspern unterbrach die Darbietung der AttentĂ€terin. Der König hatte es sich nun lange genug angesehen. Sofort ließ das PĂ€rchen voneinander ab. “Verzeiht, mein König!”, entschuldigte sich Clay, anstelle der Rothaarigen. Nebula widerstrebte dieses Verhalten. UnzĂŒchtiges Treiben vor den Augen eines jungen MĂ€dchens. “Es sind Kinder anwesend!” Dennoch beruhigte sie es auch. Wollte Cerise ihrem GefĂ€hrten immer noch töten, hĂ€tte sie bestimmt mehr als eine Gelegenheit dazu gehabt. Nebula steckte erleichtert die Waffe an ihren Bund. Offensichtlich wollte die AttentĂ€terin ihm nicht mehr ans Leder, sondern nur noch an die WĂ€sche. Im nĂ€chsten Moment kam Henrik hinein gestĂŒrmt. “N-Nebula!”, rief er ihren Namen. “Er folgt Euch, wie ein Schoßhund seiner Herrin”, kommentierte Cerise. “Wie sĂŒĂŸ!” “HĂŒtet Eure giftige Zunge!”, ermahnte Nebula. “Da wir nun vollzĂ€hlig sind”, eröffnete der König so laut, dass sich ihm alle zuwandten, und sprach anschließend in normaler LautstĂ€rke weiter, “können wir nun beginnen!” Er rĂ€usperte sich ein weiteres Mal. “Denkt Ihr nicht, dass es an der Zeit ist, dass sie die ganze Wahrheit erfahren?”, fragte er und sah dabei zu Nebula. Henrik, Clay und Annemarie blickten sie verwirrt an. Wieso sprach der König so vertraut mit ihrer GefĂ€hrtin? Cerise schien mal wieder alles egal zu sein. Als Nebula immer noch nicht reagierte, brachte der Herrscher von Morgenstern zum Ausdruck, dass es sich dabei nicht um eine Bitte handelte. “Mein Kind!” Widerwillig begab sich Nebula zum König und setzte sich auf den leeren Thron ihrer Mutter neben ihm. Sie schlug die Beine ĂŒbereinander, lastete ihre Unterarme auf den Lehnen und nahm eine hochherrschaftliche Pose ein. Zufrieden genoss der König den Anblick der jungen Frau. Margaret, dachte er. Der Anblick unseres MĂ€dchens auf dem Thron wĂŒrde dich mit Stolz erfĂŒllen! “Ich bin die echte Emelaigne von Morgenstern”, offenbarte Nebula ihren Begleitern. “Ich bin die Prinzessin.” “D-D-Du bist d-die Pr-Pri-Prinzessin?”, radebrach Henrik unverstĂ€ndlich. “Och, du bist eine echte Prinzessin?”, staunte Annemarie. “Wie im MĂ€rchen?” “Ich wusste, an dir ist noch mehr faul, als nur das Teufelszeug!”, entgegnete Clay. “Oh, was fĂŒr eine schockierende Wendung in der Handlung”, kommentierte Cerise ĂŒbertrieben ironisch - immerhin wusste sie es schon - legte den HandrĂŒcken auf die Stirn und tat, als wĂŒrde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. “Zur Schauspielerin taugt Ihr jedenfalls nicht”, konterte Nebula - oder vielmehr Prinzessin Emelaigne. “Und wie sollen wir Ihre Hoheit nun ansprechen?”, fragte Clay. “Brich dir keinen ab!” “D-Du bi-bist die Prinzessin! I-Ich h-ha-habe die Prinzessin g-ge-gekĂŒsst?!” “Mann, komm klar, Kleiner”, stöhnte Cerise genervt. “Du hast meine Tochter gekĂŒsst, Junge?”, ergrĂŒndete der König im ernsten Tonfall. “J-Ja.” Henrik zog eingeschĂŒchtert den Kopf ein. “T-Tut mir L-Leid, Eure Ma-MajestĂ€t!” Der König beĂ€ugte das HĂ€ufchen Elend skeptisch, das die Behauptung aufstellte, seiner Tochter einen Kuss gestohlen zu haben. “Der hat dich wirklich gekĂŒsst?”, fragte er begriffsstutzig und beugte sich dabei zu seiner Tochter herĂŒber. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass dieser zurĂŒckhaltende schĂŒchterne Junge so etwas wagen wĂŒrde. Die Reaktion ihres Vaters machte es der Prinzessin nicht leichter nicht beschĂ€mt rot anzulaufen. “D-Da-Das waren
 besondere UmstĂ€nde”, umschrieb sie es. Der König wandte sich wieder seinen GĂ€sten zu. “Da wir nun geklĂ€rt haben, wer hier wen kĂŒsst und wen nicht, kommen wir zum ersten Punkt der Tagesordnung.” Er signalisierte seinem Zauberer, das er beginnen solle. “Arngrimir!” Der Mann im langen Magiergewand vollfĂŒhrte einige exotische Handbewegungen, wobei sich blaue Partikel um die HĂ€nde sammelten. Er verband sie zu einer tĂŒrkis-weißlich leuchtenden Kugel und schleuderte sie inmitten der Versammlung, sodass diese zwischen den GĂ€sten in der Luft schwebte. Die Kugel dehnte sich auf die GrĂ¶ĂŸe eines Gymnastikballs aus. Sie war Umgeben von funkelnden Partikeln. “Woah!”, freute sich Annemarie. “Wie schön!” Sie streckte die Hand aus und versuchte die OberflĂ€che zu berĂŒhren. Allerdings konnte sie sie nicht fassen. “Heute vor drei Tagen”, begann der Hofzauberer seine AusfĂŒhrungen, “wĂ€hrend des Banketts, kĂ€mpfte Prinzessin Enelaigne gegen den Botschafter des Kaiserreichs, Prinz Alaric von Aschfeuer, welcher zuvor angegriffen und die Seelen einiger Anwesender gestohlen hat. Wie der Kampf ausging, ist bekannt. Wichtig ist, was danach passierte. Ein Drache ist aufgetaucht und hat die Stadt angegriffen. Aber wo kam er her?” Der Zauberer machte eine wischende Bewegung und inmitten der Kugel erschien das Bild eines leeren Sockels, umgeben von TrĂŒmmerteilen. “Dies war bis vor Kurzem noch der Ort, an welchem das Friedensgeschenk des Imperiums seinen Platz hatte. Die Drachenstatue. Doch nun ist sie fort. Was sagt uns das? Es muss der Delegation gelungen sein, diese Statue zum Leben zu erwecken. Oder vielleicht war es niemals eine Statue.” “Kommt zur Sache...”, forderte Emelaigne gelangweilt von Arngrimirs Performance. “Offenbar brachte das Kaiserreich es fertig, eine ihrer Bestien mit einer List in das Herz des Königreichs einzuschleusen, nur um den Drachen einzusetzen, falls es irgendwann notwendig werden sollte. Das sie tatsĂ€chlich Drachen befehligen, wurde nach Kriegsende als AmmenmĂ€rchen abgestempelt. Der König hat Unsummen ausgegeben, damit Zeugen schweigen und keine Panik ausbricht.” “Was nun nicht mehr funktionieren wird”, ergĂ€nzte die Prinzessin. “Wenn sie eine Kreatur wie einen Drachen fĂŒr Jahre entbehren können”, warf Clay ein, “wirft dies die Frage auf, wie mĂ€chtig Aschfeuer wirklich ist.” “Sehr guter Einwand!”, lobte der Hofzauberer. Abermals wischte Arngrimir in der Luft und das Bild der Kugel wechselte. Nun zeigte es eine Karte von Morgenstern, welches auf einer Insel im Westen lag, und Teile einer großen Landmasse, auf der rechten Seite. Dazwischen ein Ozean, welcher den Rest bedeckte. Eine Spur aus kleinen Feuern zog sich von der Position von Ewigkeit, welche mit einer Krone mit einem Unendlichkeitssymbol darin gekennzeichnet war, bis zur OstkĂŒste der Insel. “Dies ist die Karte von des Königreichs. Morgenstern liegt auf der Insel Wesruth, westlich des Festlandes von Eldora. Das Kaiserreich beansprucht große Teile des Kontinents fĂŒr sich. Auf den Weg in ihre Heimat, haben unsere Gegner alles angezĂŒndet, was dem Drachen vor den Schlund kam. FrĂŒher oder spĂ€ter steht uns ein richtiger Angriff bevor.” “Das wage ich zu bezweifeln”, widersprach Cerise dem Hofzauberer. “Ich, der Bengel und Prinzesschen haben alle gehört, dass die Meisterin des Drachen sagte, der Kaiser hĂ€tte wichtigeres zu tun, als sich mit Morgenstern abzugeben.” “Und deshalb hat Lady Emelaige auch vorgeschlagen, den ersten Zug zu machen.” “W-W-Was?”, stotterte Henrik drauf los. “Nicht sofort”, klĂ€rte ihre Hoheit auf. “Wir werden die Zeit nutzen und KrĂ€fte sammeln. Trainieren, weitere Teufelswaffen finden und-” “-ganz viel wilden Sex haben!”, unterbrach Cerise völlig unverfrohren und befummelte erneut ihren Bettgespielen. Dem stand ins Gesicht geschrieben, dass er diese Situation alles andere als angenehm empfand. “Und erst dann vorstoßen!”, vollendete Emelaige. “Ich entsende euch nicht auf ein Selbstmordkommando!”, versicherte der König. “Es soll eure Aufgabe sein, die wahre StĂ€rke Aschfeuers in Erfahrung zu bringen. Und meine Tochter wird mit Hilfe ihrer ‘Gabe’ so viele feindliche Teufelswaffen sicherstellen, wie möglich.” “Und Caroline retten!”, fĂŒgte die Prinzessin hinzu. Es folgte der zweite Tagesordnungspunkt Kapitel 13: Klartext -------------------- 🌱   Erst wusste er nicht, wie ihm geschah. Die sĂŒĂŸen Lippen des hĂŒbschen MĂ€dchens in seinen Armen fĂŒhlten sich falsch fĂŒr ihn an. Clay wurde von Nebulas Vorstoß vollkommen ĂŒberrumpelt. Verstehe jemand dieses Frauenzimmer. Erst beleidigte und beschimpfte sie ihn und nun das! “Was soll das?!” Entsetzt stieß er sie von sich. “Sag mal, hast du den Verstand verloren?!”, inquirierte er. “Wieso kĂŒsst du mich?” Doch als seine empfindlichen Ohren die GerĂ€usche eines verborgenen Zuschauers vernahmen, welcher gerade dabei war, sich aus dem Staub zu machen, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Beobachter entfernte sich in großen Schritten. Clay erkannte ihn anhand der Art, wie er rannte und wie er atmete. Es musste sich um Henrik handeln. Da gab es gar keinen Zweifel. Nebula hatte ihn irgendwie zuerst bemerkt, und fĂŒhrte nun dieses TheaterstĂŒck fĂŒr den heimlichen Zuschauer hinter der Hecke auf.  Unbeeindruckt nahm Nebula das MĂ€rchenbuch an sich und erhob sich von der Bank. “Hast du gar nichts dazu zu sagen?!”, konfrontierte Clay, als die Prinzessin sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung setzte. “Nein!” “Henrik war hier! Und du hast es gewusst.” Nebula blieb unvermittelt stehen. “Weißt du, was du dem Jungen antust?” Die Blondine wandte ihr Antlitz dem JĂ€ger zu. “Ich weiß nicht, wovon du redest!” Danach schenkte sie ihm keinerlei Beachtung mehr und verließ die Anlage auf direktem Wege.   Bartlett war schwer damit beschĂ€ftigt die Sandkartoffeln aus Nahost zu entladen. Die Lieferung mit der sehnlichst erwarteten Delikatesse aus der WĂŒste Yjasul kam ganze drei Tage spĂ€ter als erwartet. Auf dem langen Weg aus dem Kalifat nach Morgenstern musste es ein unerwartetes Hindernis gegeben haben. Eigentlich war es dem dicken Koch vollkommen egal, warum die Ware zu spĂ€t kam. FĂŒr ihn zĂ€hlte nur, dass sie zu spĂ€t ankam. Er war fĂŒr das leibliche Wohl der Bewohner und GĂ€ste des Königs zustĂ€ndig und er musste die letzten Tage improvisieren, da die Sandkartoffeln nach dem großen Bankett ausgegangen waren. Jetzt endlich konnte er die KĂŒche neu bestĂŒcken, doch musste er es allein machen. Er hatte seinem KĂŒchenjungen Roe den Tag zuvor erst frei gegeben, da dieser nichts mehr zu tun hatte. Jetzt könnte er ihn zum tragen helfen gut gebrauchen. Aber Zeit zu gehen und ihn zu holen war auch nicht. Heute Abend musste das Essen wieder auf dem Tisch stehen. Ein Koch, welcher die GĂ€ste des Königs nicht bewirten kann, wirft ein schlechtes Licht auf das ganze Reich. Und er hatte keine Lust am Pranger zu landen. Er nahm eine Kiste auf und streckte die WirbelsĂ€ule nach hinten, um den schweren BehĂ€lter tragen zu können. Gerade als er sich umdrehte, rammte ihn etwas. Er verlor das Gleichgewicht und die wertvollen Sandkartoffeln verteilten sich auf dem Boden, als der Koch von der unbekannten Kraft umgerissen wurde. Bartlett besann sich wieder und bemerkte, dass ein Junge neben ihm auf dem Boden saß. Er musste der ÜbeltĂ€ter sein, welcher ihn umgerissen hatte. “Bist du des Wahnsinn, Tollpatsch?!”, fuhr er ihn wĂŒtend an. “E-Entschuldigung!”, bat der Braunhaarige um Vergebung. “Nichts Entschuldigung! Was willst du ĂŒberhaupt hier?” “Ich wusste nicht, w-wo ich hin sollte. A-Also bin ich einfach gerannt.” “Mit geschlossenen Augen?” “Ähm. I-Ich- “-Wie dem auch sei, du wirst mir jetzt helfen!” “H-Helfen?” Der korpulente KĂŒchenchef hievte sich unter Einsatz beider Arme zurĂŒck auf die Beine. “Siehst du nicht die Sauerei, die du veranstaltet hast?” Er deutete auf die ĂŒberall verstreut liegenden Kartoffeln. “Du hilfst mir jetzt sie aufzusammeln und die Kisten in das Lager zu bringen!” Bartlett sah den Jungen bestimmend an. Der konnte nicht anders, als eingeschĂŒchtert zu Boden zu schauen. “Na los, packe mit an!” “J-Ja, ist gut!” Gemeinsam sammelten sie die Sandkartoffeln ein und legten sie zurĂŒck in die Kiste. Gemeinsam trugen sie StĂŒck fĂŒr StĂŒck die Ladung des Wagens ins Lager. “Sag mal”, fragte der dicke Koch, als sie fertig waren. “Wie heißt du eigentlich?” “H-Henrik.” “Falls du gerade nichts vor hast, Henrik: Ich brauche dringend eine KĂŒchenhilfe." Wieder sah er ihn fordernd an. Sein autoritĂ€rer Blick schĂŒrte Ängste im Schiedeburschen. Sein Meister hatte frĂŒher auch immer so geguckt. So konnte er nicht anders, als einzuwilligen. “A-Aber sicher doch!” “Großartig!” Bartlett geleitete seine neue Aushilfe hinunter in die PalastkĂŒche, wo bereits ein Haufen Arbeit auf Henrik wartete.   Reges Treiben herrschte auf dem Chaiselongue. Nachdem Clay sich von Nebula fĂŒr ihre Zwecke missbrauchen ließ, damit sie Henrik den Schreck seines Lebens verpassen konnte, verlangte es ihm nach Ablenkung, welche ihm Cerise nur allzu gern verschaffte. In eng umschlungener Umarmung, wĂ€lzten sich ihre Körper zum Takt der Leidenschaft. Die ungebundenen kirschroten Haare der Halbblutelfe bedeckten das Gesicht des JĂ€gers, wĂ€hrend er ihren Hals bearbeitete. Cerise fĂŒhlte sich völlig ausgehungert. Als Sklavin der Leidenschaft tat sie alles fĂŒr jeden einzelnen Moment. FĂŒr sie waren schon ein paar Tage ohne Ausleben ihrer fleischlichen Lust eine Zumutung. Die reinste Folter. Zu groß war die Anziehung, welche sie beide verspĂŒren. Wie konnte er es nur so lange ohne sie aushalten? Nun war sie dabei einzufordern, was ihr zustand. Doch etwas war seltsam. Es fĂŒhlte sich an, wie einstudiert. Wo war die SpontanitĂ€t der vorherigen Male, als sie Liebe machten? Das GefĂŒhl, wonach sie so sĂŒchtig war, fehlte. Sie entzog sich den starken Armen ihres Partners und richtete sich auf. “Ihr seid nicht bei der Sache!”, mĂ€kelte sie an. “Ihr habt meine Leistung noch nie bemĂ€ngelt”, widersprach Clay dem Tadel der schönen Frau auf seinem Schoß. “Euch beschĂ€ftigt etwas. Jetzt spuckt es schon aus!” “Leugnen ist wohl zwecklos.” Die Rothaarige ließ sich wieder zu ihm hinab sinken. “Das habt Ihr richtig erkannt.” Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und begann mit ihrem Finger auf seiner Haut entlang zufahren. Dabei hielt sie Blickkontakt. “Und jetzt sagt Ihr mir, was los ist!” “Es ist wegen der Prinzessin.” Cerise kicherte. “Was hat sie gemacht? Euch des Hofes verwiesen?” “Sie hat mich gekĂŒsst.” Die Augen der Rothaarigen weiteten sich. “Wirklich?” Nach erster Verwunderung kehrte ihr Gesicht zum Normalzustand zurĂŒck. ”Ich bin durchaus imstande zu teilen. Ich habe auch nichts gegen traute Dreisamkeit einzuwenden.” “So ist das nicht! Sie hat mich wie einen Esel vor ihren Wagen gespannt.” “Hat sie das?” “Sie will Henrik vergraulen.” “VerstĂ€ndlich. So eine Wurst bringt es auch nicht im Bett.” “Sie braucht ihn mehr auf emotionaler Ebene. Ich habe ihr das gesagt. Wenn sie ihn trotzdem wegstoßen will, von mir aus. Ich lasse mich nur nicht gern benutzen!” Cerise setzte einen eindeutig erotischen Unterton auf. “Aber wenn ich Euch benutze, gefĂ€llt es Euch doch auch.” Der JĂ€ger erzĂ€hlte von seiner Begegnung mit Nebula. Wie sie sich ĂŒber GefĂŒhle und Liebe unterhielten und sie dabei den TrĂ€nen nah war. Plötzlich sei sie ĂŒber ihn hergefallen und habe ihn gekĂŒsst. Das musste Henrik mit angesehen haben. Clay merkte an, ihn davonlaufen gehört zu haben. Nebula musste gewusst haben, dass er zusah und nutzte die Gelegenheit schamlos aus. “Prinzesschen ist durchtriebener, als ich es ihr zugetraut hĂ€tte”, pries die AttentĂ€terin. “Findet Ihr das etwa lobenswert?” “Allerdings. Sie beseitigt ihn effektiv und ohne große Sauerei.” “Sie vergisst, dass sie damit vor allem sich selbst weh tut...”, grĂŒbelte Clay. “Lasst uns uns nicht lĂ€nger mit Dingen beschĂ€ftigen, die uns nichts angehen. Stattdessen sollten wir die Zeit nutzen, und uns weiter hemmungslos lieben, bevor Ihr Euch anketten mĂŒsst”, schlug Cerise vor. Der Gedanke an den bevorstehenden Schmerz und die Qualen weckten in ihm unbehagen, welches er schnellstmöglich aus seinem Kopf verbannen musste. “Da sage ich nicht nein.” “Hervorragend. Ich kenne da noch die ein oder andere Stellung...” So gaben sie sich wieder ihrer Leidenschaft hin.   Inzwischen half Henrik schon ein paar Stunden in der PalastkĂŒche aus. Bartlett staunte nicht schlecht. Noch nie hatte er einen dahergelaufenen Jungen gesehen, welcher so viel vom Kochen verstand, wie dieser Henrik. Jedem anderen hĂ€tte er erklĂ€ren mĂŒssen, wie Sandkartoffeln zubereitet werden mussten, damit sie ihren markanten sĂŒĂŸlichen Geschmack behielten. Man durfte sie keinesfalls geschĂ€lt in den Kessel werfen. Dann wĂŒrden sie ihr gesamtes Aroma verlieren. Das Kochwasser entzĂŒge ihnen praktisch sofort alle NĂ€hrstoffe und sie wĂŒrden im handumdrehen zu einer geschmacksneutralen SĂ€ttigungsbeilage verkommen. Stattdessen mĂŒssen sie immer mit Schale gekocht werden. Nach etwa fĂŒnfzehn Minuten konnte man sie vom Feuer nehmen und auf dem Teller zurecht machen. Unter der Schale wĂŒrde die angestaute Hitze weiter arbeiten. Henrik kĂŒmmerte sich gerade um den Wildschweinbraten, als sich Bartlett ihm unvermittelt zuwand. “Sag mal, Junge”, begann er, “bist du zufĂ€llig Koch?” “D-Das nicht”, verneinte Henrik. “Ich bin eigentschlich Sch-Schmied.” “Kloppen die nicht nur auf Metall rum? Wieso kannst du dann so gut kochen?” “Ich weiß es nicht. V-Vielleicht, weil es auch mit Feuer zu tun hat.” “Was hast du bisher gemacht?” “Ich b-bin mit einer Söldnerin umhergezogen. W-Was sie gekocht hat, verdiente die B-Bezeichnung Essen nicht. Da habe ich d-den Kochlöffel selbst in die Hand genommen.” “Genau!”, tönte Bartlett voller Überzeugung. “Selbst ist der Mann!” “J-Jedenfalls... i-ich...” “Du bist doch in sie verschossen, Junge. Gib es zu!” “J-J-Ja.” Henrik sah bedrĂŒckt zu Boden. “A-Aber sie liebt mich nicht. Unserer Gruppe gehört noch ein hĂŒnenhafter Mann an. Der h-hat Arme wie BaumstĂ€mme. Ich h-habe gesehen, wie sie sich gekĂŒsst haben.” “Was findet die nur an dem? Kann der etwa noch besser kochen?” “N-Nein. Der isst sein Fleisch gern roh.” “Ist der ein Barbar?! Wie dem auch sei: Junge, du musst kĂ€mpfen fĂŒr das, was du willst. Feige trĂŒbsal blasen ist ganz und gar nicht mĂ€nnlich!” Als er bemerkte, dass der Braunhaarige drauf und dran war, die Arbeit niederzulegen, musste er noch etwas anfĂŒgen. “Aber erst, nachdem das Abendessen fertig ist!”   🌱   Die Kerkerwachen schlugen mit mĂ€chtigen HĂ€mmern die langen Bolzen der Halterungen in die WĂ€nde. Sie mussten besonders fest sitzen, wenn sie der Kraft einer wĂŒtenden Bestie widerstehen sollten. Die Prinzessin hatte den König schon kurz nach der Schicksalsnacht von Clays kleinem Problem mit VollmondnĂ€chten berichtet. Ihr Vater war damit einverstanden, dass der Werwolf in der Stadt verbleiben durfte, unter der Bedingung sich in besagten NĂ€chten anketten zu lassen. Ein Schritt, den Clay voll und ganz verstehen konnte und auch selbst erbeten hĂ€tte, wĂ€re ihm der König nicht zuvor gekommen. Nun beobachteten er und Cerise die Arbeiten. Die Rothaarige war gar nicht wiederzuerkennen ohne ihre ungezĂ€hlten Dolche und Messer. Aber bewaffnet hĂ€tte man sie nicht hier herunter gelassen. Clay sah in die Isolationszelle hinein. Ein fensterloser finsterer Raum. Und ohne zu wissen, was sich hier zugetragen hatte, spĂŒrte er, das dieser Ort einige Geschichten erzĂ€hlen könnte, hĂ€tte er einen Mund zum sprechen. Als die Wachen ihre Arbeit vollendet hatten, zogen sie sich aus der Zelle zurĂŒck. Anschließend trat Clay ein, um sich selbst zu fesseln. Cerise stand derweil wie angewurzelt an Ort und Stelle. In ihrem Gesicht zeichnete sich eine bis dato unbekannte Emotion ab. Solange Clay abgelenkt war und sie nicht sehen konnte, warf sie ihm wehleidige Blicke zu. Es war nicht fair, dass er so leben musste. Jede Vollmondnacht weggesperrt wie ein wildes Tier. Am morgen danach ohne Erinnerungen an die Stunden zuvor aufzuwachen und nicht zu wissen, ob ihm nicht doch ein Unschuldiger zum Opfer gefallen war. Cerise schloss die KerkertĂŒr. Gab es wirklich nichts, was sie tun konnte?   Henrik schmeckte das Abendmahl nicht, obwohl er es selbst zubereitet hatte. Er musste pausenlos an Nebula denken, welche sich entschuldigen ließ und nicht in den Speisesaal gekommen war. Sie wollte ihm wohl nicht in die Augen sehen mĂŒssen. Als GĂ€ste seiner MajestĂ€t durften er und Annemarie an der Tafel Platz nehmen, doch das ließ den faden Geschmack des Essens nicht vergehen. Dabei war es eigentlich wunderbar angerichtet worden. Doch das Chaos in seinem Kopf betĂ€ubte den Wohlgeschmack der Speisen. Da Essen zu verschwenden eine SĂŒnde war, drĂŒckte er sich seine Portion hinein und entschuldigte sich anschließend selbst. Es verlangte ihm danach, Nebula zur Rede zu stellen. Allerdings kam es nicht so weit, da ein unĂŒberwindbares Hindernis zwischen ihnen stand. Vor der Pforte zu ihrem GemĂ€chern stand ein grimmig guckender WĂ€chter, den Henrik nicht wagte anzusprechen. Unverrichteter Dinge ging er weiter und kehrte in seinem Zimmer ein. Dabei verfluchte er sich selbst und seine eigene Feigheit.   Der Erdtrabant stand in voller Pracht am Firmament. In Kontrast zu diesem malerischen Bild, hallten die gequĂ€lten Schreie des JĂ€gers Clay durch das dunkle Verlies, wo man nichts von des Mondes Schönheit mitbekam. Die anderen Gefangenen konnten nur mutmaßen, was in der Isolationszelle vor sich ging. Cerise wusste aus ErzĂ€hlungen, wie schmerzhaft die Verwandlung in einen Wolf sein musste, allerdings war sie noch nie bei einer dabei. Hinter der eisernen TĂŒr lid Clay Höllenqualen. Mutig trat Cerise an die TĂŒr heran und öffnete den Sehschlitz. Der Innenraum der Zelle wurde von der Fackel an der Wand spĂ€rlich beleuchtet. Es genĂŒgte ihr, um das Wesentliche zu erkennen. Ihr Liebhaber kauerte nackt bis auf die Unterhose auf dem Boden und der Pelz fing schon an zu sprießen. Seine ExtremitĂ€ten waren gerade in Begriff ihre Form zu verĂ€ndern. Ruckartig, mit lautem Knacken, bogen sich seine Knie nach hinten. Weitere Gelenke und sogar Knochen folgten gerĂ€uschvoll dem Beispiel. Begleitet von seinen Schmerz erfĂŒllten Schreien, versetzte es Cerise in die Lage, seine Pain beinahe am eigenen Leib zu spĂŒren. Dennoch sah sie keine Sekunde weg. Auch nicht, als Clays Mund zur Reißzahn bewĂ€hrten Schnauze wurde und sein Gesicht zur Wolfsfratze verkam. Ein lautes Heulen tat wenig spĂ€ter von der Vollendung der Verwandlung Kund. Clays Körper war nun vollstĂ€ndig transformiert. Er wirkte ein ganzes StĂŒck grĂ¶ĂŸer und die zuvor zu großen Fesseln saßen nun wie angegossen. Sein schwarzes Fell schluckte das schwache Licht der Fackel. WĂŒtend knurrend zerrte die Bestie, zu der er nun geworden war, an den Fesseln und versuchte, sich um jeden Preis zu befreien. Er konnte noch immer den Duft der rothaarigen Halbelfe riechen. AllmĂ€hlich verlor sein Zerren an IntensitĂ€t und erregtes Knurren ging ĂŒber in sehnsĂŒchtiges Jaulen. Auf der anderen Seite der TĂŒr beobachtete Cerise noch immer. Die VerĂ€nderung seines Verhaltens entging ihr nicht. Es war untypisch fĂŒr ein Werbiest, mitten in einer erzwungenen Verwandlung zahm zu werden. FĂŒr sie erweckte es den Anschein, dass Clay vielleicht in der Lage wĂ€re, die Bestie unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht brauchte es nur noch einen kleinen Schubser. Möglicherweise könnte sie ihm tatsĂ€chlich helfen. Links und rechts neben der EisentĂŒr schoben die Wachen ihren Dienst. Cerise schloss den Sehschlitz. Die Wachen trauten ihren Ohren nicht, als sie im nĂ€chsten Moment die Stimme der Frau vernahmen. “Lasst mich dort sofort rein!”, forderte diese. “Seid Ihr wahnsinnig?!”, entrĂŒstete sich einer der MĂ€nner. “Ich kann ihm helfen das in den Griff zu bekommen!” “Ihr werdet höchstens herausfinden, in wie viele StĂŒcke er Euch reißen kann, bevor Ihr sterbt!”, belehrte der andere. “Das ist mir egal. Ich will da rein!” “Aber
” Als die MĂ€nner nicht auf ihre Forderung einging, sah sich die Rothaarige dazu gezwungen, andere Seiten aufzuziehen. Blitzschnell bewegte sie sich hinter einen der MĂ€nner, packte ihn und hielt ihm einen Dolch an die Kehle, den sie trotz Abtasten irgendwie in den Kerker schmuggeln konnte. Der Mann traf dieser Angriff so unvorbereitet, dass ihm glatt die Hellebarde entglitt. “Ich sagte, lasst mich sofort da rein!” Um ihrer Drohung mehr Gewicht zu verleihen, versetzte sie der Haut ihrer Geisel einen leichten Schnitt. Der andere WĂ€chter ließ nun ebenfalls seine Waffe fallen und kramte sein SchlĂŒsselbund hervor, wĂ€hrend er beschwichtigende Gesten zeigte. “Ist ja schon gut, ich schließe auf.” Er tat, was er ankĂŒndigte und entfernte sich anschließend von der entsperrten TĂŒr. Cerise schleifte ihre Geisel noch bis zum Zelleneingang und entledigte sich dann des Mannes mit einem Tritt in den Allerwertesten. Danach verschwand sie in der Finsternis und ließ die TĂŒr zufallen. Nun stand sie der Bestie gegenĂŒber. Hinter ihr öffnete sich erneut der Sehschlitz. “Kommt zur TĂŒr, Frau”, versuchte einer der MĂ€nner auf sie einzureden. “Es ist noch nicht zu spĂ€t! Beeilt Euch und ich lasse Euch schnell wieder heraus.” “Haltet Euer Maul!”, rief sie ihm ĂŒber die Schulter zu und ging dann langsam und vorsichtig auf den verwandelten Clay zu. Der knurrte sie erst an und versuchte sie mit seinen klauen zu erreichen, was ihm allerdings, der Ketten geschuldet, nicht gelang. “Ganz ruhig, Clay!” Cerise kam immer nĂ€her, bis sie und der Werwolf sich gegenĂŒberstanden. “Es gibt keinen Grund mich zu beißen!” Clay schien sich immer mehr zu beruhigen. Anstelle zu versuchen, nach ihr zu schnappen, streckte er nur seine Schnauze zu ihr und schnĂŒffelte. Saugte ihren Duft so tief ein, wie er konnte. Was ihn in menschlicher Gestalt wild und animalisch werden ließ, hatte nun eine ins Gegenteil verkehrte Wirkung. Cerise konnte seine AtemstĂ¶ĂŸe in ihrem Gesicht spĂŒren. Plötzlich jaulte der Werwolf erneut wie unter Qualen auf. Der Rotschopf schreckte kurz zurĂŒck. Doch wie sich herausstellte, bestand keine Gefahr fĂŒr ihr Leben. Clay kauerte sich zusammen und allmĂ€hlich setzte der ebenso schmerzhafte Prozess der RĂŒckverwandlung ein. Die Schnauze bildete sich zu einem Mund zurĂŒck. Die Gelenke und Knochen nahmen ihre alte Form wieder an. Das schwarze dichte Fell wich ebenfalls zurĂŒck, bis Clay wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte. Schwer atmend und zuerst besinnungslos, wĂ€lzte er sich auf dem kalten Boden der Zelle. Langsam wurde er sich wieder sich selbst bewusst und sein verschwommenes Sichtfeld klarte auf. Sein Blick fiel in Cerises Gesicht. Noch verwirrt, setzte er sich auf. “Ihr habt es geschafft!”, verkĂŒndete die Rothaarige selten euphorisch. Der SchĂ€del des JĂ€gers brummte. “Cerise, was tut Ihr hier?”, fragte er und presste eine Hand gegen die Stirn. “Bin ich noch in meiner Zelle?” Er schreckte hoch. “Bin ich etwa ausgebrochen?” “Nein, ich bin eingebrochen!” “Wieso tut Ihr sowas? Wolltet Ihr gefressen werden?!” Cerise schmiss sich an Clay heran. “Mhmm
 ich weiß, wie unersĂ€ttlich Ihr sein könnt.” “Wie seid Ihr ĂŒberhaupt hier herein gekommen? Was ist mit den Wachen?” “Die sind beide blöd wie ein Eimer. Ein Eimer fĂŒr beide!” “Ist denn schon morgen?” “Nicht ganz.” Cerise half Clay auf. Der WĂ€chter hatte das Schauspiel um die RĂŒckverwandlung durch den Sehschlitz mit angesehen. Sprachlos öffnete er auf das Klopfen der Beiden die TĂŒr. Er war viel zu geschockt, um noch einen Groll wegen Cerises Angriff wenige Minuten zuvor zu hegen. Und viel zu verwirrt, um auch nur ein Wort zu sprechen. Schweigend ließen beide Wachen Cerise und Clay ziehen. Gemeinsam bestiegen sie einige Zeit spĂ€ter die Dachterrasse des Palastes und schauten Seite an Seite in den Nachthimmel. Vorher machten sie halt, um Clay etwas Kleidung zu organisieren. Oben auf dem Dach angekommen, realisierte Clay erst wirklich, dass es mitten in der Nacht war. Der Vollmond schien auf ihn herab, ohne einen Effekt zu erzielen. UnglĂ€ubig starrte der JĂ€ger seine Hand an, welche er dem Erdtrabanten entgegengestreckt hatte. Er konnte sie immer noch fĂŒhlen. Die Bestie tief in ihm drin. Aber unverstĂ€ndlicherweise gehorchte sie ihm. Er brauchte eine Weile, um es zu begreifen. “Wie ist das möglich?”, fragte er die Rothaarige. Dann nahm er die Hand wieder runter. “Woher wusstet Ihr, dass ich Euch nicht einfach nur umbringe?” “Ich wusste, dass so eine Schönheit wie ich, einfach mit allem durchkommt.” “Könnt Ihr einmal ernst sein?!” “Sagen wir so, ich habe durch grĂŒndliche Beobachtung herausgefunden, dass meine PrĂ€senz Euch beruhigt. Und da dachte ich, dass das vielleicht klappen könnte.” “‘Vielleicht’ ist nicht genug! Ich hĂ€tte mich losreißen können! TĂ€te ich noch einer Unschuldigen das Leben nehmen, wĂŒrde ich nicht mehr leben wollen.” “Manchmal muss man halt etwas riskieren, um etwas zu gewinnen!” Dann ergriff Cerise den starken Arm des Mannes neben ihr und schmiegte sich an ihn. “Außerdem bin ich jetzt wirklich nicht unschuldig!” Gemeinsam brachten sie eine lange Zeit auf der Dachterrasse zu.   🌱   Drei Jahre zuvor am Hofe von Ewigkeit. Ein wohlig weiches GefĂŒhl umschloss ihren Körper. Feinster Stoff liebkoste ihre Haut. Daunenweich, nicht zu vergleichen mit dem harten Boden der Isolationszelle. Es verströmte einen angenehmen Duft von RosenblĂŒten. ZurĂŒckhaltend öffnete Emelaigne ihre Augen. Sie erblickte die Decke eines Himmelbettes. Von vier Seiten hingen seidene TĂŒcher herunter und schirmten den Schlafbereich vom Rest des Raumes ab. Emelaigne ĂŒberlegte, wie sie hierher gekommen war. Das letzte, woran sie sich noch erinnerte, waren diese fĂŒrchterlichen Kopfschmerzen, als hĂ€tte ihr SchĂ€del in tausend Teile zerspringen wollen. Sie musste das Bewusstsein verloren haben. Nun waren die Schmerzen verflogen, aber dafĂŒr viele Fragen zurĂŒckgeblieben. Was war geschehen? Hatte der Wunsch, Caroline zu beschĂŒtzen, ihr die notwendige Kraft verliehen, die Finsternis in ihrem Herzen zu bĂ€ndigen? Bei dem Gedanken an ihre Freundin wurde sie unruhig. Ging es ihr gut? Emelaigne wollte aufstehen. Sie schlug die Decke zurĂŒck und stellte fest, dass sie jemand umgezogen hatte. Sie trug nun ein Nachthemd. Ungeachtet davon, schob sie den Stor zur Seite und setzte die entblĂ¶ĂŸten FĂŒĂŸe auf dem Boden auf. Sie tastete instinktiv nach etwas und bekam Pantoffeln zu fassen. Wenn nicht der Blick in das Zimmer, dann hĂ€tten spĂ€testens sie ihr gesagt, dass sie zuhause war. “Was geht hier vor?”, zweifelte sie an der Situation. Nachdem sie in ihre Hausschuhe geschlĂŒpft war, stand sie auf und sah sich im Zimmer um. Es bestand kein Zweifel, dass es sich hierbei um ihre GemĂ€cher handelte. Die BeschĂ€digungen des schicksalhaften Abends vor ihrer Hochzeit waren beseitigt und das Mobiliar ausgetauscht, doch sie erkannte es trotzdem wieder. Das alte BĂŒcherregal war noch immer an seinem Platz. Hier reihten sich die MĂ€rchenbĂŒcher. Etwas in ihm ĂŒbte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus, sodass sie nicht anders konnte, als an es heranzutreten. Es war das Werk ganz am rechten Ende. Ein schwarz eingebundenes Buch. Fabula Tenebris. Emelaigne erinnerte sich. Dieses Buch erzĂ€hlte ein dĂŒsteres MĂ€rchen ĂŒber die TrĂ€nen eines gefallenen Engel und wie sie den Menschen die Gewalt beibrachten. Als ihre Finger den Einband berĂŒhrten, schossen ihr verschwommene Bilder von Fremden Leuten durch den Kopf, die sie nicht kannte. Ein Klopfen an der TĂŒr vertrieb die Bilder. “Mistress!”, rief es hinter der hölzernen Pforte. “Ihr mĂŒsst aufstehen.” Emelaigne lies das Buch los und ging zur TĂŒr. Sie kannte diese Stimme nur zu gut. Die TĂŒr öffnete sich und eine ergraute Dame trat ein. “Liselotte!”, rief das blonde MĂ€dchen freudig. Sie stĂŒrmte auf die alte Frau zu und umschlang sie liebevoll mit ihren Armen. “Sachte, ich bekomme keine Luft! Wie ich sehe, seid Ihr schon wach!” “Liselotte, was geht hier vor? Ich-” Die Alte legte ihren Zeigefinger auf Emelaignes Lippen. “Es ist alles gut.” “Aber-” “Man fand Euch bewusstlos auf dem Glockenturm einer Kirche.” “Geht es Caro gut?” “NatĂŒrlich.” Liselotte gluckste. “Warum auch nicht?” Emelaignes rastloser Geist kam nicht zur Ruhe. “Wieso seid Ihr gekommen?” “Ich möchte Euch bei der Kleiderwahl unterstĂŒtzen, Mistress.” “Denkt Ihr nicht, das ich alt genug bin, das selbst zu können?” “Gewiss. Ich sollte Euch das sagen, falls Ihr fragt.” “Und was wollt ihr dann?” “Man hofft, dass ein vertrautes Gesicht Euch hilft-” “-bei Verstand zu bleiben?” Liselotte schwieg. “Sagt mir die Wahrheit! Wer hat das veranlasst?” “Der Hofzauberer, Mistress.” “Arngrimir
! Ist es mir erlaubt, das Zimmer zu verlassen?” “Gewiss. Nach Eurem
 Ausflug neulich glaubt niemand mehr daran, dass man Euch aufhalten kann.” “Dann werde ich dem Hofzauberer einen Besuch abstatten.”   Die Soldaten der königlichen Garde von Ewigkeit trainierten ihre Kampffertigkeiten auf dem Übungsplatz der Kaserne. Er bot alles, was sie fĂŒr ihre Übungen benötigten. Ziele fĂŒr die SchĂŒtzen und Strohpuppen fĂŒr die NahkĂ€mpfer. Sogar einige mechanische Automaten, welche auf die Angriffe des Trainierenden reagierten, sobald sie sie trafen, und entsprechend hölzernen Schild anhoben und mit hölzernem Schwerd stießen, um die Illusion eines echten Gegners zu erwecken. Skeptisch beobachtete Arngrimir das Treiben der Milizen. Etwa eine halbe Stunde zuvor war er noch in seine Experimente vertieft gewesen. FlĂŒssigkeiten wurden destilliert und so wirkungsstarke Elixiere gebraut. Doch all dies endete, als die Prinzessin in sein Labor gestĂŒrmt kam. Mit einem fordernden Tonfall und einem bestimmenden Gesichtsausdruck hatte sie seine Hilfe verlangt. Er sollte ihr beibringen, die Kraft, welche sie nun besaß, in den Griff zu bekommen. Mit ihrem Eindringen war sowieso jede Konzentration verflogen, also willigte er ein. Nun wurden die zum Wehrdienst eingezogenen Junggesellen dazu angetrieben, die ÜbungsgerĂ€te zusammenzutragen und eine Apparatur zu improvisieren, welche sich hoffentlich imstande sehen konnte, der Kraft von Emelaigne standzuhalten. An einer Wand lehnend, mit gesenktem Kopf, wartete die Prinzessin nachdenklich  auf die Fertigstellung des Konstruktes. Sie trug inzwischen kein Nachthemd mehr, sondern ihre Jagdbekleidung. Ein hĂŒbsches besticktes Kleid mit Schmucksteinen und Wespentaille wĂ€re fĂŒr das Kommende unangebracht gewesen. Endlich hatten die Milizen Arngrimirs Befehle ausgefĂŒhrt. “Prinzessin!”, forderte der Hofzauberer die Aufmerksamkeit des blonden MĂ€dchens. Emelaigne sah auf und zog eine Augenbraue an. An der Wand des Übungsplatzes befand sich ein mit Stahlplatten verstĂ€rktes, ĂŒberlebensgroßes Gebilde mit einer Lanze und einem großen Rundschild. “Dies wird Euer Gegner sein”, erklĂ€rte Arngrimir. “Versucht den Automaten auseinander zu nehmen. Ihr dĂŒrft alles einsetzen, was Ihr habt.” Das MĂ€dchen schritt dem Gebilde entgegen und blieb kurz vor ihm stehen. “Das ist nicht Euer ernst”, tat sie ihre Skepsis kund. Sie hatte Arngrimir gebeten, dass er ihr einen Weg zeigen solle, mit dieser Kraft umzugehen. Und das war seine Vorstellung davon. Eine riesige Puppe. Die Zeiten, in denen sie mit ihnen spielte, waren lange vorbei! Sie ging tief in sich, ballte die Faust und holte weit aus. Mit aller Wucht, die sie aufbringen konnte, stieß sie ihren Schlagarm nach vorn und ihre Faust traf auf der OberflĂ€che auf. Stille. Auf einmal zog die Prinzessin ihre Hand zurĂŒck und schĂŒttelte sie. “Aua!”, rief sie aus. Wie sollte ihr diese Übung dabei helfen, ihre Kraft in den Griff zu bekommen? Sie ging zurĂŒck zu Arngrimir. Der schĂŒttelte nur den Kopf. Fragend sah Emelaigne ihn an. “Mit Eurer Kraft ist es nicht anders als mit jeder anderen Magie”, meinte der Hofzauberer. “Versucht, Euch auf Euch selbst zu besinnen.” “Auf mich selbst?” “Der SchlĂŒssel sind Eure GefĂŒhle”, setzte der Mann mit dem zotteligen Bart fort. “Übersinnliche FĂ€higkeiten sind oft an Emotionen gekoppelt. Erinnert Euch an Euren Ausbruch. Erinnert Euch an das, was Euch dazu verleitet hat. Und dann hört auf die Stimme in Eurem Herzen.” Die Stimme in ihrem Herzen
 Nun war sich Emelaigne sicher, das der Hofzauberer zu lange an seinen FlĂ€schchen geschnĂŒffelt hatte. Ein Herz kann nicht sprechen. Aber sie hatte keine andere Wahl, als es zu versuchen. Wenn schon niemand vermochte, sie von diesem Fluch zu erlösen, wollte sie wenigstens das Beste daraus machen. Sie stellte sich dem gepanzerten Übungsapparat gegenĂŒber und schloss die Augen. Ihr Atem wurde langsam und gleichmĂ€ĂŸig. Bis sie ihr Herz schlagen hören konnte. Doch sprechen wollte es nicht mit ihr. Geduldig beobachtete Arngrimir jede Bewegung seiner SchĂŒlerin. FĂŒr eine lange Zeit stand sie stumm auf dem Platz, ohne sich zu rĂŒhren. So sehr er es begehrte, ihren nĂ€chsten Zug zu sehen, hielt er sich doch zurĂŒck und ĂŒbte sich bescheiden in Geduld. Dann endlich wurde sein Warten belohnt. Emelaigne streckte den rechten Arm aus. “Koche in meinen Venen, Bloodbane!” Eine schwarze FlĂŒssigkeit trat hervor und formte eine Klinge. Arngrimir gefiel offenkundig, was er da sah, denn er frohlockte vor Begeisterung. “Großartig, Eure Hoheit!”, lobte er. “Großartig!” Emelaigne riss ihre Augen auf. Bloodbane, das war der Name, welchen sie vernommen hatte. Just in jenem Moment sprengte eine Energie das Material des Ärmels ihres Oberteils ab und umgab die Klinge, wie ein Mantel. Eine Aura, welche das Schwert bald dreimal so lang erscheinen ließ. Die noch anwesenden Wachen schreckten vor dem bösartigen Druck zurĂŒck, der sich pulsierend im Hof der Kaserne auszubreiten begann. Der Prinzessin wurde der Arm schwer, so nahm sie den linken zur Hilfe. Schreiend ging sie auf die Apparatur los. Von Überkopf ließ sie die Klinge auf die Maschine herabregnen. Die Aura schnellte nach vorn, als sie den Boden berĂŒhrte, und schnitt sowohl durch den Apparat als auch durch die Mauer hinter ihm, wie ein heißes Messer durch Butter. Splitter aus Holz, Metall und Stein flogen durch die Luft und die Anwesenden erhoben die HĂ€nde zum Kopf, um sich vor diesen Geschossen zu schĂŒtzen. In der Bahn der bösen Energie konnte nichts widerstehen und es blieb eine Schneise der VerwĂŒstung. Ein solches Ausmaß von Zerstörung hatte selbst der Hofzauberer nicht erwartet. Plötzlich krĂŒmmte sich Emelaigne vor Schmerzen und weitere schwarze Klingen durchstießen ihren Arm und ihren RĂŒcken. Sie schrie entsĂ€tzlich und mit verzerrter Stimme. Ihre Augen glĂŒhten rot wie die Abendsonne. Aber mit einem Mal war der Spuck vorbei und Emelaigne kollabierte. Vorsichtig nĂ€herten sich ein paar WĂ€chter und stießen den augenscheinlich leblosen Körper vorsichtig mit dem stumpfen Ende ihrer Hellebarden an. Sie zeigte keine Regung. Einzig die Klingen zogen sich in ihren Körper zurĂŒck.   Emelaigne erinnerte sich nicht mehr genau, wie viel Zeit vergangen war, doch wenig war es keinesfalls. Sie lag rĂŒcklings auf ihrem Bett und starrte die Unterseite des Dachs ihres Himmelbettes an. Ihre FĂŒĂŸe standen noch immer auf dem Boden, flankiert von ihren Pantoffeln. Ihre instabilen KrĂ€fte hatte sie inzwischen durch die Weisungen von Arngrimir unter Kontrolle gebracht. Am ersten Tag ihres Trainings, setzte sie zu viel Kraft frei. Der Zauberer meinte, ihr Nervensystem wĂ€re mit dem Schock nicht zurecht gekommen. Es erwischte sie kalt und warf sie aus den Latschen, noch bevor sie die erwachende Finsternis ĂŒbermannen konnte und sie ein zweites mal Amok lief. Sie musste versprechen, nie wieder so weit zu gehen, ihr volles Potential einzusetzen. Denn es war viel zu gefĂ€hrlich, auch fĂŒr sie selbst! Und die Prinzessin gedachte dieser Weisung zu folgen. Das GefĂŒhl, die Kontrolle ĂŒber den eigenen Körper zu verlieren, zu wĂŒten wie eine Furie und unschuldige Menschen zu gefĂ€hrden, wollte sie nie wieder spĂŒren mĂŒssen. Die Tatsache, das sie inzwischen eine zweite Teufelswaffe besaß, war Ă€hnlich beunruhigend wie die, dass es noch mehr von ihnen geben könnte. Der Fall des HeckenschĂŒtzen zeigte, dass Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt diesen Waffen verfallen konnten und sich zur Gewalt verleiten ließen. Er zum Beispiel, streifte durch die Stadt und erschoss willkĂŒrlich ausgesuchte Ziele, ohne einen erkennbaren Grund. Wahrscheinlich nur um des Tötens selbst Willen, mutmaßte man im Nachhinein. Doch sicher sein konnte man sich nicht und die Toten pflegten selten ihr Schweigen zu brechen. Sie hĂ€tte ihn nicht gnadenlos niedermetzeln dĂŒrfen! Emelaigne dachte in der jĂŒngsten Vergangenheit immer öfter an die Geschichte, die ihr als Kind vorgelesen wurde. Was wĂ€re, sprĂ€che das MĂ€rchen die Wahrheit? Dann gĂ€be es sechshundertsechsundsechzig von diesen verfluchten, dĂ€monischen Waffen, verstreut ĂŒber die ganze Welt. Vielleicht waren es in Wirklichkeit viel weniger, doch jede von ihnen fĂŒr sich war bereits eine zu viel. Sie versuchte die Geschichte in ihrem Kopf zusammen zu setzen. Doch es gelang ihr nicht. Sie trat an das BĂŒcherregal heran und griff nach dem schwarzen Buch  Fabula Tenebris. Kaum berĂŒhrt, schon begann es erneut Bilder in ihren Kopf zu ĂŒbertragen. Dieses Mal war es eine undeutliche Silhouette eines Berges, welcher eine kerzengerade SĂ€ule von Asche und Glut ausspie. Sie verdrĂ€ngte die Vision des Vulkans und begann zu lesen.   Im Thronsaal waren neben dem König und Arngrimir noch einige Wachen anwesend, welche ihren Dienst verrichteten. Die Worte, die ihr Herrscher mit seinem Hofzauberer wechselte, interessierten sie allerdings nicht. Ihre Unterhaltung wurde jĂ€h gestört, als jemand die Pforte zum Thronsaal aufstieß. Eine Gestalt mit schweren Schuhen und dem Gesicht verborgen unter einer Kapuze, trat ein und schritt den roten Teppich entlang. Der König erhob sich von seinem Thron. “Was hat das zu bedeuten? Wer seid Ihr?” Doch der Fremde scherte sich nicht darum zu reagieren. “Wachen!” Die Soldaten umzingelten den Unbekannten. “Ihr seid selten unentspannt, Vater!” Die Kapuze viel und der König erkannte seine Tochter. “Beruhigt Euch, ich bin es doch nur.” Der König signalisierte mit einem Handzeichen, dass die WĂ€chter sich zurĂŒckziehen sollen. Sie gingen zurĂŒck an ihre angestammten PlĂ€tze. “Wieso habt Ihr Euch so angehost, Tochter?”, stellte er anschließend sein Kind zur Rede. “Verzeiht mir, aber ich habe eine Entscheidung getroffen”, sprach die Prinzessin. “Was fĂŒr eine Entscheidung?” “Ich werde das Schloss verlassen!” “Verlassen?!” “Ich will niemanden einer Gefahr aussetzen. Aber solange dieser Fluch durch meine Venen schießt, bin ich eine lebendige Waffe, die nichts als Unheil bringt. Und nicht die einzige, wie es scheint.” “Was wollt Ihr dadurch gewinnen, Tochter?” “Ich will mich auf die Spuren der Teufelswaffen begeben.” “Die sechshundertsechsundsechzig TrĂ€nen, die zu Waffen wurden!”, ergĂ€nzte Arngrimir. “Bitte, lasst mich nicht dumm sterben. Wovon sprecht ihr?” “Die Legenden, die ich studierte
”, grĂŒbelte der Mann in unvollstĂ€ndigen HalbsĂ€tzen und zupfte seinen Zottelbart. “Der HeckenschĂŒtze nutzte ebenfalls eine dieser Waffen”, erklĂ€rte sich Emelaigne. “Stellt Euch vor, wie viel Schaden diese Waffen anrichten können, wenn sie in den falschen HĂ€nden sind. Ich will dieser Legende nachgehen, um sie alle zu finden, Vater. Ich werde das Leben, das mir geschenkt wurde, nicht vergeuden! Und wenn ich tatsĂ€chlich bis zum Ende der Welt reisen muss, wie es das MĂ€rchen schreibt.” “Wer hat Euch diese Flause in den Kopf gesetzt! Das erlaube ich nicht!” “Ich bitte Euch, Vater!” “Lasst Euch wenigstens von meinen Rittern begleiten!” Emelaigne streckte den Arm zur Seite aus. “Koche in meinen Venen, Bloodbane!” Die Klinge erhörte ihren Ruf. Die Prinzessin ließ ihren Vater keinen Moment aus den Augen wĂ€hrend sie ihre Waffe kerzengerade nach oben aufrichtete. “Sagt mir, Vater, welcher unserer Ritter mir nicht nur im Wege stehen wĂŒrde!” Sie ließ wieder Bloodbane verschwinden. “Ich will Euch nicht schon wieder verlieren!” “Ihr könnt mich sowieso nicht aufhalten!” Emelaigne wandte ihrem Vater den RĂŒcken zu. “Und vielleicht werde ich ihn auf meiner Reise wieder sehen”, flĂŒsterte sie. Der König musste hilflos mit ansehen, wie seine Tochter ihres Weges ging. “Ich kann Dich vielleicht nicht aufhalten”, sprach er als sie den Thronsaal bereits verlassen hatte. “Aber ich kann Dich beschatten lassen.” Er sah zu seinem Hofzauberer. “Arngrimir, ich ĂŒberlasse es Euch, kompetente Handlanger fĂŒr diese Aufgabe auszuwĂ€hlen.” “Ich werde meine Kontakte spielen lassen.” Der Zauberer grinste.   Caroline war enttĂ€uscht. Zwar hatte ihre Freundin ihr von ihrem Vorhaben erzĂ€hlt, hielt es aber dennoch nicht fĂŒr nötig, noch einmal zu ihr zu kommen und ihr Lebewohl zu sagen. Darum nahm sie ihr Schicksal selbst in die Hand und lauerte Emelaigne vor dem Eingang zum Innenhof des Palastes auf. Als sie sie kommen hörte, sprang sie hinter der Mauer hervor, wie ein Strauchdieb, und stellte sich ihr mit verschrĂ€nkten Armen in den Weg. “Caro!”, wunderte sich die Prinzessin. “Hast du nicht was vergessen?”, fragte sie vorwurfsvoll. “Denkst du, ich erlaube, dass du dich einfach so davon stiehlst? Warum verabschiedest du dich nicht von mir?” “Ich-” Doch Caroline erlaubte ihr nicht den Satz zu vollenden. Stattdessen öffnete sie ihre Arme und umarmte ihre Freundin. Sie war nicht wirklich sauer. Sie hatte verstanden. “Ich weiß Bescheid. Ich mag Abschiede genauso wenig.” “Gut das du es mir nicht unnötig schwer machst!” Caroline gab Emelaigne frei. “Na los, geh schon! Finde diese Dinger. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.”  “Vielen Dank, Caro!” Sie setzte ihre Kapuze auf und durchschritt das Portal. Ihre Suche nach den Teufelswaffen begann.   🌱   ZurĂŒck in der Gegenwart. Nebula trat durch das Tor in der Hecke in die Zieranlage ein. Sie folgte den Anweisungen einer Nachricht, welche sie am Morgen vor dem Eingang ihrer privaten RĂ€umlichkeiten fand. Mutmaßlich wurde der Zettel irgendwann in der Nacht von Cerise unter dem TĂŒrschlitz durchgeschoben. Auf ihm fand sich eine Herausforderung: Kommt morgen nachmittag in den Schlossgarten! Eure Revenge wartet, Prinzesschen. Vergesst nicht die Übungswaffen! Sonst versohle ich Euch den Hintern! Auf dem breiten mit Ziersteinen gesĂ€umten Weg der Anlage begrĂŒĂŸte sie bereits ein Kreis von fĂŒnf Metern Durchmesser, welcher offenbar erst kĂŒrzlich in die Erde geritzt worden war. Die Prinzessin trug in jeder Hand ein Holzschwert und war bereit fĂŒr einen Kampf. Doch von ihrer Gegnerin gab es weit und breit keine Spur. Wo steckt sie?, dachte Nebula. Aber sie setzte ihren Weg unbeirrt fort und betrat den Kreis. Sie blieb stehen und wartete einfach ab. Plötzlich vernahm sie ein GerĂ€usch. In einer Drehung wandte sie sich der Quelle zu und streckte ihren Schwertarm aus. Doch die Spitze des ÜbungsgerĂ€tes zeigte nicht auf die Person, welche sie erwartet hatte. Erschrocken zuckte Henrik zurĂŒck. “Was machst du denn hier?!”, pflaumte ihn Nebula an. “D-Du hast mir doch diesen Zettel unter der T-TĂŒr durchgeschoben”, behauptete Henrik. “Darauf stand, dass es dir Leid tut und du dich entschuldigen willst. Und das du mir etwas sehr wichtiges zu sagen hast.” “Was?! Nein! Ich habe die Nachricht erhalten, dass Cerise mir eine Revenge anbietet. Ich solle hier herkommen und keinesfalls diese Holzschwerter vergessen.” Die Blondine stöhnte entnervt. “Dieser verdammte Wolf!” “W-Was? W-Wer?” Nebula nahm ihre Übungswaffe wieder herunter. “Clay, der elende Mistkerl! Das ist auf seinem Mist gewachsen.”   Hinter der Heckenwand entstiegen verstohlen die Verschwörer ihren Verstecken und begaben sich zum Durchgang, damit sie ihr Werk bewundern konnten. Cerise und Clay positionierten sich auf je einer Seite und spionierten den zerstrittenen TurteltĂ€ubchen hinterher. WĂŒrde ihr Plan fruchten? “Meint Ihr, das funktioniert?”, fragte Cerise leise. “Na klar”, antwortete Clay flĂŒsternd. “Wie Ihr seht, reden sie miteinander.” “Das ist immerhin ein Anfang.” “Hoffentlich verprĂŒgelt sie ihn nicht.” “Am Ende gefĂ€llt es ihm
”   Henrik war ĂŒberrascht. “Aber wieso sollte er das tun?” “Ist doch offensichtlich. Er will, das wir uns aussprechen.” “U-Und was machen wir jetzt?” “Wenn wir schon mal hier sind
” Nebula atmete tief ein und wieder aus. “Vielleicht ist es einfacher, wenn ich dir die Wahrheit sage.” Sie geleitete ihn ĂŒber die BrĂŒcke auf die Insel zur Bank vor dem großen Baum. Beide nahmen Platz, jedoch mit einer ArmlĂ€nge Abstand zwischen ihnen. “Die Wahrheit?” Henrik schaute betrĂŒbt auf den Boden zwischen seinen Schuhen. ”Ich h-habe schon verstanden, dass du ihn willst.” Auf die Aussage ihres Begleiters hob die Blondine eine der Übungswaffen und schlug mit der Kante auf Henriks Kopf. “Idiot!” “Aua!”, beschwerte sich der Braunhaarige. “Lass das!” “Idiot! Idiot! Idiot!” Jedem Wort folgte ein weiterer Schlag. Henrik hielt schĂŒtzend die HĂ€nde ĂŒber seinen SchĂ€del, musste aber feststellen, das es eigentlich gar nicht wirklich weh tat, wenn ihn der hölzerne Gegenstand traf. Nebula schlug ihn gar nicht, sondern berĂŒhrte ihn nur. So gab es keinen Grund mehr sein Haupt zu schĂŒtzen. “Ich habe doch gesehen, wie ihr euch g-gekĂŒsst habt!”, Ă€ußerte er, als Nebula ihrem Arm eine Pause gönnte. “Das heißt nicht, dass er es auch wollte.” “W-Wie bitte?” “Ich habe irgendwie gespĂŒrt, dass du hinter der Hecke stehst. Warum, weiß ich nicht. Ich habe dir nur etwas vorgespielt. Ich wollte, dass du mich hasst.” Henrik verstand die Welt nicht mehr. “A-Aber wieso machst du sowas? Du solltest wissen, dass i-ich das gar nicht kann!” “Wie soll ich dich sonst dazu bringen, mir nicht mehr zu folgen?” “Du willst mich loswerden? Warum?” “Klappe! Das ist am Besten fĂŒr dich.” “I-Ich will nicht, d-das wir getrennte Wege gehen!” “Meine Mission ist zu gefĂ€hrlich fĂŒr dich!” “Ich w-will das selbst entscheiden! Außerdem nimmst du Annemarie auch mit. Ist das fĂŒr sie nicht noch viel gefĂ€hrlicher?” “Stimmt! Die muss ich auch noch irgendwie loswerden...” “H-Höre endlich auf damit!” Die Situation machte Henrik Angst, doch er musste jetzt stark sein und all seinen Mut zusammen nehmen. “I-Ich will bei dir bleiben! I-Ich muss d-dir etwas sagen
 I-Ich
” Die Sprache blieb ihm in der Kehle stecken, also versuchte er es heraus zu schreien. “W-Weil
! I-Ich liebe dich!” Nebula zuckte verdutzt zurĂŒck. Es war so unwirklich, dass der schĂŒchterne Junge tatsĂ€chlich genug Mut aufgebracht hatte, es auszusprechen. Als sich ihre Verwunderung legte, erhob sie erneut ihren Arm und ließ das Holzschwert auf Henriks Haupt fallen. “Du Idiot!”, tadelte sie. “Das weiß ich doch schon lĂ€ngst.” Henrik hielt sich den Kopf. Dieses Mal war es keine sanfte BerĂŒhrung. Das hatte wirklich weh getan! “AUA!!” Entweder bildete er sich das ein, oder unter seiner Haartracht wuchs tatsĂ€chlich eine gewaltige Beule heran. Nebula legte endlich die Übungswaffen neben sich auf die Bank. Henrik atmete auf, glaubte sich sicher, keine SchlĂ€ge mehr zu bekommen. Sie wandte sich erneut ihrem GegenĂŒber zu und begann ihm tief in die Augen zu sehen. Erst schwieg sie, doch ihr Blick sprach BĂ€nde. “Ich weiß es”, sagte sie schließlich mit sanfter Stimme. Daraufhin rĂŒckte sie nĂ€her zu Henrik heran. Der tat nichts, außer sie anzustarren wie eine Ikone, die er nicht wagte zu berĂŒhren. Seine ZurĂŒckhaltung trieb Nebula eine Zornesfalte auf die Stirn. “Jetzt kĂŒss mich endlich, du Trottel!”, funkelte sie ihn ungeduldig an. Endlich verstand Henrik und tat, wie ihm geheißen ward. Der euphorische Vorstoß des Braunhaarigen war seinem GegenĂŒber jedoch zu viel. Sie glaubte, seine Zunge bis fast in den Magen zu spĂŒren und entzog sich ihm. Es setzte eine Ohrfeige. “Wer hat dir erlaubt, deinen Lappen so tief in meinen Rachen zu schieben?!”, beschwerte sie sich. Henrik hielt sich die Wange. “E-Entschuldigung!” Doch schon im nĂ€chsten Moment schien alles vergessen und sie verschlangen einander gegenseitig in einem Kuss. Es war, als ob die Zeit stehen blieb und dieser Moment fĂŒr sie Äonen anhalten könnte.   In seinem Versteck hinter der Hecke, ballte Clay triumphierend die Hand zur Faust. “Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!”, lobte sich der JĂ€ger selbst. Ein breites und zufriedenes Grinsen zog sich dabei ĂŒber sein ganzes Gesicht. “Das wurde ja mal Zeit!”, pflichtete Cerise ihm bei. “Sie scharwenzelten eine halbe Ewigkeit umeinander. Ein ausgiebiges Vorspiel hat zwar einiges fĂŒr sich, aber man will auch zum Höhepunkt kommen.” “Seid Ihr imstande, noch an etwas anderes zu denken?” Darauf hatte sie nur eine Antwort: “Nein.” Die Rothaarige streckte ihre Arme aus, griff nach dem starken Mann und schmiegte sich an ihn. “Diesen Erfolg sollten wir feiern!” Der Schwarzhaarige wusste gewiss, was sie ihm sagen wollte, doch behielt seine gewohnte stoische Ruhe bei. “Ihr habt Recht. Wir sollten ihnen ihre PrivatsphĂ€re gönnen. Der Junge ist unerwartet unversehrt aus der Sache herausgekommen...” Cerise streckte sich zu Clays Gesicht und kĂŒsste ihn kurz auf den Mund. “Ihr seid immer so anstĂ€ndig”, meinte sie im Anschluss. “Das mag ich so an Euch.” Gemeinsam entschwanden sie in die GemĂ€cher Kapitel 14: Mittags um Zwölf ---------------------------- 🌱   Einige Wochen zogen seit seiner LiebeserklĂ€rung ins Land. Henrik glaubte noch immer einem Hirngespinst verfallen zu sein. Es war einfach zu unwirklich. Es musste ein Traum sein. Aber er erwachte einfach nicht, wenn er sich in den eigenen Arm kniff. Folglich war es wider Erwarten doch real. Fast jeder versuchte, wĂ€hrend die Vorbereitungen zum Übersetzen auf den Kontinent im vollem Gange waren, die eigenen SchwĂ€chen auszumerzen und die StĂ€rken auszubauen. Clay ging hinaus in den Wald, wo er sich am wohlsten fĂŒhlte, und versuchte seine NahkampffĂ€higkeiten zu verbessern. Nebula trainierte von frĂŒh bis spĂ€t den Kampf mit zwei Waffen, mit dem Ziel, eines schönen Tages Cerises großes Mundwerk mit ihnen zu stopfen. Henrik ließ sich vom Hofzauberer in der Kontrolle seiner KrĂ€fte unterweisen. Auch wenn der Ursprung seiner Macht noch immer ein RĂ€tsel war. Und Annemarie ließ sich ebenfalls die Zauberei nĂ€her bringen. Sie wollte auch aktiv helfen, weshalb Arngrimir sie Heilkunst lehrte. Nur die rothaarige AttentĂ€terin sah einfach keinen Anlass, die Perfektion in Menschengestalt weiter zu verbessern. Nach einem weiteren anstrengenden Tag, trafen sich die Prinzessin und der Handwerksgeselle oben auf der Dachterrasse des Palastes zum Sternegucken. HĂ€ndchen haltend, saßen sie aneinander geschmiegt auf einer steinernen Bank und gaben sich dem oralen Austausch von KörperflĂŒssigkeiten hin. Mehr als ausgiebiges KĂŒssen war jedoch nicht drin. Henrik fĂŒrchtete auf das ĂŒbelste massakriert zu werden, tĂ€te er zu weit gehen. Aber Nebula quĂ€lte ihn zu gern! Urplötzlich umschlang sie ihn und hievte sich auf seinen Schoß, bis sie mehr auf ihm lag als saß. Sie war vielleicht klein, aber nicht unbedingt leicht! Das zusĂ€tzliche Gewicht bekam Henrik sofort zu spĂŒren. Die extra Last löste einen unangenehmen Druck in seiner Hose aus. Peinlich berĂŒhrt hoffte er, dass sie es nicht bemerkte. Doch Nebula sah ihn mit großen Augen an. “Kleiner Perversling!”, schimpfte sie ihn. Allerdings war der Klang ihrer Stimme frei von der ĂŒblichen EntrĂŒstung, welche sie frĂŒher stets an den Tag legte. Daraufhin stĂŒtzte sie sich links und rechts von Henrik an der Lehne der steinernen Bank ab und setzte sich kerzengerade auf. Der Braunhaarige versuchte der verlockenden Aussicht zu trotzen, welche sich nun vor ihm auftat. Es war jedoch hoffnungslos und sein Blick fiel hinein in das tiefe Tal ihres Ausschnitts. Henrik fragte sich, ob ihr Gewicht von den Teufelswaffen in ihrem Blut ausging oder doch ihre großen BrĂŒste daran schuld waren. Nebulas Zeigefinger fuhr unter sein Kinn und richtete sein Gesicht zu dem ihren aus. “Hier oben spielt die Musik!” Der Braunhaarige sah sich außerstande ihrem verheißungsvollen Blick zu widerstehen. Seine Arme umschlossen den Körper der Prinzessin und pressten ihn ganz fest an den seinen. Dabei rutschten Henriks HĂ€nde immer weiter herunter, bis sie das GesĂ€ĂŸ der Blondine umfassten. Plötzlich fuhr Nebula hochrot im Gesicht auf, als habe sie etwas gestochen, und gab dabei Laute eines aufgeschreckten Huhns von sich. “Perversling!”, schimpfte sie, dieses Mal in gewohnter Tonlage. Im nĂ€chsten Moment hatte Henrik eine sitzen und ihm wurde klar, dass er jetzt zu weit gegangen war. Bald darauf tat es Nebula schon wieder leid. “Vergib mir!” Beide ließen peinlich berĂŒhrt voneinander ab und beschlossen vorerst zum weniger offensiven HĂ€ndchenhalten zurĂŒckzukehren.   Der Tag der Abfahrt rĂŒckte immer nĂ€her. Nebula weigerte sich, ihrem Vater lebewohl zu sagen, denn sie beabsichtigte diesmal zurĂŒckzukommen. Außerdem hasste sie Abschiede wie die Pest!  Die Gruppe musste nun aufbrechen. Das Ziel war der Hafen von Bonnamar, wo sie ein Schiff besteigen wĂŒrden. Henrik bestand jedoch darauf, einen Umweg zu machen. Neben ihm begleiteten Nebula noch Annemarie, Clay und Cerise. Der Tross bestand unter anderem aus Clays Pferd und einem Karren. Das GefĂ€hrt transportierte eine Fracht, welche Nebula besonders am Herzen lag. Es war Carolines Sarg. WĂ€hrend sie den Kontinent erkundeten, wollte die Prinzessin nach einem Weg suchen, ihre Freundin zu retten. Sie musste sie stets bei sich wissen. Nach etwa eineinhalb Wochen Reise erreichten sie den Ort, um den Henrik gebeten hatte: BĂ€renhag, seine Heimat. Der dichte Wald wirkte so friedlich. Doch Clay hob die Nase in die Luft. Irgendetwas war faul im Forst! “Was habt Ihr?”, fragte Cerise, als der JĂ€gersmann unverhofft stehen blieb. “Ich rieche Blut!”, antwortete Clay. Blut. Dieses Wort besaß die Macht auch den Rest der Gruppe zum anhalten zu bewegen. “I-Ist jemand verletzt?”, fragte Henrik besorgt. “Oje! Da mĂŒssen wir helfen!”, sprach Annemarie im gewohnt unschuldigen Gehabe. Die Aussicht das Gelernte einsetzen zu können, freute sie. “Kannst du riechen, wo es herkommt?”, erkundigte sich Nebula. “Es kommt von dort hinten.” Clay deutete auf eine Gruppe von BĂŒschen. “Lasst uns nachsehen!”, ermutigte Nebula. Cerise zog einen Dolch, Clay spannte den Bogen und Nebula beschwor eine ihrer Teufelswaffen. Dann betraten sie die BĂŒsche, wĂ€hrend die anderen zurĂŒck blieben. Auf dem Boden entdeckten sie nach wenigen Schritten eine Spur aus geronnenem Blut. “Ist das Menschenblut, Clay?”, fragte Cerise. Der Waidmann bemĂŒhte seinen inneren Wolf, nahm einen tiefen Atemzug und verneinte. Sie folgten weiter der blutigen Spur. Vor ihnen tat sich eine gewaltige Lache auf, in der der Kadaver eines BraunbĂ€ren lag. Sofort fiel ihnen auf, dass dem Tier etwas fehlte. “Der BĂ€r hat keinen Kopf!”, stellte Nebula fest. Cerise sah genauer hin. “Und die Tatzen fehlen auch!” “Vermutlich waren das Wilderer”, erklĂ€rte Clay. “Ich bring sie um!”, drohte Cerise. “Unschuldige Tiere quĂ€len.” “Davon habe ich gehört. BĂ€renjagd ist im FĂŒrstentum BĂ€renhag verboten”, verriet Nebula. “Viele Hochwohlgeborene hĂ€ngen sich gern TrophĂ€en an die Wand, um von ihrem Jagdgeschick zu prahlen. Dabei haben sie noch nie einen Bogen in die Hand genommen.” “Die bringe ich auch um!”, erweiterte Cerise den potentiellen Opferkreis. Plötzlich spitzte Clay die Ohren. Ein verstörtes Wimmern hallte aus einem der BĂŒsche. Als der JĂ€ger nĂ€her kam, raschelten die BlĂ€tter und aus dem Wimmern erwuchs ein Brummen. Clay hockte sich vor den Busch und sprach dem Wesen gut zu, welches sich in ihm versteckt hielt. “Wir tun dir nichts!” Vielleicht lag es an seinen Worten oder daran, dass auch in ihm ein Tier wohnte. Jedenfalls kam die Kreatur aus dem Busch heraus und zeigte sich. Es handelte sich um einen kleinen BĂ€ren. Ein Jungtier. Vermutlich gehörte der Kadaver, den sie just fanden, seiner Mutter. Vorsichtig entfernte sich Clay, indem er rĂŒckwĂ€rts ging. Der kleine BĂ€r trat an den Körper des Muttertieres heran und stupste ihn unentwegt mit der Nase an. “Es reicht! Ich bringe sie alle um!”, kommentierte Cerise. Der Anblick des verzweifelten Jungtieres war zu viel fĂŒr die sonst so taffe Auftragsmörderin. “Was machen wir mit dem Kleinen?”, fragte Nebula. Erwartungsvoll sahen die beiden Frauen den JĂ€ger an.   Henrik fand sich in der Gasse wieder, in der er einst gearbeitet hatte. Die anderen waren noch einmal kurz aus den BĂŒschen hervor gekommen und hatten ihn und Annemarie schon einmal vorausgeschickt. Danach waren sie wieder in ihnen verschwunden. Was sie dort trieben, behielten sie allerdings fĂŒr sich. Er hatte sich derweil um alles gekĂŒmmert. Dem Pferd suchte er in einen Stall, er fand einen sicheren Platz fĂŒr den Wagen mit Carolines Sarg und Annemarie brachte er schon mal in einem Gasthaus unter. Das MĂ€dchen war in letzter Zeit öfters allein. Das wĂŒrde schon funktionieren, da war er sich sicher. FĂŒr sich und die anderen mietete er ebenfalls Zimmer. Er nutzte seins, um sein GepĂ€ck einzuschließen, damit er nicht alles durch die Stadt schleppen musste. Nun stand er vor seiner ehemaligen Schmiede. Noch immer zierte ein Schild mit der Aufschrift ‘Zum glĂŒhende Hammer’ den Eingang. Der neue Besitzer schien den Namen nicht geĂ€ndert zu haben. Henrik beobachtete die MĂŒhen des kahlköpfigen Mannes in der braunen SchĂŒrze. Er hĂ€mmerte auf einem glĂŒhenden Eisen herum. Als er Henrik bemerkte, stellte er das HĂ€mmern ein und blickte ihn grimmig an, als wolle er sagen “Was starrst du mich an, Bengel?!” EingeschĂŒchtert wendete sich der Braunhaarige ab. Als sich der Schmied nicht mehr beobachtet fĂŒhlte, setzte er seine Arbeit fort. Henrik ging weiter. Er wollte dringend jemanden besuchen.   Cerise, Clay und Nebula saßen auf BaumstĂŒmpfen an einem massiven Tisch, als der JĂ€ger, dem sie den Vorfall gemeldet hatten, vor ihnen eine Karte ausbreitete. Im Zentrum der Zeichnung befand sich die Stadt BĂ€renhag, wie sie auf dem HĂŒgel ĂŒber das Land thronte. Umgeben wurde sie von WĂ€ldern. Mehrere Stellen wurden durch rote Kreuze markiert. Annemarie wĂŒrde bestimmt eine Schatzkarte vermuten, wĂ€re sie hier, doch die Markierungen birgten mit Sicherheit keine verborgenen ReichtĂŒmer. “Hier seht Ihr die Orte, an denen ich bereits tote BĂ€ren fand”, sprach der Waidmann. “Und dahinter steckt ein einzelner Wilderer?”, erkundigte sich Clay. “Ich habe nur ein Paar FußabdrĂŒcke gefunden.” “Aber wie kann ein Mann so viel wildern und dabei ungesehen bleiben?”, fragte Nebula. “Das kann ich Euch nicht beantworten. Bestimmt ist er mit dem Teufel im Bunde!” “Bei seinen Taten könnte man das bald glauben”, kommentierte Cerise. “Was wird mit dem kleinen BĂ€ren?”, erkundigte sich Nebula. “Ich kann Euch nicht versprechen, dass das Kleine durchkommt. In diesem Alter fressen sie zwar schon Fleisch, allerdings sĂ€ugt die BĂ€rin ihre Jungen bis zu eineinhalb Jahre. Ich kann es nur mit Fleisch fĂŒttern und beten, dass es ĂŒberlebt.” “Ihr kĂŒmmert Euch um den BĂ€ren und wir uns um den Wilderer.” “Wo sollen wir mit der Suche beginnen?”, fragte Clay. “Er wird seine Beute sicher nicht auf dem Marktplatz verĂ€ußern.” “Er vielleicht nicht, aber er könnte einen Mittelsmann einsetzen”, warf Cerise ein. “Ihr seid bestimmt nicht der einzige JĂ€ger, hab ich nicht recht?” Sie sah den Mann am anderen Ende des Tisches an. Ihr GegenĂŒber nickte. “Ihr meint, ein anderer JĂ€ger könnte sich durch den Verkauf von illegalen JagdtrophĂ€en etwas dazuverdienen?”, ĂŒberlegte Nebula. “Klar. Das funktioniert prinzipiell genauso wie GeldwĂ€sche.” “Und wie werden wir vorgehen?”, fragte Clay. “Wir nehmen jeden unter die Lupe, der JagdtrophĂ€en verkauft.” “Gut”, bestĂ€tigte Nebula. “Und sobald wir aus diesem Hehler herausbekommen haben, von wem er die Waren bezogen hat, suchen wir den Wilderer und-” “- bringen ihn um!”, viel die Rothaarige ins Wort. “Übergeben ihn der Stadtwache!” Cerise wirkte daraufhin fast wie ein Kind, dem man das Spielen untersagt hatte. Die drei verabredeten sich sogleich den Markt aufzusuchen.   🌱   Eigentlich wollte er nur einmal kurz ‘Hallo’ sagen, doch er wurde sofort dazu verdonnert, sich an den Tisch zu setzen. Nun wartete Henrik auf den berĂŒhmten Eintopf seiner Mutter. Derweil hatte sich sein Vater ihm gegenĂŒber gesetzt und versuchte ihn mit seinen strengen Blicken zu durchbohren. “Wie ist es dir ergangen, Sohn?”, fragte der Vater. “G-Gut!”, antwortete der Sohn verhalten. “Schön!” WĂ€hrend die mĂ€nnlichen Familienmitglieder karge Worte austauschten, stand die Mutter am Kessel, rĂŒhrend und summend. “Warst du schon bei der Schmiede, Sohn?” “J-Ja, Vater!” Der Mann sah dies als Einstiegspunkt, eine wahre Schimpftirade auf seinen Sohn niedergehen zu lassen. “Das du es nicht mal hinbekommen hast, sie zu verkaufen, ohne das ich helfen musste, beschĂ€mt mich! Wann wird aus dir endlich ein Mann?!” Henrik sah unterlegen auf die Tischplatte. “Schau mich an, wenn ich mit dir rede!” Sofort gehorchte der Sohn. “Du hattest kĂŒrzlich Geburtstag. Mit achtzehn Jahren solltest du keine Memme mehr sein! Was habe ich nur falsch gemacht?” Geburtstag? Stimmt! Das war ihm komplett entfallen. Henriks Kopf sank. Er hatte nicht nur seinen Geburtstag vergessen, sondern es auch versĂ€umt, ihn den anderen mitzuteilen. Kein Wunder, dass auch niemand sonst daran gedacht hatte! “Ich sagte, du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede!” Die stetig vorwurfsvollere Stimme seines Vaters ließ ihn erneut aufschrecken. “Hast du auf deinen Reisen ĂŒberhaupt irgend etwas erreicht, oder bist du nur zurĂŒckgekommen, um deine FĂŒĂŸe wieder unter meinen Tisch zu stellen?!” “I-Ich habe jetzt ein M-MĂ€dchen!”, polterte Henrik los, ohne nachzudenken. Ein lautes Platschen. Der Mutter war vor Schreck der Kochlöffel in den Kessel gefallen. Der Vater musste sich auch erst einmal sammeln. “D-Du hast ein MĂ€dchen?”, fragte er mit so viel Unglauben in der Stimme wie einhundert Ketzer. “J-Jawohl, V-Vater!” Derweil fischte die Köchin den Löffel mit hilfe eines weiteren aus dem Kessel heraus. “Das ist löblich! Ist sie denn hĂŒbsch?” “So hĂŒbsch wie eine Prinzessin”, prahlte der Braunhaarige. “Wirklich? Willst du sie mir nicht vorstellen?” “I-Ich...” Henrik wurde in diesem Moment klar, dass Nebula dem niemals zustimmen wĂŒrde. Sie wollte nie unnötiges Aufsehen erregen, wenn sie in einer Stadt war. Schließlich sollte sie niemand durch Zufall als Tochter des Königs erkennen. Sie wĂŒrde sicherlich fĂŒr einen Antrittsbesuch bei den Schwiegereltern in spee niemals zur VerfĂŒgung stehen. “Oder willst du mir einen BĂ€ren aufbinden?” “D-Das wĂŒrde ich niemals tun, V-Vater!” “In der Tat. Dazu fehlen dir die Eier!” “S-Sie ist eine Söldnerin. S-Sie hat bestimmt k-keine Zeit.” “Was, eine Frau die kĂ€mpft? Was fĂŒr ein Weib hast du dir denn da angelacht, Sohn?! Nun, vielleicht schafft sie, wo ich versagt habe, und macht einen Mann aus dir!” Henrik traute sich nicht, etwas gegen seinen Vaters zu erwidern. Plötzlich meldete sich die Mutter zu Wort, welche bisher geschwiegen und ihrem Gatten das Wort ĂŒberlassen hatte. “Heute abend kommt Finja zu Besuch”, sagte sie. “Vielleicht kannst du dein MĂ€dchen mitbringen?” “Das ist eine hervorragende Idee”, lobte der Vater. Henrik wusste, dass er nun ein Problem hatte. Wie könnte er Nebula dazu ĂŒberreden? Vielleicht sollte er gar nicht kommen. Aber die Chance, seine große Schwester wiederzusehen, wollte er sich auch nicht entgehen lassen.   Kaum das sie den Markt von BĂ€renhag betraten, wurden Nebula und die anderen auch schon von den KrĂ€mern umworben. Die Bedeutung von persönlichen Freiraum hatten sie noch immer nicht verstanden. Nebula blickte kurz ĂŒber den Marktplatz. Er war genauso ĂŒberfĂŒllt wie beim ersten Mal. Zusammen wĂŒrde es bestimmt sehr lange dauern, alles abzulaufen und zu ĂŒberprĂŒfen. “Wir sollten uns trennen”, schlug sie daraufhin vor. “Alles klar”, bestĂ€tigte Clay. “Ich nehme mir die SĂŒdseite vor.” “Dann steige ich auf das Dach und verschaffe mir einen Überblick”, kĂŒndigte Cerise an und war bald darauf auch schon verschwunden. FĂŒr Nebula blieb nur noch die Nordseite ĂŒbrig, also ging sie los. Nachdem sie sich eine Weile durch die Menschenmassen geschoben hatte, entdeckte sie einen Stand, an dem Felle und TrophĂ€en verkauft wurden. Sie nĂ€herte sich und warf vorsichtig einen Blick auf die ausgestellten Waren. Sie konnte jedoch keine Körperteile von BĂ€ren ausmachen. “Kann ich Euch behilflich sein?”, fragte der VerkĂ€ufer. “Ich bin auf der Suche nach TrophĂ€en von Raubtieren”, behauptete die unter ihrer Kutte verborgene Blondine. “Vielleicht könnt Ihr mir dabei behilflich sein.” Sie holte ihren prall gefĂŒllten Goldbeutel hervor. “Ihr seid ein Kenner.” Der VerkĂ€ufer sah sich mehrfach um. Dann bĂŒckte er sich, nur um sich mit dem prĂ€parierten Kopf eines BĂ€ren als Hehler erkennen zu geben. “Dieses schöne StĂŒck wurde mir heute Mittag erst geliefert. Nebula schmetterte den Sack auf die FlĂ€che des Marktstandes, sodass das Holz nachgab. “Wollt Ihr mir auch verraten, wer Euch beliefert hat?”, fragte sie mit Nachdruck. Dem Mann ging ein Licht auf. Er ließ das PrĂ€parat fallen und versuchte zu fliehen. Nebula steckte schnell den Beutel wieder ein und nahm die Verfolgung auf. “Hiergeblieben, du Mistkerl!” Gewaltsam Leute beiseite schubsend, bahnte sich der Hehler seinen Weg zur SĂŒdseite des Marktes. Er war ausgesprochen schnell und wendig und Nebula hatte ohne Einsatz von TeufelskrĂ€ften ihre Probleme, Schritt zu halten. WĂ€hrend der wilden Jagd viel ihre Kapuze herunter und die blonden Haare wehten im Wind. Gerade als sie glaubte ihn niemals einzuholen, entdeckte sie Clay. “Hey, Clay! Schnapp ihn dir!” Beinahe wĂ€re ihr entflĂ€ucht “Fass!”... Der Schwarzhaarige reagierte sofort und griff den FlĂŒchtenden an. Dieser wehrte sich jedoch, indem er von einem nahen Obststand die Schagen herunter riss und seinem Verfolger in den Weg schleuderte. Clay stolperte ĂŒber die Hindernisse und riss einen der Schaulustigen mit sich. Er rappelte sich anschließend wieder auf, aber der Hehler war schon zu weit weg. Als es gerade so aussah, als ob er entkommen wĂŒrde, ging er plötzlich, getroffen von einem unverhofften Schlag, zu Boden. Nebula und Clay sahen sich um. Als ihr Blick schließlich auf ein GebĂ€udedach viel, entdeckten sie Cerise, welche mit einem Dachziegel in der Hand posierte und frech grinste, als wolle sie sagen “Erwischt!”. Dann stieg sie vom Dach herunter. Die Drei versammelten sich um ihren VerdĂ€chtigen. “Ob der nochmal aufsteht
”, zweifelte Nebula.   Am Abend saß Henrik am reichlich gedeckten Esstisch und wartete. Es klopfte an der TĂŒr und seine Mutter ging, um sie zu öffnen. Eine junge Frau und ein nicht mehr ganz so junger Mann traten ein. Es handelte sich um seine große Schwester Finja und ihren Gatten Aksel. Die Mutter umarmte ihre Tochter. Henrik hielt nichts mehr auf seinen vier Buchstaben und auch er umarmte Finja. Wenig spĂ€ter saßen sie alle zusammen am Tisch und aßen. “Wie geht es dir, BrĂŒderchen?”, fragte die BrĂŒnette. “G-Gut!”, antwortete dieser und stopfte sich sogeil wieder den Löffel in den Mund. “Er hat jetzt ein MĂ€dchen”, verkĂŒndete die Mutter stolz. “Wirklich?”, freute sich Finja fĂŒr das kleine Geschwisterchen. “Du wirst erwachsen.” “Ich seh kein MĂ€dchen”, zweifelte Aksel. “S-Sie ist eine vielbeschĂ€ftigte Frau”, verteidigte sich Henrik. “NatĂŒrlich ist sie das
” WĂ€hrend sie weiter aßen, verblieb die Stimmung gedrĂŒckt. Henrik fragte sich, was diesen Tiefpunkt verursachte, als ihm auffiel, dass seine Schwester stets ihr linkes Auge mit ihrem dichten Haar bedeckte. “Was ist mit deinem Auge?”, fragte er daraufhin geradezu. “N-Nicht!”, blockte Finja ab. “Das geht Bengel wie dich nichts an!”, fauchte Aksel dazwischen. Henrik entschied sich dazu, lieber zu schweigen. Als Finja und Aksel gingen, brachte Henrik kurz darauf eine Ausrede hervor, um ebenfalls gehen zu können. Anstatt in den Gasthof einzukehren, wie er es behauptet hatte, folgte er seiner Schwester und ihrem Gemahl. Das fiel ihm nicht besonders schwer, denn er wusste genau wo sie lebten. Als sie in ihr Haus gegangen waren, schlich er sich an das Fenster und beobachtete das Geschehen. Kaum das die TĂŒr ins Schloss gefallen war, nĂ€herte sich Aksel seiner Frau an und bedrĂ€ngte sie. “Lass das!”, forderte ihn Finja auf. Doch der Mann mit dem kalten Blick lenkte nicht ein. Er schmiss sich noch offensiver an sie heran. Finja stemmte sich mit LeibeskrĂ€ften gegen ihn, doch sie war machtlos. “Nein!” WĂ€hrend sie sich gegen ihren Mann zur wehr setze, der nur eins von ihr wollen konnte, verrutschten ihre Haare und Henrik konnte deutlich die lilafarbene Augenhöhle erkennen. Aksel packte Finja, warf sie auf einen Tisch und begann ihr die Kleider vom Leib zu reißen. “Du bist mein Weib!”, schrie er. “Wenn ich es will, hast du die Beine breit zu machen!” Die verzweifelten Tritte seiner Frau mussten fĂŒr ihn nichts weiter als lĂ€stige MĂŒckenstiche sein. Er löste den GĂŒrtel und öffnete seine Hose. Dann packte er ihre Unterschenkel und riss sie gewaltsam auseinander. Henrik konnte nicht mehr lĂ€nger untĂ€tig dabei zusehen und eilte zur TĂŒr. Doch von Außen konnte er sie nicht öffnen. Er rĂŒttelte und rĂŒttelte, wĂ€hrend die Schreie seiner Schwester immer lauter wurden. Als er schon verzweifeln wollte, kam ihm eine der Unterrichtsstunden des Hofzauberers in den Sinn. Er ließ von dem Knauf ab, stellte sich in sicherem Abstand vor die TĂŒr und streckte seine Hand aus. Nun befreite er sich von allen störenden Gedanken - so schwer es ihm in dieser Situation auch fiel - und konzentrierte sich nur noch auf das Hindernis zwischen ihm und seiner Schwester. Der Knauf drehte sich allmĂ€hlich und endlich sprang die TĂŒr auf. Im nĂ€chsten Moment drang Henrik in das fremde Haus ein, zerrte Aksel von seiner Schwester herunter und verpasste dem gewalttĂ€tigen Kerl eine. “N-Nimm deine dreckigen H-HĂ€nde von meiner Schwester!”, schrie er. Aksel taumelte etwas benommen von dem Schlag. Sofort wandte sich Henrik seiner Schwester zu, deren Kleider vollkommen zerrissen waren. “Was hast du getan?!”, fragte sie Henrik entsetzt. Trotzdem ihr Ehemann sie offenkundig mishandelte, nahm sie ihn noch in Schutz. “Das hier ist allein mein Problem!” “Ist es nicht!”, wies der Bruder zurĂŒck. “D-Dazu hat er nicht das Recht!” Derweil rappelte sich Aksel wieder auf. “Hab ich nicht?!”, fragte er ungehalten. “Finja ist mein Weib. Sie hat mir zu gehorchen!” Dann setzte er seinen gewohnt kalten Blick auf. “Was dich angeht, du Bengel
 Du bist in mein Haus eingebrochen und hast mich geschlagen. DafĂŒr sollte man dich in Ketten legen! Aber ich habe eine viel bessere Idee. Wir werden das wie echte MĂ€nner klĂ€ren! Ich fordere dich zum Duell!” Es war durchaus ĂŒblich und gesellschaftlich akzeptiert bei gekrĂ€nktem Stolz ein Duell zur Wiedergutmachung zu verlangen. Doch unter diesen UmstĂ€nden war es blanker Hohn. ”Wir kĂ€mpfen morgen um zwölf auf dem Markt.”   🌱   Als der nĂ€chste Morgen anbrach, hatten Nebula und die anderen endlich die Informationen, welche sie benötigten. Der Hehler hatte gesungen wie ein Vögelchen. Sie begaben sich sofort in die WĂ€lder, wo Clay aufgrund seines Geruchssinns einen BĂ€ren vermutete. Es dauerte nicht lange, bis er einen Kothaufen und ein paar PfotenabdrĂŒcke fand. Diese Spuren bewiesen, dass sich tatsĂ€chlich ein solches Raubtier herumtrieb. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussicht auf fette Beute den Wilderer anlocken wĂŒrde, und er sich an dem BĂ€ren vergehen tĂ€t, war immens. Also legten sie sich in sicherem Abstand zu Meister Petz auf die Lauer und warteten darauf, den Kriminellen zu stellen. WĂ€hrend Clay und Nebula auf dem Boden verblieben, zog es Cerise in die Baumwipfel. Ein Platschen ertönte, als ob jemand ins Wasser getreten wĂ€re. Cerise sah sich um und entdeckte, dass eine schlammigen PfĂŒtze kurz ausgehöhlt wurde, wie von einem unsichtbaren Stiefel. Clay hatte das GerĂ€usch ebenfalls vernommen und Nebula das Signal zum Angriff gegeben. Gemeinsam umzingelten sie mit gezogenen Waffen die Stelle, an der sie die in den Schatten wandelnde Person vermuteten. Clay konnte ihn riechen und Nebula fĂŒhlte die Anwesenheit einer Teufelswaffe. Auch wenn sie beide niemanden sehen konnten, wussten sie genau, dass dort jemand war. Plötzlich spĂŒrte Nebula einen heftigen stoß und anschließend stechenden Schmerz im Bauch, der ihr die Knie weich werden ließ. Bevor es sie zu Boden zwang, entließ sie geistesgegenwĂ€rtig ihre Waffe und griff in die Luft. TatsĂ€chlich bekam sie etwas zu fassen, wodurch sich der Angreifer wĂ€hrend seiner feigen Flucht aus der Unsichtbarkeit heraus schĂ€lte, wie aus einem Mantel. In Nebulas rechter Hand materialisierte sich derweil ein schwarzer Umhang, welchen sie demonstrativ in die Höhe hielt, wĂ€hrend sie mit der linken ihren Bauch bedeckte. Clay zielte mit gespannten Bogen auf den Wilderer, welcher sich, verzweifelt ĂŒber den Verlust seiner Tarnkappe, mit erhobenem Messer den Weg freikĂ€mpfen wollte. Aber noch bevor Clay den Pfeil loslassen konnte, stĂŒrzte sich Cerise aus dem GeĂ€st auf sein Ziel und schlitzte dem Wilderer die Kehle auf. Als sie sich ihres Opfers entledigte und es, eine FontĂ€ne aus Blut hinter sich herziehend, zu Boden ging, steckte Clay den Pfeil zurĂŒck in den Köcher, sichtlich erleichtert, niemanden töten zu mĂŒssen. Beide widmeten ihre Aufmerksamkeit nun wieder der verwundeten Nebula, welche jedoch schon wieder auf beiden Beinen stand. Auf ihrer linken Hand befand sich zwar schwarzes Blut, doch die Wunde schien bereits wieder verheilt zu sein. “Was denn?”, beantwortete sie die besorgten Blicke der anderen. “Sowas bringt mich nicht um.” “Was ist das fĂŒr ein Ding?”, fragte Clay. Nebula sah den merkwĂŒrdigen Stoff in ihrer Hand an. Obwohl er unverdĂ€chtig in der leichten Brise tanzte, war es keinesfalls ein einfaches KleidungsstĂŒck. Sie ließ ihr Blut eine Resonanz mit dem Gegenstand eingehen und erkannte, das dies die Teufelswaffe war, welche sie zuvor gespĂŒrt hatte.   Ein schwarzer Urwald aus turmhohen BĂ€umen, deren StĂ€mme teilweise so dick waren, dass es zehn Mann benötigen wĂŒrde, sie zu umfassen, erhob sich aus der endlosen Ebene. Durch ihn streifte eine Bestie. Auf ihren vier samtigen Pranken schlich die katzenartige Kreatur durch das Dickicht und beĂ€ugte misstrauisch den kleinen See in der Mitte einer Lichtung. In ihm badete eine eine weibliche Gestalt mit langen weißen Haaren. Sie schien ganz unbeeindruckt von der Gefahr aus dem Blattwerk zu sein. Eine Tatsache, welche die Bestie sichtlich erregte. Langsam schritt die Frau aus dem See heraus und auf magische Weise bedeckte sich ihr blasser Körper mit einem roten Kleid. Verstört senkte die Bestie den Kopf und erhob unter drohendem Knurren einen Katzenbuckel. Jeden Schritt, den die Frau nach vorn tat, wich die Bestie einen zurĂŒck. “Du brauchst keine Angst zu haben, Nummer einhundertsieben”, versicherte die Frau. “Du machst dich bestimmt gut in meiner Sammlung.”   Alsbald zersetzte sich der Umhang zu einer schwarzen Masse und sickerte in ihren Körper hinein. Nachdem die Verschmelzung abgeschlossen war, kehrte Nebulas Augenfarbe zu ihrem gewohnten Blauton zurĂŒck. “Das ist Shadowsheath”, erklĂ€rte sie. “Er verleiht seinem TrĂ€ger tagsĂŒber die FĂ€higkeit, in die Schatten einzutauchen und unsichtbar zu werden.” “WĂ€re das nicht etwas fĂŒr Euch, Cerise?”, fragte Clay. “Was?!”, entrĂŒstete sich Rothaarige. “Ich habe solche billigen Hilfsmittel nicht nötig!” Vorsichtig trat Nebula an die Leiche des toten Mannes heran. “Musstet Ihr in gleich töten?”, fragte sie Cerise. “Ich halte meine Versprechen”, prallte die Rothaarige. Das sie es nur getan hatte, um Clay das Töten eines Menschen zu ersparen, durfte schließlich keiner wissen. “Und was machen wir jetzt mit dem da?” “Wir lassen ihn liegen und von den KrĂ€hen fressen.” “Das haben die nicht verdient!” “Wir sollten dem JĂ€ger berichten, dass wir den Wilderer gestellt haben”, erinnerte Clay. Die Frauen stimmten zu und gemeinsam berichteten sie von ihrem Erfolg.   Gegen Mittag begaben sich Nebula, Clay und Cerise auf die Suche nach Henrik. Als sie zuvor zurĂŒckkehren, hatte Annemarie ihnen berichtet, dass er am Abend zuvor sagte, zum Duell herausgefordert worden zu sein. Nebula machte sich große Sorgen. Und VorwĂŒrfe, da sie die ganze Nacht bei dem Hehler gewesen war und auf sein Erwachen gewartet hatte, anstatt Henrik diese Dummheit auszureden! Auf dem Marktplatz entdeckten sie eine große jubelnde Menschenansammlung. Gemeinsam drĂ€ngten sie sich zwischen den Schaulustigen hindurch und sahen ihren Begleiter inmitten eines improvisierten Ringes. Henrik stand Aksel mit gezogenem zitterndem Schwert gegenĂŒber. Der Gatte seiner Schwester richtete ebenfalls eine Waffe auf ihn. Diese zitterte allerdings nicht. So bedrohten sie sich nun schon eine ganze Weile, ohne das etwas passierte. Das Publikum forderte lautstark, das Zagen einzustellen, und endlich mit dem Kampf zu beginnen. Ein Duell auf Leben und Tod zwischen zwei erwachsenen MĂ€nnern war zwar durchaus konform mit geltendem Recht, doch ein solch drastischer Schritt wurde selten gemacht. Drum war jeder dieser KĂ€mpfe ein Ereignis. Es gab fĂŒr gewöhnlich auch einen Schiedsrichter, welcher die RechtmĂ€ĂŸigkeit des Sieges bezeugen sollte. Dieses Mal wurde darauf offenbar verzichtet. “Dieser Bengel hat mich vor meiner Frau beschĂ€mt!”, beschuldigte Aksel. “E-Er schlĂ€gt meine Sch-Schwester!”, verteidigte sich Henrik. Es gehörte ebenfalls dazu, die Missetaten des Kontrahenten anzuprangern. Der Braunhaarige sah in die Menschenmenge und entdeckte zu seiner Überraschung Nebula und die anderen. Der Anblick seiner Herzensdame erfĂŒllte ihn mit einer angenehmen WĂ€rme und verlieh ihm das GefĂŒhl, BĂ€ume ausreißen zu können. “An ihr v-vergangen hat er sich!”, setzte er anschließend fort. “Ein Weib hat zu gehorchen!”, tönte Aksel. Allein fĂŒr diese Aussage wĂ€re Nebula am Liebsten selbst in den Ring gesprungen, um dem Arschloch höchstpersönlich den Hals umzudrehen. “H-Halt dein Maul!” “Dann komme endlich ran auf einen Meter und stopfe es!” Eine Einladung, der Henrik nur allzu gern nachgekommen wĂ€re. Aber er konnte es sich nicht leisten, ĂŒbermĂŒtig zu werden. Vorsichtig begann er seinen Angriff. Aksel parierte und stieß seinen Gegner zurĂŒck. Henrik behielt das Gleichgewicht und wehrte den Gegenschlag ab. Die Kontrahenten traten auseinander und umkreisten sich. “Selbst Finja schlug hĂ€rter zu, als ich sie nahm!” “H-Halte endlich dein v-verkommenes Maul!” Aksel schien genau zu wissen, welche Knöpfe er drĂŒcken musste. Nun verlor Henrik doch die Fassung. Haltlos stĂŒrmte er auf den GewalttĂ€ter zu und prĂŒgelte wĂŒtend mit seinem Schwert auf ihn ein. Aksel wehrte jedoch alle Angriffe ab und trat Henrik lachend in den Magen, woraufhin dieser sein Schwert fallen ließ und rĂŒckwĂ€rts torkelte. “Was machst du denn da, du Idiot?!”, rief Nebula enttĂ€uscht aus der Menschenmenge. So hatte sie es ihm nicht beigebracht! Siegessicher kam Aksel nĂ€her. “Sei froh, dass ich deiner Schwester befohlen habe, zuhause zu bleiben”, stichelte er. “Ihr geflenne, wenn ich ihren nichtsnutzigen Bruder aufschlitze, will auch keiner hören!” “Der ist jetzt Mode!”, kommentierte Cerise. Diese Aussage regte Nebula zusĂ€tzlich auf. Sie konnte nicht mehr lĂ€nger ruhig bleiben und wollte eingreifen, nur um von Clay daran gehindert zu werden. “Lass mich!”, befahl sie ihm. “Ich muss Henrik helfen!” “Nein!”, verweigerte Clay. “Das ist sein Kampf.” “Aber er wird ihn umbringen...” Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war. So krank vor Sorge hatte sie sich selten gefĂŒhlt. “Vertraue Henrik zur Abwechslung ein bisschen!” “Na gut!” Zufrieden nahm Clay den Arm herunter. Aksel hob sein Schwert, um Henrik mit ihm zu erschlagen. Nebula schloss die Augen und faltete die HĂ€nde, als wolle sie beten. Henrik sah seine Waffe und streckte die Hand nach ihr aus. Doch er konnte sie nicht erreichen. War es das jetzt fĂŒr ihn? Nein, er wĂŒrde nicht so einfach aufgeben! Noch einmal konzentrierte er sich, wie in der Nacht zuvor. “Zeit aufwiedersehen zu sagen!” Im letzten Moment gehorchte Henriks Klinge seinem Willen und rutschte die wenigen Zentimeter zu seiner Hand ĂŒber den Boden, sodass er sie greifen und Aksel parieren konnte. Anschließend rollte er sich zur Seite und stand dabei wieder auf. “Wie hast du das gemacht?!” Aksel hatte genau gesehen, dass sich das Schwert von Geisterhand zu Henrik bewegt hatte. “Was fĂŒr ein mieser Trick war das?!” In den ZuschauerrĂ€ngen atmete Nebula erleichtert auf. Was hatte sie auch erwartet? Es war nicht das erste Mal, dass Henrik mit mehr GlĂŒck als Verstand dem Tod von der Schippe sprang. Sie konnte sich also getrost darauf beschrĂ€nken, ihn anzufeuern. Derweil ging der Kampf zwischen den Duellanten weiter. WĂ€hrend ihres Gerangel wechselten sie mehrfach die Richtung, als sie die Klingen kreuzten und die Funken sprĂŒhten. Mit lautem Klirren entschied sich der Kampf, als eines der Schwerter seinem TrĂ€ger im hohen Bogen entglitt und sich meterweit entfernt in den Boden eingrub. Triumphierend sah der Sieger auf den Besiegten herab. Henrik hatte gewonnen. Er bedrohte seinen wehrlosen Gegner mit ausgestreckter Waffe. “Schwörst du, meine Schwester fortan anstĂ€ndig zu b-behandeln?”, fragte er Aksel. Als dieser erst nicht reagierte, streckte Henrik das Schwert noch nĂ€her an dessen Hals heran. Scheinbar einsichtig, hob Aksel die HĂ€nde. “Ja, ich schwöre es!”, bestĂ€tigte er anschließend. “Aber bitte verschone mich!” “Sch-Schön! Dann betrachte dein Leben a-als verschont. Aber wenn du meiner Schwester nur ein Haar krĂŒmmst, b-bringe ich dich um!” Henriks Augen funkelten vor Selbstsicherheit, wie man es zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte. Er steckte sein Schwert an seinen Bund und begab sich zu seinen Freunden. Hinter ihm wollte jemand die Schmach seiner Niederlage jedoch nicht ertragen. “Dieser Bengel schreibt mir vor, wie ich mit meinem Weib umzuspringen habe!”, grĂ€mte der Besiegte, und zĂŒckte ein Messer. Aksel war außer sich vor Wut. Erst beschĂ€mte dieser Nichtsnutz ihn vor seiner Frau und nun vor versammelter Anwohnerschaft. Das sollte er bereuen! Er stĂŒrmte auf Henrik zu, mit der Absicht ihn hinterrĂŒcks zu erstechen. Die unzĂ€hligen Zeugen dieser ehrlosen Tat waren ihm egal. Nebula reagierte blitzschnell. “Runter!”, befahl sie. Ohne zu hinterfragen, gehorchte Henrik und warf sich flach auf dem Boden. Nebula stĂŒrmte nach vorn, ergriff Aksels Schwert, welches nicht weit von ihr im Boden steckte, und stieß es wie einen Wurfspeer seinem Besitzer entgehen. Ehe sich dieser versah, bohrte sich auch schon die Klinge seines eigenen Schwertes in den Brustkorb und trat, begleitet von einem Blutschwall, aus seinem RĂŒcken wieder aus. Die Wucht des Aufpralls riss Aksel sofort zu Boden. Entsetzt zuckte das Publikum zurĂŒck. Henrik blickte sich erschrocken um und konnte gerade noch mit ansehen, wie sein Gegner tot zusammenbrach. “Ehrloser Bastard!”, beschimpfte Nebula den Erschlagenen.   Dank der unzĂ€hligen Schaulustigen, welche Aksels ehrlosen Mordanschlag bezeugten, blieben Nebula die Konsequenzen ihres Eingriffs erspart. So konnte die Gruppe ihren Weg unbehelligt fortsetzen. Eine unangenehme Aufgabe blieb jedoch. Henrik musste seiner Schwester erklĂ€ren, warum ihr Mann nicht mehr wiederkommen wĂŒrde. Obwohl er sie stets wie Dreck behandelte, schlug und missbrauchte, wann immer ihm danach war, brach Finja dennoch in TrĂ€nen aus. Sie fiel vor ihrem Bruder auf die Knie und umklammerte ihn. Kein Wort verließ ihre Lippen. Sie weinte einfach nur. Und fĂŒr eine lange Zeit tat sie nichts anderes. “Wie konntest du nur?!”, warf sie Henrik schlussendlich vor und begann kraftlos auf ihn einzuschlagen. “Wie konntest du mir das nur antun?!” Trotz allem schien sie Aksel dennoch geliebt zu haben. Henrik konnte das nicht verstehen, aber ihm wurde klar, in welche Lage er seine Schwester gebracht hatte. Auch wenn er ihn nicht getötet hatte und es auch niemals getan hĂ€tte, klebte sein Blut an seinen HĂ€nden. Nur weil er sich schon wieder retten lassen musste, fand Aksel durch Nebulas Eingreifen den Tod. Und ohne ihren Mann, der die Brötchen verdiente, wĂŒrde seine Schwester bald dazu gezwungen sein, schmutzige Arrangements einzugehen, um an Geld zu kommen. Aksel leistete sich zwar ein Schwert, ein reicher Mann war er aber nie gewesen. Henrik hatte die Ehre seiner Schwester nicht verteidigt, damit sie sie jetzt auf der Straße beschmutzen musste, nur weil sie ohne Einnahmen dastand. Darum ĂŒberzeugte er Nebula, Finja einen Teil der Reisekasse zu ĂŒbergeben. Seine Schwester nahm es, ohne sich zu bedanken. Sie sah Henrik an, wie den Mörder ihres Ehemanns. FĂŒr sie trug er die Schuld an Aksels Tod. Er hĂ€tte diesem Duell niemals zustimmen dĂŒrfen! Das Gold, welches er seiner Schwester gab, wĂŒrde es nicht ungeschehen machen, ihr aber gewiss helfen, eine Weile ĂŒber die Runden zu kommen. Henrik hoffte, sie wĂŒrde es eines Tages verstehen und ihm vielleicht verzeihen. Mit einem beklemmenden Druck in seiner Brust, machte sich Henrik zusammen mit den anderen auf den Weg. Von seinen Eltern verabschiedete er sich gar nicht erst. Ihm stand nicht der Sinn danach, sich auch von ihnen VorwĂŒrfe anhören zu mĂŒssen.   Mit Pferd, Wagen und Sarg durchquerten sie das Stadttor, als sie von einem der TorwĂ€chter angehalten wurden. Wollte man sie doch noch belangen? Henrik erkannte den Mann sofort. Es war der gleiche, welcher ihn an jenem Tag schon aufgehalten hatte, als er Nebula in den Wald folgte. Der WĂ€chter beĂ€ugte den jungen Mann. “Du!”, wunderte er sich. “Dich kenne ich doch! Sag, hast du dein MĂ€dchen bekommen?” Henrik war ĂŒberrascht, dass sich der Mann noch immer daran erinnerte. Seitdem er BĂ€renhag verließ, mussten unzĂ€hlige andere hier vorbeigekommen sein. Plötzlich sprang die zuvor mit Annemarie auf dem Wagen sitzende Nebula herunter und riss sich die Kapuze vom Kopf. “Ja, das hat er!”, verkĂŒndete sie und trat an Henrik heran, nur um ihn vor aller Augen leidenschaftlich zu kĂŒssen. Es war ihr gerade völlig egal, vielleicht erkannt zu werden. “Und heute hat er mich stolz gemacht!”, fĂŒgte sie anschließend an. Henrik war in diesem Moment so unfassbar glĂŒcklich, dass sie öffentlich zu ihm stand, er hĂ€tte die Ereignisse von heute Mittag um ein Haar vergessen und zufrieden sterben können. Er fand keine Worte, um seine GefĂŒhle zu beschreiben. Die ZĂŒgel haltend, bewunderte Clay noch immer sein erfolgreiches Kupplerhandwerk, wĂ€hrend Cerise sich schon gelangweilt fragte, wann die zwei es endlich hinter sich bringen und ĂŒbereinander herfallen wĂŒrden. Nachdem der Wachmann sie durchgewunken hatte, konnten sie ihre Reise nach Bonnamar, zur grĂ¶ĂŸten Hafenstadt von Morgenstern, fortsetzen. “Übrigens”, sagte Henrik auf einmal ganz unverfroren, nachdem sie schon eine Weile unterwegs waren. “Ich hatte kĂŒrzlich Geburtstag.” Nebulas entsetzt langgezogenes “Was?!!” war kilometerweit zu hören Kapitel 15: Abschied von Morgenstern ------------------------------------ 🌱   SpĂ€t am Abend kehrte Lenhardt in der Taverne ‘Zum goldenen Trinkhorn’ ein. Dieses Etablissement kam seinem Stammlokal gleich, tĂ€te man heutige MaßstĂ€be anlegen. Nach drei Monate anstrengender Verwaltungsarbeit im Strafdienst seines Vaters hatte er endlich wieder etwas Zeit, um sich zu vergnĂŒgen. Dazu verabredete er sich mit seinen drei besten Freunden Glenn, German und Vilkas auf ein Bier. Oder vielleicht eher zehn. Das wĂ€re zumindest nicht das erste Mal, dass er derart ĂŒber die StrĂ€nge schlug. Dieses Mal wollte er sich jedoch beherrschen. Drei Monate ohne Spaß waren ihm Strafe genug! Das brauchte er nicht noch ein zweites Mal. Und sein Vater, der FĂŒrst, wĂŒrde sich sein Lotterleben sicher nicht lĂ€nger bieten lassen. Immerhin war er sein einziger Erbe. Kaum das er den TĂŒrrahmen durchschritt, erspĂ€hte Lenhardt bereits die anderen, wie sie sich um einen großen runden Tisch versammelt hatten. Auf der Platte befanden sich bereits mehrere KrĂŒge. Offenbar hatten sie die Frechheit besessen, schon einmal ohne ihn vorzuglĂŒhen! Das konnte er sich nicht bieten lassen! Zur Strafe wĂŒrde er sie heute Nacht alle unter den Tisch saufen. Einem nach dem anderen! “Ey, nu gucke ma da!”, begrĂŒĂŸte ihn German freudig und sprang dabei geradezu von seinem Hocker auf. “Ham se Euch och ma wieda rausgelasn?” Er war etwas roh behauen, aber eigentlich eine treue Seele. Mit etwa sechsundzwanzig noch sehr jung fĂŒr den Zunftmeister der Wagenbauer. “Ihr lasst es verlauten, als kĂ€me ich frisch aus dem Zuchthaus, German!”, erwiderte der FĂŒrstensohn. “Dre Monade ken Bier und kene Weiber! Und dann noch orbeiten. Das is doch Knast!” Unterdessen war Lenhardt schon an den Tisch herangetreten und machte es sich auf dem ĂŒbrig gebliebenen freien Hocker bequem. “Wo Ihr Recht habt, habt Ihr Recht, mein Freund.” “Was hat seine MajestĂ€t Euch tun lassen?”, fragte Vilkas interessiert. Sein Metier war das als schmutzig verrufene GeschĂ€ft des ZuhĂ€lters. Seine MĂ€dchen erfreuten Reisende aus ganz Morgenstern mit ihren Reizen. “Ich musste Zollbescheide durchsehen.” Lenhardt mĂŒsste bei dem Gedanken daran schon genervt stöhnen. “Vor allem jene zum benachbarten FĂŒrstentum BĂ€renhag.” “Ihr Armer.” “Hey”, meldete sich Glenn zu Wort. “Warum besorgt Ihr unserem geschundenen Freund nicht etwas Beischlaf, Vilkas?” Glenn ging keiner Arbeit nach. Er war einfach nur der Sohn des grĂ¶ĂŸten VerpĂ€chters von LagerhĂ€usern in ganz GĂŒldenburg. Solch altkluges Gerede war ganz typisch fĂŒr ihn. “Lasst mal gut sein. Ich will meinen Vater nicht erzĂŒrnen.” Daraufhin hob er den Arm zum Bestellen. “Lasst mich euch stattdessen bestrafen, da Ihr euch erdreistet habt, ohne mich mit dem Saufen zu beginnen.”   Mit dem Verstreichen der Stunden wurde nicht nur der Abend zur Nacht, sondern aus heiterem Trinken ein Gelage. Lenhardt brach das Wort, welches er seinem Vater gab, und trank ohne Unterlass, bis es ihm vom Hocker riss. Unsanft weckte ihn ein kalter Schwall Wasser aus dem Wischeimer des Tavernenbesitzers. “Aufstehen!”, tönte die sonore Stimme des Ă€lteren Mannes. Schlaftrunken schreckte Lenhardt auf. “Hier unten wird gesoffen und nicht gepennt! Wenn Ihr voll seid, mietet ein Zimmer!” “Mir brummt der SchĂ€del!”, gab der Betrunkene von sich. Das GelĂ€chter seiner Freunde, welche um ihn herum standen, machte es nicht besser. “Uns alle undern Disch saufn?! Das ich nich lache!”, spottete German. “Vielleicht beim nĂ€chsten mal”, tönte Vilkas. “Euer Vater hat ganze Arbeit geleistet, Lenhardt”, meinte Glen. “Ihr vertragt ja ĂŒberhaupt nichts mehr!” Vorsichtig richtete sich Lenhardt wieder auf. Nachdem der erste unter dem Tisch lag, meinten die Freunde, dass es genug fĂŒr einen Abend war und beschlossen nach Hause zu gehen. Gemeinsam verließen sie die Taverne und machten sich auf den Weg. Nach der ersten Kreuzung wurden sie auf einmal von einer Gruppe von Frauen umschwĂ€rmt. “Hallo ihr sĂŒĂŸen”, sprach eine. “Sind das Eure MĂ€dchen?”, fragte Glenn. “Überraschung!”, antwortete Vilkas. “Ihr seid en Deufelskerl!”, lobte German. Nur in Lenhardts Kopf drehte es sich so sehr, dass ihn die leichten MĂ€dchen zuerst gar störten, als dass er das Geschenk seines Freundes zu schĂ€tzen wissen konnte. “Ich habe gedacht, unser Freund hat so lange keinen Spaß mehr gehabt, dann schenke ich ihm etwas.” WĂ€hrend Vilkas’ Worten schmiegte sich eine der Huren an ihn. “Allerdings ist es unfair, wenn nur er auf seine Kosten kommt. Also habe ich uns allen eine mitgebracht.” “Was ist denn?”, wurde Lenhardt von einer der anderen Prostituierten gefragt. “Findest du mich nicht hĂŒbsch?” Erst jetzt sah er sie sich genauer an. Sie war sehr dĂŒnn, schien aber trotzdem eine attraktive Form unter ihren GewĂ€ndern zu verstecken. Dann bemerkte er ihre ausgefallene Haarfarbe und fragte sich, ob der Gerstensaft es ihn halluzinieren ließ oder ob ihre Haartracht tatsĂ€chlich diesen Ton aufwies. “Bin ich besoffen, oder sind die Haare von dieser hier wirklich blau?”, fragte er seinen Freund. “Ihr seid besoffen, mein Freund”, antwortete Vilkas. “Aber auch mit ihren Haaren habt Ihr Recht. Sie ist mein neuester Zugang. Kommt aus den Fluoreszierenden WĂ€ldern. Dort haben sie die seltsamsten Haarfarben. Muss irgendwas im Wasser sein. Mensch oder Elf, die sehen dort alle so komisch aus.” Dann musste er grinsen. “Seit wann achtet Ihr auf die Haare einer Frau? Zieht es Euch nicht fĂŒr gewöhnlich sofort zur Brust?” “Ach haltet doch Euer Maul!”   Die Freunde waren in Begleitung der Huren in einem von Vilkas’ Bordellen abgestiegen und wollten die Gesellschaft genießen. Ehe sich Lenhardt versah, war er auch schon mit der Blauhaarigen allein. Das seine Wahl auf sie fallen wĂŒrde, ĂŒberraschte niemanden. Immerhin mochte er exotische Frauen. Seine letzte Geliebte war eine kaffeefarbene TĂ€nzerin aus Yjasul und man erzĂ€hlte sich, er solle es sogar schon mit einer Barbarin gehabt haben. Als sie gemeinsam in das Zimmer eintraten, schloss die Prostituierte die TĂŒr hinter ihnen ab und begann sogleich ihr Tagewerk zu verrichten und ihn zu verfĂŒhren. Die dreimonatige Abstinenz vom weiblichen Geschlecht, welche ihm der Vater auferlegte, hatten ihn völlig ausgehungert. Nach anfĂ€nglichem zögern, ob er es wirklich tun und den Willen seines alten Herren missachten sollte, konnte er sich nicht mehr lĂ€nger zurĂŒckhalten und begann sein GegenĂŒber auf die bereits freigelegten Körperpartien zu kĂŒssen. Dabei arbeitete er sich langsam vom rechten SchlĂŒsselbein abwĂ€rts. Die Hure legte ihre HĂ€nde in Lenhardts Nacken und presste seinen Kopf an ihre Brust und manövrierte sie beide zum Bett. Im nĂ€chsten Moment fand sich der BlaublĂŒter in der Horizontalen wieder, mit der Blauhaarigen auf ihm sitzend. In quĂ€lte sein Verlangen, sie sofort zu nehmen, doch sie gehörte anscheinend nicht zu der Sorte, welche nach Minuten abrechnete. Stattdessen nahm sie sich die Zeit, ihn zuerst mit einem Vorspiel zu erfreuen.  Lenhardt war dem nicht abgeneigt. Er hielt wenig von billigen Straßenschlampen, welche sich in schmutzigen Ecken bespringen ließen, wie Köter von Flöhen. Wenn er eine Liebesdame aufsuchte, sollte sie schon Klasse haben! Die Prostituierte beugte sich herunter, um Lenhardt einen Kuss zu geben. Ihr Freier erkannte ihre Absicht und kam ihr zuvor. Alsbald sich die Lippen trafen, verspĂŒrte er eine merkwĂŒrdige Taubheit, ignorierte es jedoch. Doch schon nach wenigen Momenten erfasste seinen ganzen Körper eine LĂ€hmung und er verlor die Kraft sich aufrecht zu halten. Er kippte nach hinten und die Hure ließ ihn zurĂŒck auf das Laken fallen, wie einen Stein in einen Brunnen. Er wollte sprechen. Nein, er wollte schreien! Doch es ging nicht. Sein Mund, seine Kehle, seine StimmbĂ€nder, alle versagten ihm den Dienst. Die Blauhaarige erhob sich von seinem Schoß und bekleidete sich wieder. “Falls Ihr Euch wundert, was mit Euch ist”, sprach sie, “wisst, dass Ihr vergiftet worden seid.” In aller Seelenruhe kehrte sie ihm den RĂŒcken, denn sie wusste, er stellte keine Bedrohung mehr fĂŒr sie da. Mit einem Lappen putzte sie sich die giftige Farbe von den Lippen. Dann wandte sie sich noch einmal ihrem Opfer zu. “Falls Ihr Euch fragt, warum, so seid beruhigt. Keiner Eurer Freunde hat Euch hintergangen. Es ist nichts persönliches. Einzig eine Lektion fĂŒr Euren verehrten Herrn Vater.” Nach diesen Worten öffnete die gedungene Mörderin das Fenster und entschwand in die Finsternis. Derweil fĂŒhlte Lenhardt sein Bewusstsein dahinschwinden. Sein Schicksal sollte erst am nĂ€chsten Morgen seinen nichts ahnenden Freunden den Schreck ihres Lebens bescheren.   Über die DĂ€cher springend, verließ derweil die geheimnisvolle Fremde den Schauplatz des Verbrechens und anschließend die Stadt. Sie streifte durch die Nacht und nur der Mond war ihr Geleit, bis sie einen abgelegenen Platz erreichte, an dem sie Tags zuvor ein Zelt errichtete, um nun hier Zuflucht zu finden. Plötzlich erfĂŒllte ein lautes KrĂ€chzen die Dunkelheit. Die Frau mit den blauen Haaren sah nach oben und entdeckte einen pechschwarzen Raben mit drei rot glĂŒhenden Augen, welcher langsam zu ihr herab segelte. Sie bot ihm den linken Arm dar und die Kreatur setzte zur Landung an. Um den Hals des Vogels war ein Band gewickelt, an welchem ein zylinderförmiges BehĂ€ltnis angebracht war. Sogleich öffnete die Frau das BehĂ€ltnis und entnahm eine Nachricht. “Livia, Medea sandte mir eine Vision. Seit geraumer Zeit wird deine Schwester vermisst. Die quĂ€lende Ungewissheit macht unsere Mutter krank vor Sorge. Ich, die Matriarchin, befehle dir aus diesem Grund, im Namen unserer Mutter nach dem verlorenen Kind zu suchen und es Heim zu bringen. Um dir diese Aufgabe zu erleichtern, habe ich die letzten bekannten Informationen zu ihrem Verbleib zusammen getragen. Mögest du unsere Mutter mit Stolz erfĂŒllen, die Matriarchin.” Sogleich nachdem das Schreiben in Rauch aufgegangen war, verfasste Livia ihre Antwort und schickte sie mit der dĂŒsteren Brieftaube auf Reisen.   🌱   Der langgezogene Ton des Horns kĂŒndigte den Fischkutter an, dessen schmale Form schon bald wie ein Speer durch den dichten KĂŒstennebel stieß. Geisterhaft war zuerst nur der Schatten zu sehn, als das kleine Schiff aus der trĂŒben Suppe auftauchte. Auch wenn man ihn nicht sehen konnte, so verriet der Ozean, welcher sich hinter der weißen Wand versteckt hielt, seine PrĂ€senz durch den Geruch nach Salz und angespĂŒlten modrigen Seetang. Je weiter man sich jedoch vom Pier entfernte und hinein in die Stadt ging, desto klarer wurde die Sicht. Die Sonne hatte sich hinter grauen Wolken verkrochen und weigerte sich auf die Erdbewohner herab zu lĂ€cheln, weshalb sie den Morgendunst, welcher ĂŒber dem Meer entstand, selbst nachmittags noch nicht aufgelöst hatte. An jenem trĂŒbseligen Tag erreichten Nebula und ihre Begleiter die Hafenstadt Bonamar. MĂŒde und erschöpft von der weiten Reise sehnte sich Nebula bereits nach einem gemĂŒtlichen Bett. Doch zuvor mussten sie die Einzelheiten der Überfahrt nach Eldora mit dem KapitĂ€n der Esmeralda klĂ€ren, welcher sie schon erwarten musste. Bald schon wurde die Luft gefĂŒhlt dicht wie Haferschleim und Nebula sah ihren Namensvetter die Formen der im Hafen liegenden Schiffe verschlingen. Zu ihrem GlĂŒck wusste sie genau, wo ihr Schiff vor Anker gehen sollte und konnte die anderen fĂŒhren. WĂ€hrend sie durch die Straßen von Bonamar gingen, schaute sich Annemarie um, die wieder auf dem Wagen neben dem Sarg saß. Sie entdeckte inmitten des Dunsts zwei bemitleidenswerte Gestalten, welche in einer Ecke an einer Hauswand vor sich hin vegetieren. “Was ist denn mit denen los?”, fragte das MĂ€dchen interessiert. Clay beĂ€ugte die Fremden kritisch und setzte seinen Geruchssinn ein. Er erschrak fast, ĂŒber deren entsetzlichen Gestank. Die MĂ€nner hatten sich mindestens einen Monat lang nicht gewaschen und rochen nach Urin und Erbrochenen. “Ich weiß es nicht, aber sie riechen wie Iltisse!” Doch sollte er die armen Tiere derart beleidigen? “A-Aber wer liegt denn mitten am Tag einfach so in e-einer Gasse herum?”, grĂŒbelte Henrik wĂ€hrend er sie ebenfalls nicht aus den Augen ließ. “Beachtet die einfach nicht!”, riet Cerise. “Die haben mit sich selbst zu tun.” “Was meint Ihr damit?”, wollte Nebula in Erfahrung bringen. “Es gibt Dinge auf den Straßen, die wollt Ihr nicht wissen, Prinzesschen.” Cerises provokante Nutzung dieses ungeliebten Kosenamen ließ Mordlust in Nebula aufsteigen. Doch sie entschied sich das Halbblut vorerst nicht zu erdolchen und ein wenig weiterleben zu lassen. Sie konnte immerhin noch nĂŒtzlich sein. Dann sah Nebula sich weiter um und entdeckte immer mehr erbĂ€rmliche Gestalten in den Straßen, welche ihr zuvor nicht aufgefallen waren. Als ob das, was sie nicht wahrhaben wollte, nicht existierte. Wieso fristeten so viele Menschen in Bonamar ihr Leben auf der Straße? Mit voller Mannschaft, Pferd und Wagen erreichten sie den Dreimaster, welcher sich nur allmĂ€hlich vor ihren Augen aus dem Dunst hervortat, wie ein Geheimnis, das um jeden Preis gewahrt werden musste. Eine Holzrampe ermöglichte nicht nur den Einstieg fĂŒr die Passagiere sondern auch das Beladen des Frachttransporters mit HĂ€ngern, Wagen oder sogar kleineren Kutschen. Direkt vor dem mittleren Mast befand sich ein mit eisernen Gittern verschlossener Zugang in den Bauch des Schiffes, groß genug, um Wagen samt Pferd den Durchgang zu ermöglichen. Doch bevor sie das Schiff betreten konnten, stellten sich ihnen Soldaten in den Weg. Nebulas Blick viel auf den KapitĂ€n der Esmeralda, welcher nicht weit stand und ebenfalls von den MĂ€nnern umringt von der Arbeit abgehalten wurde. “Was ist hier los?”, fragte sie den Mann. Mehr als ein Achselzucken brachte der alte SeebĂ€r nicht zustande. “Der Hafen ist abgeriegelt”, verkĂŒndete eine Stimme aus der weißen Wand, deren Besitzer erst allmĂ€hlich sichtbar wurde, als er sich auf die Gruppe zubewegte. “Schiffsreisen sind bis aufs weitere ausgesetzt!” “Warum?!”, echauffierte sich die Blondine. “Wer hat das entschieden?” “Ich. Als Kommandant der Wache war es meine Ermessensentscheidung!” “Wir haben das königliche Siegel. FĂŒr uns gilt dies bestimmt nicht!” “Und was will der König tun? Der sitzt seinen fetten Arsch in Ewigkeit breit und weiß nicht einmal, was hier los ist!” “Was erlaubt Ihr Euch in diesem Ton ĂŒber den König zu sprechen?!” Der Kommandant ging nicht darauf ein. “W-Was ist hier geschehen?”, erkundigte sich Henrik. “Hat das mit den Leuten zu tun, die auf der Straße liegen?”, platzte Annemarie drauf los. “Die sind auch nicht zu ĂŒbersehen”, kommentierte Cerise. “Tut nicht so, als ob Ihr von unseren Sorgen wĂŒsstet!”, pustete der Kommandant. “Ich muss nicht so tun.” “Vielleicht wollt Ihr uns aufklĂ€ren”, schlug Clay vor. “Feenstaub.” “W-Was?”, wunderte sich Henrik. “Och, echt jetzt?!”, quietschte Annemarie vor kindlicher naiver EntzĂŒckung. “Das ist eine Droge, die Dich nach einem Schuss schon erbarmungslos ruiniert”, begann der Mann aus dem Nebel zu erklĂ€ren, als er die Freudenrufe des Kindes hörte. “Du wirst an nichts anderes denken können. Der ganze Tag wird sich darum drehen mehr Stoff zu beschaffen, bis Du eines Tages zu viel nimmst und jĂ€mmerlich in der Gosse verreckst.” Ängstlich drĂŒckte Annemarie ihr MĂ€rchenbuch ganz fest an sich, als ob es die Macht hĂ€tte, sie vor den bösen Worten des Mannes zu bewahren. Nachdem er die Wirkung seiner ausfĂŒhrlichen Schilderung kurz bewundern konnte, fĂŒgte er noch einen weiteren Satz an. “Du willst diesem Feenstaub ganz bestimmt nicht zu nahe kommen, MĂ€dchen!” “Ihr habt ein Drogenproblem?!”, hinterfragte Nebula vorwurfsvoll. “Wir werden der Lage nicht mehr Herr. Hilfe von Hofe erwarte ich nicht, denn der Lord hat auch schon aufgegeben. Ich und meine MĂ€nner können nicht ĂŒberall sein. Darum haben wir den Hafen abgeriegelt. Ich vermute, dass diese Droge vom Kontinent kommt.” “Ich und meine Leute könnten sich der Sache annehmen”, bot Nebula an. “Ihr und Euer Haufen? Ein MĂ€dchen, ein Junge, ein Halbblut und ein Muskelberg?” “Hey!”, schritt Cerise ein. “Nichts gegen seine Muskeln!” “Ihr wollt schaffen, was fĂŒnfhundert Mann nicht gelungen ist?” “Ich liebe Herausforderungen!” Nebula blickte ihn voller Überzeugung an. “Werdet Ihr den Hafen öffnen, sobald wir die Quelle der Drogen gefunden haben?” Der große Mann fĂŒhlte sich von der schmĂ€chtigen Frau seltsam klein. “W-Wenn Ihr das tatsĂ€chlich schafft, soll es nicht Euer Schaden sein.” Ehe sie sich versah, hatte die Söldnerin bereits einen neuen Auftrag.   Eine halbe Ewigkeit versuchte ein mittelalter Bauer schon seinen Wagen aus dem Schlamm zu ziehen. “Verfluchtes Drecksteil!”, schimpfte er. Nichts ahnend war er diesen Weg entlang gefahren. Doch was erst aussah wie eine kleine PfĂŒtze, entpuppte sich als riesiges mit Wasser gefĂŒlltes Schlagloch. Der Bauer kam sich vor wie ein Kaninchen in der Hasenfalle. Das Rad wollte sich einfach nicht lösen. Als er kurz davor war, seine Beherrschung endgĂŒltig zu verlieren und gegen die Karre zu treten, kreuzte eine verhĂŒllte Gestalt seinen Weg. “Kann ich Euch behilflich sein?”, fragte die fremde Person, als sie stehen blieb. Sie besaß eine kreideweiche glockenklare Stimme, sodass der Bauer davon ausging, mit einer Frau zu sprechen. Sie fĂŒhrte einen massiven Stab mit sich, welcher vermutlich zur Selbstverteidigung gedacht war. Unter der Kapuze blitzte eine blĂ€uliche HaarstrĂ€hne hervor. “Ich stecke fest, verfluchte Scheiße!”, schimpfte der Mann weiter. “Wollt Ihr meine Hilfe nun oder nicht?” “Ja, kommt schon her!” Die Fremde ging zum Karren hin und zerrte einen der SĂ€cke herunter. “Hey, was macht Ihr mit dem Saatgut fĂŒr nĂ€chstes FrĂŒhjahr?!” Unbeeindruckt platzierte sie den prall gefĂŒllten Sack am Ende des Wagens. Anschließend fĂŒhrte sie ihren Stab unter das GefĂ€hrt und nutzte die Hebelwirkung mit dem Saatgut als Angelpunkt, um den Wagen anzuheben. Endlich verstand der Mann und gab seinem Pferd einen Klaps, sodass es sich ein paar Schritte bewegte. Im nĂ€chsten Moment war er aus seiner misslichen Lage befreit. “Habt vielen Dank! Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?” “Nicht dafĂŒr”, antwortete die ihm unbekannte Person und wandte sich ab, um zu gehen. “Wobei
”, sagte sie, als sie abrupt stehen blieb. “Hat zufĂ€llig eine Gruppe junge Leute Euren Weg gekreuzt, guter Mann?” Der Bauer grĂŒbelte. “Hm
 na ja
” Dann ging ihm ein Licht auf. Durch den Ärger mit dem Wagen, wĂ€re es ihm beinahe entfallen. Ein paar Stunden zuvor traf er ein paar Leute, welche auf die Beschreibung passten. ”Ja! In der Tat!” “Wo sind sie hingegangen?” “Immer der Straße nach.” Er deutete auf die in der Ferne erkennbaren Stadtmauern. “Sie meinten, sie wollten nach Bonamar.” “Vielen Dank, Ihr habt mir sehr geholfen.” Die Fremde setzte ihren Weg fort. Der Bauer sah ihr noch einen Moment nach, bis er sich seiner eigenen Verpflichtungen besinnte, den Sack zurĂŒck auf den Wagen hievte und anschließend weiter fuhr.   Ein rhythmisch quietschendes GerĂ€usch aus dem Zimmer ĂŒber ihr stahl Nebula den Schlaf. Ein HĂ€mmern, welches bis tief in ihre TrĂ€ume eindrang. Sie hĂ€tte Henrik nicht das Mieten der RĂ€ume im Gasthaus ĂŒberlassen, sondern es selbst machen sollen. Dann wĂ€re sie jetzt nicht diesem Krach ausgesetzt. Wie konnte er die Zwei nur ĂŒber ihr einmieten?! Verzweifelt versuchte sie ihre Ohren mit dem Kissen zu stopfen, was jedoch keinen Erfolg hatte. Als zusĂ€tzlich Staub aus den Ritzen der Holzverkleidung an der Decke auf sie herab rieselte und das Stöhnen immer lauter wurde, war fĂŒr sie die Grenze endgĂŒltig ĂŒberschritten. Ein Blick zur Seite offenbarte ihr, dass Annemarie wieder einmal tief und fest schlief. Wie macht sie das nur, grĂŒbelte die Blondine. Im Raum darĂŒber brannte noch immer Licht. Clay stellte seine MĂ€nnlichkeit unter Beweis, indem er Cerise seine immense Stoßkraft spĂŒren ließ. Dabei suchte er halt am Bettpfosten wĂ€hrend sie ihre Beine ĂŒber seine Schultern legte. WĂ€hrend sich die Ladung in ihren Körpern aufstaute und sie dem Punkt ohne Wiederkehr immer nĂ€her schienen, wurde alles um sie herum unwichtig. Nur auf sich selbst und den Partner konzentriert, bemerkten sie nicht das Klopfen aus dem Zimmer unter ihnen, das ihre ĂŒbermĂ€ĂŸige LautstĂ€rke anprangerte. Im Gegenteil: Der GerĂ€uschpegel intensivierte sich immer mehr bis sie urplötzlich ein lautes Krachen aus dem Konzept brachte. Verstört ließen sie voneinander ab und wandten sich der Quelle zu. Clay hatte sich ganz Gentlemen vor Cerise geworfen und sie schaute ĂŒber seinen RĂŒcken. Zwischen Staubwolken ragte nahe dem Bett ein schwarzer Speer aus dem Boden, an dessen Spitze heftig Blitze zuckten. Im nĂ€chsten Moment versank die Teufelswaffe wieder im Boden, gefolgt von Nebulas wĂŒtendem Ausruf: “Ruhe da oben! Ich will schlafen!” Verdutzt starrten die sich zuvor noch heftig Liebenden auf das im Boden zurĂŒckgebliebene Loch. Dann mussten sie beide laut auflachen. “Wir waren wohl zu laut
”, stellte Clay fest. “Die ist doch nur neidisch!”, behauptete Cerise. “Manche Menschen nutzen die Nacht auch zum schlafen.” “Sie soll sich jemanden suchen, mit dem sie schlafen kann. Dann muss sie uns wenigstens nicht den Spaß verderben.” “Ihr seid wieder einmal unmöglich!” “Ich weiß!” Die Rothaarige umschlang ihn von hinten und drehte seinen Körper zu ihr, nur um sich anschließend zurĂŒck in den Sattel zu schwingen. “Was haltet Ihr davon, wenn wir dort anknĂŒpfen, wo wir frech unterbrochen wurden?” “Keine EinwĂ€nde von meiner Seite.” Gemeinsam setzten sie das Liebesspiel fort. Diesmal jedoch etwas leiser. Licht fiel durch das Loch in der Decke in den Raum darunter. Nebula wurde klar, dass sie sich mit ihrer Aktion ein Eigentor geschossen hatte. Nicht nur, dass ihre Begleiter noch immer rammelten wie eine Steininsel, durch das Loch war es lauter als zuvor. Entnervt schlug sie die Bettdecke zurĂŒck. Nebula trug ein verziertes Nachthemd. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, es aus ihrem Kleiderschrank im Schloss zu entnehmen, bevor sie aufgebrochen waren. Ebenfalls begleiteten sie ihre geliebten Pantoffeln, welche sie sogleich suchte und ihre FĂŒĂŸe mit ihnen bedeckte. Hier war es unmöglich Schlaf zu finden! Vorsichtig stand sie auf, um Annemarie nicht zu wecken und schlich sich davon. Doch das MĂ€dchen hatte es lĂ€ngst bemerkt.   Lautes klopfen ließ Henrik beinahe aus dem Bett fallen. Nachdem er erst verwirrt und schlaftrunken auf dem Boden saß, kam er wieder zur Besinnung und ging zur TĂŒr. “Ich komme schon”, versicherte er der Person dahinter. Er rechnete damit, dass Annemarie ihm erneut Ă€rgern wollte. Das wĂ€re immerhin das dritte Mal in dieser Nacht. Aber er kam ins GrĂŒbeln. Vielleicht hatte sie einfach Angst im Dunkeln? Nein, das konnte nicht sein. Immerhin schlief sie zusammen mit Nebula. Sicherer konnte sie bald nicht mehr sein. Das Klopfen wurde immer Lauter. “W-Wenn du mir wieder Streiche spielst, versohle ich dir den Hintern!”, drohte der Braunhaarige und öffnete die TĂŒr. Sicher ein Kind hinter ihr vorzufinden, sah er nach unten, nur um anstatt den Kopf seiner VerdĂ€chtigen eine von samtigen Stoff bedeckte gewaltige Oberweite zu sehen.  “Versuch’s doch!”, sprach eine vertraute Stimme. “H-Hallo Nebula!”, grĂŒĂŸte er seine Freundin. “Könntest du vielleicht die Freundlichkeit besitzen, ein StĂŒck weiter rauf sehen?!”, echauffierte sich die Prinzessin. Erst jetzt wurde Henrik bewusst, dass er noch immer auf ihre BrĂŒste glotzte. “E-Entschuldigung!” Sofort schnellte sein Kopf empor. “W-Was machst du hier zu dieser unsĂ€glichen Stunde?” Nervös begann Nebula mit ihren Haaren zu spielen. “K-Kann ich b-bei dir schlafen?”, fragte sie daraufhin. Henriks Kiefer sank wie eine FalltĂŒr in ein Kellerverlies. Sofort wurde er rot wie ein Liebesapfel. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen. “I-Ich m-meine, i-ich
” Auch Nebulas Gesichtsfarbe wechselte. “C-Clay und Cerise treiben es w-wie die Kanickel. I-Ich kann nicht schlafen. D-Darum bitte ich um Asyl fĂŒr die Nacht. Wirst du es mir gewĂ€hren?” “N-Na-Na-NatĂŒrlich!”, Henriks aufgeregtes Stottern erschwerte das VerstĂ€ndnis seiner Worte ungemein. “I-Ich m-meine
” Das Spiel mit den Haaren wart nicht mehr genug, sodass die Blondine nun hektisch atmete und rhythmisch ihre Zeigefinger zusammenstieß. “W-Wir könnten auch ein wenig k-kuscheln. A-Aber n-nicht mehr!” Nebulas Stimme erhob sich urplötzlich. “A-Also lĂ€sst du mich jetzt rein?” “J-J-Ja! K-Komm herein!” Henrik geleitete sie in sein Zimmer. Anschließend streckte er seinen Kopf und sah verstohlen in den Flur, als fĂŒrchtete er bei etwas ertappt zu werden. Als er sich sicher war, dass es niemand gesehen hatte, schloss er die TĂŒr.   Erschöpft sank Cerise auf die Brust ihres Liebhabers herab und gab ein zufriedenes Seufzen von sich. Clay legte seinen Arm auf ihren RĂŒcken. Dann bemerkte er, dass sie sofort eingeschlafen war und dabei seinen Oberkörper als Kissen verwendete. Sanft streichelte er nun ĂŒber ihre offenen leicht zerzausten Haare. Die in die Finsternis der Nacht gehĂŒllte Livia hockte auf dem Dach des gegenĂŒberliegenden Hauses und war Zeugin des Liebesspiels zwischen Clay und Cerise geworden. “Das ist also dein neustes Spielzeug, liebe Schwester”, sprach sie hinein in die DĂŒsternis, bevor sie sich in selbige zurĂŒckzog.   Langsam ließ die lĂ€hmende morgendliche MĂŒdigkeit in ihren Gliedern nach und Nebula erwachte aus ihrem Schlaf. Bei dem Gedanken daran, vor dem Terror des wildgewordenen Kaninchenstalls ĂŒber ihr reißaus genommen zu haben, zierte ihr Gesicht ein schwaches LĂ€cheln. Ein Anblick mit Seltenheitswert. Ihre Augen suchten derweil nach ihrem Fluchthelfer. Wo war der Junge abgeblieben? Sie schlug die Bettdecke zurĂŒck und richtete sie sich auf. Ihr Blickwinkel verĂ€nderte sich und auf dem Fußboden vor dem Bett kam ein Körper zum vorschein. Es war Henrik! War ihm etwas zugestoßen? Nebula beobachtete und wartete auf eine Regung, welche auch prompt kam, als er sich zur Seite drehte und lautstark Luft einsog. Offenbar stellte der Fußboden sein Nachtlager dar. Die Blondine musste einen Moment in ihrem OberstĂŒbchen graben, ehe sie sich an die Geschehnisse erinnerte, welche zu diesem Ergebnis fĂŒhrten. Mitten in der Nacht klopfte sie an die TĂŒr von Henriks Zimmer und erbat Einlass. NatĂŒrlich machte der verliebte Gockel keinerlei Anstalten, ihr den Zutritt zu verwehren. Die Aussicht seine GefĂŒhle auszuleben, war einfach zu verlockend. Gemeinsam nahmen sie an dem kleinen Tisch Platz und unterhielten sich. Belanglose Dinge. Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Doch schon bald standen sie vor einem großen Problem: Es gab nur ein Bett im Raum und ihre Beziehung war dafĂŒr eindeutig nicht weit genug fortgeschritten! Zumindest wenn es nach ihr ging. Trotzdem wolle sie ihn keineswegs von sich wegstoßen. Darum entschied sie sich letztlich, das gegebene Versprechen von vorher einzulösen und mit ihm ZĂ€rtlichkeiten auszutauschen. Vom KĂŒssen wurde schließlich niemand schwanger. Dazu bedarf es schon etwas mehr Einsatz, Ă€hnlich dem, welchen ihre Freunde eindrucksvoll und lautstark gezeigt hatten. Es grenzte sowieso an ein Wunder, das Cerise noch nicht kugelrund geworden war, so oft wie sie und Clay ihre Leidenschaft auslebten. Wenn Nebula und Henrik ausschließlich brav beieinander lĂ€gen, um die NĂ€he des anderen zu genießen, wĂ€re daran nichts verwerfliches. Irgendwann waren sie zusammen eingeschlafen. Plötzlich weckte Nebula ein paar HĂ€nde, welches sich an Stellen herum trieb, an denen es nichts verloren hatte. Der arme Henrik wusste nicht wie ihm geschah, als ihn ein beherzter Tritt, begleitet von einem Ausstoß von Empörung, aus dem Bett beförderte. “Perversling!” Dabei hatte er bis eben noch getrĂ€umt. Von kugelrunden, großen, fluffig weichen SchĂ€fchenwolken. Gefangen in seiner Imagination, war er nicht fĂŒr die Irrwege seiner ExtremitĂ€ten zur Verantwortung zu ziehen. Oder etwa doch? Sicherheitshalber entschied Nebula, dass nur einer das Bett benutzen wĂŒrde. Und dass sie dieser Jemand ist. Sie machte es sich im fremden Bett bequem, wĂ€hrend Henrik mit dem Fußboden vorlieb nehmen musste. Jetzt sollte sie ihn allerdings wecken. Schließlich stand ein arbeitsreicher Tag bevor.   Die Gruppe saß an einem Tisch im Versammlungsraum ihres Gasthauses und starrte auf ein Pergament, welches eine per Hand skizzierte Zeichnung der Stadt abbildete. Sie war nicht besonders detailreich, allerdings genĂŒgte es, um die einzelnen Stadtviertel voneinander zu unterscheiden und die markantesten Orte von Bonamar hervorzuheben. Dies jedoch mehr schlecht als recht und unter Einsatz von viel Fantasie. Kreuze kennzeichneten die Flecken, an welchen man nicht einmal bei Tageslicht verweilen wollte. “Woah!”, staunte Annemarie. “Sind da so viele SchĂ€tze versteckt?” Das MĂ€dchen hatte es sich nicht nehmen lassen die anderen zu begleiten, obwohl sie bei der Missionsbesprechung ĂŒberhaupt nichts verloren hatte. “Geh lesen!”, ging Cerise Annemarie an. “Du nervst!” “Dort verbreiten sie diesen Schmutz!”, kommentierte Clay. “Der Hauptmann war so freundlich, uns eine Karte der Stadt bereitzustellen”, erklĂ€rte Nebula. “Diese Orte sind UmschlagplĂ€tze fĂŒr Feenstaub.” “Hat der die Karte etwa selbst angefertigt?”, fragte Cerise abfĂ€llig. “Das hĂ€tte selbst unsere Annemarie besser hinbekommen.” “Hey, du bist gemein!”, beschwerte sich die Kleine. “Ich wĂŒrde mir mehr Details wĂŒnschen.” “Das Leben ist kein Wunschkonzert!”, funkelte Nebula. “Wie sieht dieses Mal der Plan aus?”, erkundigte sich Clay. “Wir werden vorgegeben Drogen zu kaufen und uns die DrogenhĂ€ndler einzeln zur Brust nehmen. Irgendeiner wird schon singen.” “Wenn wir rumrennen wie geleckt, nehmen die schon Reißaus, wenn sie uns nur kommen sehen!”, merkte die AttentĂ€terin an. “Wenn Ihr nicht auffallen wollt, solltet Ihr Euch genauso zerlumpt kleiden, wie das Gesindel auf den Straßen.” “Danke fĂŒr den Hinweis, FrĂ€ulein Kirschrot!”, spie Nebula zynisch aus. “Darauf bin ich tatsĂ€chlich allein gekommen. Ich habe Henrik geschickt, alte Kleidung zu besorgen. Er mĂŒsste jeden Moment zurĂŒck kommen.” Wie auf ein Stichwort betrat besagter Braunhaariger die BĂŒhne - oder eher die Taverne. Er trug einen großen Sack, welcher augenscheinlich bis zum Bersten mit alten Kleidern gefĂŒllt war. Er schwitzte stĂ€rker als sonst und wirkte wie neben der Spur. “Da ist er schon.” “Hoffentlich sind die Lumpen nicht verwanzt”, nörgelte Cerise. “Schweigt! Auf ihn ist wenigstens verlass!” Henrik trat an den Tisch heran und stellte den Sack auf dem Boden ab. Danach griff er sich einen Stuhl und ließ sich erschöpft auf ihn sinken. Derweil hob Clay seinen Bierkrug an, welchen er bis dato kaum Beachtung geschenkt hatte, und setzte zum trinken an. “Bist du deshalb gestern Nacht zu ihm gegangen, Nebula?”, fragte Annemarie unbedarft. Erschrocken spuckte der Schwarzhaarige den Hopfensmoophy zurĂŒck in das GefĂ€ĂŸ und begann zu husten. “Wie Bitte?!” “Ach deshalb sieht der Junge so fertig aus”, stichelte Cerise. “N-N-Na-Na-Nein!”, wies Nebula hektisch winkend von sich. “S-So ist das nicht!” In dem Bewusstsein, die anderen könnten tatsĂ€chlich glauben, dass sie mit Henrik unzĂŒchtig geworden seien, wollte sie im Boden versinken. “Ich hab es nebenan ganz laut poltern gehört!” “D-D-Das ist doch gar nicht wahr!” Nebulas Stimme erreichte mit Leichtigkeit eine höhere Tonlage, als sie weiter alles abstritt. “Wir waren so gut, es war direkt ansteckend”, schlussfolgerte das Halbblut. “Im Gegensatz zu Euch, habe ich meine Keuschheit bewahrt.” “Seit Ihr jetzt stolz darauf, eine verklemmte Traditionalistin zu sein?” “Ich bin was?! Haltet Euer vorlautes Mundwerk!” Die Prinzessin wandte sich dem Handwerker zu. “S-Sag doch auch Mal etwas dazu, Henrik!”, forderte sie. Alle Augen waren alsbald auf den Gesellen gerichtet. Hungrige Blicke drohten ihn auf der Suche nach Antworten zu verschlingen. Doch der sich angestrengt die Stirn haltende hatte keine fĂŒr sie parat. Stattdessen kippte er zur Seite und fiel vom Stuhl. Sofort sprangen die anderen von den ihren auf, um ihm zu helfen.   🌱   Langsam kam Henrik wieder zur Besinnung. Seine Augen öffneten sich erst einen engen Spalt, welcher sich langsam weitete, bis sie vollstĂ€ndig aufgeschlagen waren. Er starrte die Decke an. Eine unangenehme Erinnerung an sein einst verletztes Knie stieg in ihm auf, wurde jedoch sofort vertrieben, als Nebulas Gesicht in sein Blickfeld eindrang. “Wie geht es dir?”, erkundigte sie sich nach seinem Befinden. “Was ist passiert?”, versuchte Henrik zu ergrĂŒnden. “Du bist plötzlich umgefallen und warst ganz heiß. Wir haben dich hinauf getragen und dir ein Paar Wadenwickel gemacht.” “D-Danke”, honorierte Henrik. “Wo sind die anderen?” “Cerise und Clay sind bereits in die Stadt aufgebrochen. Annemarie habe ich nach kĂŒhlem Wasser geschickt.” “Sieht so aus, als könnte ich doch noch in einem Bett schlafen”, sprach der Braunhaarige und lĂ€chelte dabei. Nebula versetzte es einen schmerzhaften Stich. Schließlich war sie es, welche ihn aus dem Bett geworfen und dazu verdammt hatte, auf dem kalten Steinboden zu schlafen. Sie ergriff seine Hand und lĂ€chelte ihm zu. “Keine Angst, Henrik. Ich bleibe hier.” In diesem Moment öffnete sich die TĂŒr und Annemarie zwĂ€ngte sich mit einem großen Eimer Wasser hindurch, welchen sie kaum tragen konnte. Sofort ließ Nebula Henriks Hand wieder los und tat eiligst so, als ob sie sie niemals berĂŒhrt hĂ€tte. Das MĂ€dchen stellte ihren Ballast ab. “Geh ruhig!”, ermutigte Henrik. “Du solltest den anderen helfen. Sonst kommen wir hier niemals weg!” “Bist du dir sicher?” “Klar.” Der Junge lĂ€chelte erneut. “Ich habe doch eine niedliche Pflegerin, die auf mich aufpasst.” “Danke, Henrik”, strahlte der laufende Meter. “Na gut!” Die Blondine erhob sich von ihrem Stuhl und ging zur TĂŒr. Bevor sie hindurch schritt, sah sie noch einmal zurĂŒck. “Entschuldige”, flĂŒsterte sie. Allerdings so leise, dass er es womöglich gar nicht gehört hatte. Danach ließ sie Henrik hinter sich und begab sich auf die Suche in den dunklen Gassen.   Es war ein Leben in den Schatten. An diesen Ort kamen fĂŒr gewöhnlich keine rechtschaffenen BĂŒrger. Was sich hier blicken ließ war der Bodensatz der Gesellschaft. Menschen, die ihr Leben nicht mehr ohne den nötigen Kick aushalten konnten. Warum sollte man mit diesen gescheiterten Existenzen Mitleid haben? Diese Rechtfertigung schoss durch den Kopf der dunklen Gestalt, welche in jener heruntergekommenen Ecke darauf wartete, zuzuschlagen und die SĂŒchtigen mit gestreckten Rauschmittel auszunehmen. Offenbar nĂ€herte sich schon die nĂ€chste Gelegenheit. Eine blasshĂ€utige Frau in abgerissenen Kleidern kam auf den Mann zu. Sie konnte nur eins von ihm wollen, also eröffnete er sogleich das VerkaufsgesprĂ€ch. “Willst du was haben?”, fragte er plump und geradezu. Eine zitternde Hand streckte sich ihm entgegen, welche einen kleinen Beutel hielt. “H-Hier!”, sprach sie. “I-Ich brauche was!” Dabei rutschte unter dem Ärmel ihres linken Arms ganz zaghaft die Klinge eines Dolches hervor, ohne das ihr GegenĂŒber eine Chance hatte, dies zu bemerken. Der Mann öffnete seinen Mantel und kramte seinerseits einen kleines Paket hervor, in welchem sich mutmaßlich die Drogen befanden. “Das hier ist der neuste Stoff!”, pries er seine illegale Ware an. Dann verstaute er das Paket wieder in seinem Mantel und streckte die HandflĂ€che aus. “Doch zuerst das Gold!” Kurz bevor der Beutel den Besitzer wechseln konnte, ließ die Fremde ihn jedoch unverhofft fallen. Er stĂŒrzte zu Boden und beim Aufprall löste sich das BĂ€ndchen und offenbarte, das nur kleine Steine in ihm waren. WĂ€hrend sich der DrogenhĂ€ndler noch fragte, wieso er an der Nase herum gefĂŒhrt wurde, vollfĂŒhrte die Frau eine Halbdrehung, welche ihr die Kapuze vom Kopf wehte. Rote StrĂ€hnen tanzten im Luftzug der Bewegung. Ein lautes Klingen ertönte, als das aus dem Hinterhalt auf sie geschleuderte Wurfgeschoss vom Dolch in ihrer linken Hand abprallte. Der VerdĂ€chtige nutzte diese Ablenkung, um sich aus dem Staub zu machen. Doch er kam nicht weit, da er buchstĂ€blich gegen die ausgestreckte Faust von Clay rannte, als er um die Ecke abbog. “Hier geblieben, Freundchen!”, sprach der JĂ€ger. Derweil sah sich Cerise, deren Verkleidung sie nicht mehr zu verbergen vermochte, einem wohl bekannten Gegner gegenĂŒber. “Du!”, stieß sie aus. Auf dem Dach eines Hauses stand eine blauhaarige Frau, Ă€hnlich gut bewaffnet wie sie. “Was haben wir denn da?!”, kommentierte die Fremde und sprang ĂŒber GelĂ€nder und VorsprĂŒnge etappenweise auf ebenen Boden. “Das verlorene Kind unserer Mutter!” Cerise nahm Kampfhaltung ein. “Was willst du hier, Livia?!”   Nebula wirkte wie ein Kieselstein unter vielen, als sie gehĂŒllt in den alten Lumpen, die Straßen unsicher machte. In den Drogen-Slums von Bonamar, Viertel in denen die Stadtwache angesichts des Verbrechens kapituliert hatte, bewegte sie sich unbeachtet von den Augen der rechtschaffenen BĂŒrger. Auf sie wirkte sie wie eine weitere gescheiterte Existenz. Aus sicherer Entfernung beobachtete sie einen VerdĂ€chtigen, wie er krumme GeschĂ€fte mit buckligen Gestalten in Klamotten machte, welche noch verranzter waren als die ihren - wie auch immer dies möglich war. Dieser Mann musste einer der RauschgifthĂ€ndler sein. Und bei diesem Ansturm wĂŒrde er frĂŒher oder spĂ€ter Nachschub besorgen mĂŒssen. Sie wollte ihm folgen und sich so zum Versteck der Drogen fĂŒhren lassen. Mit dem neuesten Zugang in ihrem Arsenal sollte dies kaum ein Problem darstellen. Endlich trat das erwartete Ereignis ein und der VerdĂ€chtige setzte sich in Bewegung. Nebula folgte ihm. Als er in eine Gasse einbog, tat sie es ihm gleich. Plötzlich zerrte etwas an ihrem Mantel. Die Blondine wandte sich der Quelle des Zugs zu. Sie erspĂ€hte die dĂŒrren Finger einer abgemagerten Kindes. Es hatte graue Haare und wirkte verbraucht. Die typischen Nebenwirkungen des Feenstaub. “Hast du ein bisschen Geld fĂŒr mich?”, bettelte die erbĂ€rmliche Gestalt. Nebula sah sie kurz mitleidig an. Der Gedanke, das selbst Kinder Opfer des Feenstaub wurden, machte sie rasend. VerĂ€rgert ĂŒber die ganze Situation riss sie sich los. WĂ€hrend sie an einem weiteren Gammler vorbei ging, entledigte sie sich der Lumpen, welche sie ĂŒber ihrer normalen Kleidung trug. Anschließend streckte sie den rechten Arm aus und beschwor ihr Gewand der Verstohlenheit. “Verberge in den Schatten, Shadowsheath!” Sie hĂŒllte sich in dem dĂ€monischen Umhang ein und wurde sofort unsichtbar. “Das Zeug hat es in sich!”, kommentierte der Gammler, welcher bei diesem Anblick glauben musste, noch immer berauscht zu sein. Dank ihrer Tarnung konnte Nebula ungesehen nĂ€her zu ihrem Ziel aufschließen. Der Mann schien im Zickzack durch Bonamar zu laufen, als wĂŒsste er, dass man ihm auf den Fersen war. Vielleicht war dies seine ĂŒbliche Vorgehensweise, um potentielle Verfolger profilaktisch abzuschĂŒtteln. Doch bei ihr half ihm das nichts! Nach mehreren Kreisen wurde Nebula endlich zum Zielpunkt gefĂŒhrt. Mitten am Hafen befand sich ein vermeintlich leer stehendes Lagerhaus. Paranoid sah sich die Zielperson immer wieder um, doch die Unsichtbare hinter ihr blieb verhĂŒllt in den Schatten. Der Mann kramte in einer Tasche und holte einen SchlĂŒssel hervor, mit dem er sogleich die massive TĂŒr entsperrte und anschließend aufstemmte. Eine Gelegenheit, welche Nebula nicht ungenutzt verstreichen ließ. Geschickt schlĂŒpfte sie an dem Mann vorbei hinein in den Innenraum und versteckte sich hinter einem großen Fass. Gerade noch rechtzeitig, bevor Shadowshealth seine Kraft verlor. Ist diese Teufelswaffe nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt, so vermag sie ihren TrĂ€ger nicht vor den Augen der Menschen zu verbergen, denn dafĂŒr benötigte sie Schatten. Diese Schwachstelle sollte sich im Inneren des Lagerhauses, welches bis auf wenige Fackeln in Dunkelheit gehĂŒllt war, als Ă€ußerst hinderlich erweisen.   Eine dramaturgisch notwendige Windböe wirbelte den Dreck und den Staub von der von einen Moment auf den anderen vereinsamten Straße auf. Das Rot und das Blau leuchtete Clay schon aus der Ferne. Der Schwarzhaarige ließ den Mann, welcher just seine Faust zu spĂŒren bekam, links liegen. Der wĂŒrde so schnell nicht mehr aufstehen. Vorsichtig nĂ€herte er sich nun den Kontrahentinnen. Noch starten diese bedrohlich ihrem GegenĂŒber Löcher in den Bauch, aber schon bald tĂ€ten sie andere Waffen als ihre Augen fĂŒr die Perforierung des Feindes auswĂ€hlen. An der Ecke einer Hauswand blieb Clay stehen. Er konnte die Spannung spĂŒren. Der unausweichliche Kampf der beiden Frauen konnte jeden Moment entfachen wie ein Feuersturm. LĂ€ssig schritt Livia der kampfbereiten Cerise entgegen. “Was ich hier will, fragst du?”, begegnete sie der Frage der Rothaarigen mit einer Gegenfrage. “Kannst du dir das nicht denken, liebste Schwester?” Clay horchte auf. “Schwester?”, sprach er zu sich selbst. “Dein Bote kehrte ohne Antwort zurĂŒck”, fuhr Livia fort. “Die Matriarchin hat mich damit beauftragt, dich zu finden.” “GlĂŒckwunsch!”, erwiderte Cerise. “Du hast mich gefunden. Und jetzt?” “Nehme ich dich mit.” Urplötzlich stieß sich ihr GegenĂŒber mit ihrer krĂ€ftigen Muskulatur vom Boden ab und eröffnete den Kampf. Klingen kreuzten sich. “Ich habe dich und deinen Gespielen letzte Nacht beobachtet”, sprach die Blauhaarige zwischen ihren Dolchhieben. “Ist er der Grund, dass du dich von uns losgesagt hast?” “Oh, du hast uns beobachtet”, antwortete Cerise zwischen den Paraden. “Und ich dachte immer, du hĂ€ttest nichts fĂŒr MĂ€nner ĂŒbrig.” Angriff! Das war die einzig passende Antwort. Livia wollte ihrer vorlauten Gegnerin keine Atempause mehr gönnen, welche sie dazu nutzen könnte, sie weiter zu provozieren. Allerdings wehrte Cerise gekonnt alle StĂ¶ĂŸe ab und setzte zum Konter an. Mit einem weiten Satz nach hinten, entging Livia der Klinge. “Du hast mich noch nie im Messerkampf geschlagen”, erinnerte sie Cerise in erhabener Überlegenheit. “Stimmt!” Livia verstaute ihre Dolche und ergriff einen seltsam, glĂ€nzenden, zylinderförmigen Gegenstand, welcher sich umgehend zu dem langen Stock erweiterte. Sofort machte sie sich fĂŒr den nĂ€chsten Ansturm bereit. “Und du mich niemals im Stabkampf.” Dann ließ sie mĂ€chtige SchlĂ€ge das Grinsen von Cerise beantworten.   Die Kisten im Lagerhaus reihten sich dicht an dicht. Übereinander gestapelt und potentiell randvoll mit Feenstaub, bildeten sie ein Labyrinth aus GĂ€ngen, in welchem man sich zuallererst zurechtfinden musste, bevor man daran denken konnte, die zwielichtigen Gestalten zu untersuchen, die sich herumtreiben. Ziemlich geschĂ€ftig fĂŒr ein ungenutztes Depot, stellte Nebula fest. Vorsichtig rutschte sie an den Seiten der hölzernen AufbewahrungsbehĂ€lter entlang und blickte achtsam um die nĂ€chste Ecke. Die Zielperson erhielt weitere Drogen und ĂŒberreichte im Gegenzug die Einnahmen, abzĂŒglich eines Obolus fĂŒr seine Dienste. Das Rauschgift wurde von mehreren muskelbepackten Grobienen bewacht. Das Gehirn der Truppe schien jedoch der schmĂ€chtige Mann in der Mitte zu sein, welcher es auch war, der Drogen aushĂ€ndigte und Einnahmen einforderte. Er saß an einem Tisch, auf dem sich eine Auswahl der Drogen und eine Schatulle befand. Ausgestattet mit neuer Ware, wollte der RauschgifthĂ€ndler das Lagerhaus auf gleichem Wege verlassen, auf dem er gekommen war. Doch als er um die Ecke bog, packte ihn Nebula und setzte ihn lautlos außer Gefecht, indem sie seinen Mund und seine Nase mit ihrer rechten Hand verschloss und mit der linken Armbeuge seinen Kehlkopf abschnĂŒrte. Binnen Sekunden verlor er das Bewusstsein und wurde anschließend von der Söldnerin fallen gelassen, wie ein nasser Sack. Nebula konnte den bedauernswerten Anblick des Kindes nicht abschĂŒtteln und beschloss kurzen Prozess mit den ĂŒbrigen Anwesenden zu machen. Sie wusste ja, wen sie getrost umbringen konnte und wen sie lieber leben lassen sollte. Ohne Vorwarnung stĂŒrmte sie um die Ecke. “Verfehle niemals dein Ziel, Gastraphetes!” Sie beschwor ihre schwarze Armbrust und erschoss einen Grobian nach dem anderen, bevor ihre Spatzenhirne begreifen konnten, dass sie angegriffen wurden. Der AnfĂŒhrer der Bande versuchte derweil Drogen und Goldschatulle zu greifen und sich aus dem Staub zu machen. Sein Vorhaben scheiterte jedoch klĂ€glich, als Nebula seine beiden Kniescheiben zerschoss. Er stĂŒrzte. Drogen und Schatulle entglitten seinem Griff und fielen zu Boden. Die Pakete prallten von ihm ab und zerstreuten sich. Das GoldbehĂ€ltnis zerbrach stattdessen und MĂŒnzen verbreiteten sich klingend ĂŒber dem Boden. Die Versuche des Mannes, kriechend zu fliehen, scheiterten ebenfalls. Nebula warf ihn unter Einsatz ihres Stiefels auf den RĂŒcken und presste die Sohle auf seinen Brustkorb. Dabei zielte sie mit geladener Armbrust auf seinen Kopf. “Ich hĂ€tte da ein paar Fragen!”, sprach sie daraufhin.   Gerade war Annemarie damit fertig geworden, Henriks Beine mit frischen feuchten HandtĂŒchern zu umwickeln, wĂ€hrend der Geselle schon wieder schlief. Der Kampf gegen die UnterkĂŒhlung musste ihn mĂŒde gemacht haben. Schnell bedeckte das MĂ€dchen seine Beine wieder. Als sie gerade gehen wollte, bemerkte sie, dass Henrik keinesfalls ruhig schlief. Stattdessen zuckten seine AugĂ€pfel unter ihren Lidern wild hin und her. Interessiert nĂ€herte sich der Rotschopf dem Kranken und erkannte, dass seine Lippen unverstĂ€ndliche Worte formten, wĂ€hrend sie sich kaum wahrnehmbar bewegten. Was er wohl trĂ€umte? Annemarie sah auf ihre HĂ€nde und spielte mit dem Gedanken, ihre KrĂ€fte einzusetzen. Hinderliche Dinge, wie die PrivatsphĂ€re eines anderen, kannte sie als kleines Kind nicht. Letztlich siegte die Neugier des MĂ€dchens und es legte eine Hand auf des Braunhaarigen Stirn. Die glĂŒhende Hitze des Ortes in seinem Traum vereinnahmte Annemarie. Es war noch viel heißer als Henriks Stirn in der realen Welt. Aus gigantischen Rohren quollen Ströme aus weiß glĂŒhenden Metall und ergossen sich entlang der Wand in Sammelbecken. Mitten in dieser Hölle befand sich ein Amboss aus einem unbekannten tiefschwarzen Material. Seine OberflĂ€che war so makellos, dass sie den rötlichen Schimmer des flĂŒssigen Metalls wie ein Spiegel reflektierte. Wuchtige SchlĂ€ge trafen auf violett schimmerndes Metall. Ein kleiner bĂ€rtiger Mann war bei der Arbeit. Er schwang unentwegt und unermĂŒdlich seinen mĂ€chtigen Hammer. Annemarie hatte ihn zuvor noch nie gesehen, dennoch ging von ihm eine vertraute Aura aus, als ob sie ihn gut kennen wĂŒrde. Auf einmal stoppte der Unbekannte sein tun und erhob das inzwischen erkaltete WerkstĂŒck in die Luft, als wolle er es stolz den Göttern prĂ€sentieren. “Du bist mein MeisterstĂŒck!”, sprach er mit dem schwarzen Dolch dem Himmel entgegengestreckt. “Du wirst sie alle in den Schatten stellen!” Annemarie fand sich in einem Moment auf den anderen in der RealitĂ€t wieder, nachdem sie unbewusst die Hand von Henriks Stirn genommen hatte, erschrocken angesichts des vermeintlichen Traums, welcher sich als Vision aus einer lĂ€ngst vergangener Zeit entpuppte. Als sehe sie in seine Vergangenheit. Doch das konnte einfach nicht sein. Kurz darauf schlug der Braunhaarige die Augen auf und blickte das MĂ€dchen an. “I-Ich hatte gerade einen merkwĂŒrdigen Traum”, berichtete er ihr.   🌱   Bei ihrem Angriff drehte sich Livia um die eigene Achse, wĂ€hrend sie sich auf ihre Gegnerin zubewegte, ihren Kampfstab dabei immer fest mit beiden HĂ€nden umklammert. So konnte sie einen Bereich von eineinhalb Metern um sich mit StockschlĂ€gen eindecken. Cerise wich aus, indem sie sich nach hinten bog, bis sie auf ihren HĂ€nden aufkam, den Schwung ausnutzte, um in den Handstand zu gelangen und letztlich wieder auf den FĂŒĂŸen aufzukommen. Dies wiederholte sie mehrere Male, bis sie weit genug entfernt war, sodass sie nicht mehr getroffen werden konnte. Diese Atempause schenkte ihr die Gelegenheit, ihre Gegnerin mit Wurfmessern einzudecken. Die Blauhaarige wehrte sie ihrerseits alle mit dem Kampfstab ab. Doch dies war nur ein Ablenkungsmanöver der Rothaarigen, welche sofort mit gezogenen Dolchen zum Frontalangriff blies. Livia dachte nicht im Traum daran, die StĂ¶ĂŸe zu parieren, stattdessen zielte sie auf Cerises Handgelenk, um sie zu entwaffnen. Beim Aufprall der Waffe öffneten sie sich durch einen Reflex, und Cerise verlor ihre Waffen, genauso wie von Livia geplant. In einer vollen Umdrehung holte die AttentĂ€terin anschließend den nötigen Schwung und verpasste ihrer Zunftgenossin einen Kinnhaken mit der Kante ihres Kampfstab, der das Halbblut im hohen Bogen auf die sprichwörtlichen Bretter schickte. Livia ließ den Stab hinter ihren RĂŒcken wandern, nur noch von der linken Hand gehalten, wĂ€hrend die Rechte mit gespreizten Fingern frei am ausgestreckten Arm ins Leere reichte. “Und wieder habe ich gewonnen.” Clay, welcher den Kampf regungslos mit angesehen hatte, sah sich nun gezwungen einzugreifen, als diese Fremde mit gezogener Waffe auf seine bewusstlose Geliebte zuging. GlĂŒcklicherweise suchte der Waidmann ohne seinen Bogen nicht einmal den Abort auf und trug ihn stets ĂŒber der Schulter. Er ergriff die Waffe mit der linken Hand und fĂ€delte seinen rechten Arm zwischen dem Holz und der Sehne aus. Noch in der gleichen Bewegung griff er in den Köcher und nahm einen Pfeil heraus. Er sprang aus seinem Versteck und feuerte auf die Fremde. Der Pfeil erreichte niemals sein Ziel, da Livia ihn ohne hinzusehen mit der freien Hand packte und um Haaresbreite vor ihrem Nacken stoppte. Sie wandte sich ihrem verdutzten neuen Gegner zu und zerbrach demonstrativ den Schaft des Projektils. Ihre Augen waren starr, dunkel und von der Lust zum Morden erfĂŒllt. “Das Spielzeug hat Todessehnsucht!”, kommentierte sie. Danach öffnete sie die geballte Faust und entledigte sich der BruchstĂŒcke von Clays Pfeil. Der JĂ€ger ließ sich nicht davon beeindrucken und feuerte weiter auf die Blauhaarige. Livia wehrte seine Pfeile mit ihrem Kampfstab ab und nĂ€herte sich wĂ€hrenddessen unentwegt ihrem Gegner. Als Clay nach einem weiteren Pfeil greifen wollte, musste er feststellen, dass sich keine mehr im Köcher befanden. Livia nutzte die kurzweilige Unterbrechung. Noch immer funkelten ihre Augen vor Mordlust und es verlangte ihr danach, diess sogleich in die Tat umzusetzen. Sie schlug dem krĂ€ftigen Mann, welcher sie mindestens um eine KopfgrĂ¶ĂŸe ĂŒberragte, mit dem gleichen Trick den Bogen aus der Hand, mit dem sie zuvor schon Cerise entwaffnete. Clay versuchte sich zu verteidigen, jedoch mit ĂŒberschaubarem Erfolg. Livia begann ihn erbarmungslos nieder zu knĂŒppeln. Ein schmerzhafter Stoß in die Magengrube, gefolgt von einem Schlag in die Kniekehle und als Finale ein Treffer gegen die SchlĂ€fe, der eine blutige Platzwunde hinterließ, waren alles, was nötig war, den verfluchten Mann zu Fall zu bringen. Diese Frau war viel stĂ€rker als sie aussah! “Tut mir einen Gefallen und bleibt einfach liegen”, sprach sie trotz glockenklarer Stimme in einer kalten AbgebrĂŒhtheit, welche dem Schwarzhaarigen fast das Herz gefrieren ließ. Benommen blieb er auf dem Boden zurĂŒck, als sie sich abwandte und musste mit ansehen, wie sie erneut Cerise immer nĂ€her kam. Die Dunkelheit in ihren Augen hĂ€tte wohl selbst Nebula eingeschĂŒchtert. Er musste unbedingt wieder aufstehen! Er musste sein Rudel beschĂŒtzen! Doch er konnte sein Bein nicht mehr belasten und alles drehte sich. Es gab nur noch eine Option! Unterdessen schliff das Ende des Kampfstab durch den Straßendreck wie eine unausgesprochene Todesdrohung und hinterließ eine deutliche Spur im Staub, der den ausgetrockneten Matschboden bedeckte. Noch immer gab Cerise kein Lebenszeichen von sich. “Jetzt höre schon auf dich tot zu stellen! So schwach bist du auch wieder nicht.” Livia hatte sie fast erreicht, als ein unmenschliches BrĂŒllen durch die Gasse hallte. Sofort schenkte sie ihm ihre Aufmerksamkeit. Doch zu spĂ€t! Sie konnte gerade noch sehen, wie ein wutentbrannter, rot angelaufener Clay auf sie zu stĂŒrmte und die Faust am Ende seines inzwischen doppelt so dicken muskelbepackten Armes in ihren Magen versenkte. Die Kraft des Angriff riss sie von ihren FĂŒĂŸen und schleuderte sie gegen eine Hauswand. Putz löste sich und entblĂ¶ĂŸte das Mauerwerk darunter. Doch Clay war noch lange nicht fertig mit ihr! Er hatte durch lange Stunden des Trainings und der Meditation die Verwandlung mittlerweile soweit gemeistert, dass er sie an einem bestimmten Punkt anhalten konnte. Diese Zwischenform ermöglichte ihm, von der gesteigerten Muskelmasse zu profitieren, ohne vollstĂ€ndig zum Biest zu werden. Er packte Livia am Kragen und begann im blinden Hass auf das Gesicht der nun Wehrlosen einzudreschen. Es dauerte nicht lange, bis sie das Bewusstsein verlor. Das allein reichte jedoch nicht aus, um ihn zufrieden zu stellen und er prĂŒgelte einfach immer weiter. Derart in Rage, bemerkte er nicht, das Cerise wieder zu sich gekommen war. “Nein!”, schrie sie hysterisch, als sie realisierte, dass ihr Liebhaber drauf und dran war ihre Schwester zu Brei zu schlagen. Sie stĂŒrmte zu ihm und umklammerte das rasende Biest. Es hatte schon einmal geholfen und auch dieses mal verfehlte ihr Körpereinsatz seine Wirkung nicht. Als Clay ihre Umarmung spĂŒrte, siegte endlich sein Verstand. Die aufgepumpten Muskelberge schrumpfen schneller als ein versteuerter Lottogewinn auf ihre normale GrĂ¶ĂŸe zurĂŒck und seine Haut erblasste wieder. Der Griff um Livias Kragen lockerte sich und die mit dem Blut der Frau bedeckte Faust erschlaffte. Die Bewusstlose fiel in Cerises Arme. Entsetzt ĂŒber sich selbst, sackte Clay auf die Knie, wĂ€hrend seine Augen auf diese HĂ€nde - nein diese Tatwerkzeuge - starten. “Was habe ich getan?!”, fragte er erschaudert ĂŒber seine eigene Gewalt. Derweil prĂŒfte Cerise die Atmung der Besiegten. Sie schien noch am Leben zu sein. “Wir haben gerade keine Zeit fĂŒr Selbstmitleid!”, tadelte sie. “Livia braucht einen Heiler!”   Wie durch ein Wunder schien Livia nicht lebensgefĂ€hrlich verletzt worden zu sein. Zwar erlitt sie eine gebrochene Nase, HĂ€matome und mehrere Platzwunden mussten genĂ€ht werden, dennoch war es nur oberflĂ€chlich und sie trug keine bleibenden SchĂ€den davon. Das konnte Clay jedoch weder beruhigen noch von seiner Schuld freisprechen. Er quĂ€lte sich mit SelbstvorwĂŒrfen und schwieg wie ein Grab. Cerise wollte das nicht lĂ€nger mit ansehen. “Ich fĂŒhle mich geschmeichelt, dass Ihr sie fĂŒr mich totschlagen wolltet”, meinte sie. “Ich sehe daran wenig erfreuliches!”, erwiderte Clay. “HĂ€ttet Ihr mich nicht gestoppt, so hĂ€tte ich sie wirklich getötet!” “Ach, ich habe sie schon schlimmer verprĂŒgelt, als wir noch Kinder waren.” “Verspottet mich nicht!” “Ist aber wahr!” Die Stimmen weckten Livia auf. Vorsichtig und bedacht verschaffte sie sich zuerst ein Bild der Situation. Sie sah Cerise und deren Geliebten eine Diskussion fĂŒhren. Keiner der Beiden beachtete sie. Vielleicht könnte sie entkommen. Aber halt! Wieso lag sie in einem Bett? Wieso war sie ĂŒberhaupt noch am Leben? Fragen, welche sie ihre FluchtplĂ€ne verwerfen ließ. Stattdessen setzte sie sich auf und signalisierte den Anwesenden somit, dass sie aufgewacht ist. “Du bist wach!”, stellte Cerise fest. “Wieso lebe ich noch?”, verlangte die Blauhaarige nach Antworten. “Wegen der guten alten Zeiten. Wir haben doch so viel miteinander erlebt.” “Ja, wir haben alles geteilt. Unser Essen, unsere Waffen und sogar das Bett.” Livias Blick verfinsterte sich. “Bis du mich verlassen hast. Etwa fĂŒr den da?” Damit hatte Clay nicht gerechnet. “Wie bitte?!” “Ach, hab ich das nie erzĂ€hlt?”, klĂ€rte die Rothaarige auf. “Livia und ich hatten mal eine sehr enge Beziehung, falls Ihr versteht was ich meine.” “Cerise, Ihr seid also...” “... vielseitig in der Liebe”, beendete diese den Satz fĂŒr ihn. Livia rollte vielsagend mit den Augen. “Außerdem wird es schnell langweilig in der Zuflucht so ganz ohne MĂ€nner
” “Wisst ihr zwei, dass ihr verdammtes GlĂŒck habt?”, fragte Livia urplötzlich. “Wenn die Matriarchin an meiner statt Magnolia mit diesem Auftrag betraut hĂ€tte, wĂ€rt ihr beide schon lange tot. Und eure Begleiter ebenso.” “Magnolia?”, versuchte Clay mehr zu erfahren. “Sie ist eine Schattenschwester, so wie Livia und ich”, klĂ€rte Cerise auf. “Allerdings hat sie einen Dachschaden, als sei ein Wirbelsturm kreuz und quer drĂŒber gefegt.” “Wie treffend formuliert...” Livia schaute dem Halbblut urplötzlich ernst ins Gesicht. “Schicke deinen Liebhaber mal kurz vor die TĂŒr. Wir haben Dinge zu besprechen.” Mit eindeutigen Blicken gab Cerise Clay zu verstehen, dass er der Aufforderung nachkommen solle. Dieser fĂŒgte sich und verließ das Zimmer. “Ich werde dich nicht verraten, Schwester”, sprach Livia alsbald sich die TĂŒr geschlossen hatte. “Doch dafĂŒr erwarte ich eine Gegenleistung!” “Dir ist schon klar, dass du gerade nicht in der Position bist, Forderungen zu stellen?” “Was willst du dagegen tun? Mich umbringen?” Livia war klar, das dies nicht passieren wĂŒrde. ”Ich erwarte, dass du in die Arme unserer Mutter zurĂŒckkehrst und wieder den Willen Medeas ausfĂŒhrst. Dann werde ich ĂŒber dein... Techtelmechtel mit diesen Mann hinwegsehen und vor der Matriarchin verschweigen. Wie wirst du dich entscheiden?” Cerise hĂŒllte sich in Schweigen.   Zwei Tage spĂ€ter schien sich Henrik von seiner VerkĂŒhlung soweit erholt zu haben, dass die Gruppe ihre Reise endlich beginnen konnte. GĂ€be es da nicht noch das Hindernis mit dem abgesperrten Hafen. Dennoch hatte Nebula ihre Begleiter aufgefordert, sich am Hafen zu sammeln. Keiner hatte EinwĂ€nde diese schmutzige Stadt, einst ein florierender Hafen, schnellstmöglich hinter sich zu lassen. “Halt!”, sprach ein WĂ€chter und verwehrte den Zugang zur Esmeralda. “Der Hafen ist abgesperrt. Ihr dĂŒrft nicht passieren.” Nebula beantwortete dies mit einem grimmigen Blick. “Lasst sie durch!”, befahl auf einmal die Stimme des Kommandanten. Er trat aus dem dichten Dunst heraus. “Sie haben ihren Teil der Abmachung eingehalten.” Verwirrt sah der Mann seinen Befehlshaber an. Schon vor zwei Tagen hatte Nebula dem Kommandanten eine Karte ĂŒberreicht, welche sie anhand der Informationen ihres Gefangenen angefertigt hatte. Mit ihrer Hilfe konnten in der Zwischenzeit die ĂŒbrigen LagerstĂ€tten des Feenstaubs gefunden und das Rauschgift vernichtet werden. Auch wenn die IdentitĂ€t des Verantwortlichen weiter ein Geheimnis blieb, wurde dem organisierten Verbrechen ein herber Schlag zugesetzt. Drogen eines unbekannten doch garantiert sehr hohen Wertes waren verloren gegangen. Dieser Verlust wĂŒrde fĂŒr den Strippenzieher sicherlich nicht ohne Folgen bleiben. Triumphierend betrat Nebula die Galeere. Die anderen folgten ihr. Sie verstauten ihre Habseligkeiten unter Deck. Wenig spĂ€ter ließ der KapitĂ€n den Anker lichten und die Segel hissen. Das Ziel war das sagenumwobene WĂŒstenland Yjasul, von dem aus sie getarnt als WĂŒstenhĂ€ndler in Aschfeuer einzureisen planten. Allerdings wurde dem KapitĂ€n ganz flau im Magen, bei dem Gedanken, welche teuflischen GewĂ€sser sie auf dem direkten Seeweg kreuzen wĂŒrden, und das eigentlich keine Gefahrenzulage vom König hoch genug seien konnte, dieses Wagnis einzugehen Kapitel 16: Die FlĂŒche des Meeres --------------------------------- 🌱 Seit mindestens einer Woche bereisten Nebula und die anderen bereits die als diabolisch verschrienen GewĂ€sser. Doch anstatt der wilden und unberechenbaren Teufelssee, zeigte sich ihnen das Meer ruhig und zahm wie ein Schaf auf der Alm. Nicht ein LĂŒftchen verirrte sich in die Segel der Esmeralda, das Schiff welches der König ihnen fĂŒr ihre Reise bereitgestellt hatte. Nutzlos hing der Stoff von den drei Masten herunter und die Muskelkraft der Ruderer war das einzige, was den massiven Kahn in Bewegung hielt. Ähnlich zweckbefreit wie die Segel wĂ€hrend der Flaute, stand Nebula an der Reling. Die Unterarme auf sie gelegt und den Oberkörper leicht darĂŒber geneigt, blickte sie gedankenversunken hinaus in den Horizont. Noch konnte man keine Spur der KĂŒste von Eldora ausmachen. Einzig wegen der Tragödie auf dem großen Bankett, trat Nebula diese Reise an. Der König von Morgenstern ließ es veranstalten, um Ammon von Aschfeuer, dem Ă€ltesten Prinzen des Kaiserreich, seine Tochter Emelaigne als Braut vorzufĂŒhren, die dieser zwar nur aus Geschichten kannte, aber dennoch begehrte und um jeden Preis sein eigen nennen wollte. So versuchte der König, den zerbrechlichen Frieden zu wahren, indem er seine einzige Tochter darbot. Aber anstatt des Erben, schickte der Kaiser eine Delegation bestehend aus seiner erstgeborenen Tochter Prinzessin Lezabel und dem jĂŒngsten Spross Prinz Alaric. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Braut zu begutachten und ihre Eignung als Gemahlin seines Ă€ltesten Sohnes zu ĂŒberprĂŒfen. Es war der junge Prinz, der den Schwindel um die falsche Emelaigne enttarnte. Das Übel nahm jedoch schon drei Jahre zuvor seinen Lauf, als eine AttentĂ€terin in die GemĂ€cher der echten Emelaigne einbrach und versuchte, sie zu ermorden. Ihre Waffe war keineswegs ein gewöhnlicher Dolch, sondern Bloodbane, eine der verfluchten Teufelswaffen. Anstatt die Prinzessin zu töten, ging der Dolch eine Verbindung mit ihr ein und erschuf eine verdorbene Kreatur. Etwas, das der König niemanden prĂ€sentieren konnte und in Ketten gelegt, tief im Verlies einsperrte. Aus diesem Grund wurde eine Magd namens Caroline als DoppelgĂ€ngerin bestimmt, da sie Emelaigne glich, wie ein Ei dem anderen. Sie sollte die Rolle der Prinzessin spielen. Und sie spielte sie gut und ĂŒberzeugte die nĂ€chsten drei Jahre lang. Dennoch erkannte Alaric die Wahrheit durch die Abwesenheit eines unscheinbaren Muttermals und ließ das arme MĂ€dchen fĂŒr die TĂ€uschung mit ihrer Seele bezahlen. Das Holz der Reling splitterte, als sich Nebulas Finger tief hinein bohrten. Caroline musste nur wegen ihr leiden. Wegen ihr verfluchten Kreatur, welche einst den Namen Emelaigne trug und die Thronerbin von Morgenstern war. Nebula ging fĂŒr sie durch die Hölle, kĂ€mpfte, starb, kĂ€mpfte weiter und war dennoch außerstande, ihre Seele zurĂŒckzubringen. Nun lag Caroline unter Deck in einem Sarg und war gefangen im traumlosen Schlaf der Seelenlosen. “Bitte vergib mir, Caro”, sĂ€uselte sie hinaus auf den Ozean. “Vergib mir mein Unvermögen.” Nebula fĂŒhlte sich in der Tat wie ein Segel auf windstiller See. Nutzlos. Die KĂŒche des Dreimasters war wahrlich hochherrschaftlich, so wie man es von einer königlichen Galeere erwarten konnte. Eingerichtet mit dem edelsten Mobiliar und bestĂŒckt mit den feinsten Speisen, glaubte man nicht auf einem Schiff, sondern noch immer in der Hauptstadt zu sein. Der König ließ sich nicht lumpen und versorgte seine Tochter und ihr Gefolge fĂŒrstlich. Eigentlich war das Werkzeug seiner Wahl der Schmiedehammer, doch heute begnĂŒgte sich Henrik mit dem Schnitzelklopfer. Es war ihm, als habe er schon immer fĂŒr die Prinzessin gekocht. Dieses wunderschöne MĂ€dchen, deren Haare so golden wie die Kornfelder im Herbst, und deren Augen so blau wie der Himmel waren, auf das er sich immer wieder in ihnen verlieren konnte. Eine Frau, nach der sich die MĂ€chtigen und die Gewöhnlichen gleichermaßen verzehrten. Sie war nicht besonders groß, aber seine große Liebe. Seitdem sie ihm damals auf dem Markt seiner Heimatstadt die wĂŒtenden Kunden vom Hals gehalten hatte, welche ihn fĂŒr sein Schundhandwerk am nĂ€chsten Baum aufknĂŒpfen wollten, bekam er sie nicht mehr aus dem Kopf und folgte ihr ĂŒberall hin. RegelmĂ€ĂŸig hatte er sie in die unangenehme Lage gebracht, ihn beschĂŒtzen zu mĂŒssen. Immer dann fĂŒhlte er sich selbst wie ein hilfloses BurgfrĂ€ulein, welches von seinem Ritter gerettet werden musste. Ein schöner Mann war er! Bis er eines Tages in die Situation kam, sie retten zu mĂŒssen. Als das gleißende Licht seiner Liebe die Nacht zum Tag machte und Tote zurĂŒck ins Leben brachte, war es ihm wenigstens einmal vergönnt, ihr Held zu sein. Nebula. Emelaigne. Die Prinzessin von Morgenstern. Wie immer man sie auch nannte. All dies hatte fĂŒr ihn keine Bedeutung, solange er an ihrer Seite sein konnte. Diesem MĂ€dchen wĂŒrde er selbst dann folgen, trĂŒge sie abgewetzte Fetzen und lebten in der Gosse. Überall hin. Bis zum Ende der Welt und darĂŒber hinaus. Also klopfte er das Schnitzel windelweich. Immerhin musste das Essen munden! Das Abendrot der DĂ€mmerung fiel durch ein Fenster in der hölzernen Wand auf das kleine Bett in der KajĂŒte. Die Lichtstrahlen beschienen ein MĂ€dchen mit langen orangeroten Haaren, das auf dem Bett lag und vergnĂŒgt mit seinen Beinen auf und ab wippte, wĂ€hrend es in die Geschichte in dem MĂ€rchenbuch vertieft schien. Es war eine Geschichte ĂŒber mutige Helden, welche sich ihrem Schicksal und den MĂ€chten des Bösen entgegenstellen und gemeinsam fĂŒr eine bessere Welt kĂ€mpfen. Annemarie mochte solche MĂ€rchen. Noch wusste sie nicht, wie die Geschichte enden wĂŒrde. Sie hoffte auf ein Happy End. In den MĂ€rchen, die sie verschlang, erhoffte sie sich die Antworten auf ihre eigenen Fragen. Sie versuchte, die Leere in ihrem Kopf mit angeregter Fantasie zu fĂŒllen. Dachte sie an ihre Vergangenheit, war dort nichts außer einer gewaltigen schwarzen Leere. Wer war sie und woher kam sie eigentlich? Sie konnte sich an nichts erinnern, das vor der Vollmondnacht geschah, in der sie auf Henrik traf. Als hĂ€tte sie vorher nicht existiert. War sie vielleicht auch eine Prinzessin, die durch einen Fluch alles vergessen hatte und gezwungen war, auf der Straße zu leben, oder stiegen ihr nun doch die Geschichten allmĂ€hlich zu Kopf? Sie beschloss, das Lesen fĂŒr heute einzustellen. Bald wĂ€re es sowieso zu dunkel geworden. Stattdessen entschied sie, hinunter in die KombĂŒse zu gehen. Vielleicht konnte sie Henrik beim Kochen helfen. Das Buch fand seinen Platz auf den kleinen Beistelltischlein neben dem Bett und Annemarie begab sich in die KĂŒche. Die grĂ¶ĂŸte KajĂŒte neben der des KapitĂ€n hatte weder die Prinzessin noch sonst wer bezogen. Stattdessen genehmigten sich Clay und Cerise diesen Luxus. Es war der einzige Raum auf der Esmeralda, welcher groß genug war, ein Doppelbett unterzubringen. Niemand wollte miterleben, wie sich einer der Beiden mit Entzugserscheinungen auffĂŒhren tĂ€te, geschweige denn beide auf einmal. Darum war auch keiner eingeschritten, als Cerise sofort ihren Anspruch deutlich machte und sich und Clay in der KajĂŒte einquartierte. Gerade lagen sie zusammen im Bett - eigentlich gab es kaum eine Gelegenheit, bei der sie das nicht taten. Sie konnten einfach nicht voneinander lassen und in jenem Moment war es auch nicht anders. Clay fĂŒhrte eine StrĂ€hne von Cerises offenen kirschrotem Haar unter seiner Nase und inhalierte ihren Duft. Sofort reagierte das Halbblut darauf und wand sich um ihren Liebhaber, wie eine WĂŒrgeschlange um ihre chancenlose Beute. “Hat das Biest noch immer Appetit?”, fragte sie ihn mit erotischem Unterton. Eigentlich mochte Clay es ĂŒberhaupt nicht, wenn man ihn daran erinnerte, dass er ein verfluchter Lykantroph war, verdammt dazu sein Leben lang den Mondschein zu fĂŒrchten. Und als Werwolf wĂŒrde dieses Leben voraussichtlich wesentlich lĂ€nger andauern als das eines gewöhnlichen Menschen. Auch wenn er dank Cerises Hilfe das Biest im Griff zu haben schien, beunruhigte ihn der Fluch, der auf ihm lastete, noch immer. Die Angst, irgendwann doch die Kontrolle zu verlieren, war sein stetiger Begleiter. Darum wollte er am Besten gar nicht daran denken. Doch seiner Geliebten ließ er es durchgehen, ihn daran zu erinnern. Das war nicht das einzige, bei dem er ein Auge zudrĂŒckte. “Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden das unersĂ€ttliche Biest ist.” “Das mĂŒsst Ihr Euch schon selbst beantworten.” Cerise streifte Clay durch dessen dichte schwarze Gesichtsbehaarung. Aus ihr wurde er nicht schlau. Als er sie das erste Mal traf - und auch bei einigen Begegnungen danach - wollte sie ihn noch umbringen. Damals kĂ€mpften sie bis aufs Blut. Sie war eine Meuchelmörderin vom geheimnisumwobenen Orden der Schattenschwestern. Eine Vereinigung, die nur aus Frauen bestand, und im Namen der Mutter der Zwietracht gegen Bezahlung spionierte und mordete. Inzwischen war sie allerdings auch seine Geliebte. Verband sie nur fleischliche Lust, oder war da doch mehr? Ihm kam in den Sinn, dass sie ihn stets förmlich ansprach und noch nie ihre Liebe bekundet hatte. Vielleicht musste er einfach den Anfang machen. “Cerise, ich liebe dich!”, sagte er ihr im sanftesten Ton, zu dem er mit seiner tiefen mĂ€nnlichen Stimme imstande war. Die Rothaarige sah ihn mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund an. Clay fĂŒrchtete, zu weit gegangen zu sein. Plötzlich verzog sich Cerises Mund zu einem LĂ€cheln. “Ich war heute wohl einfach zu gut”, zog sie es ins LĂ€cherliche. “Ihr mĂŒsst mit Euren Scherzen aufpassen, Clay, sonst glaubt Ihr es noch selbst.” Nach diesen Worten sprang sie förmlich von ihm ab und aus dem Bett. Sie suchte ihre Kleidung zusammen, welche sie zuvor voll der Vorfreude ĂŒberall im Raum verteilt hatte. Der Anblick ihres makellosen schlanken Körpers konnte Clay allerdings nicht darĂŒber hinwegtĂ€uschen, dass sie ihm auswich. “Ich meine es ernst!” Die Rothaarige sah kurz ĂŒber ihre Schulter zu ihm und tat es mit einem einfachen “Ja, ja” ab. Danach begann sie damit, sich zu bekleiden. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Reaktion nicht die war, welche sich der schwarzhaarige JĂ€ger erhofft hatte. Wie ein knauseriger HĂ€ndler bot dieses Frauenzimmer seine Geheimnisse nur zum richtigen Preis feil. Und der war Clay leider unbekannt. Spielte sie nur mit ihm? War er fĂŒr sie nichts weiter als ein Lustobjekt? Nein, das konnte nicht sein. Er weigerte sich, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Niemand wĂŒrde freiwillig bei Vollmond zu einem angeketteten und wĂŒtenden Werwolf gehen, nur um etwas auszuprobieren. Niemand wĂŒrde eine ganze AttentĂ€tersekte hintergehen und das Ziel eines Anschlags am Leben lassen. Wenn bei diesen Gelegenheiten keine GefĂŒhle im Spiel gewesen sein sollen, was dann? Er wĂŒrde sie schon dazu bringen, endlich reinen Tisch zu machen. Jedenfalls konnte es so nicht weitergehen! Das Abendmahl wurde angerichtet. Die Besatzung der Esmeralda versammelte sich in der Messe, um gemeinsam zu essen und sich auszutauschen. Sie saßen verteilt um zwei lange Tische auf Hockern und BĂ€nken. Auch Nebula, Clay und Cerise hatten sich eingefunden. Lautstark war das Klagen der Ruderer, welche sich ihre Mahlzeit mehr als nur verdient hatten. Die tagelang andauernde Flaute zehrte bei jedem an den Nerven, doch betraf diese MĂ€nner direkt. Sie wĂŒnschten sich nichts sehnlicher, als dass endlich wieder Wind in die Segel blies. Jetzt wollten sie wenigstens etwas Handfestes zwischen die Kiemen bekommen. Also polterten sie ungeduldig mit dem Besteck auf dem Tisch. Auch der Rest der Meute zĂŒgelte sich wenig. Die TĂŒr zur KombĂŒse wurde aufgestoßen. Ein Wagen mit einem großem Topf und einigen mit Tellern abgedeckten Schnitzeln darauf wurde von der zierlichen Annemarie hinein in die Messe geschoben. Unter dem Topf befand sich eine weitere Ebene, auf der Teller und Ersatzbesteck bereit lagen. Das MĂ€dchen wollte Henrik unbedingt helfen, verstand aber nicht das geringste vom Kochen. Folglich konnte er ihr nur einfache Hilfsarbeiten und im Anschluss daran den Job des Kellners anbieten. Trotzdem erfĂŒllte Annemarie die ihr aufgetragenen Aufgaben mit Wonne und verteilte die Mahlzeiten an die Wartenden. Unterdessen begab sich der Koch an den Tisch. Henrik setzte sich auf den freien Hocker gegenĂŒber von Nebula. Beide mussten nicht lange warten, bis auch sie ihr Abendessen erhielten. “Das machst du aber fein, Annemarie”, lobte Henrik das MĂ€dchen. “Dankeschön”, erwiderte der kleine Rotschopf. Clay und Cerise waren derweil schon voll und ganz mit der Nahrungsaufnahme - oder auch miteinander - beschĂ€ftigt und bekamen nicht mehr viel mit. Nebula erhob die archaische Gabel mit den zwei Spießen mit der linken Hand und wollte sogleich in das GemĂŒse hinein pieksen, als plötzlich ihre Hand zu zittern begann, sodass sie ihr Besteck aus Versehen auf den Teller fallen ließ. Auf das Poltern folgten schnell die Blicke ihres GegenĂŒbers. Nebula starrte entsetzt auf ihre Hand, die sich noch immer unkontrolliert bewegte. “W-Was hast du?”, fragte Henrik besorgt. Die Blondine brachte ihre Hand dazu, wieder ihren Befehlen zu gehorchen und nahm die Gabel auf. “Es ist nichts!”, behauptete sie. Henrik hörte nicht auf, sie so anzusehen. “Aber...” Konnte er nicht einfach so tun, als habe er nichts gesehen, anstatt sie so anzuschauen? Schnell benutzte sie das Besteck und zerteilte die Kartoffel, um so zu demonstrieren, dass mit ihr alles in Ordnung war. Im Anschluss stopfte sie sich das viel zu groß geratene StĂŒck in den Mund. Auf diese Weise musste sie seine Fragen nach ihrem Befinden nicht beantworten. Das funktionierte auch wunderbar mit dem Schnitzel. Sie verfuhr mit dieser Taktik weiter, bis sie ihre Portion aufgegessen hatte. Dann stand sie auf, rĂ€umte ihr Geschirr auf den leeren Wagen und verließ die Messe. Dabei zwang sie ihre linke Hand unter zuhilfenahme der rechten stillzuhalten. “Habt i-ihr das gesehen?”, wandte sich Henrik an die anderen. “Was denn?”, fragte Cerise. “I-Ihre Hand hat gezittert. Habt ihr das nicht mitbekommen?” “Ist mir nicht aufgefallen. Dir, Clay?” Der JĂ€ger schĂŒttelte mit dem Kopf. “Hoffentlich nichts schlimmes!”, ergĂ€nzte Annemarie, die inzwischen auch zum Essen kam und nicht weit von ihnen einen Platz gefunden hatte. “Selbst wenn, man mĂŒsste sie schon bewusstlos schlagen, damit sie einen Heiler an sich heranlassen tĂ€te”, stellte Cerise fest. Ja, in der Tat! So und nicht anders. Henrik seufzte. 🌱 Alles war ins Wanken geraten. Weder das Pfeifen des Windes, oder die peitschenden schweren Regentropfen, noch das Stoßen der Wellen an die Schiffswand waren es, die Henrik aus dem Schlaf rissen. Ein greller Blitz, gefolgt von einem ohrenbetĂ€ubend lauten Donnergrollen, ließ den braunhaarigen Handwerksgesellen mitten in der nĂ€chtlichen Dunkelheit aufschrecken. Unmittelbar danach zuckte ein weiterer Blitz durch die Wolken und ein Krach von apokalyptischer LautstĂ€rke ließ Henrik glauben, dass die Welt gerade drauf und dran war, unterzugehen. Eigentlich hatte er keine Angst vor Gewitter. Aber gepaart mit der Kraft des Ozeans, dessen hohe Wellen sich die Esmeralda wie ein Spielball in einer Mannschaftssportart immer wieder gegenseitig zuspielten, flĂ¶ĂŸte ihm das Unwetter gehörigen Respekt vor den Naturgewalten ein. Der Aufprall einer weiteren Wasserwand ließ das Schiff erbeben und etwas Schweres von einem Regal auf den Boden stĂŒrzen. Henrik hoffte, wieder einzuschlafen und dann aufzuwachen, wenn der Spuk vorĂŒber wĂ€re. Doch seine Kalkulation ging nicht auf. Das Schwanken des Schiffes und die GerĂ€usche des pfeifenden Windes, der unbarmherzigen Wellen und der gnadenlosen Blitze hielten ihn wach. Weil er nicht schlafen konnte, stand er stattdessen auf und bekleidete sich notdĂŒrftig in der Dunkelheit. Vielleicht konnte er irgendwie helfen. Das wĂ€re allemal mĂ€nnlicher, als im Bett zu verbleiben und das Ende des Unwetters abzuwarten. Schnell war er bereit zu gehen. Sein Fuß stieß gegen den zuvor heruntergefallenen Gegenstand, was ihn fast zu Fall brachte, hĂ€tte er sich nicht an dem Knauf der TĂŒr zu seiner KajĂŒte festgehalten. Leicht humpelnd verließ er den Raum und ging den spĂ€rlich ausgeleuchteten Gang entlang, der ihn an Deck fĂŒhren wĂŒrde. “Fiert das Hauptsegel!”, hallte der Befehl des KapitĂ€ns ĂŒber das durchnĂ€sste Deck der Esmeralda. “Und setzt die Pinne zum Baum!” Eiligst erfĂŒllte die Mannschaft ihre Aufgaben. TollkĂŒhne MĂ€nner, unter ihnen auch Clay, erklommen die MĂ€ste und zerrten die Segel in den Wind. Am Heck mĂŒhten sich die Matrosen ab, die Taue zu befestigen, welche das Ruder im Luv - also in Richtung des Windes - halten sollten. Mit diesem als “anluven” bezeichneten Manöver, versuchte der KapitĂ€n sein Schiff sicher abzuwettern. Es half, die Esmeralda auch bei starken Seegang unter Kontrolle zu behalten, wĂ€hrend alle das Ende des Sturms erwarteten. Der KapitĂ€n musste dringend verhindern, dass das Schiff mit dem Bug in die Wellen einsteckte, was unmittelbares Kentern nach sich zöge! Aber die mit dem salzigen Meerwasser vollgesogenen Seile waren fĂŒr die Matrosen kaum zu halten. Das Schiff drohte achteraus zu treiben. Auf seinem Weg an Deck traf Henrik auf Annemarie und Cerise. “Hallo Leute”, begrĂŒĂŸte er sie. “Na schau mal an, wer sich aus dem Bett getraut hat”, stichelte die Halbelfe. “Henrik, ich hab Angst!”, gestand Annemarie ein. “Was macht ihr hier?”, wollte der Geselle wissen. “Der KapitĂ€n hat allen Frauen und Kindern befohlen, unter Deck zu gehen”, teilte Cerise mit. “Mir soll’s Recht sein. Muss ich mich wenigstens nicht anstrengen.” Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand fehlte. “Wo ist denn Nebula?” “Die wuselt zusammen mit Clay oben an Deck herum.” “Aber hat der KapitĂ€n nicht gesagt...” “Das hat sie bestimmt ĂŒberhört”, mutmaßte Annemarie. “In eurer Beziehung bist sowieso du das schwache Geschlecht”, Ă€rgerte Cerise Henrik. “Also bleib du mal schön bei uns unter Deck.” Die Aussage der Rothaarigen stachelte ihn nur noch mehr an, an Deck zu gehen und Nebula und Clay irgendwie unter die Arme zu greifen. Mutig stĂŒrmte er die halbe Treppe hinauf und stemmte die TĂŒr zum Deck auf. In diesem Moment blies eine Windböe gegen das Brett und stieß sie umgehend wieder zu. Henrik bekam die TĂŒr direkt ins Gesicht geschlagen und wurde rĂŒckwĂ€rts die Treppe hinunter geworfen, nur um zu FĂŒĂŸen von Annemarie und Cerise zu landen. “Ich hab doch gesagt, du sollst es bleiben lassen”, belehrte das Halbblut. Henrik befĂŒhlte seine Nase und stellte fest, dass sie blutete. “Aua!” “Komm mit, ich kĂŒmmere mich darum”, bot Annemarie an. Henrik folgte ihr, ohne Anstalten zu machen. Den Plan, an Deck seinen Mann zu stehen, hatte er inzwischen verworfen. Er tĂ€te mit blutiger Nase sowieso keinen guten Eindruck bei Nebula hinterlassen. Darum ließ er sich von Annemarie verarzten und wollte nun doch warten, bis der Sturm nachließ. Nebula war völlig durchgeweicht. An Deck versuchte sie zu helfen, wo sie konnte, anstelle sich unter Deck vor den Naturgewalten zu verstecken, wie es der KapitĂ€n eigentlich von ihr verlangt hatte. “Frauen und Kinder unter Deck”, lautete der Befehl des alten SeebĂ€ren. Diese Vorsichtsmaßnahme schlug Nebula allerdings in den Orkanwind. Sie verabscheute Ungleichbehandlung aufgrund ihres Geschlechtes. Selbst dann, wenn es ihr zum Vorteil gereichte und zu ihrer eigenen Sicherheit beitrug. Lieber wĂŒrde sie ertrinken, als das hilflose Frauchen zu spielen. Sie konnte nicht herumsitzen und anderen die Arbeit ĂŒberlassen! Nebula eilte an das Heck, um die MĂ€nner dort zu unterstĂŒtzen. Sie packte das Ruder mit bloßen HĂ€nden. “Was macht Ihr da?”, fragte einer der Nebenstehenden verwundert. Die Blondine stöhnte genervt. “Wonach sieht es denn aus?”, fuhr sie den Mann an. “Ich halte das Ruder im Lov.” “Aber wie könnt Ihr...” Wie eine zierliche Frau von um die eins-sechzig mit bloßer Muskelkraft gegen den Wasserdruck wĂ€hrend eines Unwetters halten konnte, war ihm absolut unbegreiflich. Nebula stemmte ein Bein gegen das Heck, um noch mehr Kraft auf das Ruder zu wirken. Dabei Ă€chste das Holz bedrohlich. Aber tatsĂ€chlich: Hand in Hand mit den ausgerichteten Segeln gelang es, die Esmeralda auf Kurs zu halten. Mit dem neuen Morgen kam der Sonnenschein zurĂŒck und eine steife Briese fĂŒllte die Großsegel der Galeere. Sollte der Wind weiter so gĂŒnstig stehen, könnten sie es innerhalb einer Woche bis nach Yjasul schaffen. Das reiche Kalifat der WĂŒste war zwar nur ein Zwischenstopp auf ihrer Reise, dennoch handelte es sich nicht einfach nur um eine tote WĂŒste mit ein paar Kamelreitern und TurbantrĂ€gern, fĂŒr welche eine ErwĂ€hnung als Fußnote ausreichte und die man ansonsten getroßt auslassen konnte. Ein riesiges Reich, welches den gesamten SĂŒden kontrollierte, in dem der einzige Gott das Geld war und man jeden Segen und jeden Fluch mit barer MĂŒnze erwerben konnte. Nebula und die anderen wollten in die Rolle von HĂ€ndlern aus dem SĂŒden schlĂŒpfen, um sich so ohne Aufsehen zu erregen in das angrenzende Aschfeuer, die Heimat der Schwarzelfen, einzuschleichen. Besser als mit einer königlichen Galeere vor der HaustĂŒr des Kaisers vor Anker zu gehen, war es allemal. Schließlich waren sie auf geheimer Mission! Seite an Seite standen Henrik und Nebula an der Reling und sahen hinaus auf die beruhigte See, unterbrochen von heimlichen Blicken, welche sie sich abwechselnd zuwarfen, wenn sie glaubten, der jeweils andere bekĂ€me es nicht mit. Seitdem Henrik sie in dieser einen Nacht zu aufdringlich betatschte, war Nebula auf die Bremse getreten und hatte einiges an Fahrt aus ihrer Beziehung genommen. Henrik akzeptierte, dass sie noch nicht bereit fĂŒr zu viel ZĂ€rtlichkeit war. Gelinde gesagt war er froh, denn sein eigenes Tempo machte ihm Angst. Ganz in Gedanken versunken bemerkte er erst nicht, dass sich zaghaft eine Hand kontaktsuchend auf der Reling an ihn heran schlich. Doch dann streckte er ebenso zurĂŒckhalten die seine entgegen, bis sich ihre Fingerspitzen berĂŒhrten. Etwas entfernt beobachteten Clay und Cerise die Szene. Die Rothaarige lehnte lĂ€ssig am Mast und guckte zwischen ihrer Beobachtung immer mal wieder auf ihre FingernĂ€gel. Clay hingegen stand aufrecht wie ein TĂŒrsteher zum SchĂŒttelbunker mit stolz geschwellter Brust und verschrĂ€nkten Armen. “Sind sie nicht niedlich?”, fragte der Lykantroph mit kreidesanfter Stimme. “Ist nur ein bisschen langweilig”, entgegnete Cerise. “Ihrer Beziehung tĂ€te etwas mehr Action gut.” “Sie sind doch noch halbe Kinder.” “Sie sind achtzehn. Ich hatte mein erstes Mal schon fĂŒnf Jahre frĂŒher.” Clay sah sie daraufhin entgeistert an. “Was denn?!” “Solltet Ihr solche Dinge nicht lieber fĂŒr Euch behalten?” “Wir Schattenschwestern sind nicht an diese beengenden Moralvorstellungen der Gesellschaft gebunden. Außerdem habe ich ihn kurz darauf die Kehle aufgeschlitzt.” In Clays Gesicht machte sich Entsetzen breit. “Beruhigt Euch, er hatte es verdient. Er verging sich an jungen MĂ€dchen. Die waren zum Teil noch jĂŒnger als die kleine NervensĂ€ge.” “Das ist es nicht. Ich komme noch immer nicht damit klar, dass Ihr so locker ĂŒber einen Mord sprechen könnt. Und dann auch noch einen, den Ihr als Kind begangen habt.” “Ich bin auch nicht groß stolz drauf. Große Sauerei und ganz schlechte Umsetzung. Es war nicht nur mein erster mĂ€nnlicher Beischlaf, sondern auch mein erster Lequidierungsauftrag.” Als JĂ€ger war Clay das Töten nicht fremd, aber wie unbeschwert diese Frau in einem Atemzug gleichzeitig von ihren sexuellen Kontakten und ihren Tötungen sprechen konnte, als rede sie ĂŒber das Wetter, trieb ihm einen kalten Schauer den RĂŒcken herunter. Und ausgerechnet in so eine Person musste er sich verlieben... WĂ€hrend sie noch immer HĂ€ndchen hielten, fiel Henriks Blick auf die WasserflĂ€che. Bildete er sich das nur ein, oder war das Meer unter dem Schiff viel dunkler als es sein sollte. “Hey, Nebula”, machte er die Prinzessin darauf aufmerksam. “Schau mal. Weißt du, was da los ist?” “Nein”, antwortete sie mit Sorgen erfĂŒllter Stimme. Im nĂ€chsten Moment ertönte auch schon ein Warnsignal vom Ausguck auf dem Mast und Nebula zerrte Henrik von der Reling weg. Aus heiterem Himmel schossen lange rosarote Strukturen aus dem Wasser, welche wild in der Luft herumwirbelten und einer nach dem anderen die Esmeralda umschlang. Ein mĂ€chtiges Gebilde erhob sich aus dem Wasser. Ein etwa Teller großes tiefschwarzes Auge starrte Henrik an. Ein Riesenkrake war aus den Tiefen des Ozeans emporgestiegen und wollte die Esmeralda mit samt der Besatzung zum FrĂŒhstĂŒck verspeisen. “Ist das die Action, die in ihrer Beziehung noch fehlt?”, scherzte Clay und wollte seinen Bogen ergreifen. Blöd nur, dass heute einer dieser Tage war und seine Waffe noch in der KajĂŒte lag, anstatt ĂŒber seiner Schulter zu hĂ€ngen. Henrik setzte sich vor Schreck auf den Hosenboden, als das imposante Ungeheuer sich vor ihm zur vollen GrĂ¶ĂŸe entfaltete. “Beim Klabautermann!” Die FlĂŒche des KapitĂ€ns konnte man ĂŒber das ganze Deck deutlich verstehen. “Erst der Sturm und jetzt auch noch das! Der Meeresgott meint es nicht gut mit uns!” Er wandte sich seiner Besatzung zu. “Macht die Harpunen klar! Das Vieh schicken wir zurĂŒck in die Teufelssee!” Eilig bewaffneten sich die Soldaten mit Harpunen oder Macheten und begannen damit, die Arme des Kraken einzuhacken und einzustechen. Alles in Allem mit wenig Effekt. Auch Clay, Cerise und Nebula machten sich kampfbereit. Clay zĂŒckte sein Jagdmesser, Cerise ihr Stilett. Nebula wollte gerade eine Waffe beschwören, als schon wieder eine Hand zu zittern begann. Dieses Mal handelte es sich um die rechte. Ihren Schwertarm. Das konnte sie jetzt absolut nicht gebrauchen! WĂ€hrend Henrik damit beschĂ€ftigt war, rĂŒckwĂ€rts ĂŒber das Deck zu krabbeln, fiel ihm wieder ein, dass er die ganze Zeit eine Waffe an seinem Bund trug. Das Schwert, welches er damals mit dem “magischen Hammer” angefertigt hatte. Inzwischen wusste er zwar, dass die Magie von ihm selbst ausging, eine gute Waffe war das Schwert dennoch. Mutig und voll mit jugendlichen Leichtsinn und SelbstĂŒberschĂ€tzung zog er es und stĂŒrmte auf einen der mit SaugnĂ€pfen ĂŒbersĂ€ten Fangarme zu. WĂ€hrend sich ihr Freund völlig atypisch verhielt, kĂ€mpfte Nebula noch immer mit der Fassung und ihrer außer Kontrolle geratenen Gliedmaße. Diesmal blieb es auch den anderen nicht verborgen. Cerise schlitzte gerade noch einen Tentakel des UngetĂŒms und Clay traktierte einen weiteren mit seinem Messer, als beide zur Prinzessin schauten, die wie versteinert herumstand, wĂ€hrend Henrik das Schwert schwang. Es war ein ungewohntes und vor allem unwirkliches Bild. Der sonst so feige Bursche kĂ€mpfte mutig gegen das Monster, wĂ€hrend Nebula keine Reaktion zeigte. Sie wollten sie aus ihrer Schockstarre herausholen, hatten aber alle HĂ€nde voll zu tun, sich zu verteidigen, als weitere Arme des Kraken auf sie zu schnellten. Die Matrosen waren mit Überleben beschĂ€ftigt und stellten auch keine große Hilfe gegen das Monster dar. Einen improvisierten Kampfschrei schmetternd, hackte Henrik auf einen Arm ein. Dieser war jedoch so dick, dass er auch unter Einsatz all seiner Kraft nicht dazu imstande war, ihn zu durchtrennen. “Du v-verdammtes Dr-Drecksvieh!”, machte er seinem Ärger Luft. “L-Lass m-meine Freunde in Ruhe!” Hinter ihm nĂ€herte sich ein weiterer Tentakel. Nebula erwachte aus ihrer Starre. “Pass auf!”, rief sie Henrik zu. Dieser drehte sich um, aber es war bereits zu spĂ€t. Der Krake schleuderte ihm das Schwert aus den HĂ€nden. Es flog im hohen Bogen davon und bohrte sich außer seiner Reichweite in die Schiffsplanken des Decks. Der Krake packte Henrik. Der Braunhaarige spĂŒrte, wie das Ungeheuer die Luft aus ihm herausquetschen wollte. Verzweifelte Befreiungsversuche blieben erfolglos. Aus dem Todesgriff der Bestie schien es kein Entkommen zu geben. “H-Hilfe!” Nebula wollte ihn retten, aber noch immer spielte ihr Arm verrĂŒckt. Der Krake wĂŒrde Henrik in die Tiefe zerren und sie stand einfach nur herum und tat nichts, um ihm zu helfen! Sie sackte zusammen auf die Knie. “Hilfe!” Abermals erflehte er seine Rettung. WĂ€hrend er zappelte und zerrte, um vielleicht doch noch zu entkommen, schaute er sich um. Das riesige schwarze Auge starrte ihn noch immer an. Henrik sah wieder auf das Deck und fixierte sein Schwert. Da kam ihm der rettende Gedanke. Es bestand aus Metall. Das konnte er sich zu Nutze machen! Anstatt mit den Armen gegen die Kraft des Tiefseemonsters anzukĂ€mpfen, streckte er den linken in Richtung seiner Waffe aus. Er hatte es noch nie aus einer solchen Entfernung probiert, aber er hatte keine Wahl. Es musste einfach funktionieren! Nebula wurde aus ihrer Verzweiflung gerissen, als Henriks Schwert neben ihr zu wackeln begann. Sie konnte sehen, wie es langsam von einer unsichtbaren Kraft aus dem hölzernen Untergrund gezogen wurde. Henrik fĂŒhlte, wie ihm langsam die KrĂ€fte verließen. Der Krake drĂŒckte immer fester und fester. Und das verdammte Ding saß einfach zu fest. Einmal noch konzentrierte er sich und tatsĂ€chlich erhob sich die Waffe und raste auf ihn zu. Im Flug ließ er sie sich drehen, sodass die Spitze auf ihn zeigte. Durch eine geringe Kurskorrektur schnellte das Schwert haarscharf an ihm vorbei direkt in den schwarzen Abgrund des Krakenauges und bohrte sich bis zum Anschlag in das Untier hinein, gefolgt von einem monströsen BrĂŒllen. Die Wunde in seinem Auge musste den Riesenkraken sehr schmerzen, denn sein Griff um Henrik lockerte sich und er ließ ihn fallen. Gerade noch rechtzeitig! Bewusstlos schlug er auf dem Deck auf. Die anderen Arme lösten ebenfalls ihren Griff um das Schiff. Clay, Cerise und die Matrosen dachten dennoch im Traum nicht daran, ihre Deckung zu vernachlĂ€ssigen. “Zum Teufel!”, schrie der KapitĂ€n. “Erledigt mal einer das Vieh endlich!” Der Anblick ihres reglos am Boden liegenden GefĂ€hrten erweckte neue KrĂ€fte in Nebula, und half ihr, ihren Arm endlich wieder in den Griff zu bekommen. Diese Kreatur hatte es gewagt, Henrik zu verletzen. DafĂŒr sollte sie ihren Zorn zu spĂŒren bekommen! Nebula erhob ihren wieder unter Kontrolle gebrachten rechten Arm. Dunkel schimmerten die Arterien unter ihrer Haut hervor und breiteten sich immer weiter aus. “Durchstoße die Herzen meiner Feinde, Lancelot!” Pechschwarzer Äther trat hervor und formte eine Lanze. Sie schimmerte und strahlte vor teuflischer Energie. Mit dem Erhalt ihrer Waffe funkelten Nebulas Augen weithin sichtbar rubinrot. Ein kraftvoller Sprung erhob sie hinauf in die Luft. Der Besatzung der Esmeralda blieb nur das Staunen. Weit oben ĂŒber dem Schiff kanalisierte Nebula ihre Kraft. “Überschallstoß!” Sie stieß ihre Waffe dem Riesenkraken entgegen. Die Lanze verlĂ€ngerte sich schneller als der Schall und schlug mit einem lauten Knall in der Kreatur neben der Esmeralda ein. Nachdem sie sich mindestens so schnell wieder zurĂŒckgezogen hatte, blieb ein kreisrundes Loch zurĂŒck. Sofort stĂŒrzten die zuvor noch aufgeregt zitternden Fangarme des Kraken leblos in die See. Die große Masse der Körperteile erschuf Wellen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Im nĂ€chsten Moment spĂŒrte Nebula wieder festen Boden unter ihren FĂŒĂŸen, als sie auf dem Deck der Esmeralda aufkam. Dabei stĂŒtzte sie sich zusĂ€tzlich mit der linken Hand ab, wĂ€hrend die rechte ihre Lanze am ausgestreckten Arm hinter ihrem RĂŒcken hielt. Die Waffe verschwand und mit ihr die rubinroten Augen und die hervorstehenden Adern. “Ein Hoch auf unsere Prinzessin!”, jubelte der KapitĂ€n. Seine Mannschaft stimmte mit ein. Aber Nebula war nicht freudig gestimmt. Rotes Monsterblut breitete sich derweil im Meerwasser um das Schiff aus. Besorgt eilte Nebula zu Henrik. Sie legte ihre Finger auf seinen Hals und fĂŒhlte den Puls. Erleichtert atmete sie auf, als sie feststellte, dass er tatsĂ€chlich nur bewusstlos war. Er wĂŒrde sicher in ein paar Momenten wieder fit sein. Aber um ein Haar wĂ€re er gestorben. Einzig, weil sie ihren verfluchten Körper nicht im Griff hatte. Das durfte nie wieder passieren! Cerise sah sich um. Überall schwammen die Arme des toten Riesenkraken herum. “Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen”, meinte sie. “Was zum Teufel machen wir mit dem Kadaver?” Clay schaute aus, als ob ihm da schon etwas vorschwebte. 🌱 Nachdem er ihn in seine KajĂŒte getragen hatte, legte Clay Henrik in dessen Koje und ließ anschließend Nebula allein mit ihm. Er sorgte sich um Nebulas Gesundheit, aber ihm war auch bewusst, dass sie ihm wahrscheinlich nichts sagen wĂŒrde. Sie zeigte ums Verrecken keine SchwĂ€che. Wenn jemand eine Chance hatte, aus diesem sturen MĂ€dchen etwas herauszubekommen, dann war es Henrik. Und so verstrichen ungezĂ€hlte Momente. Noch immer saß die Prinzessin neben dem Schmiedegesellen auf dem Bett und wartete darauf, dass er endlich aufwachte. Vorsichtig öffnete Henrik die Augen. “Bin i-ich im Himmel?”, fragte er, als das allererste, was er sah, Nebula war. “Das konnte ich gerade noch verhindern”, sprach die Blondine mit melancholischen Unterton. Ihr Herz war noch immer schwer. BetrĂŒbt von dem Empfinden, die Menschen, die ihr wichtig waren, nicht beschĂŒtzen zu können, trotz der teuflischen Macht, ĂŒber die sie verfĂŒgte. Innerlich hin und her gerissen zwischen ihrem PflichtgefĂŒhl und ihren Minderwertigkeitskomplexen, trug sie weiter die Maske der Unnahbarkeit, hinter der sie sich stets zu verstecken versuchte. “Danke, dass du mich gerettet-” “Bedanke dich nicht, du Trottel!” Urplötzlich war sie erregt. “Ich bin an allem Schuld! WĂ€re ich nicht so... schwach gewesen, dann-” Henrik richtete sich auf und umarmte sie. “D-Das ist doch nicht schlimm. Wir sind alle manchmal schwach. Letztlich hast du mich gerettet. Mehr muss ich nicht wissen.” Als er sie so ansah mit seinen ehrlichen Augen, bemerkte sie gar nicht, wie sich ihre Lippen allmĂ€hlich annĂ€hern, bis sie sich in einem Kuss vereinigten. Henrik umschloss Nebula mit seinen Armen. Er gab ihr das angenehme GefĂŒhl, sich fallen lassen zu können. Langsam sanken beide zurĂŒck auf das schmale Bett, ohne dabei den Austausch von ZĂ€rtlichkeiten zu unterbrechen. Nebula gelang es, sich von Henriks Mund zu lösen und zu sprechen. “Ich hĂ€tte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert”, sagte sie ungewohnt offen. “Ich glaube daran, d-dass du mich immer retten kommst, wenn ich i-in der Scheiße stecke”, entgegnete der Braunhaarige und versuchte sie wieder zu sich heranzuziehen und weiter KörperflĂŒssigkeiten mit ihr auszutauschen. Aber sie bewegte sich kein StĂŒck zu ihm, ungeachtet dessen, mit wie viel Kraft er an ihr zog. “Vollidiot!”, schimpfte Nebula. “A-Aber...” “Diese Scheiße ist doch erst passiert, weil-” “Es ist in Ordnung!” “Nichts ist in Ordnung!” Nun entzog sie sich ihm vollends und stand auf. “Wegen diesem... Problem wĂ€re es fast zu spĂ€t gewesen.” “Was war eigentlich los?” “Ich weiß es nicht.” Die Blondine sah bedrĂŒckt zu Boden. “Vor einigen Wochen fing es an. Seitdem habe ich immer wieder diese... AnfĂ€lle.” “A-Aber ich habe nichts bemerkt.” “NatĂŒrlich nicht!”, funkelte Nebula Henrik an. ”Denkst du, ich trete das ĂŒberall breit?! Du spinnst wohl!” “Aber mir kannst du doch alles sagen.” “Über manche Dinge spricht eine Frau einfach nicht.” “Ich g-glaube nicht, dass das in diesem Fall-” “Halt die Klappe!” Henrik zog den Kopf ein. “Wenn du dich soweit wieder gut fĂŒhlst, Henrik, gehe in die KombĂŒse!” Inzwischen war der ĂŒbliche Befehlston in ihre Stimme zurĂŒckgekehrt. “Clay hatte da so eine Idee, fĂŒr die er deine Hilfe braucht.” Sie umgab sich einmal mehr mit einer harten Schale, die sie wie ihre RĂŒstung schĂŒtzen sollte, ungeachtet wem sie damit vielleicht vor den Kopf stieß. Henrik wusste, dass es keine Widerrede gab, wenn sie erst begonnen hatte, in diesem Tonfall zu sprechen. “Okay.” “Ach ja”, ergĂ€nzte Nebula. “Ich habe dein Schwert aus dem Meer gefischt. Es lehnt dort hinten an der Wand.” Sie zeigte zu der Stelle, an der sich die Waffe befand, und ging daraufhin. Henrik konnte nur noch zusehen, wie sie seine KajĂŒte verließ. Dabei hĂ€tte er sie viel lieber weiter gekĂŒsst. Ihre Lippen waren so weich wie Wolle und so sĂŒĂŸ wie Honig. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was er wohl schon wieder falsch gemacht hatte, um sie zu erzĂŒrnen. Wieso mussten MĂ€dchen so launisch sein? Oder war nur sie so furchtbar kompliziert? Irgendwie war er auch selber schuld. Niemand zwang ihn, auf der höchsten Schwierigkeitsstufe in das Spiel der Liebe einzusteigen. Dennoch tat er es. VergnĂŒgt pfiff Clay in der KombĂŒse vor sich hin, wĂ€hrend etwas in einem Topf ĂŒber der Feuerstelle im heißen Wasser köchelte. Es verströmte einen wohltuenden Duft nach MeeresfrĂŒchten in dem kleinen Raum. Die rosafarbene Textur begann allmĂ€hlich einen intensiveren Farbton anzunehmen. Den Teig hatte er zuvor schon vorbereitet. Ein Gemenge mit einer breiigen Konsistenz, welches hauptsĂ€chlich aus Mehl, Hefe und Salz bestand. ZusĂ€tzlich verrĂŒhrt werden fĂŒr gewöhnlich einige Eier und ein wenig FischbrĂŒhe. Der Teig ruhte nun schon eine Weile unter einem befeuchteten Tuch auf der ArbeitsflĂ€che auf der anderen Seite. Eigentlich wartete er nur noch darauf, dass Henrik endlich in die KombĂŒse kam. Und wie auf sein Stichwort, trat der junge Erwachsene ein. Große, staunende Augen betrachteten den Aufbau. “Was ist denn das alles?”, fragte er. Clay grinste hinterhĂ€ltig durch seinen dichten Bart hindurch. “Das ist ein ganz besonderes Rezept von den östlichen Inseln. Und du wirst mir beim Kochen helfen.” Erneut hatte Henrik nicht wirklich die Wahl. “Na gut...” Abermals versammelte sich die Besatzung der Esmeralda in der Messe. Die Kunde vom bevorstehenden Festmahl war schon in aller Munde, lange bevor es aufgetischt wurde. Handelte es sich um Essen, verbreiteten sich solche Nachrichten schneller als die Pest in einem Armenviertel. Nun saßen sie ungeduldig auf ihren PlĂ€tzen und warteten darauf, bedient zu werden. Ihr Benehmen war keinen Deut besser, als am Tag davor und besserte sich nicht, als endlich die TĂŒr zur KombĂŒse aufgestoßen wurde und Henrik einen Wagen mit drei großen SchĂŒsseln hinein schob. In den BehĂ€ltnissen befanden sich seltsam anmutende BĂ€llchen. Als sich der markante Duft der Speise in der Messe verbreitete, machte er die Mannschaft nur noch ungeduldiger und gieriger. Der Schmied verteilte das Essen. Dieses Mal ließ er sich nicht von Annemarie helfen, auch wenn sie sicher ohne zu zögern mitgemacht hĂ€tte. Stattdessen saß sie schon auf ihrem Platz. WĂ€hrend er die Teller fĂŒllte, sah er sich um und musste feststellen, dass Nebula sich nicht an ihrem Platz befand. Sie war wohl immer noch verstimmt. Er ließ sich nicht beirren und fuhr mit seiner Arbeit fort. Die GĂ€ste der Messe beĂ€ugen die Speise kritisch. “Was ist das?”, fragte einer und lies seiner Skepsis dem seltsamen Gericht gegenĂŒber durch wiederholtes Stechen mit der Gabel freien Lauf. “Kann man das essen?”, wollte ein anderer wissen. Bald schon vernahm man allerdings Laute des Genusses. Der Wohlgeschmack des exotischen Essens ĂŒberzeugte auch die letzten Zweifler. Schließlich dauerte es nicht lange und alle schaufelten hemmungslos die BĂ€llchen in sich hinein. Cerise war da kein StĂŒck besser. Clay grinste die Rothaarige an. “Mh-was hgm-glotscht Ihr Mhm-denn so hm-an?”, fragte sie ihn leicht empört mit prallen Backentaschen. Dabei fielen Brocken aus ihrem Mund zurĂŒck auf den Teller. So sah er sie selten. “Freut mich, wenn es Euch schmeckt”, meinte er. FĂŒr seinen Geschmack könnte sie ruhig etwas zunehmen. Cerise schluckte herunter. “In der Tat. Das schmeckt wirklich gut.” Sie beugte sich ĂŒber den Tisch zu ihrem Liebhaber, der ihr wie immer gegenĂŒber saß, und flĂŒsterte ihm ins Ohr. “Wenn Ihr mir nicht auf der Stelle das Rezept verratet, erfahrt Ihr einen Ă€ußerst schmerzhaften Tod.” Ihre Drohung entlockte ihm ein weiteres Grinsen. “Als ob Ihr das tĂ€tet.” “Wohl war. Es wĂ€re außerordentlich schwer einen angemessenen Ersatz fĂŒr Eure QualitĂ€ten zu finden.” “Das betrachte ich mal als Kompliment.” "Herausragende Leistungen werden stets honoriert.” Beide sahen sich an, als wollten sie sich gleich hier vor allen Leuten die Kleider vom Leib reißen und es hemmungslos auf der Tischplatte treiben. Annemarie blickte fragend zu Henrik. “Wovon reden die da?” “Ähm...” Dem Braunhaarigen fehlten die Worte, um es der Kleinen zu erklĂ€ren. “Also d-das ist so. Sie meint das...” “Ja?!” “Nein, das sage ich dir erst, wenn du Ă€lter bist.” “Du bist gemein!” Annemarie verschrĂ€nkte die Arme und schaute mit zur Schnute verzerrten Schmollmund beleidigt zur Seite. So schnell wie sie in die Messe hinein gebracht worden waren, wurden die OktopusbĂ€llchen von den Anwesenden auch schon wieder verspeist. Kurze Zeit nach dem Festessen zerstreute sich die Gesellschaft wieder in alle Winde. Von den Takoyaki war nicht viel ĂŒbrig geblieben. Außer dem einen, besonders scharf gewĂŒrzten, den Henrik mit extra viel Liebe fĂŒr seine Liebste angerichtet hatte. Einen Tag spĂ€ter war dieser aus der KombĂŒse verschwunden. Henrik wusste, dass Nebula ihn sich einverleibt hatte. Kein Anderer wĂ€re wahnsinnig genug, das Wagnis einzugehen, dieses teuflische OktopusbĂ€llchen direkt aus der Hölle, das er liebevoll “Satans Furz” getauft hatte, zu essen. Henrik spĂŒrte, dass er Nebula ihren Freiraum lassen musste. Den wollte er ihr auch gewĂ€hren. Wenn sie bereit dazu wĂ€re, tĂ€te sie ihm ihr Herz ausschĂŒtten. FrĂŒher oder spĂ€ter. Vielleicht eher spĂ€ter... Er konnte warten. Schnell verstrich eine Woche. Der Wind blieb weiterhin gĂŒnstig und blies die Esmeralda ohne weitere Umwege oder unbequeme Aufeinandertreffen mit Meereskreaturen direkt an die KĂŒste von Yjasul. Endlich hatten sie das Kalifat erreicht. Der Hafen von Al Shahr erwartete sie bereits. Kapitel 17: Aus allen Wolken ---------------------------- 🌱 Inmitten eines Ziergartens im japanischen Stil gabelten sich die Äste eines imposanten Kirschbaums und wurden von der leichten Brise sanft gewogen, welche durch die Anlage blies. Ein leises Klacken verkĂŒndete, dass sich das Bambusrohr des Shishi Odoshi einmal mehr mit dem klaren Wasser aus der Mineralquelle gefĂŒllt und soeben in den kleinen Teich voller bunter Koi entleert hatte. Ein hĂŒbscher Schmetterling war von der Bewegung des Wasserspiels aufgeschreckt worden und flatterte nun davon. Im Schattens des Kirschbaums hockte Toshiro Yamato. Ein Junge von sechzehn Jahren. Er hatte blonde, aufgestellte Haare und bernsteinbraune Augen. Es war noch immer heiß. Er schwitzte in seinem Haori und hĂ€tte viel lieber darauf verzichtet, doch sein Vater bestand darauf, dass er ordentlich gekleidet zu seinen Lehrstunden erschien. Es wĂ€re unerhört und auch unangemessen fĂŒr einen Jungen seines Standes, nur im Jimbei gekleidet dem Lehrer unter die Augen zu treten. Toshiro sah dem Schmetterling nach. Wie sehr wĂŒnschte er sich, er könne auch einfach davon fliegen und der harmonischen Hölle dieses Gartens entkommen. “Wo seht Ihr hin, Durchlaucht?”, tadelte der Tutor. “Hier vorn spielt die Musik. Wie kann ein Falter spannender sein, als die Freuden der Rechenkunst?” Ein weiteres mal klapperte das Shishi Odoshi. Der Mann klopfte mit seinem Zeigestock auf eine Schiefertafel, die direkt unter dem Kirschbaum stand und störte somit die Harmonie des Zen-Gartens. Gezwungenermaßen wandte sich Toshiro lustlos dem Angeschriebenen zu. Es handelte sich um eine Aufgabe, bei der es darum ging, Formeln unter Beachtung der PrioritĂ€ten der verschiedenen Rechenoperationen und Parenthesen aufzulösen. Toshiro fragte sich, wozu er das wissen musste. Er war der ehrenwerte Oji des Donnerclan. Eines Tages wĂŒrde er seinen Vater, den großen Daimyo, beerben und ĂŒber seine Untertanen herrschen - auch wenn ihm das eigentlich zuwider war. FĂŒr die Rechnerei hĂ€tte er dann seinen Schatzmeister. Warum um alles in der Welt verlangte sein Vater von ihm, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die er sowieso nicht benötigte? Viel lieber wĂŒrde er sich im Kampf erproben. Aber das stand erst in endlos anmutenden drei Tagen wieder auf dem Lehrplan. Vorher mĂŒsste er Philosophie, Geschichte und heute Mathematik ĂŒber sich ergehen lassen. Welch eine Qual! Und das Wasserspiel schenkte ihr einen Takt. “Junger Herr, vermögt Ihr diese Gleichung aufzulösen?” “Gebt mir den Schwamm, und ich löse sie von der Tafel ab.” “UnverschĂ€mtheit!” Der Tutor erhob seinen Zeigestock und ließ sein Ende gegen Toshiros Gesicht schlagen. Dieser hielt sich die Wange. “Verdammt! Das tat weh!” “Der Daimyo hat mir gestattet, Euch zu zĂŒchtigen, wenn Ihr die Arbeit verweigert! Eure Leistungen lassen zu wĂŒnschen ĂŒbrig. Euer Vater verlangt Resultate!” Toshiro bleib weiter stur. “Wenn er das gelöst haben will, soll er es selbst machen!” Sein Tutor wollte bereits erneut ausholen, als er unerwartet die Lösung von dem ungehobelten Prinzen prĂ€sentiert bekam. “Das ergibt sieben.” FĂŒr einen Moment herrschte Stille, so dass man abermals das Shishi Odoshi hörte. Erstaunt legte der Ă€ltere Mann seinen Stab beiseite. “Na also, Ihr könnt es doch. Wo ist das Problem?” “Es ist so furchtbar langweilig. Wir sind das ‘Erhobene Volk’. Stolze Krieger. Ich sollte in den Krieg gegen unsere Feinde ziehen, nicht gegen Zahlen und Klammern.” Diese Aussage ließ den Tutor schmunzeln. “Ihr glaubt also, in der Mathematik liegt keine Ehre?”, fragte er provokant. “NatĂŒrlich. Rechnerei gewinnt mir keine Schlacht.” “Seid Ihr Euch da sicher, Durchlaucht?” Der Lehrer nahm den Schwamm und wischte die Aufgabe mit samt den anderen, die Toshiro noch nicht bearbeitet hatte, ab. Stattdessen zeichnete er eine nach unten geöffnete Kurve, an die er einen dicken punkt setzte, von dem aus ein Pfeil von der Kurvenlinie weg zeigte. “Könnt Ihr mir sagen, was das hier ist?” “Ähm?” “Was zerschlĂ€gt Euch die feindlichen Wehranlagen und Mauern?” “Eine Kanone?” “Genau. Und habt Ihr Euch schon mal die Frage gestellt, wie man aus weiter Entfernung eine verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig kleine Mauer treffen kann?” “Nein. Das ist Aufgabe der Kanoniere.” “Ihr macht es Euch zu leicht, Durchlaucht! Das ist eine Wurfparabel. Damit könnt Ihr die Flugbahn einer Kanonenkugel berechnen.” Jetzt schien er die Aufmerksamkeit des Jungen zu haben. “Und das berechnen die Kanoniere mitten auf dem Schlachtfeld. Alles im Kopf. Ohne Griffel und Pergament.” “Könnt Ihr mir beibringen, wie ich das ausrechnen muss?” “Da Ihr bereits Klammern auflösen und Formeln umstellen könnt, sollte eine Funktion keine große Schwierigkeit mehr darstellen.” Mit ungewohntem Eifer sog Toshiro das Wissen ins sich auf. Sein Tutor schaute zufrieden auf den nun willigen SchĂŒler. Es war schon immer viel effektiver gewesen, das Interesse eines jungen Menschen zu wecken, anstatt ihm die Informationen mit Gewalt hinein zu prĂŒgeln. Auf einem Übungsplatz weiter unten in der Schlossanlage kĂ€mpften fĂŒnf Wachen gegen eine einzige Frau. Das Aufeinanderschlagen der hölzernen Schwerter hallte von den Pagoden wieder, als die MĂ€nner sich mĂŒhten, gegen ihre Gegnerin standzuhalten. Alle am Kampf beteiligten hielten zwei Waffen in ihren HĂ€nden. Trotz der Übermacht von zehn zu zwei Bambusschwertern, konnten die WĂ€chter keinen Boden gegen ihre Gegnerin gut machen. Die Frau nahm den ersten ihrer Trainingspartner aus dem Spiel, indem sie angedeutete, seinen Kopf zu treffen, jedoch vorher stoppte. Schauspielerisch ließ er sich daraufhin scheintot zu Boden fallen. Die ĂŒbrigen MĂ€nner schreckten zurĂŒck. Die Frau mit dem rabenschwarzen Haar begab sich in Verteidigungsstellung. Nachdem sein Tutor mit seinen Leistungen zufrieden war, hatte dieser Toshiro frĂŒher gehen lassen. FĂŒr seine gute Mitarbeit sollte der junge Herr belohnt werden und bekam den Rest des Tages geschenkt. Endlich frei, dachte Toshiro. Aber er wusste nicht, was er mit seiner neu erlangten Freizeit anfangen sollte. Die GerĂ€usche von aufeinanderschlagen Bambusschwertern drangen an sein Ohr. Es gab augenscheinlich einen Kampf. Toshiro kribbelte es in den Fingern, sich nach all der Anstrengung ein wenig zu raufen. Wie eine Motte in der Nacht vom Licht einer Laterne angezogen wurde, trieb es ihn in Richtung des Übungsplatzes. Dazu musste er den inneren Palast verlassen, durch ein Tor hindurch schreiten und einem lĂ€ngeren gepflasterten Weg folgen. Als er endlich sein Ziel erreichte, erkannte er, wer dort kĂ€mpfte. Der Kampf war fĂŒr Aki nichts anderes als Musik und der dazu passende Tanz. Auch wenn das Katana nicht die Waffe ihrer Wahl war, vermochte sie es sich stets an den Fluss des Kampfes anzupassen. Schon frĂŒh lernte sie, sich die Melodie und den Rhythmus zu eigen zu machen, um in einem Kampf erfolgreich zu sein. Die Menge an Gegnern war dabei unerheblich. Zwischen den VerteidigungsschlĂ€gen gegen die vier verbleibenden Gegner, bemerkte sie, dass seine Durchlaucht, der Prinz, gekommen war und ihr zuzusehen. Toshiro-sama war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Im zarten alter von fĂŒnf Jahren bestimmte man sie dazu, die LeibwĂ€chterin des neugeborenen Prinzen zu werden. Seitdem richtete sie sich voll und ganz nach ihrem Herrn. Seine Sicherheit und sein Wohlbefinden hatten fĂŒr sie oberste PrioritĂ€t. Sie war jederzeit bereit fĂŒr ihren Herrn zum Ă€ußersten zu gehen und jeden seiner Befehle zu befolgen, egal was es auch sein möge. Aber in diesem Moment verspĂŒrte sie das BedĂŒrfnis, Toshiro zu demonstrieren, was er schon lĂ€ngst wusste. Sie wĂŒrde ihre ĂŒbrigen Gegner besiegen und ihren Herrn einmal mehr ihren Wert beweisen. Die vier MĂ€nner zogen sich abermals zurĂŒck und flĂŒsterten sich etwas zu. Aki musste annehmen, dass sie etwas im Schilde fĂŒhrten, und bereitete sich vor. Bezaubert von ihren Fertigkeiten und erstaunt von ihrer Zielstrebigkeit folgte Toshiro jeder Bewegung seiner LeibwĂ€chterin. Diese Frau, die er Zeit seines Lebens kannte, mit der er zusammen aufwuchs, der er vollends vertraute, war die beste Kriegerin des Donnerclans! Niemand konnte ihr im Kampf das Wasser reichen - außer ihm natĂŒrlich! Meisterhaft hantierte sie mit ihren Waffen, als spiele sie ein Instrument. Die Symphonie des Kampfes hallte noch immer von den Pagoden wieder. Plötzlich stĂŒrmte einer der PalastwĂ€chter nach vorn und trat in den sandigen Boden. Sein Fuß riss eine große Menge Schmutz mit sich und beförderte ihn in Akis Augen. WĂ€hrend diese ihre Sehorgane zusammen kniff, beteiligten sich die verbliebenen MĂ€nner an der Attacke. Die Schwarzhaarige verließ sich bei der Verteidigung ganz auf die ĂŒbrigen Sinne. Unter ihren nackten FĂŒĂŸen konnte sie sie sich nĂ€hern spĂŒren. Auch ohne die ĂŒbermĂŒtigen Rufe der MĂ€nner, hatte sie ihre Positionen bereits vor ihrem geistigen Auge und war so in der Lage, jedem Stoß auszuweichen. Gleichzeitig genĂŒtgen wenige SchlĂ€ge und alle ihre Gegner waren besiegt. GemĂ€ĂŸ den Regeln mussten sie sich nach einem angedeuteten, letalen Treffer geschlagen geben. Und dies noch bevor Aki den Sand aus ihren Augen gerieben hatte. Nach Abschluss des Übungskampfes standen die Besiegten wieder auf und alle sechs Teilnehmer verneigten sich respektvoll voreinander, bevor sie sich zerstreuten. Aki sammelte die auf dem Boden verteilten Bambusschwerter ein. Ordentlich sortiert stellte sie sie zurĂŒck in ihre Halterungen unter einem kleinen Vordach. Anschließend nahm sie die beiden Pistolenhalterungen, welche sie vor den Kampf abgelegt hatte, und schnallte sie wieder an ihren Obi. Danach begab sie sich zu ihrem Herrn und kniete respektvoll nieder. Dabei berĂŒhrte das rechte Knie den Boden, wĂ€hrend das linke in Hockstellung verblieb. Aki ballte die rechte Faust ĂŒber ihrer linken Schulter und neigte demĂŒtig den Kopf. “Ich hoffe, ich habe Euch nicht zu sehr gelangweilt, Toshiro-sama”, sprach sie. “Keinesfalls”, versicherte der Prinz. “Du hast mich exzellent unterhalten.” “Was verdanke ich Euren Besuch?” “Ich habe den Rest des Tages frei bekommen”, erklĂ€rte Toshiro. “Welch eine Ehre, dass Ihr Eure Zeit fĂŒr mein Training opfert!” “Jetzt steh’ endlich auf!” “Jawohl, Oji-sama!” Umgehend leistete Aki dem Befehl ihres Herrn folge und stellte sich kerzengerade auf. “Ich musste mich ablenken. Ich hörte KampfgerĂ€usche und dachte mir, es könnte vielleicht interessant werden. Leider war es viel zu schnell vorbei!” “Entschuldigt, junger Herr. Ich werde meine Gegner demnĂ€chst nicht gleich besiegen, wenn Ihr zuschaut.” “Du kannst deinen Fehler wiedergutmachen, wenn du jetzt gegen mich kĂ€mpfst.” Abermals verneigte sich Aki. “So sei es, Oji-sama.” Alle Vier von sich gestreckt, lag Toshiro auf dem staubigen Boden. Sein teurer Haori musste schon von oben bis unten voll sein mit Schmutz. Sein Vater wĂŒrde toben, angesichts des stolzen Preises des edlen Geschmeides. Aber das war dem Prinzen gerade sehr egal. Der Kampf gegen seine LeibwĂ€chterin hatte ihm alles abverlangt. Es fĂŒhlte sich an, als kĂ€mpfte er gegen mehrere Gegner gleichzeitig. GefĂŒhlt aus jeder Richtung prasselte eine Attacke auf ihn ein. Es war, als habe Aki mehrere Paar Arme gehabt. Auf dem Boden liegend und grĂŒbelnd musste er einsehen, das auch er ihr nicht das Wasser reichen konnte. Aki stand abermals kerzengerade vor ihm und verneigte sich. “Aua!”, jammerte Toshiro. “Entschuldigt, Durchlaucht. Ich hĂ€tte nicht so hart zuschlagen sollen. “Ist schon gut. Schließlich habe ich befohlen, mich nicht zu schonen.” “Soll ich das Bad vorbereiten lassen und Euch waschen?” Beim Gedanken daran, das sie ihn dann nackt sehen wĂŒrde, wurde er rot. “A-Also”, stotterte er. “N-Nein, ich denke, das wird nicht nötig sein. Aki bemerkte sein merkwĂŒrdig abweisendes Verhalten. Es war offensichtlich, das er sich schĂ€mte. “Junger Herr, ich wickelte Euch. Ich kenne jeden Zentimeter an Eurem Körper. Es gibt keinen Grund sich zu schĂ€men.” Das machte es nur noch schlimmer. “Verzeiht, meine Aufdringlichkeit.” Erneut verneigte sich Aki. “Aber wenn Euch der Daimyo so sieht, schickt er Euch dieses mal wirklich ins Bergkloster. Ich werde Eurem Kammerdiener Bescheid sagen.” Aki trat an Toshiro heran und reichte ihm die Hand. Der Prinz nahm sie an und zog sich an Aki hoch. “Bitte gebt mir Euren Haori.” Toshiro kam den Wunsch nach und ĂŒbergab ihr das KleidungsstĂŒck. “Ich werde schauen, dass ich jemanden auftreibe, der in der Lage ist das zu waschen.” Sie begutachtete den Schmutz auf dem Haori. ”Zur Not mĂŒssen die NĂ€hte aufgetrennt werden.” Danach wandte sich die LeibwĂ€chterin von ihrem Schutzbefohlenen ab und ging. 🌱 Vorsichtig setzte der Schiffsbauer das Getriebe, an dem er gerade arbeitete, wieder zusammen. Vor drei Tagen hatte er das Schiff abgeholt. Sein EigentĂŒmer klagte darĂŒber, dass die Propeller ihren Dienst nicht mehr verrichteten und es somit nicht mehr zu beherrschen war. Bis heute frĂŒh saß der Schiffsbauer an der GerĂ€tschaft und suchte den Fehler. Er tarnte sich gut, aber letztlich fand er ihn. Es war ein nicht ordnungsgemĂ€ĂŸ verschraubtes Zahnrad. Stets waren es die kleinen Dinge, an denen die großen scheiterten. Dies ist mitnichten nur eine Binsenweisheit von Kriegstreibern. Auch der durchschnittliche Untertan sollte es beim tĂ€glichen Allerlei beherzigen, davon war der Schiffsbauer ĂŒberzeugt. “Verflixt und zugenĂ€ht!”, fluchte er, als er seinen Schraubendreher nicht mehr finden konnte. “Welcher Trottel hat mein Werkzeug genommen?!” Ein junger Mann, vermutlich einer seiner Lehrlinge, starrte erschrocken auf das GerĂ€t in seiner Hand. “E-Entschuldigung, Meister”, sagte er und brachte den Schraubendreher umgehend zu dessen Besitzer zurĂŒck. “Gib her, du Lausbub!” Der Meister riss dem Burschen das Werkzeug aus der Hand und begann das GehĂ€use zu verschrauben. Dann stieg er auf eine Leiter und setzte das Getriebe an seinen Bestimmungsort am Heck des Schiffes ein. “Der Kunde sollte uns unbedingt zu seiner Stammwerft machen!”, sprach er anschließend. “Wahrscheinlich hat sich schon ein anderer daran versucht! Womöglich bei der letzten Wartung. Und natĂŒrlich nicht wieder richtig zusammengebaut.” “W-Wenn Ihr das sagt, M-Meister!” Der Lehrling war schon froh, dass er den Schraubenzieher zur Strafe nicht schon wieder ĂŒber den SchĂ€del gezogen bekam, wie das letzte Mal, als er etwas nahm, ohne vorher zu fragen. Jetzt benötigte er dringend frische Luft und verließ die Werft. Oft hatte er genug von seinem cholerischen Meister. Dies war einer jener Momente. Auf dem Pier neben dem Ausgang angekommen, schaute er hinauf auf das weiße Meer. Der friedliche Anblick des Nebels und der Wolken half ihm dabei, herunterzukommen. Aber etwas war anders als sonst. Plötzlich sah er mehrere Luftschiffe am Horizont auftauchen. Es waren nicht etwa Transporter, bis zum Absturz voll mit teuren GĂŒtern, sondern Schlachtschiffe. Die fremden FluggerĂ€te strotzen nur so vor Feuerkraft. Der Lehrling konnte die Kanonenrohre einzeln zĂ€hlen, wĂ€hrend sie unaufhaltsam nĂ€her kamen. “Ähm, Meister”, machte er auf sich aufmerksam. “Was hast du nun schon wieder?”, fragte der alte Mann genervt. “Wollen die dort hinten auch ihre Getriebe repariert bekommen?” “Was erzĂ€hlst du denn jetzt-” Noch wĂ€hrend er ebenfalls an das Hafenbecken trat, versagte ihm die Stimme angesichts der stolzen Flotte, die sich dem Hafen nĂ€herte. Er glaubte, er trĂ€ume. “Heilige...” Die Glocke lĂ€utete zum Alarm. Ehe sich die Einwohner der Hafenstadt versahen, fuhr die Armee die GeschĂŒtze an das Hafenbecken und bereitete sich auf den Angriff des Feindes vor. Hideyoshi Yamato, der ehrenwerte Daimyo des Donnerclans, hockte auf einem reich bestickten Kissen und sah durch die geöffnete TĂŒr auf die Terrasse und den dahinter liegenden Garten. In der Mitte befand sich eine schöne und große Zeder, deren dicker Stamm mit einem Shimenawa zu Ehren des Schutzgottes des Clans verziert worden war. Dabei handelte es sich um ein Bund von ZiergegenstĂ€nden, welche von einem massiven geflochtenen Strohseil gehalten wurden. Sie markierten Orte, an denen die sterblichen Menschen mit den unsterblichen Göttern in Kontakt treten und beten konnten. Auch Hideyoshi kniete jeden Morgen nieder und bat die himmlischen Wesen um ihren Schutz. Und trotzdem hatte er jede Nacht den gleichen wiederkehrenden Traum. Mit ihm anwesend waren mehrere Wachen, zwei Diener und Toshiros Tutor. “Sprecht, wie macht sich mein Sohn?”, fragte der Daimyo den Lehrer. “Nun, Eurer Durchlaucht.”, antwortete dieser. “Die Aufmerksamkeit des jungen Herren ist ungestĂŒm und wechselhaft wie das Wetter.” “Ich gab Euch die Erlaubnis, ihn zu zĂŒchtigen.” “Seid nicht zu hart zu Eurem Sohn. Ich erinnere mich noch gut an einen kleinen Prinzen, den ich einst unterrichtete. Dieser war genauso ein Lausbube und seht, was fĂŒr ein ausgezeichneter Daimyo aus ihm geworden ist.” “Ich zahle Euren Lohn, damit mein Sohn nicht so wird wie ich es war. Wenn Ihr das nicht schafft, so muss ich mich nach einem neuen Meister umsehen.” “Seid unbesorgt, Durchlaucht. Ich habe es geschafft Euch zu unterrichten, ich werde dies auch bei Eurem Sohn schaffen. Heute hat er gut mitgearbeitet. Ich gab ihm daraufhin den Rest des Tages frei.” “Es liegt in Eurer Verantwortung, welche Methoden Ihr wĂ€hlt.” “Zuckerbrot und Peitsche, Durchlaucht.” “Ich erwarte nichts Geringeres von meinem alten Tutor.” Hideyoshi verfiel dem Schweigen, als er weiter in den Garten schaute. “Durchlaucht, stimmt etwas nicht.” “Es ist alles in Ordnung. Ihr dĂŒrft Euch nun zurĂŒckziehen.” Der Tutor verneigte sich, obwohl der Daimyo ihm den RĂŒcken zuwandte und es gar nicht sehen konnte. “Sehr wohl.” Daraufhin trat er an die TĂŒr heran. Die Wachen öffneten die Pforte und der alte Mann verließ die Kammer des Daimyo. Es wartete noch ein Berg von Arbeit auf ihn, die getan werden musste. Jede Nacht habe ich immer wieder diesen Traum, grĂŒbelte Hideyoshi. Oh ihr Götter, was versucht ihr mir zu sagen? Er hörte Donnergrollen in der Ferne. Zuerst glaubte er an ein Gewitter, doch dann sah er eine RauchsĂ€ule aufsteigen. In diesem Moment stolperte ein Bote zur TĂŒr herein. “Der Feuerclan, der Feuerclan!”, rief er außer Atem. “Es sind feindliche Luftschiffe am Horizont gesichtet worden. Sie greifen den Hafen an!” “Diener, bring mir mein Schwert!”, befahl Hideyoshi ohne große Regung. Sofort eilte ein weiterer Mann herbei, der ein Katana auf einem Kissen bei sich trug. Er kniete neben seinem Daimyo, senkte sein Haupt und bot die Waffe dar. Hideyoshi ergriff das Katana, welches noch immer in seiner Schwertscheide steckte, und zog es ein StĂŒck aus ihr heraus. “MĂ€nner, der Kriegsgott ist erwacht! Überbringt meine Befehle: Wir greifen an und vernichten die Flotte des Feindes!” Alle Anwesenden verneigten sich und ballten die rechte Faust auf der linken Schulter. “Jawohl, mein Daimyo”, sprachen sie im Gleichklang. “Holt die Kunoichi! Ich habe einen wichtigen Auftrag fĂŒr sie!” 🌱 Die Schmach seiner Niederlage saß noch immer tief. Toshiro ließ keinen Kampf aus und trainierte stets fleißig, um eines Tages ein großer Krieger seines Clans zu werden. Er konnte sich doch nicht einfach von seiner LeibwĂ€chterin besiegen lassen! Wo kĂ€me er da hin? Jedenfalls musste er schleunigst den Kopf frei bekommen. Was gab es besseres als eine TanzvorfĂŒhrung? Aus diesem Grund hatte Toshiro die fĂŒnf Geishas kommen lassen, welche ihn just in diesem Moment mit ihren grazilen Bewegungen verzĂŒckten. Jede der Frauen trug eine Yukata mit Blumenmuster und ĂŒberdimensionaler Zierschleife auf dem RĂŒcken. Ihre Gesichter hatten sie weiß angemalt, um noch blasser zu wirken, als sie es ohnehin schon waren. Beim Tanzen fĂŒhrten sie in jeder Hand einen FĂ€cher, welchen sie passend zur Musik der Saiteninstrumente mal öffneten, mal schlossen. Die Schrittfolge jeder einzelnen war auf die anderen vier abgestimmt. Sie machten keine Bewegung zu viel. Ihr Tanz war mit das anmutigste und schönste, das Toshiro je erleben durfte. Etwas trĂŒbte die Lieblichkeit dieses Moments. Von draußen drang ein dumpfes Grollen in den Palast ein. Toshiro hob den Arm und wies die Geishas an, ihre Darbietung zu unterbrechen. Die Musikanten stoppten ebenfalls. WĂ€hrend der Prinz lauschte, ertönten weitere Donnergrollen. Sie klangen jedoch nicht wie die eines Gewitters. Als Angehöriger der ruhmreichen Yamato musste Toshiro das einfach wissen. Das GerĂ€usch war viel zu kurzlebig, um von einem Unwetter hervorgerufen worden zu sein. Was das wohl ist, fragte er sich. Urplötzlich öffnete sich die große TĂŒr und Aki ĂŒberraschte Toshiro mit ihrem Kommen. Er war sich sicher, dass sie ihm nicht vortanzen wollte. Schade eigentlich! Noch bevor sie sprach, erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein musste. Seine LeibwĂ€chterin kniete sich vor seinem Stuhl hin. “Durchlaucht, Euer Vater schickt mich. Ihr mĂŒsst mich umgehend begleiten!” “O nein, schickt er mich jetzt doch ins Bergkloster?”, versuchte Toshiro, die angespannte Situation aufzulockern. Aber Aki war nicht zu SpĂ€ĂŸen aufgelegt. “Wir haben keine Zeit fĂŒr Eure Scherze, mein Prinz! Ich bitte Euch, mir sofort zu folgen.” “Aber was hast du denn, Aki?” “Keine Zeit fĂŒr ErklĂ€rungen!” Die Schwarzhaarige erhob sich aus der Demutspose und ging auf ihren Herrn zu. Unter den Augen der Geishas packte sie den jungen Prinzen und schleifte ihn gegen seinen Willen mit sich. Mit tosenden Donnergrollen feuerten die GeschĂŒtze beider Seiten auf ihre Ziele. GlĂŒhende Geschosse durchschlugen gnadenlos Schiffsplanken und HĂ€userwĂ€nde gleichermaßen. Eine der Kanonenkugeln der Angreifer traf eine Kanone des Donnerclan. In der darauf folgenden Explosion wurden die Kanoniere verstreut durch die Luft gewirbelt. Ihre Knochen von der Druckwelle zerschmettert und ihr Fleisch durchbohrt von den Splittern des zerstörten KriegsgerĂ€tes. Sie waren nicht die ersten und keinesfalls die letzten Opfer des Angriffs. Der Feuerclan schoss an Ketten befestigte Harpunen auf den Pier. Sie bohrten sich beim Aufprall tief in das Mauerwerk hinein. Die Soldaten des Feindes nutzten die Ketten als Angriffsweg. Sie rutschten auf ihnen mit gezogenen Schwertern, deren Klingen in Flammen gehĂŒllt waren, dem Rand des Hafenbeckens entgegen. Ihre Waffen besaßen einen Magiespeicher, der vor dem Kampf erst aufgeladen werden musste. Fast wie eine verzauberte Batterie. Die Verteidiger kamen indes nicht mehr hinterher, die Ketten zu durchschlagen. Der Feuerclan landete. Eine Überzahl von Angreifern, mit denen vorher niemand gerechnet hatte. Obwohl es die Hauptstadt des Donnerclans war, stationierte der Daimyo dennoch nur die ĂŒbliche Garnison. Das schlechte Wetter hielt die Feinde bisher zuverlĂ€ssig vom Angriff ab. Dieses Mal schien der Feuerclan entschlossen, mögliche Verluste hinzunehmen, nur um den Widersacher verheerend zu treffen. WĂ€hrend die Truppen den Hafen enterten, feuerten die oberen Kanonenbatterien der Schlachtschiffe weiter ununterbrochen auf den Feind. Die KapitĂ€ne interessierte es augenscheinlich kein StĂŒck, dass sie womöglich ihre eigenen Leute trafen. Die Soldaten des Donnerclans sahen sich der feindlichen Übermacht schutzlos ausgeliefert. Mann um Mann fiel den brennenden Schwertern zum Opfer. Sie waren nicht imstande, die Stellung zu halten. Gepaart mit dem Schrecken der gefĂŒrchteten “Brennenden Klingen”, sank die Moral der Truppe bedrohlich. Die MĂ€nner verloren ihren Kampfesmut und wurden abgeschlachtet wie Vieh. “Klaue des Donnerdrachen!”, tönte es ĂŒber den Port. Hideyoshi konnte sich das nicht mehr lĂ€nger mit ansehen und beschloss, selbst in das Kampfgeschehen einzugreifen. Augenscheinlich vom Himmel herab, stĂŒrzte er sich mit gezogener Waffe in die Schlacht. Die Klinge seines Schwertes wurde umhĂŒllt von unzĂ€hligen Blitzen. Auf seiner Stirn leuchtete ein fremdartiges Symbol, welches frei ĂŒbersetzt “Donner” bedeutete. Die zuckende ElektrizitĂ€t spiegelte sich in den bernsteinfarbenen Augen des Mannes wieder. Der Daimyo rammte das Schwert in den Boden. Die Energie der Waffe ĂŒbertrug sich auf den Boden und von dort aus auf die stĂ€hlernen Ketten. Zu dutzenden stĂŒrzten Soldaten des Feuerclans hinab in das weiße Wolkenmeer und hindurch in die teuflischen Untiefen darunter. “D-Der Daimyo!”, rief einer seiner Getreuen lauthals aus. Sofort erholte sich die Moral der Truppe und die MĂ€nner drĂ€ngten die verbleibenden Feinde in den Abgrund. Gerade als sich das Blatt zu wenden schien, explodierten mehrere FeuerbĂ€lle genau an der Stelle, an der zuvor noch Hideyoshi stand. Aber so einfach ließ sich der AnfĂŒhrer des Donnerclans nicht umbringen. Mit einem Satz sprang er rĂŒckwĂ€rts aus der Gefahrenzone, eine Spur von Rauch hinter sich her ziehend. In der Luft wandte er sich um und seine Klinge kreuzte die eines mĂ€chtigen Gegners. Über ihnen schwebte ein anderer Mann auf einer schwarzen Wolke. Auch auf seiner Stirn leuchtete ein Symbol. Dieses bedeutete “Feuer”. “Ihr!”, sprach Hideyoshi. Sein neuer Gegner war niemand geringerer als Hotaru Hojo, der Sohn des Daimyo des Feuerclans. Er parierte mit seinem Schwert, das er einhĂ€ndig fĂŒhrte. “Ihr verschwendet meine Zeit, SchwĂ€chling!”, erwiderte dieser voller Abneigung gegenĂŒber dem seiner Meinung nach unterlegenen Gegners. Die freie Hand ballte Hotaru zur Faust und schlug sie Hideyoshi ins Gesicht. Der AnfĂŒhrer des Donnerclans stĂŒrzte mit hoher Geschwindigkeit in ein Hausdach unter ihm hinein. AbschĂ€tzig sah der Feuerprinz hinterher. “Wie Langweilig!” Er erhob sein Schwert in den Himmel. “Loderndes Inferno!” An der Spitze seiner Waffe entstand ein Feuerball, dessen GrĂ¶ĂŸe mit jeder Sekunde zunahm. Als Hotaru mit seiner Kreation zufrieden war, schleuderte er den Feuerball auf das Haus, indem er sein Schwert darauf richtete. Eine Explosion folgte. TrĂŒmmerteile des Hauses rieselten auf die Soldaten, wie ein heißer Sommerregen. Der Staub lichtete sich. Knieend stĂŒtzte sich der Daimyo auf sein in den Boden gerammtes Schwert. Der Ausdruck seiner Macht, das Symbol auf seiner Stirn, war erloschen. Er hatte unzĂ€hlige Schrammen davon getragen und ein Großteil seiner Kleidung war verbrannt. Er hustete und spĂŒrte, wie ihn die Kraft zu kĂ€mpfen verließ. LĂ€ssig schwebte Hotaru auf der schwarzen Wolke hinunter und sprang von ihr ab, als sie nur noch wenige Zentimeter ĂŒber dem Boden hing. Er nĂ€herte sich seinem Gegner und streckte ihn mit einem Tritt gegen den Kiefer nieder. Hideyoshi wollte weiterkĂ€mpfen. Allerdings verlor er sein Bewusstsein. Hotaru packte seinen Gegner und warf ihn ĂŒber die Schulter, wie ein Handtuch nach dem Besuch einer Sauna. Danach ging er zurĂŒck zu seiner Wolke und bestieg sie. Angesichts der verĂ€ngstigten Soldaten des Donnerclans musste er nur mĂŒde lĂ€cheln. Die schwarze Wolke erhob sich und nahm Fahrt auf. Einige der Soldaten zielten mit Fernwaffen, aber trauten sich nicht zu feuern, aus Angst den Daimyo zu treffen. “Ihr seid so ein erbĂ€rmlicher Haufen!” spottete Hotaru. Er klopfte auf den Hintern seiner bewusstlosen Geisel, um Hideyoshi vor seinen Mannen weiter zu demĂŒtigen. “Mein Vater hat fĂŒr den König der SchwĂ€chlinge eine kuschelige Zelle frei! Ha ha ha!” Zusammen mit seiner Geisel flog er daraufhin zu seiner Flotte zurĂŒck. Eine neue Salve Harpunen bohrte sich in das Hafenbecken. Der Feind dachte nicht im Traum daran, das KĂ€mpfen einzustellen. Unter dem Zerren seiner LeibwĂ€chterin war es dem Donnerprinz, als ob ihm jeden Moment die Hand abfallen tĂ€t. Aki hatte ihm rein gar nichts verraten. Toshiro war absolut ahnungslos. Sie schleifte ihn einfach mit, ohne auf seine Fragen zu reagieren. “Aki, was ist hier los verdammt noch mal?!”, versuchte er ein letztes Mal Informationen aus der Schwarzhaarigen herauszubekommen. “Wir haben keine Zeit fĂŒr Fragen!”, entgegnete die Kunoichi. Das Grollen des Kampfes erreichte nun auch ihre Position. “Da ist keine Wolke am Himmel! Wir werden angegriffen, habe ich recht!” Aki antwortete nicht. Stattdessen zerrte sie weiter an seinem Arm. Bald wĂ€re seine Schulter ausgekugelt. Entschieden blieb Toshiro stehen. Aki wurde ebenfalls abrupt gestoppt. Wenigstens in Sachen Körperkraft war er ihr also ĂŒberlegen. “Was soll das?!”, schrie Toshiro. Mit der Faust ĂŒber der Schulter verneigte sich Aki. “Vergebt mir, Durchlaucht.” “Schon gut. Sag mir einfach, was los ist.” “Ihr habt Recht. Wir werden angegriffen.” “Von wem?” “Wie es aussieht, sind es die Hojo. Vor einer halben Stunde begannen sie damit, den Hafen zu bombardieren.” “Diese halb durchgebratenen Bastarde! Lasst sie uns vertreiben!” “Nein! Der Daimyo hat befohlen, dass Ihr fliehen sollt.” “Will Vater mich verarschen?! Ich bin ein starker Krieger. Zur Not werde ich die Arschlöcher alleine auf ihre Insel zurĂŒck jagen!” “Bitte kommt mit mir, oder ich muss Gewalt anwenden. Auch der Prinz muss sich dem Befehl des Daimyo unterordnen!” “Aki, ich befehle dir-” Toshiro blieb das Wort im Hals stecken, als Aki plötzlich ihre Pistole zog und offenbar auf ihn richtete. Das mit der Gewalt sollte doch eigentlich nur eine Floskel sein! Ein Schuss. Toshiro spĂŒrte, wie das Projektil an seinem Kopf vorbei flog. “Urhg!”, stöhnte etwas hinter ihm und schlug dumpf auf. Toshiro sah sich um und erblickte einen Soldaten am Boden liegen, mit der gezogenen Waffe noch immer in der Hand. Auf seiner RĂŒstung war das Emblem der Hojo. Schockiert blickte er wieder zu Aki. Die Schwarzhaarige verstaute ihre Waffe im Halfter. “Wir mĂŒssen hier weg, bevor noch mehr von denen kommen!” “Ja, das mĂŒssen wir wohl”, gestand Toshiro ein, als er weitere Soldaten des Feindes erspĂ€hte, wie sie auf sie zugerannt kamen. 🌱 Das große Admiralsschiff des Feuerclan kam endlich in Feuerreichweite. Es war eine gewaltige Konstruktion, gehalten von einem großen Ballon und vielen Poplergetrieben. Hotaru rieb sich randvoll mit perverser Vorfreude auf das Bevorstehende die HĂ€nde. Eine Sache stand ganz klar fest: Es gĂ€be ein Spektakel, das der Donnerclan so schnell nicht vergessen wĂŒrde. Unter Einsatz all ihrer KrĂ€fte bewegten die Marinesoldaten das schwere GeschĂŒtz. An Deck der Galeere war eine gewaltige Kanone auf einem drehbaren Untersatz angebracht. Alles was Krach macht, brennt oder explodieren kann, war das Spezialgebiet des Feuerclans. Kein Wunder also, dass sie auch die grĂ¶ĂŸten Kanonen besaßen. AllmĂ€hlich richtete sich das lange Rohr der Feuerwaffe auf sein Ziel aus. Der Kanonier berechnete die Flugbahn des Geschosses und wies die MĂ€nner an, in welchem Winkel die Kanone angehoben werden musste. Als erstes wurde allerdings das Schießpulver eingefĂŒllt. Mit Hilfe eines Flaschenzugs wurde die wuchtige Kugel angehoben und in den Lauf gelassen. Unter Zuhilfenahme von StĂ€ben stocherten die MĂ€nner anschließend im Lauf herum, um sicherzustellen, dass die Kugel ganz nach hinten durchgerutscht war. Erst jetzt begannen sie, die Kurbeln an den Seiten zu betĂ€tigen und die Kanone vertikal auszurichten. Als der Kanonier zufrieden mit der AusfĂŒhrung seiner Befehle war, signalisierte er seinem Herrn die Bereitschaft. Gerade noch rechtzeitig. Hotaru war drauf und dran, die Geduld zu verlieren! Es verlangte ihm danach, den Schandfleck in TrĂŒmmern zu sehen. “Wirklich schade, dass mein Vater das nicht mit ansehen kann”, sprach er und lachte dabei gehĂ€ssig. “Jetzt schießt das Ding endlich in StĂŒcke!” “Feuer!”, befahl der Kanonier. Mit einer an einem langen Stab befestigten Fackel zĂŒndete einer der Marinesoldaten das Geschoss. Ein ohrenbetĂ€ubender Knall hallte ĂŒber das Meer und durch die Stadt des Feindes. Die Explosionsgase trieben das Projektil mit fast einem Kilometer pro Sekunde aus dem Lauf dem Ziel entgegen. Die gewaltige Kugel flog ĂŒber den Hafen, ĂŒber die Stadt, ĂŒber die Mauern des Palastes und schlug in der Großen Pagode ein, welche das HauptgebĂ€ude der Palastanlage darstellte. Der grelle Blitz der Explosion ließ es bereits erahnen. Ein weiterer durchdringender Donner bewegte sich durch die Luft. “Whoohoo!”, jubelte Hotaru, als die Schallwelle auf seine Ohren traf. “Das hat ordentlich Rums gemacht! Ha ha harr!” Er hĂŒpfte ausgelassen umher, wie ein kleiner Junge, der sich an einem Spielzeug ergötzte. Eine Druckwelle breitete sich in der ganzen Stadt aus und zerstörte Fenster und wenig befestigte HĂ€user. Abermals rieselten TrĂŒmmer nieder. Der grelle Blitz ließ sowohl Aki und Toshiro als auch ihre Gegner innehalten. Erschrocken sah sich der Prinz zum Herkunftsort des Lichtes um und musste den Palast seines Vaters zerbersten sehen, Sekunden bevor das GerĂ€usch der Explosion seine Ohren erreichte. Ungeachtet der Gegner ließ er sich auf die Knie fallen, den Kopf gesenkt. Er dachte an die Soldaten, die bis jetzt die Stellung gehalten hatten. Er dachte an die Momente seiner Kindheit. Er dachte an die KunstschĂ€tze, welche unter den TrĂŒmmern begraben waren. Sein Wille zum KĂ€mpfen bröckelte zusammen mit dem Palast. Die Soldaten des Feuerclans umzingelten lachend den Prinzen. Aki ließ sich nicht lange von den Geschehnissen beeindrucken und setzte den Kampf gegen die Feinde fort. Bevor sie allerdings ihrem Herrn zu helfen vermochte, musste sie sich zuerst um die akute Bedrohung vor ihr kĂŒmmern: Einen schwer gepanzerten Mann mit einem riesigen Kriegshammer, dessen RĂŒstung ihre Pistolen wohl nicht durchdringen könnten. ZusĂ€tzlich kamen zu ihrer Linken und Rechten jeweils weitere, nicht so stark gepanzerte MĂ€nner mit gezogenen Schwertern nĂ€her. Aki analysierte den großen Mann vor ihr und kam zu dem Schluss, dass er vermutlich nicht schnell reagieren konnte. Seine RĂŒstung hatte nur eine Schwachstelle. Diese mit den Pistolen zu treffen wĂ€re sehr schwierig. Aki entschied sich fĂŒr eine andere Herangehensweise. Sie betĂ€tigte einen Schalter unter dem Abzug ihrer Waffen. Klingen schoben sich nach vorn. Blitzschnell stĂŒrmte sie anschließend auf den Mann vor ihr zu und stieß die Bajonette in den engen Spalt zwischen seinem Helm und dem Brustharnisch, sodass die Klingen die Kopfbedeckung herunter stießen, als sie aus der SchĂ€deldecke wieder austraten. Das Schwergewicht ließ den Hammer fallen und kippte nach hinten um, als Aki die Bajonette wieder aus seinem Kopf herauszog. Nach Vergeltung strebend, beschleunigten die verbliebenen MĂ€nner ihren Vormasch. Aber noch in der gleichen Bewegung, in der sie ihre Pistolen aus ihrem Opfer befreit hatte, richtete Aki sie auf die MĂ€nner und drĂŒckte ab, ohne auch nur hinzusehen. BlutfontĂ€nen schossen aus den HĂ€uptern ihrer Gegner, wĂ€hrend sie die Wucht der Geschosse rĂŒcklings zu Boden riss. Mit flinken Handbewegungen lud die Kunoichi ihre Waffen nach. Unterdessen rĂŒhrte sich Toshiro noch immer nicht. TrĂ€nen tropften zwischen seinen flach aufliegenden HĂ€nden auf den Boden. Ich bin so nutzlos, tadelte er sich selbst. Die Soldaten des Feindes glaubten, leichtes Spiel mit ihm zu haben und ihn gefangen nehmen zu können. “Auf Euch wartet eine schöne ungemĂŒtliche Zelle gleich neben der Eures Vaters!”, tönte einer der MĂ€nner. Allerdings hatten er die Rechnung ohne Toshiros LeibwĂ€chterin gemacht. Im nĂ€chsten Moment fing er sich eine Kugel. Die verbliebenen beiden Feinde ließen von Toshiro ab und attackierten stattdessen die Schwarzhaarige. Den einen schoss Aki genau zwischen die Augen. Dem Hieb des anderen wich sie gekonnt aus und schlitzte dabei seine Kehle mit einem Bajonett auf. Er versuchte noch, die Blutung zu stoppen, indem er die Hand auf die klaffende Wunde an seinem Hals presste, aber er verlor schnell das Bewusstsein und war im Handumdrehen genauso tot wie die anderen Leichen. Wieder lud Aki ihre Waffen nach. Derweil bekam Toshiro von dem Gemetzel nichts mit. Die TrĂ€nentropfen zwischen seinen HĂ€nden hatten sich zu einem kleinen See vereinigt. Sein starrer Blick schaute ins Nirgendwo. Er tönte stets davon ein großer Krieger zu sein. Und was tat er jetzt? Heulen. JĂ€mmerlich! Aki musste sich etwas einfallen lassen. Es war unmöglich, seine Durchlaucht in diesem Zustand in Sicherheit zu bringen. Sie fuhr die Bayonette wieder ein, steckte ihre Waffen in die Halfter und ging zu Toshiro. Unsanft packte sie ihn und zerrte ihn zurĂŒck auf beide Beine. “Durchlaucht!”, schrie sie ihn an. “Reißt Euch zusammen! Wir mĂŒssen fliegen!” “Der Palast
”, klagte der Prinz. Aki riss der Geduldsfaden. Eine schallende Ohrfeige riss Toshiro aus seiner Trance. Sofort schreckte die Schwarzhaarige zurĂŒck, als ihr klar wurde, was sie gerade getan hatte, und verneigte sich demĂŒtigst. “Vergebt mir, Durchlaucht!” Toshiro rieb sich die Wange. “Aua!” “Entschuldigt! Ich werde nach unserer Flucht umgehend Seppuku begehen!” “Nein, das wird nicht notwendig sein! Genau das habe ich gebraucht!” Noch einmal sah er sich wehmĂŒtig zu dem HĂŒgel um, auf dem bis vor Kurzem der Palast ĂŒber dem Land thronte. Ihm war bewusst, dass sie keine Zeit fĂŒr TrĂŒbsal ĂŒbrig hatten. “Komm, Aki. Wir mĂŒssen dem Feind entkommen!” “Jawohl!” Die Schwarzhaarige erhob sich wieder. Gemeinsam setzten sie ihre Flucht fort. Die SchwĂ€rze lichtete sich und Hideyoshi erlangte das Bewusstsein zurĂŒck. Er sah sich um. Es war Stockdunkel um ihn herum. Nur ein zaghafter Lichtstrahl mĂŒhte sich, die Finsternis zu erhellen. Das kleine Bullauge in der Holzwand, aus dem er eindrang, war kaum groß genug, eine Hand hindurch zu stecken, darum dachte Hideyoshi erst gar nicht daran zu fliehen. Außerdem hatte man ihn entwaffnet und die Macht des Clansmal konnte er auch nicht mehr spĂŒren. Vermutlich unterdrĂŒckte irgend etwas seine Magie. Er sah sich weiter um. Es befand sich nicht viel in der kleinen KajĂŒte. Ein Haufen altes Stroh stellte eine Schlafgelegenheit dar und ein hölzerner Eimer in der Ecke war fĂŒr seine Notdurft bestimmt. Plötzlich vernahm er ein GerĂ€usch hinter der TĂŒr. Ein Sehschlitz wurde aufgeschoben und ein Soldat der Hojo sah nach dem Rechten. Nachdem er sich davon ĂŒberzeugt hatte, dass der Gefangene keine Gefahr darstellte, schloss er den Sehschlitz und öffnete die TĂŒr. LĂ€ssig trat Hotaru ein, einen kleinen Feuerball als Lichtquelle in der Hand haltend, und beĂ€ugte den noch immer auf dem Boden hockenden Gefangenen. “Na, ist es bequem hier?”, amĂŒsierte sich der Prinz. “Wir haben keine Kosten und MĂŒhen gescheut, Euch angemessen unterzubringen, Eure Lordschaft.” “Wenn Ihr mich verspotten wollt, spart Euch den Atem!”, forderte der Gefangene. “Aber wenn es mir doch solchen Spaß macht!” “Was verschafft mir das VergnĂŒgen Eures Besuches?” “Ich möchte Euch davon in Kenntnis setzen, dass Euer geliebter Sohn schon bald Euer Schicksal teilen wird.” Hideyoshi begann auf einmal wie von Sinnen zu lachen. “Was ist daran so komisch?!” “Ha ha ha! Ihr werdet Toshiro niemals in Eure unehrenhaften Klauen bekommen.” “Seid Ihr Euch da nicht so sicher! Alle MĂ€nner, die nicht gerade damit beschĂ€ftigt sind zu brandschatzen und zu vergewaltigen, durchkĂ€mmen die Stadt nach Eurem Sohn. Und sie werden ihn erwischen. Tod oder lebendig!” “Ihr seid auch nur ein Bengel. Es plagt Euch, dass Ihr Toshiro noch nicht erwischt habt, und so lasst Ihr den Frust ĂŒber Eure UnzulĂ€nglichkeit jetzt an mir aus.” “Haltet Euer verdammtes Maul!” Am liebsten hĂ€tte er ihn fĂŒr seine Worte erschlagen. Hotaru wollte jedoch seinen Vater nicht verĂ€rgern. WĂŒtend machte er kehrt Marsch und mit ihm verschwand auch das Licht aus der KajĂŒte. Die TĂŒr wurde zugeschlagen und Hideyoshi war wieder allein. Er sah aus dem kleinen Fenster und hoffte, dass sein Sohn bereits in Sicherheit war. Aki und Toshiro erreichten ein abgelegenes Haus am Rand der Klippe. Völlig erschöpft von all dem Gerenne und GekĂ€mpfe beugte sich Toshiro nach vorn und stĂŒtzte dabei seine HĂ€nde auf den Oberschenkeln ab. Nach Luft japsend sah er zu dem mehrere Stockwerke hohen, aber dennoch unscheinbaren Holzhaus auf. “Sind wir da?”, fragte er unglĂ€ubig. “Hier sollte ich Euch hinbringen, Durchlaucht”, bestĂ€tigte Aki. “Und was machen wir jetzt?” “Folgt mir!” Toshiro hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen. Im Inneren des Hauses konnte man kaum etwas sehen, bis Aki die großen TĂŒren an einer Wand öffnete, die an jene einer Scheune erinnerten. Die Öffnung zeigte direkt hinaus in das wolkenartige weiße Meer. Einfallendes Licht enthĂŒllte, dass es sich bei dem Haus um eine Werkstatt handelte. Zahllose GerĂ€tschaften standen verstreut im Inneren herum. Darunter auch ein großer Korb. Er bot Platz fĂŒr bis zu vier Passagiere. An ihm war ein großer schlaffer Stoffsack an einem eisernen Gestell angebracht. WĂ€hrend Toshiro sich noch fragte, was sie mit dem Ballon zu schaffen hatten, suchte Aki bereits die BehĂ€lter aus Bambus zusammen, welche das Gas beinhalteten, mit dem ihr FluchtgerĂ€t angetrieben werden sollte. Als die BehĂ€lter angeschraubt waren, öffnete Aki die Ventile. “Es wird eine Weile dauern, bis der Ballon bereit ist, Durchlaucht”, informierte die Kunoichi ihren Herrn. “WĂ€hrend Ihr wartet, werde ich nach Feinden Ausschau halten.” Aki verließ das Haus und ließ ihren Schutzbefohlenen allein zurĂŒck. Toshiro schaute dem Ballon dabei zu, wie er sich langsam mit Gas befĂŒllte. Langsam war noch zu milde ausgedrĂŒckt. Das Ding wollte sich augenscheinlich nicht dazu herablassen, sich endlich aufgeblĂ€ht aufzurichten. So ging es eine ganze Weile weiter. Toshiro langweilte sich sehr. Er sah sich um und fand einige Dinge vor, die auf der Reise nĂŒtzlich sein konnten. Ein stabiles Zelt, etwas haltbarer Proviant. Offenbar hatte man diesen Ort fĂŒr eine schnelle Flucht hergerichtet. Unbeirrt legte Toshiro die GegenstĂ€nde in den Korb, um sich so die Wartezeit zu vertreiben. Das Aufeinandertreffen von Klingen und der Krach von Schusswaffen rissen den Prinzen aus seinen Gedanken. Vor dem Haus wurde gekĂ€mpft! Der Feind hatte sie gefunden! Toshiro wollte nicht wie ein hilfloses Kind herumsitzen und sich beschĂŒtzen lassen. Als die GerĂ€usche plötzlich verstummten, musste er seinem Drang nachgeben und sah sich das Geschehen an. Aki stand mit leerem Blick inmitten von ungezĂ€hlten Leichen. “Aki!”, rief Toshiro ihr zu. Seine LeibwĂ€chterin registrierte sein Auftauchen und setzte sich wankend in Bewegung. Nach einigen Schritten entglitten ihr die blutverschmierten Waffen und sie brach vor den Augen ihres Schutzbefohlenen zusammen. Erst jetzt konnte Toshiro sehen, dass ihre Yukata am RĂŒcken ebenfalls in Blut getrĂ€nkt war. Sofort eilte er ihr zur Hilfe. Er kniete sich zu ihr hin, drehte sie auf den RĂŒcken und ĂŒberprĂŒfte, ob sie noch am Leben war. Er spĂŒrte einen schwachen Puls. Die Verwundete sah ihn auf einmal an. “Was... macht Ihr hier, Durchlaucht?”, fragte sie in gebrochenen Worten. “Eilt Euch und... steigt in den Ballon!” “Ich gehe nicht ohne dich!”, weigerte sich Toshiro. “Ich werde nicht mehr lange durchhalten und Euch nur zur Last fallen.” “Nein! Wer soll mich denn beschĂŒtzen, wenn du stirbst? Hast du da schonmal drĂŒber nachgedacht, du Idiotin?!” Aki fragte sich, warum auf einmal Wasser aus Toshiros Augen lief. War seine Durchlaucht etwa Leck geschlagen? “Hörst du, Aki?! Ich gestatte dir nicht, zu sterben. Ich befehle dir zu ĂŒberleben!” Die Worte ihres Herren weckten die letzten Kraftreserven in der LeibwĂ€chterin. Ihr getrĂŒbter Blick wurde wieder klar. “Wenn das... Euer Befehl ist, Durchlaucht, so... werde ich mein Bestes geben... ihn zu befolgen.” Plötzlich wurden die beiden von einer Gruppe von feindlichen Soldaten mit Gewehren umstellt. Die MĂ€nner zielten auf Toshiro. “Lasst mich sie- Agh!” Aki versuchte aufzustehen, aber die Kugeln in ihrem RĂŒcken brannten wie Feuer und machten es ihr unmöglich. “Nein! Du hast genug getan. Überlasse sie mir.” Vorsichtig legte Toshiro Aki auf dem Boden ab. Er stellte sich der Übermacht entgegen und machte sich Kampfbereit. In den tiefen Taschen seines Gewands fand er goldene Schlagringe, die er sofort streifte. “Erst zerstört ihr den Palast und dann verwundet ihr meine Untergebene. Wollt ihr mir eigentlich alles wegnehmen?!”, bluffte Toshiro seine Gegner an. Er ballte die HĂ€nde zu FĂ€usten und begann zu schreien. Um ihn herum zuckten Blitze und seine Stirn begann zu glĂŒhen, wie zuvor die seines Vaters. VerĂ€ngstigt legten die Soldaten an, trauten sich aber nicht zu schießen. Sie hatten ihre Befehle. Entgegen Hotarus Behauptung dem Daimyo gegenĂŒber, sollte der Prinz lebend gefangen werden. Aufgeladen wie ein Dynamo schlug Toshiro die Faust auf den Boden. “Gewitterfaust des Donnerdrachen!”, rief er aus und pumpte die Energie aus seinem Körper in den Boden. Im nĂ€chsten Moment schossen goldene Blitze bei den Soldaten aus dem Boden und versetzte ihnen fatale StromschlĂ€ge. Förmlich gegrillt fielen die MĂ€nner zu Boden. Toshiro atmete durch. Das Symbol auf seiner Stirn verschwand und die Energie um ihn herum löste sich auf. Sofort wandte er sich wieder Aki zu. “Wag es ja nicht tot zu sein, hörst du!” “Nein, Durchlaucht”, versicherte die Kunoichi. “Das... wĂŒrde ich mir nie...mals her
 herausnehmen!” “Gut!” Vorsichtig hob Toshiro die Verwundete an, nahm auch ihre Waffen auf und trug sie in das hölzerne Haus hinein. Er setzte sie behutsam in den Korb am inzwischen beinahe zum Bersten mit Gas gefĂŒllten Ballon und begann das GefĂ€hrt hinauszuschieben. FĂŒr den Moment hielten sie schwere Gewichte vom Abheben ab. Als Toshiro den Korb bis fast vor die Klippe geschoben hatte, sprang er selbst hinein und trennte die Gewichte ab. Der Ballon erhob sich. Sie flogen einige Meter ĂŒber den Abhang, bis er wieder sank. Toshiro musste es mit der Ladung ĂŒbertrieben haben. Das Luftfahrzeug tauchte mit seinen Passagieren in die weißen Wolken unter ihm ein. Hotaru stand an Deck und schaute vergnĂŒgt dabei zu, wie die Stadt des Feindes in StĂŒcke geschossen wurde. Er bedauerte, dass er die Schreckensschreie der hilflosen Untertanen bei all dem Krach nicht hören konnte. Sollte er es wagen und erneut in die Stadt fliegen, nur um seine Lust auf die Qualen seiner Feinde zu befriedigen? ZĂŒgig trat ein Soldat an ihn heran und kniete nieder. Die rechte Faust ballte er dabei auf der linken Schulter, so wie es Sitte war. “Durchlaucht, ich erstatte Bericht!", sprach der Mann. “Was hast du mir zu sagen?”, fragte Hotaru brummig. “Der Sohn des Daimyo ist entkommen.” Wutentbrannt stampfte Hotaru auf die Schiffsplanken auf. “Ihr Dilettanten! Ihr verdammten Taugenichtse!” Der Prinz des Feuerclans bekam sich gar nicht mehr ein und tobte immer weiter. “Muss man hier alles selber machen?!” Aber dann schien er sich endlich ein wenig zu beruhigen. “Wohin sind sie geflohen? Etwa zu den Suzuki, diesen Windbeuteln?” “N-Nein”, stotterte der Soldat eingeschĂŒchtert. “N-Nicht zum Sturmclan.” “Wohin dann, du Wurm?!” “S-Sie si-si-sind in a-a-einem Ballon durch die Wolken abgetaucht.” “Runter ins Reich des Teufels?” Das konnte Hotaru gar nicht gebrauchen. “Was steht Ihr noch so dumm herum! Dort unten werden sie nicht ĂŒberleben. Mein Vater will den Prinzen lebendig!” “A-A-A-Aber, Durch-la-laucht!” Die UnfĂ€higkeit dieses Mannes regte Hotaru erneut auf. Dieses Mal wĂŒrde er nicht mehr nachsichtig sein. Er zog sein Schwert und stieß es seinem Untergebenen vor versammelter Mannschaft in die Brust. Als er es wieder befreite, fiel sein GegenĂŒber umgehend tot zu Boden. Hotaru griff nach einem Taschentuch und wischte das Blut von der Klinge seiner Waffe. Danach steckte er sie wieder weg und wandte sich an die verbliebenen Soldaten. “Sendet meine Befehle: Der Yamato-Bastard ist um jeden Preis zu fangen. Lebendig! Tötet alle, die sich euch in den Weg stellen!” Durch die dichten Wolken sank der Ballon weiter hinab ins Ungewisse. Toshiro blickte auf seine schwer verletzte LeibwĂ€chterin herab. Sie hatte im Alleingang unzĂ€hlige Feinde erledigt, bevor sie zusammenbrach. Obwohl sie keinerlei magische FĂ€higkeiten besaß, war Aki um ein vielfaches fĂ€higer als er. Sie so zu sehen, in ihrem Kampf mit dem Tod, konnte er nicht ertragen. Allerdings gab es nichts an Bord, mit dem er ihr Leid mindern könnte. Der Proviant schloss keine Medikamente mit ein. Er musste darauf vertrauen, dass sie seinen Befehl ausfĂŒhren und durchhalten wĂŒrde, bis sie einen Heiler fĂ€nden. Selbst unter den Wolken im Reich des Teufels sollte es Heilkundige geben, welche sie retten konnten. Etwas anderes wollte er nicht akzeptieren. Die weiße Wand um den Korb lichtete sich. Toshiro erblickte eine gewaltige FlĂ€che, bedeckt mit goldgelben Sand. Unter ihnen befand sich eine riesige WĂŒste. So sieht also das Land des Teufels aus, dachte Toshiro, wĂ€hrend das Luftfahrzeug weiter dem Boden entgegen sank. Kapitel 18: Verwobene Schicksale -------------------------------- 🌱 Zwei riesige Statuen rahmten den schmalen Zugang zur Bucht von Al Shahar. Sie stellten imposante WĂ€chterfiguren in schwerer orientalischer RĂŒstung dar. In ihren HĂ€nden hielten sie jeweils in der einen eine Martrad, eine Art Hellebarde, und in der anderen einen runden aufwĂ€ndig verzierten Schild. Spiegelverkehrt war der eine ein RechtshĂ€nder und der andere ein LinkshĂ€nder. Zusammen begrĂŒĂŸten sie die ankommenden Schiffe. Diese Plastiken von an die zwanzig Meter Höhe und ihre noch lĂ€ngeren Waffen zeugten von meisterlicher Handwerkskunst und großem Wissen um die Metallverarbeitung. Weiter draußen hatten bereits mehrere vorgelagerte kleine Inseln die Wellen gebrochen, sodass der Eingang von der Kraft der wilden See verschont blieb. DafĂŒr brachten unzĂ€hlige Schiffe Unruhe in das Bild. Besucher und HĂ€ndler von ĂŒberall auf dem Kontinent. Langsam fuhr die Esmeralda in den Hafen von Al Shahar ein. Schwer gebeutelt vom Sturm und von der Bestie aus den Tiefen des Meeres. Die Segel geflickt. Die Reeling teilweise zerschlagen. Überall hatten die Abenteuer ihre Spuren hinterlassen. Die schiere GrĂ¶ĂŸe der restlichen Hafenanlage beeindruckte mindestens genauso sehr wie die Kunstwerke an ihrem Zugang. Egal wohin man den Blick schweifen ließ, lagen Schiffe vor Anker. Zwischen den einheimischen Dhau, den prachtvollen Galeeren der Elfen aus Lichthofen, den vereinzelten zwergischen Dampfschiffen und den Drachenbooten aus Frys fiel die Esmeralda in keinster Weise aus dem Rahmen. Al Shahar war ein unverzichtbarer Knotenpunkt im internationalen Handel. Ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen. Wer hier nicht irgendwie anders war, zog viel mehr Aufmerksamkeit auf sich. Langsam fuhr die Esmeralda an die ihr zugewiesene Stelle. Auch wenn die Anlage von Al Shahar riesig war und gar unĂŒberschaubar anmutete, auf die BĂŒrokratie der Beamten des Kalifats konnte man sich stets verlassen. Die Angestellten der Hafenverwaltung wussten immer genau, welches Schiff zu welchem Zeitpunkt an welcher Position sein musste. Nur der Teufel wusste, wie sie das bewerkstelligten! WĂ€hrend der Einfahrt in den Hafen, stand Nebula am Bug des Schiffes und schaute geradeaus hinein in das rege Treiben und Wuseln. Das heiße WĂŒstenklima machte ihr schon jetzt zu schaffen, wo sie nur ihre Freizeitkleidung trug. Wie schlimm wĂŒrde es erst werden, wenn sie ihren Wappenrock und die Waffen mit sich fĂŒhrte? Das wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen! Wie praktisch wĂ€re es jetzt eine Teufelswaffe zu besitzen, welche die Luft zu gefrieren vermochte. Stattdessen konnte sie nur das Blut in ihren Venen zum Kochen bringen - was nicht einmal notwendig war bei diesen Temperaturen. Sie versuchte an etwas anderes zu denken. UnwillkĂŒrlich kam ihr das Gesicht von Henrik in den Sinn. Wie es im WĂŒrgegriff des Seeungeheuers von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr blau anlief. Beim Gedanken daran, wie nutzlos sie sich gefĂŒhlt hatte, als ihr Körper ihr nicht mehr gehorchte, verzog sie im Ärger ĂŒber sich selbst die Mundwinkel. Sie fĂŒhrte ihre rechte Hand in einigem Abstand vor ihr Gesicht und beobachtete sie. Nichts. Kein Zittern. “W-Was machst du da?”, fragte eine vertraute Stimme. Nebula wandte sich der Quelle zu. Henrik war an sie herangetreten. Die Blondine sah den Jungen an. Anstelle der ĂŒblichen frostigen Reaktion, mit der er eigentlich gerechnet hatte, umschloss sie ihn mit ihren Armen und versuchte, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. Wegen des GrĂ¶ĂŸenunterschieds nicht so leicht getan, wie gesagt. Wortlos standen sie da. Nebula drĂŒckte sich fest an Henrik. “W-Was ist denn in dich gefahren?” “Ich bin einfach froh, dass du da bist!”, antwortete Nebula. “D-D-Danke, Nebula. Das b-bedeutet mir wirklich viel.” “Tue mir einen Gefallen!” “N-NatĂŒrlich!” “Halte die Klappe und umarme mich einfach!” “O-Okay.” Henrik nahm nun auch seine Arme und schlug sie ebenfalls um den Körper der Prinzessin. So standen sie noch lange da, nachdem die Esmeralda vor Anker gegangen und der Steg zum Ausstieg bereit war. Die Kontakte ihrer Familie reichten bis in den Orient. Nebulas Vater, der König, ließ seine internationalen Beziehungen spielen und organisierte der Gruppe eine helfende Hand. Ein Mann, der sich bestens mit den Gepflogenheiten des KrĂ€merhandweks auskannte und ihnen bei der Herausforderung als WĂŒstenhĂ€ndler getarnt ĂŒber die Grenze nach Aschfeuer zu gelangen, sicher behilflich sein konnte. Diesen Mann wollten sie umgehend aufsuchen. Er residierte in einem nicht gerade klein geratenen Haus auf einem HĂŒgel, von dem aus man das geschĂ€ftige Treiben in Al Shahar bestens im Blick behalten konnte. Zwar war er nicht der Emir, aber immerhin ein einflussreicher Beamter. Dies gestattete ihm den Luxus, in einem solchen Anwesen zu leben. Im Kalifat von Yjasul kĂŒmmerte man sich stets um die Staatsbediensteten. Ein Mann im Dienste eines Emirs konnte sich eine goldene Nase verdienen, in einem Bassin voll mit MĂŒnzen schwimmen, Gelage und Orgien feiern oder sich einen Harem aus den schönsten TĂ€nzerinnen halten, solange er gut fĂŒr seinen Herren arbeitete. Denn Geld war der Gott der gewitzten WĂŒstenhĂ€ndler. Wer ausreichend reich war, konnte das Gesetz nach seinem eigenen Willen beugen - und zwar völlig legal. Mochte man seinen Nachbarn nicht, so durfte man ihm sein Heim unter dem Hinterteil wegkaufen und zum eigenen VergnĂŒgen abreißen, wenn man es denn wollte und nichts besseres mit dem Ersparten anzufangen wusste. Ebenso gewöhnungsbedĂŒrftig waren wohl die Persönlichkeitsrechte in diesem Land, wie die Neuankömmlinge schnell merken sollten. AbfĂ€llige Blicke straften Nebula. Sie dachte erst, es lĂ€ge an ihrer Reithaltung. Matt und ausgelaugt von der Hitze ließ sie alle Vier gerade sein und vom RĂŒcken Clays stolzen Schimmels herunter baumeln, der sie anstatt der eigenen Beine durch die Straßen trug. Doch das war es nicht, was die Einheimischen erzĂŒrnte. “Was haben die?”, fragte Nebula in die Runde. Sie ließ den Blick zu ihren Begleitern streifen und sah den unter viel Stoff verdeckten Kopf von Cerise. Diese hatte sich ein langes Tuch aus weißem Gewebe zu einem Kopftuch gefaltet, welches ihre Haare und alles unterhalb der Augen bedeckte. “Was tragt Ihr da?” “Wie ignorant von Euch”, tadelte die Rothaarige. “Habt Ihr Euch gar nicht mit der Kultur dieses Landes beschĂ€ftigt? Hierzulande gilt es schon als obszön, wenn eine Frau ihre Haare offen in der Öffentlichkeit zeigt. Geschweige denn, auf dem RĂŒcken eines Pferdes herum lungert. Man will es kaum glauben, aber es gibt tatsĂ€chlich Menschen, die noch verklemmter sind als Ihr, Prinzesschen.” In einem Anfall von Ärger richtete sich die blonde Prinzessin auf. “Ich bin nicht verklemmt!”, beschwerte sie sich und Zornesadern pulsierten auf ihrer Stirn. “Außerdem: Wieso soll ich meine Haare verbergen, nur weil ich eine Frau bin?” “Weil es davon zeugt, dass Ihr die BrĂ€uche anderer Völker respektiert.” Nebula ließ sich brummend zurĂŒck auf den PferderĂŒcken fallen. “Außerdem schĂŒtzt es den Kopf und Euch ereilt kein Hitzschlag.“ Nebula brummte entschiedener. “Und angepasst an die Massen, fĂ€llt das Liquidieren leichter.” Nebula zeigte Cerise einen Vogel. Außer dem omniprĂ€senten Impuls, dieser vorlauten Halbelfe den dĂŒrren Hals umzudrehen, plante sie momentan keine Morde. Sie bogen um eine Ecke und kamen auf einen großen Platz. Auf ihm standen halbnackte braungebrannte Menschen auf hölzernen Podesten, ausgestellt wie auf einem Viehmarkt. Ihre HĂ€nde waren auf dem RĂŒcken zusammengebunden und der rechte oder linke Fuß wurde von einer Kette mit klischeehafter Eisenkugel an ihrem Ende geziert. Annemarie, welche natĂŒrlich auch eine entsprechende Kopfbedeckung aus weißem Leinentuch trug, zupfte an Clays Mantel. “Hey, was sind das fĂŒr Leute?”, fragte sie den großgewachsenen BarttrĂ€ger. “Nun ja, das sind-”, versuchte dieser eine kindgerechte Umschreibung zu finden. “-Sklaven”, vollendete Cerise. “D-Das ist ja a-ab-abscheulich!”, entrĂŒstete sich Henrik. “Wieso?”, fragte Cerise provokant. “Weil d-das falsch ist!” “Hat man dich nicht auch einmal fast in die Sklaverei verkauft? Inwiefern ist das hier schlimmer als in Morgenstern? Wer den Schmutz eines anderen kritisiert, sollte zuerst den Dreck vor der eigenen TĂŒrschwelle wegkehren.” “A-Auch wieder wahr!” “Immerhin kann ein Sklave in Yjasul freigelassen werden, zu Geld kommen und eines Tages selbst Sklaven halten”, tönte eine unbekannte MĂ€nnerstimme. “Wer hier Sklave ist und wer Meister, das hĂ€ngt alles vom Geschick des Individuum ab.” Alle wandten sich dem Fremden zu. Sie erblickten einen schwarzhaarigen Mann mit dunklen Taint, welcher von zwei Wachen begleitet wurde. “Entschuldigt, ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Tarik.” Er begab sich zielstrebig zu Nebula, welche noch immer einen DurchhĂ€nger hatte. “Und Ihr mĂŒsst die Prinzessin sein.” Tarik nahm ihre Hand und kĂŒsste sie. “So ist es doch Sitte in Morgenstern?”, fragte er, um auf Nummer sicher zu gehen. “Selbst nass und verschwitzt seid Ihr noch immer eine Augenweide.” Clay wandte sich an Henrik. “Mitschreiben, Kleiner! So macht man das!” “Vielleicht solltet Ihr trotzdem in Betracht ziehen, ein Kopftuch zu tragen. So wie Ihr jetzt ausschaut, glaubt Euch niemand, eine HĂ€ndlerin aus der WĂŒste zu sein.” Daraufhin ging Tarik zurĂŒck zu seinen WĂ€chtern und wandte sich wieder an die ganze Gruppe. “Bitte folgt mir. Wir sollten die Einzelheiten ĂŒber Eure Weiterreise in meinem Anwesen besprechen.” Tarik brachte Nebula und ihre GefĂ€hrten in einer Karawane unter, welche sich auf dem Weg nach Argentoile befand, einer Stadt in Aschfeuer, die direkt am Pass zur WĂŒste von Yjasul lag. Es war alltĂ€glich, dass WĂŒstenhĂ€ndler diese Stadt besuchten und ihre Kostbarkeiten aus dem Orient feilboten. Manchmal blieben einige von ihnen fĂŒr lĂ€ngere Zeit im Land. Es wĂŒrde folglich niemand Fragen stellen, wenn ein paar der verhĂŒllten Gestalten weniger die RĂŒckreise antraten, als zuvor gekommen waren. Man wĂŒrde einfach vermuten, sie hĂ€tten lĂ€ngerfristige GeschĂ€fte in der Stadt zu tĂ€tigen. Mit diesem Trick wollten sie sich im Feindesland einschleichen und ihren Auftrag erfĂŒllen. Doch zuerst musste die WĂŒste durchquert werden. Nach einem heißen Tag verschaffte die Nacht die ersehnte AbkĂŒhlung. Ein sanfter Wind blies unter dem sternenklaren Himmel. Die KarawanenhĂ€ndler hatten an einer Oase Rast gemacht. Mitten in der WĂŒste erhob sich ein mĂ€chtiges Bergmassiv, in dessen Schutze einige aus Grundwasser gespeiste Seen Platz fanden. Sie gestatteten, jeglicher erdenklichen Fauna und Flora zu gedeihen, die man an so einem Ort erwarten wĂŒrde. Das Wasser ermöglichte das Wachstum von BĂŒschen, hohen GrĂ€sern und Palmen. Ebenso traf man hier verschiedene Pflanzen- und Fleischfresser am Boden an sowie bunte Singvögel und Primaten auf den Wipfeln der BĂ€ume. Allerdings schliefen diese Kreaturen zur spĂ€ten Stunde bereits. Noch nicht im Land der TrĂ€ume befanden sich die weiblichen Mitglieder der Gruppe. Nebula hatte tagsĂŒber so unter der Hitze gelitten, dass sie die anderen ĂŒberredete, in einem der kleineren TĂŒmpel ein erfrischendes Bad zu nehmen. Zudem empfand sie ihre eigenen AusdĂŒnstungen als höchst unangenehm. Nun saßen sie unter dem Sternenhimmel im Wasser und ließen es sich gut gehen. Ihre Kleider lagen ordentlich zusammengelegt am Rand des TĂŒmpels, welcher geformt war wie ein natĂŒrliches Badebassin. Die Stoffe und Leder warteten darauf, wieder angezogen zu werden. Doch dieser Moment lag noch in weiter Ferne. WĂ€hrend von Annemarie nicht viel mehr als der Kopf und der Hals aus dem GĂ€nsewein herausschauten, konnte man von den beiden erwachsenen Frauen mehr betrachten. WĂ€hrend Nebula sich bemĂŒhte, dass das Wasser wenigstens notdĂŒrftig ihre BrĂŒste bedeckte, scherte sich Cerise kein bisschen darum. Beide Arme auf den Rand gelegt, reckte sie ihre Reize den Sternen entgegen. Es war ja nicht so, dass sie um diese Zeit jemand sehen könnte. Und selbst wenn, wĂ€re es ihr egal. Sie war ĂŒberzeugt davon, das jeder der sie noch nicht nackt gesehen hatte, bisher nicht richtig gelebt hatte. Cerise schaute an Annemarie vorbei, welche genau zwischen ihnen saß, und beĂ€ugte die Versuche der Blonden ihren ĂŒppig bestĂŒckten Oberkörper unter der WasseroberflĂ€che zu behalten. Cerise nahm die Arme vom Rand und richtete sich auf. “Sagt, Prinzesschen, was macht Ihr da?”, fragte sie Nebula neckisch. “Wollt Ihr ihnen nicht auch etwas Luft gönnen?” “Wovon sprecht Ihr?”, wunderte sich die Blonde. “Na von Euren BrĂŒsten. Ihr seid so reich beschenkt worden und dennoch verbergt Ihr sie. Genießt Eure Jugend! Wenn Ihr erst alt seid, werdet Ihr ĂŒber sie stolpern.” Nebulas Wangen fĂ€rbten sich rot vor Scharm. “D-Das ist o-obszön!” “Ihr solltet unbedingt den Stock rausziehen!” Die Rothaarige ließ sich wieder in ihre vorherige bequeme Haltung zurĂŒck sinken. “Dann sitzt es sich viel bequemer.” “Hört auf, mich andauernd als verklemmt hinzustellen!” “Ein Pflugscharen verhakt in einer Wurzel könnte nicht so verklemmt sein.” “Ach, haltet doch Euer Maul!” Ein schelmisches Grinsen zierte Cerises Gesicht. Annemarie musste plötzlich laut lachen. “Ihr beiden seid so lustig”, meinte sie. Sie wollte ihre Heiterkeit nicht mehr einstellen. Neben dem GewĂ€sser, in dem die GefĂ€hrtinnen badeten, befand sich ein großer Stein, flankiert von hohen GrĂ€sern. Der perfekte Ort fĂŒr heimliche Zuschauer. Ein Augenpaar wurde immer grĂ¶ĂŸer, als es die Rothaarige betrachtete, welche die Freikörperkultur mit Wonne auslebte. Ein anderes Augenpaar verĂ€nderte sich hingegen nicht. Es schien diesen Anblick bereits gewohnt zu sein. “S-Sie ist wirklich a-atemberaubend”, stammelte eine unsichere Stimme vor sich hin. Sie gehörte Henrik, der noch immer unschlĂŒssig war, wieso er der Einladung des großen Mannes gefolgt war. “Finger weg!”, spaßte eine kraftvolle Stimme, nur so strotzend vor MĂ€nnlichkeit. Es war Clay, der Henrik zu dieser Aktion ĂŒberredet hatte. “Die gehört mir!” “Also ich wĂŒrde sie beide nehmen”, sprach eine dritte Stimme zwischen Henrik und Clay, welche beide dem anderen nicht zuordnen konnten. Schockiert sahen die beiden zu der Person zwischen ihnen. Sie erblickten einen blonden Jungen um die sechzehn Jahre. Seine bernsteinfarbenen Augen wirkten im Dunkel der Nacht wie ein tiefes Braun. “Wer zum Teufel bist du denn?!!”, riefen beide erschrocken aus. NatĂŒrlich blieb ihr Aufschrei nicht unbemerkt von den in aller Heimlichkeit observierten Damen. “Ist da wer?!”, rief Nebula erzĂŒrnt. “Zeigt Euch, Ihr perverser Spanner!” NatĂŒrlich folgte dieser Aufforderung niemand. WĂ€re sie nicht splitterfasernackt, Nebula wĂ€re lĂ€ngst aus dem Wasser gekommen, um diesen Widerling ins Jenseits zu befördern. “Oh, verdammt!”, fĂŒrchtete sich Henrik. “J-Jetzt sind wir des T-To-Toodes!” Er kauerte sich zusammen und legte beide HĂ€nde auf den Hinterkopf. “So f-fĂŒhlt es sich also an, w-wenn das Leben an ei-einem vorbei zieht.” Cerise machte keinerlei Anstalten, sich vor den heimlichen Beobachtern zu schĂ€men. LĂ€ssig entstieg sie im EvakostĂŒm dem Wasser und kam dem Stein mit verfĂŒhrerischen HĂŒftschwung nĂ€her, nur um kurz davor stehen zu bleiben. “Ich wĂŒrde zur Flucht raten!”, empfahl sie ruhig. “Das Blondchen dort hinten ist ein ganz klein wenig sauer.” Sie deutete mit dem Daumen ĂŒber ihre Schulter hinter sich in den kleinen Teich hinein, in dem Nebula bereits vor Wut stiebte. Plötzlich hob diese einen Arm. “Verberge in den Schatten, Shadowsheath!” Aus pulsierenden Adern trat eine FlĂŒssigkeit hervor, die Nebula in einem schwarzen Gewand verhĂŒllte. Zwar konnte sie die Teufelswaffe in der Dunkelheit nicht unsichtbar machen, doch sie erfĂŒllte dennoch ihren Zweck. Nun bedeckt, konnte sie dem Wasser entsteigen. Noch einmal streckte sie den rechten Arm in den Himmel. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Ein pechschwarzer Blitz fuhr aus dem sternenklaren Himmel herab in ihre geöffnete Hand. Nebula umklammerte die entstandene Stangenwaffe und machte sich sogleich bereit, einen vernichtenden Angriff auf die Perverslinge niedergehen zu lassen. "Himmlische Strafe!" Gungnir ließ eine elektrische Entladung auf die hinter dem Stein versteckten schĂ€ndlichen Spanner herabregnen. “Argh!” Cerise verschrĂ€nkte die Arme. “Ich hab euch gewarnt...” 🌱 Der Fremde fĂŒhrte die Gruppe zu einer abgelegenen Höhle am Rande der Oase. Inzwischen waren alle wieder bekleidet. Allerdings, der spĂ€ten Stunde geschuldet, hatte man Annemarie lĂ€ngst ins Bett geschickt. Clay und Henrik standen die Haare noch immer vom Körper ab und einige Brandspuren zeichneten sich an ihren versengten Spitzen ab. Im Großen und Ganzen hatten sie die Attacke ganz gut ĂŒberstanden. Nebula ließ sie wohl doch nicht ihre volle Kraft spĂŒren. Dennoch fĂŒhlten sie sich beinahe wie BratwĂŒrste auf einem Elektrogrill - nur dass weder das eine noch das andere in absehbarer Zeit erfunden wĂŒrde. Sie kamen nicht so glimpflich davon, wie der Fremde. Nicht nur, dass ihm die ElektrizitĂ€t des Blitzes nichts auszumachen schien, er besaß auch noch die Dreistigkeit, sie bei einer wichtigen Angelegenheit um Hilfe zu bitten. “Sagt mal, Fremder”, sprach Clay den jungen blonden Mann an. “Wieso konntet Ihr dem Angriff von eben so gut widerstehen?” “Der Donner ist mein Element”, antwortete dieser auf die Frage. “Man kann mich nicht damit verletzen.” “I-Ihr GlĂŒcklicher”, kommentierte Henrik. Der Fremde hatte sie gebeten, einem Verletzten zu helfen. Aus diesem Grund plĂŒnderten Nebula und die anderen ihre VorrĂ€te, um Verbandsmaterial und Schmerzmittel zusammenzutragen. Eigentlich wĂŒrde sie einem verwegenen Wicht von seinem Schlag nicht ĂŒber den Weg trauen, aber Nebula fĂŒhlte echte Sorge und wahre GefĂŒhle in seinen Worten und beschloss deshalb, zu Gunsten der verwundeten Person, ĂŒber sein Verhalten hinwegzusehen - vorerst. Endlich erreichten sie den Eingang zur Höhle, welcher vom Blattwerk verborgen war. Vorsichtig traten sie ein. Auf dem kĂŒhlen roten Stein sahen sie eine schwarzhaarige Frau liegen, deren entkleideter Oberkörper von Bandagen bedeckt war. Sie war augenscheinlich bewusstlos, atmete jedoch recht gleichmĂ€ĂŸig. “Ist sie das?”, fragte Nebula. “Ja, das ist meine... Bekannte.” Der Fremde hockte sich neben der Verletzten hin und rollte ihren Körper vorsichtig auf die Vorderseite. Am RĂŒcken waren die Bandagen getrĂ€nkt in Blut. “Vor einigen Tagen fand ich diese Oase. Die Höhle wurde anscheinend frĂŒher als Rastplatz genutzt. Ich fand einige VorrĂ€te. Aber seitdem waren wir hier allein. Ich fĂŒrchtete, niemand wĂŒrde hierher kommen.” “W-Was ist m-mit der Frau geschehen?”, fragte Henrik erschrocken. “Wir wurden angegriffen. Sie hat versucht, mich zu beschĂŒtzen.” “Wer hat das getan?”, wollte Nebula wissen. “Das ist nicht weiter wichtig!” Der Fremde sah auf seine Begleiterin herab. “Ist zufĂ€llig ein Heiler unter euch?” Annemarie könnte jetzt helfen, immerhin hat sie einen Crashkurs in Heilkunde vom Hofzauberer Arngrimir erhalten. Aber sie war in diesem Moment bestimmt lĂ€ngst im Reich der TrĂ€ume angekommen. Sie ins Bett zu schicken, war wohl ein Fehler. “Sehen wir uns zuerst die Verletzungen an”, schlug Cerise vor. Vorsichtig begannen sie und Nebula die Verletzte von ihren VerbĂ€nden zu befreien. WĂ€hrend Nebula den Körper anhob, wickelte Cerise die blutigen Bandagen auf, bis die Verletzungen am RĂŒcken frei lagen. Daraufhin legte Nebula die Fremde wieder auf den Boden ab. Verwundert blickten die Helfer die kreisrunden, perfekten Wunden im Fleisch der Frau an. “Welche Waffe hat das verursacht?”, fragte Nebula. “Die WundrĂ€nder sind perfekt. Wie ausgeschnitten!”, stellte Cerise fest. “Das waren niemals Pfeile oder Bolzen!” Derweil fiel Henriks Blick auf zwei seltsame Taschen an einem GĂŒrtel, in denen merkwĂŒrdige GegenstĂ€nde steckten. Die Objekte weckten seine Neugier und er ging unbemerkt von den anderen auf sie zu, um sie sich genauer anzusehen. Vorsichtig nahm er eines von ihnen heraus und bestaunte es. Es erinnerte ihn an die Form eines Winkels. Ein Rohr ragte auf der einen Seite aus einem grĂ¶ĂŸeren StĂŒck Metall heraus, fĂŒr dessen Form er keine Beschreibung fand. Das andere Ende war mit Leder umwickelt und erinnerte ihn an den Griff eines Schwertes. Er drehte und wendete es in seinen HĂ€nden. Er schaute auch hinein in dieses merkwĂŒrdige Rohr. Wozu es wohl gut war? Seine Aufmerksamkeit wechselte zu dem Griff. Das Rohr zeigte inzwischen weg von ihm auf eine Felswand. An der Stelle, wo sich die beiden HĂ€lften des Objektes trafen, befand sich ein kleiner Hebel, den Henrik lieber nicht betĂ€tigte. Aus Versehen berĂŒhrte er allerdings einen Knopf darunter. Ruckartig wurde eine scharfe Klinge ĂŒber dem Rohr ausgefahren. Sie kam aus dem hinteren Teil und entfaltete sich aus mehreren Segmenten. Vor Schreck entglitt Henrik das Objekt und fiel auf den Boden. Dem dumpfen Auftreffen folgte ein lauter Knall. In der Wand erschien ein kreisrundes Loch. Panisch sprang Henrik in einem Satz zurĂŒck. “Wa-Wa-Was ist d-das?!”, rief er laut aus und riss komödiantisch die Arme ĂŒber den Kopf. Die anderen wurden ebenfalls aufgeschreckt von dem lauten Knall und sahen unvermittelt zu Henrik und dem zu Boden gegangenen Gegenstand. Sofort löste sich Cerise von den anderen und untersuchte die noch immer dampfende Perforation im Felsgestein. “Ein kreisrundes, sauberes Loch”, stellte sie fest. “Genau wie die Wunden in ihrem RĂŒcken.” Die anderen sahen den Fremden erwartungsvoll an. “Was sind das fĂŒr Dinger?”, wollte Nebula wissen. “Bayonetpistolen”, antwortete der Unbekannte. “Es klang wie ein Kanonendonner. Aber diese Waffen sind riesig und teuer. Man kann sie nicht einfach so in der Hand halten.” “W-Was fĂŒr eine f-fortsch-schrittliche Technik”, staunte Henrik. Die Esmeralda hatte ebenfalls ein paar Kanonen an Bord, allerdings konnten sie sie beim Angriff des Kraken nicht einsetzen, weil er zu nah am Schiff war. Aber dass man eine so kleine Kanone bauen konnte, dass sie in HĂ€nden gehalten werden konnte, klang fĂŒr ihn so utopisch, wie eine Kolonie auf dem Mars es fĂŒr uns heute tut. Nebula begann, den Fremden Ă€ußerst skeptisch anzusehen. “Wer seid Ihr, Fremder?”, fragte die Blondine. Der Angesprochene ĂŒberlegte kurz, ob er diesen Leuten weit genug vertrauen wollte. Er fĂŒrchtete, keine andere Wahl zu haben. “Mein Name ist Toshiro.” Er blickte auf die auf dem Boden liegende Verletzte. “Ihr Name ist Aki.” “K-Kann ich mir d-das mal genauer ansehen?”, fragte der inzwischen wieder zu den anderen heran getretene Henrik. Er hockte sich neben Aki und sah sich die blutigen Löcher in ihrem RĂŒcken genau an. “D-Da steckt noch immer etwas drin. Wi-Wir sollten das zerst entfernen, sonst entzĂŒndet es sich noch schlimmer.” “Das habe ich schon versucht”, erklĂ€rte Toshiro. “Ich habe die Kugeln nicht herausbekommen.” “Dann lasst mich mal ran!” Henrik hielt die rechte Hand etwa zehn Zentimeter ĂŒber Akis RĂŒcken und konzentrierte sich. Kanonenkugeln waren aus Metall, diese Kugeln waren es bestimmt ebenfalls. Rote FlĂŒssigkeit trat aus den Wunden aus. Vorsichtig hob Henrik den Arm. Aus der blutigen Substanz stiegen die kleinen verbeulten Metallkugeln auf und flogen langsam auf seine HandflĂ€che zu. Henrik umfasste die Projektile und steckte sie in eine seiner Taschen. Toshiro beobachtete die Demonstration seiner KrĂ€fte mit Verwunderung. “Lasst uns nun die Wunden sĂ€ubern”, schlug Cerise vor. Bevor sie beginnen konnte, sah Nebula die mĂ€nnlichen Anwesenden grimmig an. Diese verstanden sofort und verließen die Höhle. Den Fehler von vorhin wollten sie um keinen Preis wiederholen! Cerise öffnete die Flasche Schnaps, welche sie zum Zwecke der Desinfektion mitbrachten. Zwar waren Bakterien und Viren völlig unbekannt, dennoch wusste man, dass Alkohol die Gefahr von EntzĂŒndungen durch dreckige Wunden verminderte. Doch bevor Cerise mit dem GebrĂ€u einen Lappen trĂ€nkte, schĂŒttete sie zuerst etwas davon unter Nebulas entsetztem Blick in die eigene Kehle. Als spĂ€ter der Alkohol die Wunden berĂŒhrte und entsetzlich brannte, konnten Cerise und Nebula den Körper der Schwarzhaarigen unter Einfluss der Schmerzen erbeben fĂŒhlen und ein schwaches Stöhnen vernehmen. WĂ€hrend die Frauen Aki versorgten und den Verband wechselten, nutzten die MĂ€nner die Zeit, sich besser kennenzulernen. Man hatte sie sowieso vor die sprichwörtliche TĂŒr gesetzt. Wenig spĂ€ter durften sie wieder eintreten und Clay wurde mit der Aufgabe betraut, die Verletzte zu tragen. FĂŒrs Erste war Aki wohl stabil. Dennoch brauchte sie dringend richtige medizinische Versorgung. Und die konnte ihr nur der Arzt der Karawane bieten. Von der abgelegenen Höhle, vorbei an dem kleinen TĂŒmpel, an dem sich zuvor unermessliche menschliche Dramen abgespielt hatten, bis zum Rastplatz der Karawane war es ein ansehnlicher Fußmarsch. Die Entfernung zu den die Oase umrandenden Felsformationen war nicht gerade gering. Der Weg beanspruchte jeweils eine gute Stunde. Da ĂŒberraschte es auch nicht, dass sie nichts von den Ereignissen mitbekommen hatten, die sich unterdessen im Lager zutrugen. Als sie sich nĂ€herten, registrierten sie, dass etwas nicht stimmte. Wuselige Gestalten rannten aufgescheucht umher. Zelte waren zusammengebrochen. Kisten lagen verstreut. Fackeln umgestoßen und erloschen im Sand. Einige Körper lagen reglos im Gras. Sofort rannten Cerise, Henrik, Nebula und Toshiro dem Lager entgegen. Clay beschleunigte ebenfalls seinen Gang, versuchte jedoch, das MĂ€dchen in seinen Armen zu schonen. Dennoch musste sie Schmerz spĂŒren, denn sie öffnete kurz ihre Augen. “Oji-sama... Wo seid Ihr?”, sprach sie schwach und gebrochen. “Könnt Ihr mich hören?”, fragte Clay besorgt. Aber Aki war bereits wieder weggetreten. Clay beeilte sich. Er musste seinen Passagier unbedingt loswerden. Je lĂ€nger er sie trug und der Geruch ihres sĂŒĂŸen Blutes in seine Nase stieg, desto stĂ€rker verspĂŒrte er den Drang, seine ZĂ€hne in ihr Fleisch zu schlagen. Der Hunger der Bestie brannte in seinem Inneren. Es widerte ihn an! Er hasste sich dafĂŒr. Derweil erreichten die anderen das Lager. Nebula lief ein aufgeregter HĂ€ndler in die Arme. Als er sich einfach nicht beruhigen wollte, packte sie ihn und schlug ihm ins Gesicht. “Wer hat uns ĂŒberfallen?!”. Die anderen beĂ€ugten dies entsetzt. Erstaunlicherweise schien der Treffer den Panikanfall des Mannes zu lindern. “D-Das w-wa-waren die WĂŒstenrĂ€uber!", antwortete er aufgeregt. “Sie ha-haben uns angegriffen. U-Und da w-war ihre AnfĂŒhrerin m-mit diesem schwarzen T-Teppich. S-Sie hat a-alles umher gewirbelt!” “Teufelswaffe!”, antwortete Nebula und ließ den Mann los. “Hier sieht es ja aus”, kommentierte Cerise. “Schlimmer als unter meinem Sofa.” “D-Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt fĂŒr Sch-Scherze!”, ermahnte Henrik. Cerise ĂŒberraschte sein ungewohnt selbstsicheres Auftreten. Henrik sah sich die Verletzten genauer an. Sie hatten Platzwunden, KnochenbrĂŒche und blutende SchĂŒrfwunden. Aber keiner von ihnen schien schwer verletzt zu sein. “Das ist gut!”, dachte er lau. “Annemarie sollte sie
 !! Annemarie?!”, rief er aus und begann, wie wild durch das Lager zu flitzen. Auch Nebula rannte los. Sie dachte jedoch zuerst an jemand anderen. “Caroline!” Ihrem Körper war hoffentlich nichts widerfahren. Der Rest hatte kaum eine andere Wahl, als beiden zu folgen, wollten sie nicht einfach nutzlos in der Gegend herumstehen. Bei ihren Zelten angekommen, entdeckte Henrik einen Zettel im Boden, durch den ein Dolch gestoßen war. Nebula hingegen zog es zum unsanft vom Wagen geworfenen Sarg von Caroline. Sein unteres Ende berĂŒhrte den Boden, der obere Teil lehnte noch immer an den Wagen. Der Deckel war abgesprungen und lag daneben. Ein Arm von Caroline hing ĂŒber den Rand des Sarges hinaus in der Luft. Cerise und Toshiro holten die anderen ein. Der blonde Fremdling sah Henrik mit dem StĂŒck Papier in seiner Hand und ergriff eine Fackel, die nicht weit von ihm im Boden lag. An ihr befand sich noch genug Brennmaterial, also benutzte er seine KrĂ€fte und erschuf einen Funken, welcher sie entzĂŒndete. Mit dem Licht war es Henrik nun möglich, den Text zu erkennen. Ein Salat aus merkwĂŒrdigen Zeichen, die er nicht deuten konnte. Was diese fremde Sprache betrifft, war er noch immer ein Analphabet. Cerise riss den Zettel aus seiner Hand. Ihr rudimentĂ€res VerstĂ€ndnis dieser Sprache musste dafĂŒr ausreichen. “Sie haben Annemarie!”, verkĂŒndete sie. “Sie schreiben außerdem, dass sie von den Teufelswaffen wissen. Haben uns wohl schon lĂ€nger beobachtet. Äußerst lobenswerte Spionagearbeit, wenn ich das anmerken darf! Ich habe sie nicht bemerkt
 Ach ja, sie verlangen die Herausgabe, sonst geht es Annemarie an den Kragen.” Henrik ließ vor Schreck die Fackel fallen. “O-Oh nein! Das...! Wir mĂŒssen sie retten!” Doch Nebula vernahm diese Worte lĂ€ngst nicht mehr, da sich plötzlich der Arm von Caroline bewegte. Vorsichtig stĂŒtzten sich zwei HĂ€nde vom Rand des Sarges ab und jemand versuchte, ihm zu entsteigen. Wackelig auf den Beinen, erhob sich eine sichtlich verwirrte Caroline. “Wo bin ich?”, fragte sie. 🌱 Alaric war inmitten der Vorbereitungen fĂŒr eine bald anstehende Reise zum wichtigsten Verteidigungswall im Norden des Kaiserreiches gefangen. In den heißen Aschlanden tickten die Uhren anders, weshalb er um diese Zeit noch arbeitete. Er wĂŒrde dem StĂŒtzpunkt am kĂ€ltesten Punkt des Imperiums einen Besuch abstatten. Ein Tapetenwechsel, welcher ihm nicht ungelegen kam. Die Einrichtung wollte auf ihre EffektivitĂ€t und ihre Effizienz bei der Verteidigung gegen die wilden Barbarenhorden aus dem eisigen Frys geprĂŒft werden. Allerdings musste er zuerst die Schlacht gegen den Papiertiger gewinnen. Alaric hatte sich sagen lassen, die BĂŒrokratie im Reich fand einzig im WĂŒstenstaat am anderen Ende des Kontinents einen wĂŒrdigen Konkurrenten. Persönlich konnte er das weder widerlegen noch bestĂ€tigen. Er hatte noch nicht das VergnĂŒgen, das Kalifat zu bereisen. Dort gab es viel zu viel Sonnenschein! Dennoch wusste Alaric, dass man es stets genau nehmen musste. Die BĂŒrokratie war wie die Steinschleuder der Ordnung, durch die der Gigant des Chaos und der WillkĂŒr erschlagen wurde. Das Ă€nderte allerdings nichts daran, dass er dringend eine Pause brauchte. Es war ihm, als haben die Worte ihr Eigenleben entwickelt und sprangen vom Blatt herunter. Sein Auge schmerzte von all dem Lesen. Alaric erhob sich von seinem Arbeitstisch und schritt in seinen GemĂ€chern umher. Tag und Nacht hatten im Herzen von Aschfeuer keinerlei Bedeutung. Rund um die Uhr schimmerte der rote Schein des Lavasees unter dem Schwarzen Palast durch die Blei gefassten Fenster und ließ die Einrichtung in einem feurigen Rot erscheinen. Ein BĂŒcherregal gefĂŒllt mit den wichtigsten Werken aus Philosophie, Wissenschaft und Poesie aller Rassen befand sich an einer Wand. Selbst Werke von menschlichen Autoren hatten ihren Weg in seinen Besitz gefunden, denn anders als seine Schwester verurteilte er niemanden wegen seiner Rasse vor. Das Licht fiel auch auf das Himmelbett, dessen schwarze SeidentĂŒcher es vollkommen schluckten. Auf dem glatten Basaltboden war ein Teppich ausgelegt, dessen kunstvoll gewebten Muster in den HĂ€nden eines Meisters seines Fachs tief in der WĂŒste entstanden sein mussten. Außerdem besaß Alric mehrere KleiderschrĂ€nke und einen Bereich mit Sichtschutz, an dem er seine Geschmeide anprobieren konnte. Wahrscheinlich wĂŒrde er aber einfach nur eine Uniform tragen, die seinen Rang zweifelsfrei allen Kund tĂ€te, die sie sĂ€hen. An der TĂŒr einer der SchrĂ€nke war ein lebensgroßer Spiegel angebracht. Ein ehrenhafter Mann musste stets darauf achten, dass seine Kleidung ordentlich saß, um nicht zur Lachnummer zu werden und Schande auf sich zu laden. Ein weiterer, kleinerer, befand sich auf einer Kommode, vor der ein Hocker stand. Alaric erinnerte sich daran, den neuen Mantel probieren zu wollen. Sein neuestes Auftragswerk an den kaiserlichen Schneider erblickte erst kĂŒrzlich das Licht der Welt und er hatte bis jetzt noch nicht das VergnĂŒgen gehabt, es einmal ĂŒberzustreifen. Da er den Papierkrieg heute gewiss nicht mehr gewinnen konnte, schien nun der rechte Moment gekommen. Er öffnete den Schrank, entnahm das KleidungsstĂŒck und probierte es an. An der SpiegeltĂŒr konnte er sich davon ĂŒberzeugen, dass es perfekt saß. Er blinzelte und bekam im nĂ€chsten Moment einen Schreck, da er eine Person hinter sich zu sehen glaubte. Sofort wandte er sich um, nur um niemanden zu entdecken. “Wer ist da?!”, rief er aus, erhielt aber keine Antwort. Verwirrt sah er sich um, bis ihm plötzlich schwarz vor Augen wurde. Wie versteinert stand Nebula da und betrachtete unglĂ€ubig die umherwandernde Caroline. So lange lag sie regungslos, seelenlos, in ihrem Sarg. Keiner vermochte ihr zu helfen. Und nun stand sie einfach so von selbst wieder auf? “Caro!”, rief sie ihr zu. Egal ob sie wachte oder trĂ€umte, die Gelegenheit, ihre Freundin in den Arm zu nehmen, ließ sie nicht ungenutzt verstreichen. FĂŒr die sonst so taffe Kriegerin gab es kein Halten mehr. Mit einer Wucht, dass sie sie fast zu Boden riss, fiel Nebula Caroline um den Hals. “Ist das wirklich wahr?” Sie konnte sie berĂŒhren. FĂŒhlen. Es musste also real sein. Dennoch wollte sie nicht begreifen, dass das tatsĂ€chlich gerade passierte. Die anderen betrachteten die Szene mit Ă€ußerster Verwunderung. Insbesondere Toshiro fragte sich, was es mit dem just dem Sarg entstiegenen MĂ€dchen auf sich hatte. Und warum sah sie fast genauso aus wie diese Nebula? “Wo bin ich hier, Emmi?”, fragte Caroline. “War ich nicht eben noch im Palast?” Sie war mindestens so verwirrt wie alle anderen. “Nein! Ich-” “Du bist jetzt hier!”, unterbrach Nebula. In ihrer Freude konnte sie ihre KrĂ€fte fast nicht im Zaum halten und presste Carolines Körper an den ihren. “Langsam! N-Nicht so stĂŒrmisch!” Zum GlĂŒck begriff Nebula, bevor Caroline blau anlief, und löste ihren unbeabsichtigten WĂŒrgegriff, der selbst eine Anakonda vor Neid platzen lassen wĂŒrde. “Da wo ich war, war ĂŒberall SchwĂ€rze.” Nebula packte Carolines Gesicht mit beiden HĂ€nden und lehnte ihre Stirn an ihre. “Das ist doch jetzt alles nicht mehr wichtig!” Sie konnte ihre TrĂ€nen nicht zurĂŒckhalten. “Genau!”, rief Cerise dazwischen. “Wer immer die Karawane ĂŒberfallen hat, hat Annemarie entfĂŒhrt. Vielleicht gedenkt Ihr etwas dagegen zu unternehmen?” Als ob es ihr erst jetzt richtig bewusst geworden wĂ€re, wandte sich Nebula an die anderen. Ein kurzes Schniefen. Ein hastiges Wegwischen der TrĂ€nen. Dann war sie sprechbereit: “Ihr habt Recht! Ihre Sicherheit hat Vorrang!” Carolines Verwirrung vermochten Worte nicht mehr zu beschreiben. Bevor er sich zusammen mit Cerise auf Spurensuche begab, trug Clay die verletzte Aki zurĂŒck zu den Zelten und legte sie in das seine. Sie hatte einen warmen Platz zum Schlafen nötiger als er. Ihre Worte von vorher erinnerten ihn an etwas. Seine Frau hatte immer behauptet, ihre Familie stamme von Inseln ab, die seit Jahr und Tag von den Karten verschwunden waren. Anders als viele ihrer Bekannten, hatte er nie daran gezweifelt, dass ihre Wurzeln tatsĂ€chlich in diesem sagenumwobenen Land lagen und ließ sich von ihr sogar die fremdartige Sprache lehren, die sie ihrerseits von ihrem Urgroßvater gelernt hatte. Oji bedeutet so viel wie Prinz. Wenn also diese fremde Frau nach einem Prinzen rief und ihr einziger Begleiter ein junger Mann war, konnte es dann sein, dass er nicht nur ein Gewöhnlicher, sonder ein Adliger war? Das sollte er ihn spĂ€ter lieber selbst fragen. Im Moment lenkten ihn die Gedanken nur ab. Gemeinsam untersuchten sie die Hinterlassenschaften der Angreifer und entdeckten bald mehrere Paar Fußspuren auf dem sandigen Boden. Vorsichtig beschlossen sie, ihnen zu folgen und fanden bald darauf tatsĂ€chlich das Lager der WĂŒstenrĂ€uber. Es waren viele an der Zahl. Bestimmt an die dreißig oder vierzig Mann. Auf jeden Fall zu viele, um einen Frontalangriff zu riskieren. Die Gefahr, dass einer von ihnen Annemarie Leid zufĂŒgen könnte, bevor sie dazu kĂ€men, sie alle zu erschlagen, war zu groß. “Das sind einige...”, flĂŒsterte Clay. “Ich weiß was Ihr sagen wollt”, bestĂ€tigte Cerise. “Es wĂ€re sehr gewagt, die Kavallerie zu rufen.” Mit ‘Kavallerie’ meinte sie offensichtlich den Rest der Truppe, allen voran Nebula, welche gewiss in kĂŒrzester Zeit durch das Lager fegen tĂ€te. “Wie wollen wir vorgehen?” “Wir werden sie beobachten. Sie wissen von Prinzesschens KrĂ€ften und ein Waffenmeister ist unter ihnen. Wenn es uns gelingt, diese Frau mit diesem Teufelsteppich auszuschalten, wird es einfacher den Rest zu erledigen.” “Teufelsteppich?” “EingĂ€ngiger Name, oder?” Cerise grinste und lobte sich selbst. “Manchmal habe ich Angst davor, wie gut ich bin. “Laut dem HĂ€ndler folgen ihr diese MĂ€nner blind.” “Gut!”, meinte Cerise. “Dann werden sie mich nicht kommen sehen.” Sie schlich auf einmal auf das Lager zu. “Wo wollt Ihr hin?”, wollte Clay wissen. “Ich will mir das Ganze aus der NĂ€he ansehen. Dort hinten wird ein kleines Zelt von jemandem bewacht. Es ist das einzige, das bewacht wird. Ich bezweifle, dass die AnfĂŒhrerin in so einem kleinen Zelt hockt. Dort werden sie Annemarie gefangen halten. Ich will versuchen, sie zu befreien. Ihr haltet indes die Stellung. Wenn ich das Zeichen gebe, oder falls etwas Unvorhergesehenes passiert, erschießt Ihr die AnfĂŒhrerin.” Clay gefiel der Gedanke nicht, auf ein Zeichen warten zu mĂŒssen, bis er einschreiten konnte. Viel lieber wollte er seiner Geliebten tatkrĂ€ftig zur Seite stehen. Wozu war er sonst ein Mann? Wenn sie aber glaubte, dass es so besser war, wollte er ihr nicht reinreden. “Alles klar. Ich habe verstanden.” Als sich Cerise schon abgewandt hatte und dabei war, mit dem Buschwerk zu verschmelzen, fĂŒgte er noch an: “Viel GlĂŒck.” Cerise drehte sich kurz um und pfiff abfĂ€llig. “Das GlĂŒck hat gar keine andere Wahl, als mir Hold zu sein.” Dann drang sie tiefer ein und verschwand aus seinem Blickfeld. Clay beschloss, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Cerise ihm aufgetragen hatte, und suchte nach der AnfĂŒhrerin dieses Haufens. Unterdessen blieb der Rest der Gruppe im Lager. Ohne Kenntnis ĂŒber den Standpunkt des RĂ€uberlagers, blieb ihnen sowieso nicht viel mehr ĂŒbrig, als auf den nĂ€chsten Tag zu warten. Henrik saß am Lagerfeuer und stocherte mit einem SchĂŒrhaken in den Hölzern und Kohlen herum. Er dachte, dass Nebula gern mit Caroline allein sein wollte. Als Toshiro in das andere Zelt ging, um bei Aki Wache zu halten, ergriff auch Henrik die Gelegenheit, sich davon zu stehlen. Auch er fragte sich, was es mit Carolines Erwachen auf sich hatte, doch ohne Anhaltspunkte, wĂŒrde er sowieso zu keinem anstĂ€ndigen Ergebnis kommen. Nebula und Caroline saßen sich im Schein einer rustikalen Laterne im Zelt gegenĂŒber und wechselten lang ersehnte Worte. “Du nennst diesen Ort Limbus?”, hakte Caroline nach. “Wie die Vorhölle?” “Es ist eine endlose schwarze Weite”, veranschaulichte Nebula. “Niemand ist da. Man ist ganz allein. Ja, es ist eine treffende Umschreibung. Es ist der Ort, an den man geht, wenn einen weder Himmel noch Hölle haben will.” “FĂŒr mich war es, als sei der Ball erst gestern gewesen. Dabei ist er bereits viele Wochen her. Du hast in dieser Zeit sogar einen Ozean ĂŒberquert.” “Man verliert jegliches GefĂŒhl fĂŒr Zeit. Ob ein Tag oder ein Jahrhundert vergeht, kann man unmöglich einschĂ€tzen. Es ist ein Moment, der sich fĂŒr eine Ewigkeit in die LĂ€nge zieht und doch nur einen Wimpernschlag andauert.” Auf einmal verlor Caroline jegliche Beherrschung und begann zu schluchzen. “Ich bin so froh, dass ich diesen Ort verlassen konnte!”, brachte sie zwischen hektischen AtemstĂ¶ĂŸen hervor. “Ich will nie wieder dort hin!” Nebula umklammerte ihre Freundin und legte ihren Kopf ĂŒber ihre Schulter, so dass Caroline nicht sehen konnte, dass ihr selbst die TrĂ€nen kamen. “Keine Angst! Ich lasse nicht zu, dass du nochmal dort hin musst!” Gefesselt und geknebelt saß Annemarie in einem abgedunkelten Raum zwischen Kisten und SĂ€cken. Sie konnte nicht schlafen, wĂ€hrend die anderen dem fremden Mann folgten. Stattdessen hĂŒtete sie das Feuer, als plötzlich die Halunken kamen und die Karawane ĂŒberfielen. Annemarie versuchte noch, ein sicheres Versteck zu finden, aber es war ihr nicht mehr gelungen. Die RĂ€uber durchwĂŒhlten alles. Nicht einmal vor dem Sarg von Caroline hatten sie Respekt. Da war es wenig verwunderlich, dass sie Annemarie auf der Suche nach verborgenen Wertsachen aus dem Fass heraus zogen, in das sie zuvor gekrochen war. Sie verschleppten sie an einen unbekannten Ort. Alles, was sie gerade noch mitbekam, war, wie sie in dieses vollgestellte muffige Zelt gesteckt wurde. Der Stoff oft gerissen und noch öfter mit Fetzen von alten KleidungsstĂŒcken geflickt. Wahrscheinlich bewahrten sie hier ihre VorrĂ€te und ihre Beute auf. Fixiert und zu keiner Bewegung fĂ€hig, sehnte sich Annemarie nach ihrem Schlafsack. Den wĂŒrde sie jedoch nicht so schnell wiedersehen, bedachte sie ihre Fesseln und die Wache, welche außen vor dem Zelt stand. Morgen sollte sie im Austausch gegen Nebulas Waffen freigelassen werden. So viel hatte sie noch aufschnappen können. Doch diesen Forderungen nachzugeben, kĂ€me Nebula nie in den Sinn. Wahrscheinlich musste Annemarie jetzt fĂŒr immer hier bleiben. Traurig senkte sie den Kopf. Plötzlich vernahm sie ein Rascheln hinter sich. Von was wurde es hervorgerufen? Eilig wandte sich das MĂ€dchen der Quelle zu. Aus einem in die Leinwand geschlitzten Spalt drang still und heimlich ein vertrautes Gesicht ein. In Hockstellung schob sich ein buschiger Pferdeschwanz, dessen Kirschrot durch das spĂ€rliche Mondlicht gerade mal erahnt werden konnte. Annemarie hĂ€tte ihre Freude gern herausgeschrien, allerdings wĂ€re dies in dieser Situation fatal gewesen. Außerdem verhinderte es der Knebel in ihrem Mund. Cerise legte einen Finger auf ihre Lippen, als sie den offiziellen Eingang des Zeltes erreichte, um das MĂ€dchen zu animieren, ihre hektischen Bewegungen einzustellen. Sorgsam schob sie den Stoff ein StĂŒck, um hindurch zu sehen. Rechts konnte sie niemanden entdecken. Auf der linken Seite stand ein muskelbepackter Grobian. Er war jedoch viel zu weit weg vom Eingang, als das Cerise in der Lage gewesen wĂ€re, ihn schnell und heimlich auszuschalten. Stattdessen musste eine List her. Ein polterndes GerĂ€usch drang aus dem Zelt an das Ohr der Wache. Sofort schrillten seine Alarmglocken und er betrat das Zelt. Zwischen dem gelagerten Diebesgut vorangegangener Karawanen saß das MĂ€dchen, welches er bewachen sollte, noch immer brav an ihrem Platz. Zugegeben, eine andere Wahl blieb ihr sowieso nicht. Er grĂŒbelte noch, was dieses GerĂ€usch ausgelöst haben könnte, als ihn eine Hand von hinten packte und ihm den Mund zuhielt, wĂ€hrend eine zweite mit scharfer Klinge bewaffnet seine Kehle auftrennte. Ein Schwall Blut spritzte durch das kleine Zelt. Auch Annemarie bekam etwas davon ab. Ein Blutstropfen verirrte sich auf ihre Wange. Vorsichtig legte Cerise den Körper ihres jĂŒngsten Opfers nieder und begab sich zu Annemarie. Mit noch blutiger Klinge trennte sie den Knebel um ihren Mund und die Fesseln an Armen und Beinen auf. Hastig atmete Annemarie ein und aus, nachdem sie von ihnen befreit war. “Lass uns von hier verschwinden!”, sprach Cerise. “Und sei ja leise!” Nach diesen mahnenden Worten schlĂŒpfen beide nacheinander durch den frisch hinzugefĂŒgten Hinterausgang und durch die BĂŒsche in die Freiheit. Auf jemanden achten, der auf die Beschreibung passte, hatte sie gesagt. Auf ihr Signal warten und dann schießen, hatte sie gesagt. Sie hatte viel gesagt. Clay konnte zwar mit seinen tierischen Sinnen die Frau deutlich riechen, aber wo genau sie sich zwischen den ungewaschenen stinkenden RĂ€ubern befand, wusste er deshalb noch lange nicht. Auch aus dem Schlagen von drei Dutzend Herzen konnte er keine hilfreichen Informationen entnehmen. Der kleine Unterschied zwischen Mann und Frau schloss dieses Organ leider nicht mit ein. Er sammelte sich. Mit wieder klarem Verstand und Ziel vor den imaginĂ€ren Augen, suchte der JĂ€ger nun nach der Beute. Und er wurde fĂŒndig. Unscheinbar, fast schon unsichtbar, gegen das wilde und protzige Gehabe ihrer DiebesgefĂ€hrten, saß eine gut gekleidete Frau an einem Lagerfeuer und pulte sich mit einem Zahnstocher die Reste des Abendmahl aus den ZahnzwischenrĂ€umen. Sie musste es sein. Clay nahm einen Pfeil aus dem Köcher und spannte seinen Bogen. In jenem Moment raschelte etwas in den BĂŒschen. Clay verschwendete keinen Gedanken daran, sein Ziel aus den Augen zu lassen, denn er hatte Annemarie und Cerise bereits an ihren unverwechselbaren EigengerĂŒchen erkannt. “Ihr habt sie gefunden?”, fragte er rhetorisch. “NatĂŒrlich”, entgegnete die Rothaarige. “Und weil ich schon dabei war, gleich noch einen der RĂ€uber erledigt.” “Klasse! Sind ja nur noch Dutzende ĂŒbrig.” “Hey, Sarkasmus ist mein Verantwortungsbereich!”, tadelte Cerise. “Ich habe die AnfĂŒhrerin ausfindig gemacht”, verkĂŒndete Clay. “Wirklich?!” Cerise ließ sich von Clay auf die Frau aufmerksam machen. “Du kannst sie jetzt gern erschießen.” Gerade als Clay den Pfeil auf die Reise schicken wollte, wurde es hektisch im Lager. Mehrere MĂ€nner wuselten umher und einer von ihnen flĂŒsterte der AnfĂŒhrerin etwas ins Ohr. Sofort war es vorbei mit ihrer Ruhe und sie spie ihre Befehle aus. Die RĂ€uber begannen damit, das Lager auf links zu drehen. “Sie haben wohl die Leiche gefunden”, stichelte Clay. “Habt sie wohl nicht gut genug versteckt. Was fĂŒr ein AnfĂ€ngerfehler!” Cerise unterdrĂŒckte ihren Ärger. “Das merke ich mir!” Noch einmal zielte Clay und ließ den Pfeil dieses Mal fliegen. Das Geschoss bahnte sich seinen Weg zu der AnfĂŒhrerin, doch wurde abgewehrt, als sie blitzschnell ihren ikonisch-orientalischen KrummsĂ€bel zog und seine Klinge zwischen ihrem Kopf und dem Projektil positionierte. Cerise stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. “Gute Reflexe!” Ohne weiter unnötig Zeit zu vertrödeln, flohen Annemarie, Clay und Cerise zurĂŒck in ihr Lager. Sie mussten davon ausgehen, dass der Feind nun ihre Position kannte und versuchen wĂŒrde, den Gefallenen zu rĂ€chen und die Geisel wieder in seine Gewalt zu bringen. 🌱 Nachdem Clay und Cerise mit Annemarie zurĂŒckkehrten und von ihrer Begegnung mit der AnfĂŒhrerin der WĂŒstenrĂ€uber berichtet hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass ein Vergeltungsschlag unausweichlich war. Wahrscheinlich wĂŒrde dieser erst am nĂ€chsten Tag erfolgen. Der Feind musste KrĂ€fte sammeln und seine Truppen neu gruppieren. Sie wĂŒrden höchstwahrscheinlich nicht sofort angreifen. Der Schock, dass sich jemand in ihr Lager eingeschlichen und die Geisel befreit hatte, war gewiss groß. Sicherheitshalber teilten sich Nebula und die anderen die Nachtwache ein, um nicht hinterrĂŒcks ĂŒberfallen zu werden. Nicht schon wieder.... Entgegen der BefĂŒrchtungen, blieb alles ruhig und der Morgen graute. Mit dem, was sie an Ruhe finden konnten, waren Nebula und ihre VerbĂŒndeten auf den drohenden Angriff gefasst. Neben ihr selbst waren auch Clay, Cerise, Henrik und Toshiro anwesend. Etwas abseits bei den Zelten stand Caroline. “W-Was machen wir, wenn s-sie uns einfach ĂŒberrennen?”, fragte Henrik. “Das kann durchaus sein”, meinte Cerise. “Sind nicht gerade wenig.” Ihre Worte machten dem Braunhaarigen nicht gerade Mut. “Hört doch auf, ihm Angst zu machen”, tadelte Clay. “Was kann ich dafĂŒr, wenn er so ein Hosenschisser ist?” “Taktlos, wie eh und je”, echauffierte sich Nebula. “Henrik, höre einfach nicht hin!” “I-Ist gut!” “Höre lieber auf mich!” Sie ging auf Henrik zu und legte die HandflĂ€chen auf seine Schultern. Das Bild der kleinen mutigen Frau, die zu dem wesentlich grĂ¶ĂŸeren Feigling aufsah und ihm Mut zusprach, war gewiss erquickend und labend. “FĂŒr dich habe ich eine besondere Aufgabe!”, kĂŒndigte sie an. “Erinnerst du dich an den Kraken und was du mit deinem Schwert gemacht hast? Das kannst du gleich noch mal machen! Du wirst dich mit deinen KrĂ€ften um die Waffen der RĂ€uber kĂŒmmern!” “O-Okay. Ich g-gebe mein Bestes!” Nebula ließ Henriks Schultern wieder los und wandte sich an Caroline. “Du bleibst bei Annemarie im Zelt. Das ist zu gefĂ€hrlich!” “Mach sie fertig!”, ermutigte Caroline und suchte anschließend Schutz. Toshiro streifte seine goldenen Schlagringe ĂŒber. “Die sollen nur kommen!”, prahlte er selbstsicher. “Ich verpasse ihnen eine Abreibung!” Eine kleine elektrische Entladung zuckte ĂŒber seine Waffe und ließ die Luft knacken. Wie aufs Stichwort erschienen die WĂŒstenrĂ€uber in der Ferne. Sie wurden angefĂŒhrt von der Frau in der feinen Gewandung. Sie trug eine schwarze Abaya, ein weites Oberkleid mit langen Ärmeln, das bis zu den FĂŒĂŸen reichte. Die Abaya war kunstvoll mit Mustern aus goldenen FĂ€den bestickt. Dazu trug die Frau einen dekorativen Gesichtsschleier und ein Kopftuch. Beide KleidungsstĂŒcke waren ebenfalls schwarz und golden bestickt. Ihre FĂŒĂŸe wurden von Pantoffeln vor dem Sand geschĂŒtzt, deren zulaufende Spitze sich am Ende wölbte. Sie trug außerdem ein im Orient ĂŒbliches Krummschwert an ihrem GĂŒrtel. Es ließ sich offenbar gut leben als RĂ€uberbraut. Die AnfĂŒhrerin und ihre RĂ€uberhorde blieben stehen. “Mein Name ist Jasmin”, stellte sie sich vor. “Ihr mögt zwar meine Geisel befreit haben, doch Eure Waffen werde ich auch so meiner Sammlung hinzufĂŒgen!” Mit der linken Hand beschwor sie ihre Teufelswaffe. “Erhebe dich in die sieben Winde, Astarte!”, hörte man sie von weitem rufen. Aus schwarzem Staub formte sich in mehreren Verwirbelungen eine schwarze Textilie. Sie nahm die Gestalt eines Teppichs an, der in der Luft schwebte. In einem Satz schwang sich Jasmin auf ihn. Er wirbelte Sand auf, als Jasmin mit ihm in die LĂŒfte aufstieg. Sie erhob ihren rechten Arm und rief: “Easifat Ramlia!” Ein sandiger Windstoß traf das Lager und riss Henrik von den FĂŒĂŸen. Ebenso wurden die Zelte in Mitleidenschaft gezogen. Annemarie und Caroline erblickten den Himmel, als die Plane ĂŒber ihren Köpfen davon geblasen wurde. Ebenfalls wurde das Zelt abgedeckt, in dem Aki ihre Verletzungen auskurierte. Sie war noch zu schwach zum aufstehen und blieb einfach liegen, wĂ€hrend Toshiro sie mit seinem Körper vor dem Sand bewahrte. Die Wachen der Karawane taten ihre Pflicht und stĂŒrmten auf die RĂ€uber zu. Diese taten es ihnen gleich, was zu einem mĂ€chtigen Gerangel fĂŒhrte. Allerdings waren die RĂ€uber zahlenmĂ€ĂŸig weit ĂŒberlegen und es wĂ€re nur eine Frage der Zeit, bis sie die MĂ€nner niedergerungen hĂ€tten. Toshiro nutzte die Gelegenheit, sich selbst seine Fertigkeiten zu beweisen, und schlug einen Gegner nach dem anderen. Der Rest hielt sich vornehm zurĂŒck und stĂŒrmte nicht blind drauf los. Vorsichtig rappelte sich Henrik indes wieder auf. Er wusste genau, was er zu tun hatte. Die Schwerter und Speere der Angreifer waren ihm leichte Beute. Er verlagerte seinen Körperschwerpunkt, um beim nĂ€chsten Windstoß nicht schon wieder hinzufallen. Dann streckte er seinen rechten Arm aus und konzentrierte sich auf die unmittelbare Bedrohung. Es hatte mit einem Schwert geklappt, dann wĂŒrde es auch mit mehreren funktionieren! Sowohl den Wachen, als auch den RĂ€ubern wurden ihre eisernen Waffen entrissen. Toshiros Schlagringe konnte er jedoch nicht bewegen. Sie entzogen sich seinem Zugriff. Henrik formierte seine ansehnliche Sammlung an Waffen. “W-Was soll ich jetzt machen?”, fragte er unsicher. “Idiot!”, schimpfte Nebula. “Wirf sie auf das MiststĂŒck!” “N-Nagut!” Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, die dutzenden messerscharfen Tötungsutensilien auf eine einzelne Frau zu werfen. Aus seiner Sicht erfĂŒllte dies den Tatbestand der Mehrfachtötung. Seine WankelmĂŒtigkeit war vielleicht auch der Grund, warum es Jasmin so einfach gelang, seinen Angriff mit einer weiteren mĂ€chtigen Windböe zu kontern. Die Waffen wurden erfasst und in alle Richtungen abgetrieben. Von ĂŒberall regneten sie herab und bohrten sich in den Sandboden. Wie durch ein Wunder traf keiner der GegenstĂ€nde einen Menschen. Diesmal vermochte Henrik die Balance zu halten. “Halte dich da raus, du Hexer!”, forderte Jasmin. Nebula gestand sich ein, dass Jasmin doch nicht so leicht beizukommen war, und rief eine Teufelswaffe herbei. “ErschĂŒtter die Grundfesten der Welt, Quake!”, befahl sie und das schwarze Riesenschwert formte sich aus dem aus ihrem Arm austretenden Blut. “Zieht Euch zurĂŒck!”, rief sie den verbleibenden WĂ€chtern zu, was diese angesichts der gewaltigen Waffe in ihren HĂ€nden auch sofort umsetzten. Toshiro tat es ihnen widerwillig gleich - viel lieber hĂ€tte er die Feinde bekĂ€mpft. Nebula war nicht sicher, wie sich die Angriffe des Schwertes auf so sandigem Boden auswirken wĂŒrden, aber sie sollte es gleich herausfinden. Als die MĂ€nner zurĂŒckgefallen waren, hob sie die Waffe an und ließ sie auf den Boden zu schnellen. “Erdrutsch!” Doch anstatt dass der Boden aufriss, wie sie es gewohnt war, entwickelte er neue Eigenschaften. Den Angreifern wurde einfach der Halt unter den FĂŒĂŸen entrissen und sie versanken halb oder gar ganz im Boden. “Nein!”, schrie die Banditenbraut aufgelöst. “Ihr Schlampe werdet mich nicht daran hindern, ihn zu befreien!” Endlich zog sie ihr Schwert und schwebte auf Nebula zu. Diese wechselte ihre Waffe aus. “Verfehle niemals dein Ziel, Gastraphetes!”, befahl sie und dieses Mal erschuf sie eine Armbrust. “Nachladen! Feuer!” Jasmin konterte, indem sie Astarte wie einen Schutzschild nach oben bog. Nebula musste den darauffolgenden Hieb ihres Schwertes mit der Armbrust abwehren, als Jasmin sie erreichte. Schwert und Schusswaffe kreuzten sich und Jasmin schwebte auf ihrem fliegenden Teppich wieder in sichere Distanz. “Ich habe mich nicht von ganz unten hochgekĂ€mpft, um gegen so eine wie Euch zu verlieren!”, tönte es von oben herab. Jasmin schwebte mehrere Meter ĂŒber Nebulas Kopf. “Ich tue alles fĂŒr meine Familie!” VerĂ€rgert sah Nebula zu ihr hinauf. “Gegen die Kraft der SandstĂŒrme kommt Ihr nicht an!” Mit einer Handbewegung erschuf Jasmin eine mĂ€chtige Luftverwirbelung, stĂ€rker als jene zuvor, und schleuderte sie auf Nebulas VerbĂŒndete. “Easifat Ramlia!” Henrik hob erneut vom Boden ab, wurde allerdings von Clay am Schlafittchen gepackt, zurĂŒck auf den Boden gezogen und so vor Schlimmerem bewahrt. Cerise machte sich klein, um dem Wind keine AngriffsflĂ€che zu bieten und Toshiro ertrug den Angriff wie ein echter Mann. Da Aki bereits auf dem Boden lag, konnte sie der Wind nicht erfassen. Annemarie und Caroline hatten nicht so viel GlĂŒck und wurden mitgerissen. Caroline prallte gegen einen Planwagen, nur um als nĂ€chstes Annemaries Aufprall abzufedern. Der Rotschopf fiel auf alle Vier, rappelte sich aber sofort wieder auf. Caroline hingegen wurde schwarz vor Augen und sie fiel regungslos in den Sand. Mit Schrecken verfolgte Nebula die Ereignisse. Die schwarze Armbrust verschwand und Nebula hatte nur noch Augen fĂŒr die viele Meter entfernt auf dem Boden liegende Caroline. “Caro! Nein!” In diesem Moment musste sie vom Schlimmsten ausgehen. Geschockt setzte sie langsam einen Fuß vor den anderen, wĂ€hrend die vom Sand verschĂŒtteten Feinde sich langsam aus ihrer Lage befreiten. “Hier spielt die Musik!”, schrie Jasmin. “MĂ€nner, schnappt sie euch!” Einige ihrer MĂ€nner, jene, welche sich inzwischen wieder ausgebuddelt hatten, folgten dem Befehl und stĂŒrmten auf die teilnahmslos wirkende Nebula zu. “Pass auf!”, rief Henrik ihr noch zu. Ein Schwall aus Blut fĂ€rbte den Sand rot. Der von unten nach oben aufgeschlitzte Körper eines RĂ€ubers plumpste zu Boden. Weiteres Blut tropfte von der Spitze eines am ausgestreckten Arm gehaltenen schwarzen Schwertes. Ohne sich ihm nur zuzuwenden, hatte Nebula den Angreifer erschlagen. Ihren VerbĂŒndeten zeigte sie den entarteten Gesichtsausdruck, noch bevor ihn Jasmin zu Gesicht bekam. “DafÜR wiRSt dU bLuTEn!”, sprach die Blondine mit dĂ€monisch verzerrter Stimme. Ihre Worte richtete sie an die noch immer ĂŒber ihr schwebende Jasmin. Nebula begann eine dunkle Aura auszusenden und sah zu der Frau auf dem fliegenden Teppich auf. “IcH WeRdE eUCH aLlE TöTEn!” Ihre VerbĂŒndeten hatten sie noch nie in diesem Zustand gesehen und waren zu geschockt, um zu reagieren. Sie fĂŒhlten eine grenzenlose Dunkelheit, welche jeden Versuch der Bewegung unterband. “Nein!”, schrie Henrik. Unterdessen schritt das Unheil auf Jasmin und die WĂŒstenrĂ€uber zu. Die vom Zorn erfĂŒllte Nebula nĂ€herte sich mit klarer Tötungsabsicht. Ein weiterer Mann griff sie an und wurde brutal von der Blondine niedergestreckt. Ein dritter folgte sogleich. Der Tod ihrer MĂ€nner brachte etwas in Jasmin ins Wanken. Bisher waren sie vom GlĂŒck beschenkt worden. Jasmin gelang es stets, ihre MĂ€nner ohne Verluste zum Ziel zu fĂŒhren. Meistens kĂ€mpften sie sowieso nur gegen geizige HĂ€ndler und ihre schlecht bezahlten Wachen. Noch nie fiel jemand unter ihrem Kommando. Doch jetzt wurden ihre MĂ€nner vor ihren Augen wie Vieh abgeschlachtet, bei dem Versuch, diesen DĂ€mon aufzuhalten. Entsetzt setzte sie zur Landung an und ließ Astarte verschwinden. Sie kniete nieder, in der Hoffnung, auf diese Weise weiteres Blutvergießen zu verhindern. Nebula beeindruckte das in ihrer Rage allerdings wenig und sie schnetzelte sich unaufhaltsam voran, bis sie vor Jasmin zum Stehen kam. Der Horror vor seinen Augen tat ihm in der Seele weh. Henrik musste das beenden! Bevor er es begriff, trugen ihn seine Beine zu Nebula. Ungeachtet seiner eigenen Sicherheit, umklammerte er sie hinterrĂŒcks so fest er konnte. “H-Hör endlich auf!”, schrie er und hoffte, sie so zur Besinnung zu bringen. “D-Das bist du nicht!” Kaum dass sie seine BerĂŒhrung spĂŒrte, verpuffte die finstere Aura um ihren Körper. Die Entartung verschwand aus ihrem Gesicht und Nebula wurde sich schlagartig bewusst, was sie getan hatte. Zutiefst schockiert darĂŒber, dematerialisierte sie ihre Waffe. Mit Abscheu starrte sie ihre zitternden HĂ€nde an. Als der Schrecken ĂŒber die eigene Boshaftigkeit verflogen war, besann sie sich Caroline und riss sich von Henrik los. VerbĂŒndete und Feinde standen gleichermaßen da, wie versteinert. Nicht einmal Cerise wollte ein geistreicher Spruch einfallen. Nebula eilte zur bewusstlosen Caroline und kniete sich neben ihr hin. Ihre Freundin fĂŒhlte sich wieder so leblos an wie einst im Palast von Ewigkeit. Sie rĂŒttelte an ihr, doch sie zeigte keine Reaktion. In ihren Augen erkannte Nebula, dass ihre Seele wieder fort war. ZurĂŒck an diesen finsteren, trostlosen Ort, an den Caroline nie wieder zurĂŒckkehren wollte. “Caro!” Schluchzend drĂŒckte Nebula ihre Freundin an sich. Warum versagte sie. wenn es darauf ankam? WĂ€hrend sie sich selbst VorwĂŒrfe machte, ergriffen ihre Begleiter und die Wachen der Karawane die Initiative und umzingelten Jasmin und den Rest ihrer Bande. Die WĂŒstenrĂ€uber wurden gefesselt und in Gewahrsam genommen. Roter Schein durchdrang die Finsternis, als Alaric wieder zu sich kam und sein Auge öffnete. Er lag auf dem pompösen Himmelbett in seinen GemĂ€chern. Die seidenen Schleier waren zur Seite gezogen und einige Personen hatten sich um ihn versammelt. Langsam schĂ€rfte sich sein verschwommener Blick und er erkannte Illithor, den Leibarzt der kaiserlichen Familie, und dessen Gehilfen. “Wo bin ich?”, fragte er den Doktor. “Hoheit, Ihr seid erwacht!”, bemerkte dieser. Vorsichtig setzte sich Alaric auf. “Was ist geschehen?” “Ein Page fand Euch bewusstlos auf dem Boden und hat Alarm geschlagen. Die Wachen ließen nach mir rufen, damit ich Euch untersuche.” “Ich war bewusstlos?” Alaric kramte in seinen Erinnerungen. Ihm war in der Tat schwarz vor Augen geworden. “Wie lange denn?” “Das wissen wir nicht genau. Mehrere Stunden.” Alaric befĂŒhlte seine Stirn mit der rechten Hand. “VerspĂŒrt Ihr Schmerzen, Hoheit?” "Nein, es geht schon.” Alaric nahm die Hand wieder herunter. “Es ist nur... als sei viel mehr Zeit verstrichen. Wahrscheinlich ist es nur meine Einbildung.” “Als Euer Leibarzt rate ich Euch, die Reise abzusagen.” Ilithior war sein Vertrauter und wusste so von den ReiseplĂ€nen des Prinzen Bescheid. “Das kommt nicht in Frage!”, behaarte Alaric stur. “Es ist meine Pflicht, als oberster Inspekteur meines Vaters die militĂ€rischen Einrichtungen des Reiches in Augenschein zu nehmen. Ein SchwĂ€cheanfall wird mich nicht von meiner Pflicht abhalten!” “Es ist Eure Gesundheit, Hoheit! Befehlen kann ich es Euch nicht.” “Eure Sorge ist zur Kenntnis genommen, Illithor. Ich weiß Eure Gewissenhaftigkeit gewiss zu schĂ€tzen. Doch ich werde mich nicht vor meiner Verantwortung drĂŒcken.” “Wie Ihr meint.” Der Leibarzt verneigte sich. Seiner Meinung nach handelte sein Klient unvernĂŒnftig - Nein, vielmehr dumm! Aber ein solches Urteil stand ihm nicht zu. Die Gehilfen rĂ€umten GerĂ€tschaften und Tinkturen zusammen und verließen gemeinsam mit ihrem Meister die GemĂ€cher des Prinzen. Alaric starrte daraufhin auf den roten Schein, der durch das Blei gefasste Fenster einfiel. In einem Flashback erschien die Silhouette einer Person vor seinem geistigen Auge. Er erinnerte sich, dass er jemanden gesehen hatte, bevor er ohnmĂ€chtig geworden war. Ein Gesicht, das er wer weiß woher kannte. Wurde er langsam verrĂŒckt? Kapitel 19: Der verlorene Bruder -------------------------------- 🌱 Den ganzen Tag hatte Nebula mit niemandem gesprochen. Weder mit den HĂ€ndlern der Karawane noch mit ihren eigenen Leuten. Sie hĂ€tte es verstanden, wenn die KrĂ€mer ohne sie weitergezogen wĂ€ren. Doch von einem einmal begonnenen GeschĂ€ft zurĂŒckzutreten, galt in Yjasul als schwere Schande. Wurde einmal fĂŒr eine Leistung oder einen Gegenstand bezahlt, so taten die Partner ihr Möglichstes, den Vertrag zu erfĂŒllen und das GeschĂ€ft abzuschließen. Offenbar selbst dann, wenn sie dem Teufel ins Antlitz blicken mussten. Die MĂ€nner waren sich außerdem bewusst, dass sie ohne die Hilfe ihrer GĂ€ste keine Chance gegen die WĂŒstenrĂ€uber gehabt hĂ€tten. Sie wĂ€ren um all ihre Waren erleichtert worden. Nun konnten sie stattdessen die Waren aus dem verlassenen Lager der RĂ€uber bergen. Die Kopfgelder fĂŒr die gefangene Jasmin und ihre Bande wĂ€ren gewiss ebenfalls ĂŒppig. Geld war wahrlich das einzige, was fĂŒr dieses Volk zĂ€hlte! Die Karawane hatte fĂŒr die Nacht in den Ruinen einer lĂ€ngst vergessenen Stadt halt gemacht. Die Überreste von SĂ€ulen alter GebĂ€ude ragten aus dem Sand in den sternenklaren Himmel. Hier suchte Nebula sich einen einsamen Platz, an dem sie möglichst niemandem begegnete. Die Schande und die Schuld wegen des Kontrollverlustes und das einhergegangene Gemetzel waren nur schwer zu ertragen. In sich gekehrt, saß sie hockend, mit den Armen ihre Beine umfassend, auf einem verwitterten Steinaltar und reflektierte, was wĂ€hrend des Kampfes passiert war. Sie schwor sich nie wieder die Kontrolle zu verlieren und dennoch war es geschehen und hatte Opfer eingefordert. Plötzlich setzte sich jemand neben sie. Es war Henrik. “Was willst du hier?”, fragte sie ihn schroff und abweisend, wie immer. “D-Dir Gesellschaft leisten”, antwortete dieser. “Ich will allein sein!” Henrik legte seinen Arm ĂŒber Nebulas Schulter. “Du musst das n-nicht mit dir allein ausmachen! WofĂŒr sind Freunde da?” “Wo sind dann die anderen?”, fragte Nebula vorwurfsvoll. “S-Sie dachten, es ist besser, wenn ich a-allein komme.” “Bestimmt die Idee von Cerise. Weniger Kollateralschaden, wenn es schief geht.” “H-Hör bitte damit auf! Ich mag das nicht, wenn d-du dich so darstellst.” “Aber du hast es doch gesehen. Ich habe diese MĂ€nner getötet. Ich hatte richtig Spaß dabei! Und ich hĂ€tte gewiss auch die Frau getötet, wenn du mich nicht aufgehalten hĂ€ttest. Manchmal frage ich mich, warum du nicht einfach abhaust.” “W-Weil ich ein Idiot bin?” “Allerdings! Du bist ein verdammter Idiot!” Peinlich berĂŒhrt senkte Nebula den Kopf. “Das macht mich sehr froh!”, flĂŒsterte sie ihm kaum hörbar zu. “Was hast du gesagt?” Plötzlich zuckte sie und ihr Haupt schoss empor. “G-Gar nichts!” Beide sahen schweigend hinauf in den Himmel. Die Magie der funkelnden Objekte oben am Himmel wirkte auf sie ein. Jedes von Ihnen gewiss eine andere Welt mit ihren eigenen Problemen. “Ich muss einen Weg finden, Caroline zu retten!” Die Stille war einfach zu still. Sie musste etwas sagen, um sie zu brechen. “W-Wir werden dir helfen!”, versicherte Henrik. “Ich muss diesen Alaric finden und ihn noch mal umbringen!” Einen Moment wagte keiner zu sprechen. “Henrik?”, eröffnete Nebula nach der Pause. “Ja?”, antwortete der Braunhaarige. “Denkst du, dass wir jemals alle Teufelswaffen finden?” “Bisher war unsere T-Trefferquote sehr gut.” “Es gibt so unglaublich viele von ihnen. Fast so viele wie Sterne am Himmel. Wie soll man sie alle in einer Lebenszeit finden?” “W-Wenn jemand das schafft, d-dann du!” Die Worte des Jungen empfand sie - wie immer - als naiv. Wie konnte er so blind darauf vertrauen, dass sie eine solche Aufgabe meistern wĂŒrde? Ihr fehlte die FĂ€higkeit, das gleiche Vertrauen aufzubringen, so viel stand fest. Allerdings war es auch das, was sie an ihm so liebte: Sein unbezwingbarer Optimismus. Das genaue Gegenteil von ihr. Ein Leuchtfeuer der Hoffnung in der Finsternis. Sichtbar, selbst wenn es unendlich weit entfernt war. Bei ihm konnte sie sich fallen lassen, in dem Wissen, dass er sie auffangen wĂŒrde. So wie jetzt, könnte sie die ganze Nacht an seiner Seite zubringen
 Stiege ihr nicht etwas Unangenehmes in die Nase. “Henrik?” “Ja?” “Geh dich waschen! Du stinkst!” Erschrocken stellte Henrik fest, dass er seit Tagen schon im eigenen Saft schmorte. Er roch unter seiner Achsel, und fĂŒr einen kurzen Moment wurde ihm schwindelig. Sie hatte definitiv nicht ĂŒbertrieben! Im Schutz ihres Zeltes lagen Clay und Cerise brav beieinander unter ihrer gemeinsamen Decke. Bis jetzt hatte die Rothaarige noch keinerlei Anstalten gemacht, ihren Liebhaber zu verfĂŒhren. Ein höchst seltsames Verhalten! Dann rollte sie sich doch noch an den Prachtkörper des Schwarzhaarigen heran und streckte ihren rechten Arm ĂŒber ihn. Clay spĂŒrte ein angenehmes Schaudern durch seinen ganzen Körper fahren, als er Cerises Brust auf der eigenen fĂŒhlen konnte. Schlagartig stellten sich alle HĂ€rchen auf seiner Haut auf und es fiel ihm schwer, seine Instinkte im Zaum zu halten. Sie fĂŒhrten diese Beziehung - oder was auch immer das darstellen sollte - nun seit vielen vielen Wochen und waren in dieser Zeit weit herumgekommen, aber noch immer erregte es ihn wie am ersten Tag, sie bei sich zu spĂŒren. Weil ich einfach unwiderstehlich bin, tĂ€te sie bestimmt sagen. Und damit hĂ€tte sie verdammt noch mal Recht! WĂŒsste er es nicht besser, tĂ€te er fĂŒrchten, jeden Moment von ihrem unersĂ€ttlichen Appetit verschlungen zu werden. Aber seine Werwolfsnase verriet ihm, dass sie ihn heute Nacht wohl nicht anrĂŒhren wĂŒrde. Cerise konnte Clays euphorische Reaktion auf ihre AnnĂ€herung deutlich fĂŒhlen. Es spornte sie an, ihn noch weiter zu reizen. “Oh, da unten freut sich etwas ganz besonders”, hauchte sie ihrem Liebhaber ins Ohr. Ihr verheißungsvolles FlĂŒstern machte es Clay nicht gerade leichter. Das Raubtier zwischen seinen Schenkeln verlangte immer eindringlicher nach FĂŒtterung. “Habt Ihr es Euch anders ĂŒberlegt?”, erkundigte sich Clay, wĂ€hrend er versuchte, den sich aufbauenden Druck so gut es ging zu ignorieren. “Ich dachte, heute bleiben wir zĂŒchtig.” “Ist es so ungewöhnlich, wenn ich Euch einfach nur nahe sein will?”, erwiderte Cerise. “Also... na ja. Schon.” “Ihr kleines sexbesessenes Wölfchen, Ihr!” Cerise begann ihr ĂŒbliches Spiel auf seinem Oberkörper zu treiben. “Ihr denkt auch nur an das eine.” Auf einmal wanderte ihre Hand hinab unter die Decke, suchte und fand. “Wir sollten uns in Eurem Zustand lieber voneinander fernhalten.” Dank seiner feinen Werwolfsnase war er in der Lage, ihre Situation genau zu erfassen. “Zustand?!” Sie sah ihn unverstĂ€ndig an. “Ich bin doch nicht krank, ich habe nur meine Tage. Wiegt Ihr Euch deshalb etwa in Sicherheit?” Sie sah Clay voll des Verlangens an. Wie um ihre Aussage noch einmal dick zu unterstreichen, verschwand Cerise nun komplett unter der Decke und ließ ihre Magie auf Clays untere HĂ€lfte einwirken. Wenig spĂ€ter lagen sie wieder nebeneinander. Clays Gesicht zierte ein zufriedenes Grinsen. “Das war fabelhaft!”, lobte er. “Ich weiß”, kommentierte Cerise. “Ihr wisst, wie man einen Mann glĂŒcklich machen kann.” “Ich kann jeden glĂŒcklich machen.” “Dennoch, eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf.” “Was?”, Cerise schreckte auf und wandte sich ihm zu, um ihn entgeistert anzustarren. “WĂ€hrend ich auf Euer Flöte spielte, wart Ihr noch imstande zu denken?” Sie ließ sich zurĂŒckfallen und seufzte dabei ĂŒbertrieben theatralisch. “Irgendwas habe ich falsch gemacht...” “Es hat nichts damit zu tun.” “Wirklich? Na da bin ich aber beruhigt.” “Es geht um diese WĂŒstenrĂ€uber. Erinnert Ihr Euch noch, was die Frau mit dem fliegenden Teppich sagte, als Nebula-” “-ein Schlachtfest veranstaltet hat? Nein. Ich bitte um Entschuldigung, aber die Blut besudelten Leichen haben mich etwas abgelenkt.” “Sie sprach davon, jemanden retten zu wollen. Ich frage mich, wen sie wohl meint.” “Denkt doch nicht so viel nach!” “Ich glaube, sie hat ganz andere Motive, als simple Habgier.” “Das GrĂŒbeln muss Euch wirklich Spaß machen.” Clay schlug die Decke zurĂŒck und erhob sich. Cerise betrachtete seine splitterfasernackte RĂŒckseite. “Wo wollt Ihr hin?” “Da es sonst niemand tut, werde ich der Sache auf den Grund gehen.” Er war drauf und dran, sich zum Ausgang des Zeltes zu bewegen. “Aber Ihr wollt Euch vorher schon noch etwas anziehen?” Verdutzt sah Clay an sich herunter, als sei es ihm spontan entfallen, dass er nackt war. “Ich habe kein Problem damit, wenn Ihr Euren Prachtkörper zur Schau stellt, doch die WĂŒstenbewohner könnte das verstören.” Clay eilte sich, seine Scharm zu verhĂŒllen, wĂ€hrend Cerise belustigt kicherte. Jasmin kĂ€mpfte immer noch mit der Fassung. Diese Frau besaß eine Teufelswaffe, war also ebenso wie sie eine Waffenmeisterin. Aber diese Boshaftigkeit. Waren die Worte des alten Mannes am Ende doch keine LĂŒge gewesen? Große Macht kommt stets in Begleitung einer noch grĂ¶ĂŸeren Verantwortung. WĂ€hrend sie gefesselt in einem Zelt saß, hatte die AnfĂŒhrerin der WĂŒstenrĂ€uber viel Zeit zum Nachdenken. Seitdem sie Astarte ihr eigen nannte, entdeckte sie an sich ZĂŒge, die ihr nicht gefielen. Es war, als ob eine Finsternis langsam versuchte, sich ihrer zu bemĂ€chtigen. WĂŒrde sie eines Tages ebenfalls zu einem DĂ€mon werden und sich nicht mehr unter Kontrolle haben? Das musste der Preis sein, von dem der Alte sprach. Dabei wollte sie nichts weiter als Geld. Genug davon, damit sie Nael endlich wieder in ihre Arme schließen konnte. Doch es sah ganz so aus, als wĂ€re der Wunsch, die eigene Familie zusammenzufĂŒhren, zu unverfroren. Ganz in sich gekehrt, bemerkte Jasmin gar nicht, dass jemand das Zelt betrat. “Ihr!”, sprach eine krĂ€ftige Stimme. “Jasmin!” Überrascht sah die Frau in der schwarzen Abaya auf. “Ich will mit Euch reden.” Der bĂ€rtige Mann mit den pechschwarzen Haaren war einer von den Begleitern dieser Hexe. Was er im Schilde fĂŒhren mochte? Skeptisch beĂ€ugte sie ihren Besucher. “FĂŒrchtet Euch nicht. Ich werde Euch nichts tun.” Genauso wenig, wie seine Herrin den WĂŒstenrĂ€ubern nichts getan hatte? Die verschleierte orientalische Schönheit glaubte ihm kein Wort. “Ich weiß, dass Ihr Angst habt.” “Gar nichts wisst Ihr!”, spie Jasmin aus. “Vielleicht wollt Ihr mich erleuchten?” “Welchen Unterschied wĂŒrde das machen?” “Ihr seid nicht einfach nur eine goldgierige RĂ€uberin, nicht wahr?” “Wie ich sagte, Ihr wisst gar nichts!” Wenn es ihr möglich wĂ€re, hĂ€tte Jasmin lĂ€ngst Astarte herbeigerufen und mit ihm ihre MĂ€nner befreit. Doch irgendetwas schien dies zu unterbinden. Sie konnte ihre Waffe noch spĂŒren. Noch akzeptierte sie sie als ihre Herrin. Dennoch verweigerte ihr die Teufelswaffe den Gehorsam. Lag es vielleicht daran, dass ihre HĂ€nde mit diesen merkwĂŒrdigen Schellen gefesselt waren? “Es geht immer nur ums Geld!”, stellte sie dem Schwarzhaarigen gegenĂŒber klar. “Ich brauche Geld. Viel Geld! Aus diesem Grund ĂŒberfalle ich Karawanen!” “Weil Ihr ihn befreien wollt?” Konsterniert weiteten sich Jasmins Augen. “Voll ins Schwarze!” Die AnfĂŒhrerin der WĂŒstenrĂ€uber schwieg. “Ihr braucht das Geld, um jemanden freizukaufen?” Dieser Mann verstand augenscheinlich die Gepflogenheiten des Kalifat, auch wenn er nicht so aussah, als ob er aus ihm stammte. “Und wenn dem so wĂ€re?” “Wer ist es? Ein Freund? Ein Liebhaber?” “Mein kleiner Bruder. Und wenn schon? Ich habe versagt.” “Vielleicht fangt Ihr erstmal ganz von vorn an
” “Auf gar keinen Fall!” Nebula strafte ihren Begleiter mit einem vernichtenden Blick ab. “Wegen ihr ist Caroline wieder-” Sie deutete in entschiedenen aggressiven Gesten auf die gefesselte und zusĂ€tzlich von zwei MĂ€nnern in Schach gehaltene Jasmin. “Sie war eben erst wieder aufgewacht!” Sie erhob ihre Stimme vor Hass glĂŒhendem Schrei. “Eigentlich sollte ich dieses WeibsstĂŒck gleich hier erschlagen!” “Na los, macht schon!”, bot sich Jasmin an. “Ich habe sowieso nichts zu verlieren!” Sie neigte den Kopf zur Seite und bot ihren Nacken dar. Nebula zog das Schwert an ihrem Bund und ging auf sie zu. Die anderen hielten den Atem an. WĂ€hrenddessen erwartete Jasmin die Klinge. Außer ihr, Nebula und Clay waren auch die ĂŒbrigen Mitglieder der Kerngruppe anwesend. WĂ€hrend Henrik und Annemarie sich das Geschehen nicht antun konnten und wegsahen, schaute Cerise gebannt wie bei einer TheatervorfĂŒhrung zu. Sie fragte sich, ob die Prinzessin die RĂ€uberin doch noch einen Kopf kĂŒrzer machen wĂŒrde. Nebulas Arm war angehoben und bereit zuzuschlagen. Das blutige Schauspiel konnte seinen finalen Akt beginnen. “Ach verdammt!”, brĂŒllte die Blondine unverhofft und stieß ihre Waffe in den sandigen Untergrund. “Na schön. Ich höre zu.” Sie zog die Klinge wieder aus dem Boden und schob sie zurĂŒck in die Schwertscheide an ihrem GĂŒrtel. Erleichtert atmete Henrik auf. Annemarie wunderte sich ĂŒber die merkwĂŒrdigen Verrenkungen, welche er als nĂ€chstes vollfĂŒhrte. Es wirkte auf sie, als wolle Henrik prĂŒfen, dass er sich nicht aus Versehen in die Hosen gemacht hatte. Es verleitete sie zum kichern. Augenblicklich stellte Henrik seine Bewegungen ein. 🌱 FĂŒnf Jahre zuvor. Völlig außer Atem kam Jasmin mit einem Laib Brot in der Hand in ihrem Versteck und dem ihres kleinen Bruders Nael an. Seit Tagen schon hatten sie nichts mehr richtiges gegessen. Der kleine Junge war alles, was von ihrer Familie noch ĂŒbrig war. Darum ging Jasmin jedes Risiko ein, damit er am Leben blieb. Jemanden in Yjasul zu bestehlen, zog selbst bei kleinsten Schadenssummen exorbitante Bestrafungen nach sich. Einem Brotdieb tĂ€te man die Hand abschlagen. Jasmin hatte schon von einer besonders kreativen Bestrafung gehört, wo der TĂ€ter in Mehl paniert und anschließend gebacken wurde. Beim Geld verstand man im Kalifat keinen Spaß. Aber sie wĂŒrde man nicht erwischen. Sie war immer vorsichtig. Nael war bereits sehr geschwĂ€cht. Als er seine Schwester ihr schmutziges Versteck irgendwo in der Kanalisation von Madiya mit dem gestohlenen Lebensmittel in HĂ€nden betreten sah, kehrten seine Lebensgeister zurĂŒck und er sprang auf und lief Jasmin entgegen. Eine liebevolle, doch kraftlose Umarmung folgte. Jasmin legte den Laib Brot neben sich auf dem Boden ab und erwiderte Naels Zuneigungsbekundung. Diese Existenz musste eine Strafe des Schicksals sein! FrĂŒher lebten sie in einem prachtvollen Anwesen. Jasmin und Nael hatten liebevolle und wohlhabende Eltern. Der Vater erwirtschaftete horrende Gewinne mit seinen GeschĂ€ften und die Mutter war so liebevoll, wie es sich nur wenige vorstellen konnten. Leben war der reinste Luxus. Sie schlemmten wie die Maden im Speck und kleideten sich in den feinsten GewĂ€ndern. Bald prachtvoller als die des Kalifen selbst. Doch eines Tages endete das glĂŒckliche Leben abrupt, als der Vater von einem noch reicheren Mann aus dem GeschĂ€ft gedrĂ€ngt wurde und alles verlor. Nie kam er ĂŒber diesen schweren Schlag hinweg und starb nur wenige Monate nach der feindlichen Übernahme. Die Mutter versuchte anschließend, einen neuen Mann zu finden. Als das nicht funktionierte, war sie fĂŒr ihre Kinder bereit, sich selbst und den verbleibenden Rest ihres Stolzes zu verkaufen. Dies brachte ihr kaum einen Denar ein. Stattdessen erkrankte sie an einer Geschlechtskrankheit, die sie langsam aber sicher dahin raffte. Seitdem war es an Jasmin, ihren Bruder durchzubringen. Niemals wĂŒrde sie den Weg einschlagen, den ihre Mutter gegangen war. Da riskierte sie lieber Gliedmaßen beim Essensdiebstahl! Solange sie es hierher zurĂŒck schaffte, in die muffigen, stinkenden und rattenversĂ€uchten AbwasserkanĂ€le der Stadt, war sie sicher. In diesen Katakomben wĂŒrde sie niemals jemand finden. Zu ihrem GlĂŒck stimmte es tatsĂ€chlich, dass sich die menschliche Nase mit der Zeit an jeden noch so abscheulichen Geruch gewöhnte. SpĂ€ter ĂŒberließ Jasmin ihrem kleinen Bruder das gesamte Brot. Er wollte mit ihr teilen, doch sie behauptete, schon gegessen zu haben. NatĂŒrlich war das die Unwahrheit und der Hunger brachte sie bald um, doch Nael hatte das Brot nötiger als sie. Es war ihr Verzicht, der ihrem Bruder das Leben rettete. Einige Zeit zog ins Land. Besorgt erwachte Nael aus einem bösen Traum. Schnell ĂŒberzeugte er sich davon, dass es nur ein Streich seines Unterbewusstseins war. Jasmin lag noch immer auf der alten, verranzten Matte. Ihr ging es den UmstĂ€nden entsprechend gut. Schon seit Tagen konnte seine Schwester nicht mehr aufstehen. Das Leben im Dreck forderte letztendlich seinen Preis, als eine Infektion begann das MĂ€dchen von Innen heraus aufzufressen. Sie schwitzte unaufhörlich, sodass er gar nicht mehr hinterher kam, Wasser fĂŒr den Verzehr abzukochen. Das Fieber wollte einfach nicht mehr runter gehen. Bald schon wĂŒrde sie sterben. Nael wollte das nicht geschehen lassen. Immerhin war sie seine Schwester. Ohne sie wĂ€re er schon lĂ€ngst nicht mehr am Leben. FĂŒr den Anfang musste es jedoch genĂŒgen, an ihrer statt das Essen anderer zu stehlen. Er begab sich auf den Markt. Ein kleiner Junge zwischen unzĂ€hligen Erwachsenen. Er war wie verloren. Von allen Seiten schrien MĂ€nner und buhlten um Aufmerksamkeit fĂŒr ihre Waren. Da wusste man gar nicht, was man zuerst klauen sollte
 Um nicht endgĂŒltig in der Emersion dieser KultstĂ€tte des ungehemmten Konsums unterzugehen, entschloss er sich, den ObstverkĂ€ufer am Rand zu bestehlen. Der Stand war relativ ungeschĂŒtzt und die nahe Straße erlaubte Nael schnell zu entkommen und die Beute zurĂŒck ins Versteck zu bringen. WĂ€hrend er sich seinem Ziel annĂ€herte, ĂŒberhörte er das VerkaufsgesprĂ€ch eines Heilkundigen, welcher eine Tinktur anzupreisen versuchte, die jede Krankheit zu heilen vermochte. Wie hypnotisiert verwarf er sein Vorhaben und ging stattdessen zum Stand des Quacksalbers. Bei der Auflistung der Inhaltsstoffe wĂŒrde sich einem Schulmediziner der Magen umdrehen und gleich im Anschluss außer Landes flĂŒchten. Doch verzweifelte Menschen klammern sich an Illusionen, die ihnen Hoffnung versprechen. Selbst wenn es sich um den bis zur Nichtnachweisbarkeit verdĂŒnnten Urin eines Barbaren handelte, welcher es vermögen sollte, die StĂ€rke in ausgelaugte Körper zurĂŒckzubringen. “Gewiss vermag es meine Tinktur nicht, die Toten ins Leben zurĂŒck zu holen”, verkĂŒndete der Heiler mit stolzgeschwellter Brust. “Doch wer dem Tode nahe ist, wird neue Kraft schöpfen und dem FĂ€hrmann vom Boote springen!” Eine korpulente, mittelalte Frau mit blauem Kopftuch ging in jenem Moment am Stand vorbei. “Alles Blödsinn”, murmelte sie in sich hinein. Nael hingegen war angetan von der Idee, seiner Schwester auch endlich einmal helfen zu können. Auf der großen AbstellflĂ€che des Standes befanden sich weitere Flaschen. Der Junge war groß genug diese zu erreichen, also ĂŒberlegte er nicht weiter, schnappte sich eine der Flaschen und rannte davon, so schnell ihn seine Beine trugen. Die grĂ€sslichen Halluzinationen ihres Fiebers quĂ€lten Jasmin. Unruhig wĂ€lzte sie sich auf dem Boden umher. Der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen und ihr Körper glĂŒhte. Mit all dieser Hitze könnte man Eisen schmelzen. Als Nael wiederkehrte, war sich die Kranke unschlĂŒssig, ob sie wachte oder trĂ€umte. Der Junge hockte sich neben ihr hin. Er hielt eine Flasche in der Hand. Jasmin wusste nicht, wie ihr geschah, als Nael begann, ihr den geschmacklosen Inhalt des GefĂ€ĂŸes einzuflĂ¶ĂŸen. “Du musst das trinken”, sagte ihr Bruder. “Dann wird es dir bald besser gehen!” Sie hatte sowieso nicht die Kraft, sich ihm zu erwehren. Also ließ sie es ĂŒber sich ergehen. Die geleerte Flasche veranlasste Nael zu strahlen, in der Hoffnung endlich auch mal etwas fĂŒr seine Schwester getan zu haben, welche andauernd Kopf und Kragen fĂŒr sein Wohlergehen riskierte. Trotz ihrer Schmerzen zwang sich das MĂ€dchen zu lĂ€cheln. Ein Moment der Stille folgte, indem beide ihre Sorgen kurz vergessen konnten. Plötzlich vernahmen sie ein Poltern. Einige MĂ€nner hatten die alte morsche TĂŒr zu dem Abwassersystem aufgebrochen und stĂŒrmten nun in das Innere der Anlage. Es dauerte nicht lange, bis sie Jasmin und Nael ausfindig machten. Ihnen voran ging ausgerechnet der Quacksalber, den Nael vorhin bestohlen hatte. Sein Blick fiel auf die leere Flasche neben Jasmin. “Da ist der Rotzlöffel!” fluchte der Mann. Die anderen umzingelten Nael und nahmen ihm jede Möglichkeit zur Flucht. “Ergreift ihn!” Als die MĂ€nner den Jungen packten, versuchte Jasmin aufzustehen und ihm zu helfen, aber in ihrem geschwĂ€chten Zustand wurde sie von einem der MĂ€nner brutal gegen eine Wand gestoßen und ging zu Boden. Sie konnte nur noch hilflos mit ansehen, wie ihr kleiner Bruder von den Leuten einfach so entfĂŒhrt wurde. “Was machen wir mit ihr?”, fragte einer der Handlanger. “Lasst sie liegen!”, befahl der bestohlene Heiler. “Die macht es sowieso nicht mehr lange!” Daraufhin verließen sie die Kanalisation. Bisher hatten ihr die HĂ€userwĂ€nde als nötige StĂŒtzen gedient, wĂ€hrend sie sich fiebrig durch die pralle Sonne quĂ€lte. Doch hier endeten die Außenbezirke von Mediya und gingen in ein schier endloses Meer aus Sand ĂŒber. Bis hierher war Jasmin den MĂ€nnern unter Einsatz all ihrer KrĂ€fte gefolgt. Doch nun wusste sie nicht mehr weiter. Sie hatten aufgesessen auf ihren Kamelen und waren lĂ€ngst hinter den DĂŒnen verschwunden. Einzig die Spuren im Sand wiesen noch den Weg zu ihnen. Jasmin wusste, dass in der Richtung eine Oase lag. Dort wĂŒrden sie gewiss halt machen, bevor sie weiterreisten. Sie musste es irgendwie vorher schaffen. Ein kleiner Junge brachte auf dem Sklavenmarkt viel Geld ein. Vermutlich wollte der Quacksalber den Jungen in der nĂ€chsten Stadt verkaufen, in der er halt machen wĂŒrde. Das musste sie unbedingt verhindern. Schritt um Schritt quĂ€lte sie sich voran. Der heiße Feuerball am Himmel ließ ihr nicht die geringste Gnade zuteilwerden. Krank, geschwĂ€cht und dehydriert, hatte sie dem nichts entgegenzusetzen. Kaum zweihundert Meter von der Stadt entfernt, verließen sie endgĂŒltig ihre KrĂ€fte und sie stĂŒrzte in den heißen Sand. Die Geier zogen schon ihre Kreise, als sich ein großer Schatten ĂŒber Jasmins ausgelaugten Körper legte. 🌱 ZurĂŒck in der Gegenwart. Die Gruppe lauschte aufmerksam den AusfĂŒhrungen von Jasmin. Sie erzĂ€hlte ihnen alles ĂŒber ihre Vergangenheit und ließ dabei kein trauriges Detail aus. Henrik und Annemarie schauten merklich betroffen. “Das ist furchtbar”, meinte die kleine Rothaarige. “Und derjenige, der Euch fand, war der alte Mann, von dem Ihr mir zuvor berichtet habt”, schlussfolgerte Clay. “Ja”, antwortete die WĂŒstenrĂ€uberin. “Sein Name war Uthmann. Er fand mich fiebrig und halbtot in der WĂŒste und pflegte mich gesund. Als es mir besser ging, hat er mich ausgefragt und ich erzĂ€hlte ihm alles. Daraufhin gab er mir Astarte.” “Einfach so?”, zweifelte Nebula. “Er hat keine Gegenleistung verlangt?” “Er war ein alter Mann”, meinte Clay. “An so etwas hat er gewiss nicht mehr gedacht.” “D-Das habe ich nicht ge-gemeint!” Die Richtung, in die die Unterhaltung abdriftete, war der Prinzessin sichtlich unangenehm. “Hat wohl keinen mehr hochbekommen”, befeuerte Cerise die Unterhaltung mit einem ihrer typisch unpassend sexualisierten Kommentare. “V-Vielleicht sollten wir sie a-ausreden lassen”, schlug Henrik vor. “Eine hervorragende Idee”, sagte Clay und sah Cerise belehrend an. “Er sagte, der Teppich wĂŒrde mir große Macht verleihen”, fuhr Jasmin fort. “Aber er wĂŒrde einen Preis dafĂŒr verlangen. Inzwischen ist mir auch klar, was dieser Preis ist.” Sie schenkte Nebula einen verachtenden Blick. Diese spĂŒrte eine Welle von SchuldgefĂŒhlen in sich aufsteigen. “Ich bitte Euch, mir zu helfen.” Jasmin kniete vor der Gruppe nieder. “Bitte helft mir, meinen Bruder zu retten.” “Zu blöd, dass das unser Blondchen entscheidet”, entgegnete Cerise. “Und die scheint Euch nicht besonders zu mögen.” “Schweigt still, zynische Elfe!”, forderte Nebula. Sie konnte sich gut in Jasmin hineinversetzen. Auch sie wĂŒrde alles tun, wenn sie damit ihrer Freundin helfen könnte. Vermutlich hĂ€tte sie an Jasmins Stelle genauso gehandelt. Wenn sie auf diese Weise wenigstens ein wenig Wiedergutmachung fĂŒr ihren Amoklauf leisten könne, wollte sie diese Chance nicht verstreichen lassen. “Los, steht auf!”, forderte sie Jasmin auf. “Wir werden Euch helfen.” Sie sah zu ihren Leuten. "Irgendwelche EinwĂ€nde?” Augenscheinlich hatte niemand etwas dagegen. “Wir helfen Euch, Nael zu finden.” Die RĂ€uberin in der schwarzen Abaya erhob sich. Skeptisch sah sie Nebula an. Sollte sie das Schicksal ihres kleinen Bruders in die HĂ€nde dieser Hexe legen? Eine echte Wahl hatte sie nicht
 Der nĂ€chste Tag brach heran. Nebula sah es als ihre Pflicht an, den AnfĂŒhrer der Karawane von ihrem Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Schließlich hatte sie beschlossen, dass sie Jasmin helfen wĂŒrden. Sie besuchte ihn in seinem Zelt und berichtete ihm in KĂŒrze, was Jasmin ihnen gesagt hatte. WĂ€hrend er der NacherzĂ€hlung der Lebensgeschichte der RĂ€uberin lauschte, geschah etwas in seinem Gesicht. Der alte Geldsack wurde doch nicht etwa sentimental? “Ihr wollt also dieser kleinen RĂ€uberin bei der FamilienzusammenfĂŒhrung helfen?”, fragte der AnfĂŒhrer mit leichter VerĂ€rgerung in der Stimme. Dass dieser Achmet das nicht erbaulich finden wĂŒrde, war beinahe schon klar. Immerhin haben die WĂŒstenrĂ€uber seit Jahren Karawanen geplĂŒndert. Doch seine gekĂŒnzelte Wut konnte niemanden tĂ€uschen. “Wir sind alle Opfer der UmstĂ€nde”, entgegnete Nebula eloquent. “Nun, Ihr seid unsere zahlenden GĂ€ste”, erörterte der TurbantrĂ€ger. “Ihr und Euer Gefolge könnt tun und lassen, was Ihr wollt. Aber wir mĂŒssen unseren Termin einhalten. Wir können nicht auf Euch warten.” “Das ist mir klar.” “Ich werde Euch das Schreiben Tariks wieder aushĂ€ndigen. Er ist ein Mann mit großem Einfluss. Seine Befehle sollten Euch problemlos in einer anderen Karawane unterbringen.” “Ich danke Euch.” “WofĂŒr?” “DafĂŒr, dass Ihr auf die Kopfgelder verzichten wollt.” Achmet lachte und hielt sich dabei den Bauch. “Wisst Ihr, welche SchĂ€tze wir im Versteck der RĂ€uber fanden? Da brauche ich nicht auch noch das Kopfgeld.” Als ob! Wenn Nebula etwas begriffen hatte, dann dass die HĂ€ndler aus Yjasul fĂŒr noch mehr Gold sogar ihre Mutter an den meistbietenden SklavenhĂ€ndler verkaufen wĂŒrden. Es war viel wahrscheinlicher, dass Achmet Mitleid mit Jasmin und Nael hatte. Manchmal besiegte selbst hier die Menschlichkeit den Mammon. “Wenn Ihr das so seht, mein Herr”, ging sie auf ihn ein. “Und nehmt diesen Blonden mit Euch!”, forderte der KarawanenfĂŒhrer. “Er belĂ€stigt andauernd die TĂ€nzerinnen und setzt ihnen Flausen in den Kopf. Das sieht unser Kunde gar nicht gern. Er hat brave MĂ€dchen bestellt!” Dass die Karawane selbst Sklaven mit sich fĂŒhrte, gefiel Nebula nicht. Allerdings musste man seine Schlachten weise wĂ€hlen. Es stand nicht in ihrer Macht, eine gesellschaftliche Revolution anzuzetteln. Nebula wusste nicht, was sie Achmet versprechen konnte. Schließlich unterstand Toshiro ihr nicht. Andererseits auch keiner von ihren ĂŒbrigen Begleitern. Sie gingen nur zufĂ€llig gemeinsamen Zielen nach. “Seine
 Freundin muss ihre Verletzungen auskurieren. Er wird in der Oase bleiben mĂŒssen, wenn Ihr aufbrecht.” “Bei Yasaars goldenem Obstteller! Welch eine Erleichterung!” Die Freude veranlasste Achmet, ein Stoßgebet zum legendĂ€ren ersten Kalifen auszurufen. Toshiro musste ihm wahrlich eine Plage sein. Daraufhin ging er an eine seiner Taschen und ĂŒbergab Nebula das Schreiben von Tarik. “Hier.” Nebula nahm das Dokument an sich. “Geht nun, und nehmt diesen Strauchdieb mit Euch! Wir werden im Laufe des Tages nach Argentoile aufbrechen. Die nĂ€chste Karawane sollte in ein paar Wochen hier eintreffen.” Daraufhin wandte sich der TurbantrĂ€ger ab und signalisierte Nebula, dass sie gehen solle. Die Blondine kam der stillen Aufforderung nach. “Viel GlĂŒck bei der Suche”, wĂŒnschte Achmet, als Nebula gerade das Zelt verließ. Sie nahm es lĂ€chelnd zur Kenntnis. Wenig spĂ€ter hatte sich die Gruppe vor dem Zelt von Toshiro und Aki versammelt. Nebula war gerade dabei, ihrem Gefolge die Abmachung mit dem KarawanenfĂŒhrer zu erlĂ€utern, als der blonde Fremdling aus der provisorischen Behausung heraus trat. Zuvor salbte er die Wunden seiner LeibwĂ€chterin. Immerhin schien es zu helfen. Akis Zustand verbesserte sich von Tag zu Tag immer mehr. Sicher könnten sie bald ihre Suche nach VerbĂŒndeten fĂŒr den Krieg gegen den Hojo-Clan fortsetzen. Auch Jasmin und die ĂŒberlebenden RĂ€uber waren anwesend. Man hatte sie, wie versprochen, freigelassen. Allerdings waren die MĂ€nner allesamt unbewaffnet. “Die Karawane wird ohne uns weiterreisen", endete Nebula. “U-Und wir gehen dann n-nach M-Ma-Madiya?”, fragte Henrik. Nebula ĂŒbergab das Wort an Jasmin. “Mein Bruder wurde an Emir Jamal verkauft”, erklĂ€rte die RĂ€uberin. “Wo Nael ist, fand ich schnell heraus. Aber ich konnte nicht einfach in die Stadt einmarschieren, alles kurz und klein schlagen und ihn mitnehmen.” “Es war einfacher, das bei den Karawanen zu tun”, kommentierte Toshiro. Jasmin Ă€rgerte seine Aussage. Weil er Recht hatte. Aber es war notwendig, um Gold anzuhĂ€ufen. Da biss die Maus keinen Faden ab! “Auf nach Madiya!”, jubelte Annemarie und riss die geballte Faust gen Himmel. Clay nahm alles mit der ĂŒblichen stoischen Ruhe zur Kenntnis. “Wir werden Gold brauchen, wenn wir es mit dem Emir zu tun haben”, stellte Cerise fest. “Diese Verwalter unterstehen nur dem Kalifen. Das sind zumeist die reichsten GeldsĂ€cke in den StĂ€dten, die sie beherrschen.” “Leider haben die HĂ€ndler nun all mein Diebesgut”, meinte Jasmin. “Damit wollte ich Nael freikaufen.” “Wir brauchen einen Weg, schnell Gold zu machen”, schlussfolgerte Nebula. “Wir könnten das nervige Gör verschachern”, witzelte Cerise. “Du bist gemein!”, beschwerte sich Annemarie. “Madiya ist eine Gladiatorenstadt”, erklĂ€rte Jasmin. “Am schnellsten verdient man, indem man auf SchaukĂ€mpfe setzt.” “Bringen die sich da g-gegenseitig um?”, fragte Henrik. “Quatsch”, meinte Cerise. “Das wĂ€re nicht kosteneffizient. Einen Gladiator auszubilden kostet haufenweise Geld. Und das ist denen heilig.” Der Braunhaarige atmete auf. “Außer dem Publikum war langweilig. Dann geht der Daumen runter. Wenn sie was nicht leiden können, dann fĂŒr eine Dienstleistung zu zahlen, die nicht hĂ€lt, was sie verspricht.” Und da war sie hin, die Erleichterung. “Man mĂŒsste wissen, wer gewinnt”, ermahnte Jasmin. Nebula ließ die Fingerknöchel knacken. “Kein Problem.” Nichts gefiele Toshiro mehr, als selbst in diese Stadt zu reisen. Er könnte sich im Kampf mit starken Kriegern messen und vielleicht noch mehr VerbĂŒndete finden. Und eine großartige Show abzuziehen, sodass kein Auge trocken blieb, gehörte zu seinen SpezialitĂ€ten. Aber er konnte Aki hier nicht zurĂŒcklassen! “Als freier Gladiator braucht Ihr eine Lizenz”, dĂ€mpfte Jasmin den Eifer der Prinzessin. “Das heißt: jahrelange Ausbildung in einer Gladiatorenschule. Habt Ihr so viel Geduld? Es wird einfacher sein, einen Gladiator anzuheuern.” “Willst du, dass etwas richtig gemacht wird, musst du es selber machen”, gab Nebula von sich selbst ĂŒberzeugt Contra. “Das wird sich schon beschleunigen lassen.” “Sobald es Aki besser geht, werde ich Euch unterstĂŒtzen”, versicherte Toshiro. “Nett gemeint, aber unnötig”, schlug Nebula sein Angebot aus. Sie wollte kein Risiko eingehen. Und dieser Junge mit seinen seltsamen ZauberkrĂ€ften stank förmlich danach. Der Weg in die Stadt der Gladiatoren fĂŒhrte die Gruppe durch die heiße WĂŒste. TagsĂŒber brannte die Sonne so unerbittlich vom Himmel, dass man hĂ€tte glauben können, sich inmitten des Elendsschlunds, dem großen Vulkan im Herzen Aschfeuers, zu befinden. Die aufsteigende Warmluft flimmerte und schuf Illusionen, wĂ€hrend sie sich gen Himmel erhob. Wer hier noch glaubte, seinen Augen trauen zu können, den wĂŒrde der Tod eines Besseren belehren. Fata Morganas von mutmaßlichen Oasen waren an der Tagesordnung. Einzig durch die FĂŒhrung von Jasmin gelang es Nebula und ihren Mitstreitern, den direkten Weg durch das glĂŒhende Sandmeer zu meistern. Nach dem zweiten Tage ihrer Reise ließ sich Nebula endlich darauf ein, ein Kopftuch als Schutz gegen die Sonne zu tragen. Und am vierten Tag erschienen die Silhouetten von Madiya am Horizont. Und es handelte sich dieses Mal definitiv nicht um eine Illusion. 🌱 Als Erstes sahen sie sich nach einer Bleibe um, als sie Madiya erreichten. Yasmins MĂ€nner waren nicht mit in die Stadt gekommen, da die BefĂŒrchtung bestand, als zu große Gruppe zu viel Aufmerksamkeit anzuziehen. Die Unterkunft, in der das Sechsergespann letztlich abstieg, war das Beste, was man in dieser reichen Stadt fĂŒr kleines Geld bekommen konnte. Eine einfache LehmhĂŒtte, an deren Seiten typisch fĂŒr die gĂ€ngige Architektur des Kalifat Holzbalken aus dem Mauerwerk herausragten. Die Ziegel, aus denen das GebĂ€ude bestand, waren nicht gebrannt, sondern nur in der Sonne getrocknet. Bei den Temperaturen hielten solche Konstrukte dennoch fĂŒr Millennien, wie die Ruinen in der Oase zuvor schon eindrucksvoll bewiesen hatten, und boten eine bessere KĂŒhlwirkung. Alsbald machte sich Nebula auf die Suche nach einer Schaukampfschule, um möglichst schnell ihren Gladiatorenschein zu machen. “Ich habe bereits einen Gladiatorenschein”, hatte Cerise gesagt. Aber Nebula wollte das nicht in ihre HĂ€nde abgeben. Zum einen, weil sie zutiefst Reuhe fĂŒr den Mord an einigen von Jasmins MĂ€nnern empfand und selbst etwas tun wollte, um es wenigstens ein wenig wieder gut zu machen, indem sie Nael freikaufte. Und zum anderen, weil die Schmach damals beim Training gegen Cerise verloren zu haben immer noch tief saß. Sie wollte sich selbst beweisen, dass sie besser geworden war, indem sie die Arena von Madiya ohne ihre Waffen gewann. Wie zum Teufel hat sie den Schein bekommen, fragte sich Nebula zornig, als sie eine Schule nach der anderen ablehnte, weil sie eine Frau war. Das hatten sie zwar nicht gesagt, aber ganz bestimmt gedacht. Diese patriarchalischen Kapitalistenschweine! Bei der letzten Schule, bei der sie es versuchte, hatte sie dann endlich Erfolg. Sie traute ihren Augen bald nicht, als sich eine annĂ€hernd zwei Meter große Frau mit dunkelblonden Haaren, gigantischen Muskelbergen und einem Holzbein vor ihr aufbaute. Nebula hĂ€tte sie bald fĂŒr einen Mann gehalten, hĂ€tte sie keine BrĂŒste gehabt, so stattlich war sie. Das Eisvolk aus dem Norden war das einzige, das solche riesigen Frauen hervorbringen konnte. Was machte eine Barbarin aus Frys in der WĂŒste? Die Frau stellte sich als Lykke vor. Nebula schilderte ihr Anliegen und wieso sie unbedingt ihren Schein machen musste. “Du MĂ€dchen willst also Gladiatorin werden?”, hakte Lykke skeptisch nach. “Traut Ihr mir das nicht zu?”, zischte die kleine Blondine der großen aggressiv entgegen. “Ich verstehe dich, MĂ€dchen. Nur weil ich grĂ¶ĂŸer bin als jeder Mann hier, hatte ich es trotzdem nie leicht. Hier ist es nicht so wie bei den Clans. Das hier ist eine MĂ€nnergesellschaft, in der du nicht ernst genommen wirst, wenn du eine Frau bist. Außer du hast Geld. Geld ist der einzige Gleichmacher, den es gibt.” Die Barbarin atmete durch. “Dennoch musst du eine AufnahmeprĂŒfung ablegen.” “Dann prĂŒft mich!”, forderte Nebula. “Hast du das Ding hier ĂŒbersehen?”, fragte Lykke und deutete auf ihre Prothese. “Ich bilde nur noch aus. Ich kĂ€mpfe nicht mehr, seitdem ich mein Bein an eine EntzĂŒndung verlor. Du wirst stattdessen gegen eine alte SchĂŒlerin von mir antreten. Wie es der Zufall will, ist sie auch gerade in der Stadt.” “Die soll nur kommen!” Eine halbe Stunde spĂ€ter fand der Kampf bereits statt. Nebula stand einer vollstĂ€ndig verschleierten Frau gegenĂŒber. Einzig ihre Augen schauten noch unter der weißen Abaya und den TĂŒchern hervor. Sie wurde aus ihrer Erscheinung nicht schlau. Irgend etwas kam ihr an dem Weibsbild bekannt vor. “Ihr kĂ€mpft mit Übungswaffen”, erklĂ€rte Lykke, wĂ€hrend sie zwischen den Kontrahenten stand. “Ziel des Kampfes ist es, den Gegner aus dem Kreis zu drĂ€ngen. Solange niemand den anderen verstĂŒmmelt oder umbringt, ist alles erlaubt.” Sie reichte beiden jeweils einen Speer mit stumpfer Spitze. “Ihr benutzt Speere, da Amira damit noch nie gut umgehen konnte.” Lykke klopfte der Vermummten auf die Schulter. Scheinbar konnte sie es nicht lassen, ihren SchĂŒlern etwas beibringen zu wollen, selbst wenn sie ausgelernt hatten. Nebula fĂŒhrte ihre Waffe, wie sie es damals vom Kommandanten der Armee von Morgenstern gelehrt bekam. Den Speer fest in beide HĂ€nden und die Arme soweit auseinander, dass ein gutes StĂŒck Stange zwischen den HĂ€nden lag. Ihre Knie hielt sie locker und ihr Gewicht verlagerte sie auf das zurĂŒckgestellte rechte Bein. Die Grundstellung, welche sowohl Angriff als auch Verteidigung ermöglichte. Amira war sichtlich unwohl mit ihrer Waffe und sie versuchte, den Kampf so schnell wie möglich zu entscheiden. Nebula ließ sich jedoch nicht einfach aus dem Ring drĂ€ngen und erwiderte den Angriff. Amira konterte, indem sie wie wild um die Blondine herum wirbelte und mit der Speerstange auf ihren RĂŒcken schlug. Fast hĂ€tte sie das Gleichgewicht verloren und wĂ€re ĂŒber die Linie gestolpert. Aber Nebula gelang es, dieses Schicksal abzuwenden. Im darauf folgenden Gerangel schienen sich die Kontrahentinnen immer weiter zu verknoten und ihre Speere ineinander zu verhaken. Jedem Zuschauer war sofort klar, dass es sich auch bei der Neuen um eine erfahrene KĂ€mpferin handelte, die keines Wegs eine Ausbildung brauchte. Mit einer wuchtigen Bewegung brachte Amira Nebula zu Fall. Allerdings befand sie sich noch immer im Ring und der Kampf war noch nicht vorbei! Nebula griff zu den unfairen Mitteln aus ihrer Trickkiste und nahm schnell eine Hand voll Sand und warf sie ihrer Gegnerin ins Gesicht. Nicht die feine englische Art, aber nach Aussage von Lykke nicht verboten. Kurzzeitig der Sicht beraubt, gelang es Amira nicht, den folgenden Angriff abzuwehren. Nebula schlug ihr den Speer aus der Hand und setzte ihren Körper ein, um ihre Kontrahentin zu besiegen. Aber Amira stieß Nebula zurĂŒck, sodass sie abermals auf dem GesĂ€ĂŸ aufkam. “Stop!”, befahl Lykke. “Der Kampf ist vorbei!” Sie trat in den Kreis hinein, wĂ€hrend Amira sich noch den Sand aus den Augen pulte. “Die Neue hat gewonnen.” Schockiert blickte Amira auf ihre FĂŒĂŸe und bemerkte, dass sich der Linke hinter der Linie befand und sie tatsĂ€chlich verloren hatte. Sie trug es mit Fassung und verneigte sich vor Nebula. Danach verließ die den Kampfplatz und verschwand in einer TĂŒr des SchaukampfschulgebĂ€udes. Unterdessen war Nebula wieder aufgestanden. “GlĂŒckwunsch, du hast bestanden”, verkĂŒndete Lykke. Nachdem Nebula jeden anderen SchĂŒler, der es wagte, auch noch besiegt hatte, waren sich alle einig, dass man ihr nichts mehr beibringen konnte. WĂŒrde es nur nach Lykke gehen, hĂ€tte sie Nebula den Gladiatorenschein sofort ausgestellt, aber sie wollte VorwĂŒrfe vermeiden, sie wĂŒrde sie bevorzugen, weil sie beide Frauen waren. Darum mussten zuerst alle möglichen Zweifler zum Schweigen gebracht werden. Nichtsdestotrotz freute es die Barbarin, endlich wieder einer Frau in die Arena und zu Ruhm und Gold zu verhelfen. NatĂŒrlich plante sie, den großen KĂ€mpfen von Nebula beizuwohnen. Jeder neue Gladiator musste allerdings klein anfangen. Man konnte nicht einfach seinen Schein vorzeigen und wurde in die große Arena von Madiya hereingelassen. Das musste auch Nebula erfahren. Auch fĂŒr sie begann ihre “Karriere” in kleineren Hinterhofringen, wo man sein Teil des Preisgeld zuerst einzahlen musste, bevor man es nach einem Sieg zusammen mit dem Preis des Gegners wiederbekam. GlĂŒcklicherweise war gegen die Blondine kein Kraut gewachsen. Innerhalb einer Woche sprach sich das GerĂŒcht einer neuen starken Gladiatorin herum und Nebula bekam Zutritt zu den grĂ¶ĂŸeren Arenen, die man gewinnen musste, um sich das Privileg zu verdienen, in der Al Muluk zu kĂ€mpfen. Mit der Zeit begriff Nebula, dass es dem Publikum dabei egal war, wie ernsthaft die Auseinandersetzungen waren, wenn sie nur genug unterhielten. Teilweise spielte sie mit ihren Gegnern wie eine Raubkatze mit ihrer Beute. Beim Publikum kam das besonders gut an. Eine weitere Woche spĂ€ter hatte Nebula einen ansehnlichen Schatz an Preisgeldern angesammelt. Genug Gold, damit Jasmin ihren Bruder Nael zurĂŒckkaufen könne. Es wurde beschlossen, dem Emir Jamal beim nĂ€chsten großen Arenakampf ein Angebot zu machen, welches er niemals ablehnen könnte. Die GerĂŒchte um die auslĂ€ndische Frau, welche alle MĂ€nner in den Schatten stellte, hatten schlussendlich auch das Ohr des Emirs erreicht. Voller Neugier saß er auf einem vergoldeten Thron in seiner Loge, dessen Pracht bestimmt den Kalifen höchst persönlich mit Neid erfĂŒllen wĂŒrde. Ja, er war reich! Verdammt reich! Und Jamal sparte nicht damit, anderen seinen Reichtum unter die Nase zu reiben. Er glaubte, dass er dank seines Geldes alles haben konnte, was er begehrte. Und nichts begehrte er mehr, als exotische Schönheiten fĂŒr seinen Harem zu rekrutieren. Nachdem das Publikum mit einem Gruppenkampf angeheizt wurde, welcher nach Punkten entschieden wurde, war es an der Zeit fĂŒr das Hauptereignis des Tages. Die Sonne errötete vor Vorfreude und erzeugte lange Schatten im abendlichen Licht. Es setzte die Szenerie fĂŒr Nebula, den aktuellen Champion von Al Muluk, der Arena der Könige, herauszufordern. Ein Mann namens Hassan, der bisher ungeschlagen war. Es war an der Zeit, dies zu Ă€ndern! Der imposante Krieger stand ihr nun gegenĂŒber. Er war bekannt dafĂŒr, niemanden an sich heranzulassen. Die Waffe seiner Wahl war der Dreizack. Auch wenn in keiner offiziellen Arena bis zum Tod gekĂ€mpft wurde, waren die Waffen hier keine Spielzeuge. Trotz der Potenz ihrer SelbstheilungskrĂ€fte wollte Nebula keine Verletzungen riskieren und wĂ€hlte einen Rundschild und einen Kolben als AusrĂŒstung. Auch dieser Kampf wĂŒrde nach Punkten entschieden und sich ĂŒber fĂŒnf Runden erstrecken. Derjenige, welcher zuerst drei von ihnen fĂŒr sich entschied, wĂŒrde der Sieger sein. Nebula war bereit, sich ihrem Gegner zu stellen. Bald zeigte sich, Hassan machte seinem Ruf alle Ehre. Er war wahrhaft meisterlich darin, seine Gegner auf Abstand zu halten, bis sie mit ihrer Ausdauer am Ende waren. So war die Situation wenig verwunderlich, in der sich Nebula bald befand. Zwei Runden konnte sie fĂŒr sich entscheiden. Aber Zwei gingen an Hassan. So sollte sich alles in der fĂŒnften und letzten Runde entscheiden. “S-Sie wird es doch h-hoffentlich schaffen”, sorgte sich Henrik. “Alles andere wĂŒrde keine gute Geschichte abgeben”, kommentierte Cerise. “Es ist mein Bruder, um den es hier geht!”, erinnerte Jasmin. Gerade als der Kampf nach einer kurzen Pause fortgesetzt werden sollte, erhob sich der Emir von seinem Thron. “Haltet ein!”, befahl er. Lang genug hatte er Nebula zugesehen. Sie war in der Tat so bemerkenswert, wie die GerĂŒchte versprachen. Er wollte diese exotische Schönheit in seinem Harem wissen, koste es was es wolle. Perplex sahen beide KĂ€mpfer zu ihm auf. “Kriegerin aus dem Westen, Ihr mĂŒsst nicht lĂ€nger in der Arena nach Gold suchen”, verkĂŒndete Jamal. “Ihr habt bereits meine volle Aufmerksamkeit erlangt! Ich biete Euch alles Gold der Welt, wenn Ihr meine Hauptfrau werdet.” Nebula traute ihren Ohren nicht. Zwar hatte sie die ganze Zeit seine Blicke gespĂŒrt, doch das war jetzt echt die Höhe! Wutentbrannt schleuderte sie ihren Schild wie einen Diskus, sodass er sich ĂŒber dem Kopf des Emirs in die Wand bohrte und Lehmstaub auf sein Haupt rieseln ließ. Der Statthalter zuckte zusammen. “Was fĂ€llt Euch ein?!”, schĂ€umte sie. “Denkt Ihr, ich sei eine Ware, ĂŒber die Ihr verfĂŒgen könnt, weil Ihr im Gold schwimmt?” Auch Hassan war nicht besonders begeistert vom Lauf der Dinge und stieß seinen Dreizack in den Sand. Das Publikum schwieg angesichts des prĂ€zisen Wurfs der Gladiatorin. Hastig kehrte ein Diener den Schmutz vom Kopf seines Herren. Dieser wollte die Vorstellung, die schöne Frau aus dem Westen sein Eigen zu nennen, noch nicht aufgeben. “Ihr wollt kĂ€mpfen, Ihr sollt kĂ€mpfen”, sprach der Emir. “Machen wir die Sache mit einer Wette interessanter. Solltet Ihr gewinnen, dĂŒrft Ihr Euch alles von mir wĂŒnschen. Aber wenn Ihr verliert, dann sollt Ihr meine Hauptfrau werden.” “Darauf gehe ich nicht ein!”, verweigerte sich Nebula. “Ich bin der Statthalter! Mein Wort ist Gesetz! Gehorcht, oder verrottet im Kerker!” “Gebt Acht, dass Ihr nicht Euren Arsch verwettet!” Eine schrie von den ZuschauerrĂ€ngen herab. “Ich gehe die Wette fĂŒr sie ein!” Jasmin erhob sich aus der Menge. Ihre schwarze Abaya wehte im Wind. Mit einem Handgriff entfernte sie Schleier und Kopfbedeckung und enthĂŒllte zum ersten Mal ihr bisher verborgenes Äußeres. Sie hatte langes schwarzes, seidiges Haar und makellose Haut. “Und ich bin keinesfalls der Trostpreis!”, tönte sie stolz aus voller Kehle. “So weit dĂŒrft Ihr nicht gehen”, versuchte Nebula, sie zur RĂ€son zu bringen. “Dieser Preis ist zu hoch!” “Haltet die Klappe und tut einfach, was Ihr am Besten könnt: KĂ€mpfen.” “Fein, ich bin einverstanden!”, akzeptierte der Emir. “Wenn die Kriegerin aus dem Westen verliert, sollt ihr meine Hauptfrau werden. Andernfalls habt ihr ein Wunsch frei.” Sein Blick fiel auf den verbeulten AusrĂŒstungsgegenstand, der noch immer ĂŒber ihm in der Wand steckte. “Bringt der Blonden besser einen neuen Schild!” Endlich lĂ€utete die Glocke zur letzten Runde. Begleitet von einem dumpfen metallischen Schwingen, blockte Nebula den Stoß mit dem Dreizack ab. Die SchaukĂ€mpfe waren bisher nichts weiter gewesen als eben dies. Ein Unterhaltungsprogramm fĂŒr dekadente GeldsĂ€cke. Auch wenn ihre letzten Gegner keine unbedarften Tölpel waren, forderte sie erst der Kampf gegen Hassan wirklich heraus. Er besaß den Titel des Champion von Al Muluk zu Recht. Sie fĂŒrchtete, frĂŒher oder spĂ€ter in einem Moment der Unachtsamkeit ihre volle StĂ€rke gegen ihn einzusetzen. Weitere StĂ¶ĂŸe trafen den Schild, bis er nicht mehr an seine einst runde Form erinnerte. Nebula entledigte sich ihm, da er sie nur behinderte. Ohne den Schild konnte sie den Angriffen Hassans besser ausweichen. Beinahe tĂ€nzelnd entging sie den StĂ¶ĂŸen des Dreizacks und das Publikum jubelte ihr zu. Das Spiel mit der Beute kannten sie bereits. Als sie genug vom Ausweichen hatte, packte sie Hassans Waffe und ließ sie nicht mehr los, egal wie sehr er sich anstrengte. Mit einem gezielten Faustschlag zerbrach die Blondine den Stiel. Schockiert sah Hassan Nebula an. Sie durfte ihn nicht kaputt machen. Von seiner Waffe war aber nie die Rede gewesen. Hassan warf den nutzlos gewordenen Rest des Dreizack weg und ballte die FĂ€uste. Nebula entledigte sich ihrerseits ihrer Waffe und spiegelte seine Pose. Unter dem bebenden Jubel der Zuschauer stĂŒrzten sich die Kontrahenten aufeinander und trugen den Rest ihres Kampfes im unbewaffneten Zweikampf aus. Hassan blockte Nebulas SchlĂ€ge. Dieses MĂ€dchen aus dem Westen besaß eine Kraft, die er noch bei keinem Gegner erlebt hatte. Und dazu war sie eine zierliche kleine Frau. Jeder Treffer fĂŒhlte sich an, als ob ihre Angriffe seine Arme in Schwingung versetzen wĂŒrden. Die nĂ€chsten Wochen werden sie von HĂ€matomen ĂŒbersĂ€t sein, wenn sie ihm nicht gar abfallen. Zwischen ihren Angriffen ließ Nebula Hassan ungewollt ein Fenster fĂŒr einen Konter, welcher prompt traf und ihr eine blutige Nase bescherte. Hassan starrte irritiert auf die schwarze FlĂŒssigkeit, die aus dem Riechorgan seiner Gegnerin austrat. Nebula befĂŒhlte ihre Nase und sah das Blut an ihren Fingern. Sie fĂŒhlte einen Impuls von Wut in ihr aufsteigen und vergolt es Hassan, indem sie ebenfalls sein Gesicht maltrĂ€tierte. Ihr Schlag hatte beinahe die Wucht einer Kanonenkugel und schickte den großen, krĂ€ftigen KĂ€mpfer umgehend auf die metaphorischen Bretter. Als Hassan nicht mehr aufstand, begann das Publikum zu jubeln. Nebula spĂŒrte Befriedigung beim Anblick seiner gebrochenen Nase. Derweil verkroch sich der Emir in seinem Thron, als hoffte er, nicht gesehen zu werden. Er wusste genau, was Nebulas Sieg fĂŒr ihn bedeutete. Ein triumphierendes Grinsen zierte Jasmins Visage. Am darauffolgenden Tag. Unter dem kĂŒhlen Luftstrom eines Palmenwedels lag die reichste Person der Stadt und empfing ihre GĂ€ste. “Wer hĂ€tte gedacht, d-das es so ausgeht?”, fragte Henrik in die Runde. “Mein Sieg stand außer Frage”, stellte Nebula klar. “Das könnte wohl jeder behaupten, der Normalsterbliche mit TeufelskrĂ€ften aus den Latschen hauen kann”, stichelte Cerise. “Das war
 ein Unfall”, versicherte die Blondine. “Ausreden!” “Wie wĂ€re es, wenn wir uns alle beruhigen?”, schlug Clay vor. In jenem Moment stĂŒrmten zwei Kinder durch einen der ZugĂ€nge in den großen Empfangsraum hinein. Es handelte sich um einen schwarzhaarigen Jungen, etwa um die zehn Jahre alt. Begleitet wurde er von einem energiegeladenen Rotschopf. Von Annemarie. Sie hatte den Jungen sofort ins Herz geschlossen. Der Junge rannte zu der Frau auf der exorbitanten Sitzgelegenheit in der Mitte des Raumes und ließ sich von ihr umarmen. Bei ihr handelte es sich um keine andere als Jasmin und der Junge war ihr verloren geglaubter Bruder Nael. “Ich mag diese FĂŒgung auch kaum glauben”, pflichtete Jasmin Henrik bei. “Oder was meint Ihr, mein treuer Sklave.” Sie richtete den Blick auf den Mann, welcher unermĂŒdlich den Palmenwedel schwang. Jamal unterdrĂŒckte ein wĂŒtendes Knurren. Vom Emir von Madiya zum persönlichen Diener dieses WeibsstĂŒck abzustĂŒrzen, war eine soziale Talfahrt, die er so schnell nicht verdauen wĂŒrde. Eines Tages
 Ja, eines Tages wĂŒrde er sich zurĂŒckholen, was sein war! Nach Nebulas Sieg forderte Jasmin ihren Preis ein und wĂŒnschte sich von Emir Jamal all seine BesitztĂŒmer zu ĂŒbernehmen. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass sie ihren Bruder befreite, sondern bedeutete fĂŒr Jamal ebenso den Verlust all seiner WĂŒrden. Von einem Moment auf den anderen wurde er mittellos. Und dies nur, weil er das Denken dem Ding in seiner Hose ĂŒberlassen hatte. Als Teil seiner BesitztĂŒmer gehörte Jasmin nun auch Nael, dem sie als erste Amtshandlung seine Freiheit zurĂŒckgab. “Wird sie mit ihrer neuen Position klar kommen?”, fragte Clay. “Ich meine als Handlangerin des Kalifen.” “Keine Frage!”, meinte Cerise. “Sie ist eine eiskalte GeschĂ€ftsfrau!” Derweil trat Nebula an Jasmin heran. “Ich weiß, dass ich dies hier auch Euch verdanke”, eröffnete die frisch gebackene Herrscherin ĂŒber die Stadt der Gladiatoren. “Darum möchte ich Euch etwas ĂŒberreichen.” Sie erhob die linke Hand. “Erhebe dich in die sieben Winde, Astarte!” Schwarze Luftverwirbelungen verdichteten sich zu einem Teppich, welcher vertikal schwebend zwischen ihr und Nebula in der Luft verharrte. “Ist das Euer ernst?”, staunte Nebula. “Ihr wollt mir Astarte ĂŒberlassen?” “Ich brauche es nicht mehr”, erklĂ€rte Jasmin. “Bevor ich so werde wie Ihr, gebe ich es lieber an Euch weiter.” In ihrer Stimme klang der Groll ĂŒber die MĂ€nner nach, die Nebula in einem Anfall von Zorn erschlug. “Ich verachte Euch mindestens so sehr, wie ich Euch dankbar bin.” Nebula kommentierte es nicht und streckte die Hand nach Astarte aus. Eine Frau mit schneeweißem Haar, gehĂŒllt in ein scharlachrotes Kleid, wandelte barfuß ĂŒber den kalten weißen Sand unter einer pechschwarzen Sonne. Der Hunger trieb sie voran. Sie spĂŒrte ihre Beute in jeder Faser ihres Körpers. Irgendwo hier befand sie sich und beobachtete. Der schrille Schrei eines Vogels durchdrang die Stille. Die Frau sah in den Himmel und entdeckte, dass ein monströses geflĂŒgeltes Ungeheuer ĂŒber ihr seine Bahnen zog. “Da bist du ja, Nummer 17”, flĂŒsterte sie. Sie streckte die rechte Hand gen Himmel. Die NĂ€gel ihrer Finger schossen wie Pfeile in die Luft und bohrten sich in den schwarzen Vogel. Getroffen stĂŒrzte er zu Boden und schlug mit einem lauten, dumpfen Knall auf dem Sand auf. Zufrieden mit sich selbst grinste die Frau und trat an die zuckende, stark blutende Kreatur heran. “Wenn du dich wehrst, wird es nur noch schlimmer!” Es dauerte nicht lange, bis Nebula die Teufelswaffe mit ihrer besonderen FĂ€higkeit ihrer Waffenkammer hinzugefĂŒgt hatte. Astarte bereitete ihr seltsamerweise weniger Probleme als alle bisherigen Teufelswaffen. Zwar wunderte sie es ein wenig, aber sie schloss, dass mit der Zeit eine gewisse Gewöhnung stattfand. “Und jetzt wĂŒnsche ich, dass Ihr mir aus den Augen tretet”, setzte Jasmin fort. Nebula kam der Aufforderung nach. Annemarie rannte noch einmal zu Nael. Sie wollte sich von ihm verabschieden. Der schwarzhaarige Junge umarmte das MĂ€dchen. Annemarie beantwortete es, indem sie Nael einen Kuss auf die Wange gab. Die Geste ließ ihn erröten. “A-Ach wie niedlich”, schwĂ€rmte Henrik. Aber niemand ging darauf ein. Ohne weitere Zeit zu vergeuden, packten Nebula und die anderen ihre sieben Sachen und machten sich auf den Weg zurĂŒck zur Oase. Die RĂŒckreise nahm erneut vier Tage in Anspruch. Wenige Stunden nach ihrer Ankunft erreichte die nĂ€chste Karawane den Haltepunkt. Sie hatten es gerade rechtzeitig zurĂŒck geschafft. Nebula ĂŒberreichte dem AnfĂŒhrer das von Tarik unterzeichnete Dokument. Er akzeptierte es ohne weitere Umschweife und die Gruppe hatte ihre Mitreisegelegenheit gesichert. Achmet wurde nicht LĂŒgen gestraft. WĂ€hrend Nebula und die anderen ihre Abenteuer in Madiya erlebten, kĂŒmmerte sich Toshiro weiter um Aki. Ihre Verletzungen waren weitestgehend verheilt und ein die Karawane begleitender Heiler bescheinigte ihr Reisetauglichkeit. Damit war es ihnen möglich, die Kerngruppe weiter zu begleiten. Die Vorbereitungen fĂŒr die Abreise liefen. Nebula nutzte ihre ĂŒbermenschliche StĂ€rke und wuchtete Carolines Sarg auf den Wagen. Zuvor hatten sie sie bei Toshiro gelassen. Zwar war die Prinzessin skeptisch gewesen, aber Henrik ĂŒberzeugte sie, dass der Fremde aus dem Osten gut auf sie aufpassen wĂŒrde, da er sich auch so liebevoll um diese Aki kĂŒmmerte. Wahrscheinlich will der eine Perverse fĂŒr den anderen einstehen, dachte sie, als sie den Sarg festzurrte. Das Toshiro sie beim Baden beobachtete, hatte sie noch nicht verwunden. Derweil striegelte Clay seinen Schimmel - das musste auch mal wieder sein. Cerise sah ihm dabei aufmerksam zu. “Kein feuchtfröhlicher Kommentar von Euch?”, fragte Clay, wĂ€hrend er den gröbsten Dreck mit der BĂŒrste aus dem Fell seines Pferdes entfernte. “Soll ich Euch fragen, wann Ihr gedenkt, mich ordentlich zu bĂŒrsten?”, kicherte Cerise. “Ich wusste es doch! Kleines, perverses Wölfchen.” “Ich frage mich, wie lange Ihr Euren Teil in dem Abenteuer in Madiya noch geheim halten wollt”, enthĂŒllte der Werwolf seine GedankengĂ€nge. “Ich sehe nicht ein, wieso ich deshalb einen meiner Decknamen offenlegen sollte”, meinte die Rothaarige daraufhin. “Und ich dachte, Ihr brennt darauf, der Prinzessin unter die Nase zu reiben, dass ‘Amira’ sie nur gewinnen ließ.” Clay grinste verschmitzt, wĂ€hrend er weiter die BĂŒrste ĂŒber das Fell bewegte. ”Außer Ihr habt sie gar nicht gewinnen lassen
” Cerise nĂ€herte sich ihrem Liebhaber mit einladendem HĂŒftschwung, den er gewiss aus dem Augenwinkel sah, und schmiegte sich an ihn. “Das werden wir leider niemals erfahren”, hauchte sie ihm ins Ohr. Nachdem alle ihre Vorbereitungen getroffen hatten, setzte sich die Karawane in Bewegung und die Reise nach Argentoile wurde aufgenommen. Kapitel 20: Der stĂ€hlerne Wall ------------------------------ 🌱 Die diplomatische Mission war gescheitert. Nach der vernichtenden Niederlage des Foedus Lucis beim Schaanwald wurde der Feind augenscheinlich nervös. Der Verlust einer ganzen Armee, unter bis zu diesem Tage ungeklĂ€rten UmstĂ€nden, ließ Angst in den Verantwortlichen aufsteigen. Darum wollten sie einen dauerhaften Nichtangriffspakt aushandeln und luden zu dieser Konferenz in Krinnspitz ein. Der Gesandte von Aschfeuer war Belanor, ein ehemaliger General, dessen Taten im Krieg als legendĂ€r galten. Allerdings hatte er das Töten satt gehabt und da er schon immer gut mit Worten war, entschied er sich fĂŒr das Amt des Ambassadeurs. Doch anstatt Gebiete als Preis fĂŒr eine solche Vereinbarung abzutreten, wie es Belanor eigentlich erwartet hatte, stellte Antrium stattdessen unverschĂ€mte Forderungen. Sie verlangten das Gebiet um den Schaanwald zurĂŒck, welches das Kaiserreich nach seinem Triumph annektierte, genauso wie Ruckenach, jene Provinz, deren Eroberung durch Aschfeuer die Schlacht im Schaanwald erst heraufbeschwor. Das waren einzig fruchtlose Diskussionen! Die reinste Zeitverschwendung! Es erzĂŒrnte den Diplomaten und so hielt er es keine Minute lĂ€nger am Verhandlungstisch aus. Normalerweise war es nicht seine Art, ein GesprĂ€ch abzubrechen. Wer ihn kannte, wusste das nur zu gut. Seine Silberzunge erlaubte es ihm einst, die begehrteste Jungeselin in ganz Aschfeuer zu heiraten. Aber der Mist, den die Gegenseite vorbrachte, stand ihm inzwischen bis zur Stirn und den Gestank ihrer Worte ertrug nicht mehr. Er musste unbedingt weg von diesem Ort und trat fast fluchtartig den Heimweg an. Auf der Reise zurĂŒck durch Aschfeuer durfte sich Belanor an den unterschiedlichen Landschaften erfreuen, wĂ€hrend er sich dem heißen Ödland um Vanitas und dem Elendsschlund nĂ€herte. Als nach einer Reise von mehreren Wochen endlich die dichten schwarzen Aschewolken in Sichtweite kam, wusste er, dass er zuhause war. Immerhin war er noch immer ein Schwarzelf und so schön die Natur auch war, auch ihn blendete die unerbittliche Sonne. Kunde vom Abbruch der Verhandlungen erreichte Vanitas bereits im Voraus. Die Boten ritten stets wie die Teufel und so war es nicht verwunderlich, dass Belanors Nachricht fast eine Woche vor ihm eintraf. Inzwischen wusste bereits jede wichtige Person am Kaiserhof Bescheid. Lezabel hatte nicht verstanden, warum ihr Ehemann zugesagt hatte, die Verhandlungen zu fĂŒhren. Es war von vornherein klar, dass der langjĂ€hrige Lieblingsfeind Aschfeuers sich nie und nimmer die BlĂ¶ĂŸe geben wĂŒrde, einem zeitweiligen Frieden zuzustimmen, den sie nicht als Sieg verkaufen konnten. Sie wĂŒrden sicher alles versuchen, einen Vorteil herauszuschlagen. Belanor musste den Krieg wahrlich hassen, wenn er sich wissentlich dem falschen Spiel von Antrium aussetzte. Immerhin schien er schlussendlich doch zur Vernunft gekommen zu sein. Er sollte inzwischen Vanitas erreicht haben. Lange wĂŒrde es nicht mehr dauern und er stĂŒnde auf ihrer TĂŒrschwelle. Ein Mann, der so lange unterwegs war, benötigte besondere Zuwendung. Und Lezabel war mehr als bereit, sie ihm als Willkommensgeschenk zukommen zu lassen. Zu diesem Zweck suchte sie das gewagteste Kleid ihrer Garderobe heraus und zwĂ€ngte sich hinein. Es setzte ihren eher durchschnittlich bestĂŒckten Körper ideal in Szene. Belanor wĂŒrden gewiss die Augen herausfallen. Lezabell zog den Vorhang beiseite, setzte sich auf das Bett und wartete. Sie hatte den Pagen aufgetragen, ihrem Mann bei allem Nötigen zur Seite zu stehen und ihn danach umgehend zu ihr in die GemĂ€cher zu schicken. Es dauerte nicht lang und ihr Ehemann trat durch die TĂŒr ein. Die Bediensteten hatten ihm bereits all sein ReisegepĂ€ck und den Mantel abgenommen. Lezabell schlug die Beine ĂŒbereinander und streckte ihren Oberkörper. “Du bist zurĂŒckgekehrt, Liebster!”, begrĂŒĂŸte sie ihn. “Ich habe dich schrecklich vermisst”, fuhr sie in erotischem Ton fort und ließ sich langsam rĂŒckwĂ€rts auf das Bett sinken. “Warum kommst du nicht zu mir und wir feiern deine Heimkehr gebĂŒhrend?” Sie klopfte mehrmals mit der flachen Hand auf eine freie Stelle neben sich, wie man es sonst tat, wenn man ein Haustier zu sich locken wollte. Belanor ließ sich das nicht zweimal sagen. Er öffnete sein Hemd und entkleidete sich. Seinen muskulösen Oberkörper zierte eine gewaltige Narbe. Ein Andenken aus seiner Zeit als Krieger. Sauber und ordentlich legte er das KleidungsstĂŒck auf nahem Mobiliar ab, bevor er sich zu seiner Frau auf das Bett setzte. Er gab ihr einen kurzweiligen Kuss auf ihre Schulter und streifte den TrĂ€ger ihres Kleides von ihr herunter. Als nĂ€chstes kĂŒsste er Lezabels Hals, woraufhin sie ihren Kopf nach hinten Neigte und genießend seufzte. Belanor verfuhr mit dem verbleibenden TrĂ€ger des Kleides wie mit dem ersten und der fallende Stoff entblĂ¶ĂŸte Lezabel. Er packte seine Frau und schubste sie mit wenig Widerstand ihrerseits auf das Ehebett. Dann fummelte er an seinem GĂŒrtel herum - das verdammte Teil wollte auch einfach nicht nachgeben - und entledigte sich auch dem Beinkleid, nachdem er ihn endlich geöffnet hatte. Er begab sich auf das Bettpolster zu seinem Weib. Lezabel sah ihren Mann mit hungrigen Augen an. In letzter Zeit waren die Momente der Zweisamkeit selten. Belanor arbeitete oft und viel und ließ sich selten blicken, fast als suchte er nur nach Ausreden, um ihr fern zu bleiben. Das wollte sie einfach nicht akzeptieren! Das letzte Mal, dass sie miteinander die Nacht verbrachten, war mehrere Monate her. Kurz darauf hatten sie einen schrecklichen Streit. Seither vergrub sich Belanor in seinen Aufgaben. Seine Wiederkehr nach dieser Reise sah Lezabel als die ideale Möglichkeit, das Feuer der Leidenschaft in ihrer Beziehung neu zu entfachen. Als sich Belanor auf sie legte und den unteren Teil ihres Kleides nach oben schob, umschlang sie seinen mĂ€chtigen RĂŒcken mit ihren Armen und bereitete sich darauf vor, seine Liebe zu empfangen. Doch anstatt Sinnlichkeit zu erfahren, fĂŒhlte es sich an, als habe er seine Berufung verfehlt. Lezabel kam sich bald vor wie ein Brett, das von einem Handwerker mit einem mĂ€chtigen PrĂŒgel maltrĂ€tiert wurde. Wenn er zur Jagd ausritt, zeigte er mehr Elan dabei, die Beute mit Pfeilen zu penetrieren, als seine Frau mit seiner Manneskraft zu beglĂŒcken. Bei diesem lustlosen GehĂ€mmer fĂŒhlte sie sich wie ein Sonntagsschnitzel, das gerade weichgeklopft wurde. Belanor grunzte wie ein wildgewordener Keiler und als er es endlich hinter sich gebracht hatte, rollte er sich erschöpft zur Seite ab und schlief sofort ein. Unsicher schaute Lezabel zu dem Mann an ihrer Seite. Seine lieblose PflichterfĂŒllung ließ sie verzweifeln. Sie hatte gehofft, in dem sie mit ihm eine leidenschaftliche Zeit teilte, könnten sie wieder zueinander finden. Doch alles was sie davon hatte, war dieses widerliche GefĂŒhl benutzt worden zu sein. Als Belanor sich an ihr abrackerte, musste er seinen gesamten Frust ĂŒber die Verhandlungen in sie entladen haben. In ihrer EnttĂ€uschung schlief sie ein. Belanor schlug die Augen auf. Er war sich sicher, lang genug gewartet zu haben. Er sah zu seiner Frau und urteilte, dass sie fest schlafen musste. Vorsichtig entstieg er dem Ehebett. Er wollte es nicht riskieren, sie durch die ErschĂŒtterungen hastiger Bewegungen aufzuwecken. Splitterfasernackt schlich er durch das in dem roten Licht des unter dem Schwarzen Palastes befindlichen Lavasee getauchte Schlafgemach. So leise wie möglich nahm er seine Kleidung an sich und schlĂŒpfte hinein. Danach öffnete er die TĂŒr und stahl sich heimlich davon. Seine BemĂŒhungen waren allerdings vergebens. Lezabel hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt. Es musste ihm entfallen sein. VerbrĂ€chte er öfters die NĂ€chte mit ihr, wĂ€re es ihm gewiss gelĂ€ufiger. Wut stieg in der Prinzessin auf. 🌱 Auf dem Übungsplatz der Kaserne schlugen die eisernen Klingen der Kadettenschwerter aneinander. Mit verschrĂ€nkten Armen und skeptischem Blick beobachtete der Ausbilder die MĂŒhen seiner SchĂŒler. Er hatte sie die letzten Monate nach bestem Wissen und Gewissen trainiert, damit sie nicht gleich in der ersten Schlacht fielen, in die sie geschickt wurden. Bei den meisten schien die Ausbildung gefruchtet zu haben, doch in jeder Familie gab es ein schwarzes Schaf. Und die Soldatenschule war nicht viel mehr als eine große Familie. Der junge Kadett, ein Elf, der ein hoffnungsloser Fall zu seien schien, hörte auf den Namen Florean und konnte sich den Hieben seines Gegners nur mit MĂŒhe und Not erwehren. Mit Bedauern buchstĂ€blich quer ĂŒber sein Gesicht geschrieben, beobachtete der Ausbilder seine jĂ€mmerliche Körperhaltung und wie unbeholfen er das Schwert fĂŒhrte. Ein Jammer, dachte er. Der wird als erstes sterben. Als ob Folrean die Gedanken seines Meisters vernommen hĂ€tte, stolperte er ĂŒber seine eigenen FĂŒĂŸe und landete mit dem Gesicht im Dreck. Sein Gegner steckte sein Schwert weg und musste sich bald darauf die Seite halten, denn der Lachkrampf brannte im Zwergfell. “Bleib du mal ruhig liegen, du Trottel”, machte er sich lustig. Florean erwiderte nichts. “Kadett!”, ermahnte der Ausbilder. “Ich dulde es nicht, wenn ein Kamerad auf meinem Übungsplatz verspottet wird!” Er sah den jungen Mann zornig an. “Und so jemand will ein Soldat sein! Du scheinst nach dem Kampftraining noch Reserven zu haben. Die kannst du bei hundert LiegestĂŒtzen abbauen! Zack, zack!” Der Kadett biss die ZĂ€hne zusammen und salutierte. “Jawohl!” Er begab sich an den Rand des Platzes und begann sofort damit, den Befehl umzusetzen. Der Ausbilder trat an Florean heran und reichte ihm die Hand zum Aufstehen. Dieser nahm sie an. “Du hast nicht das Zeug zum Soldaten!”, sagte er ihm daraufhin ungeschönt. “Du wurdest nicht eingezogen, sondern hast dich freiwillig gemeldet. Wieso tust du dir etwas an, das dir so widerstrebt?” “Mein Vater war ebenfalls Soldat, Sir!”, antwortete Florean. “Er ist im Krieg gefallen, als ich noch klein war. Ich möchte ihm Ehre erweisen.” “Indem du ihm so schnell wie möglich folgst?” “Nein, Sir!” “Ich kann es nicht verantworten, dich an die Front zu schicken. Du wirst stattdessen der neunten Kohorte des elften Bataillon zugeteilt.” “A-Aber das ist doch die-” “Versorgungseinheit, ganz richtig!” Plötzlich ertönte eine Fanfare. Umgehend standen alle stramm in einer Reihe, ihnen voran der Ausbilder. Hoher Besuch kĂŒndigte sich an. “Seine Hoheit, Prinz Alaric”, verkĂŒndete ein bereits heißer geschriehener Ausrufer. Und tatsĂ€chlich: GehĂŒllt in eine Uniform, welche mit den Orden seiner bisherigen Erfolge dekoriert war, betrat der zweite Sohn des Kaisers den Übungsplatz. “Wie kann ich Euch dienen, Hoheit?”, fragte der Ausbilder. “Meiner Delegation sind ein paar MĂ€nner abhanden gekommen”, erklĂ€rte der Prinz. “Einer ist an der Grippe erkrankt, Einer zusammen mit einem DienstmĂ€dchen desertiert und ein weiterer wegen Aschelunge dienstuntauglich. Ich möchte mich nach geeignetem Ersatz umsehen.” “Eure Hoheit, diese MĂ€nner haben eben erst ihre AbschlussprĂŒfung absolviert. Gibt es fĂŒr Euer Anliegen nicht den offiziellen Dienstweg?” “Ich suche mir meine MĂ€nner gern selbst aus.” Gesagt, getan. Kritisch beĂ€ugte Alaric einen jungen Mann nach dem anderen. Florean wurde ganz flau im Magen. Der Prinz war gekommen, um neue MĂ€nner fĂŒr seine Inspektionsdelegation zu finden. Was sollte er machen, wenn seine Hoheit tatsĂ€chlich ihn erwĂ€hlen sollte? FĂŒr die Verantwortung direkt unter dem Kommando des Prinzen zu stehen, war er definitiv nicht bereit. Alaric hatte bereits zwei junge MĂ€nner gewĂ€hlt, als er vor Florian zum stehen kam. Etwas an dem Jungen weckte sein Interesse. “Junge, wer bist du?” “Florean”, antwortete der Kadett. “Warum bist du in der Armee? Wurdest du eingezogen?” “Nein, Sir! Ich meldete mich freiwillig, Sir!” “Warum?” “Um meinem verstorbenen Vater Ehre zu erweisen, Sir!” Bis jetzt hatte Alaric noch mit sich gehadert, doch als er die Überzeugung in den Augen Floreans sah, wusste er, dass er sein dritter Mann sein sollte. “Du stehst ab sofort unter meinem Kommando!”, beschloss der Prinz. Florean rutschte unvermittelt das Herz in die Hose. Alaric wankte in Richtung seiner GemĂ€cher. In der Öffentlichkeit mochte er sich noch beherrscht haben, doch nun wurde das HĂ€mmern in seinem Kopf immer intensiver. Mit einer Hand am Gesicht, tastete er sich mit der anderen an der Wand entlang. Er musste gleich um die Ecke biegen. Ihm war klar, dass vor seinen GemĂ€chern stets Wachen postiert waren. Noch einmal riss er sich zusammen, grĂŒĂŸte die WĂ€chter und verschwand eiligst hinter der TĂŒr. Dahinter fiel seine Maske und seine Hand fand ihren Weg zurĂŒck an die Stirn. Er wusste nicht mehr, wo unten und wo oben war. Vielleicht hĂ€tte ich doch auf Illithor hören sollen, gestand er sich ein. Vorsichtig begab er sich zu der Kommode mit dem Spiegel, welche an einer Wand neben seinem BĂŒcherregal stand. Er stĂŒtzte sich ab und verschnaufte einen Moment. Dann setzte sich der Prinz auf den Hocker vor der Kommode. Er tauchte beide HĂ€nde in die Wasserschale vor dem Spiegel ein und beugte sich nach vorn, um seine Visage zu waschen. Er hoffte durch die kalte FlĂŒssigkeit die Schmerzen etwas lindern zu können. TatsĂ€chlich verschaffte ihm die Gesichtsreinigung ein wenig Linderung, obgleich er sich das vielleicht nur einbildete. Nachdem er glaubte ausreichend benetzt zu sein, setzte er sich wieder auf und fuhr sich durch die angefeuchteten Haare, nur um anschließend die HĂ€nde langsam ĂŒber sein Gesicht nach unten zu ziehen und dabei die Bindehaut seiner Augen freizulegen. Diese wirkte ausgesprochen bleich - sogar fĂŒr die VerhĂ€ltnisse eines Schwarzelfen. Er schlug die Augenlider nieder. In dem Moment, als er sie wieder öffnete, erschien eine Gestalt im Spiegel. Ein lautstarker Schrei hallte durch seinen Kopf. “Hilf mir!”, forderte ihn jemand auf. Sofort wandte er sich nach hinten um. “Wer ist da?!”, rief er. Doch er konnte niemanden entdecken. Verfalle ich dem Wahnsinn?, fragte er sich in Gedanken selbst. Sofort stĂŒrmten die beiden WĂ€chter - Lanzen voran - durch die TĂŒr hinein, um den vermeintlichen Eindringling zu stellen. “Mein Prinz, was ist vorgefallen?”, fragte der grĂ¶ĂŸere der beiden MĂ€nner, als sie niemanden entdecken konnten. Sie hatten ihren Herren von außen rufen hören, und eilten ihm zur Hilfe. “Ich dachte, ich hĂ€tte jemanden gesehen”, sprach Alaric verwirrt. “Geht es Euch gut, Hoheit?”, fragte der andere Mann. “Ja, sorgt Euch nicht!” “Aber, Durchlaucht-” “Ich sagte, mir geht es gut!”, fuhr Alaric den WĂ€chter an, als stĂŒnde er auf seinem Speiseplan, woraufhin dieser zurĂŒck zuckte. “Bitte lasst mich allein!” Er wandte sich wieder seinem Spiegelbild zu und beachtete gar nicht mehr, wie die beiden MĂ€nner seine GemĂ€cher verließen. Wer war das?, verzweifelte er. Alaric versuchte sich mit aller Gewalt zu erinnern, doch alles, was er diesem schwarzen Flecken in seiner Reminiszenz entlocken konnte, waren die goldblonden Haare der Schattengestalt. Allein der Versuch der Konzentration verstĂ€rkte seine Schmerzen. Er konnte sich kein weiteres Zeichen von SchwĂ€che erlauben! Morgen schon wĂŒrden er und seine Delegation zur Grenze nach Frys aufbrechen. In dieser kalten Region konnte jede UnzulĂ€nglichkeit den Tod bedeuten. Im Land der Barbaren starben jene mit Makel zuerst. Alaric begab sich zu seinem Bett. Er war einfach nur ĂŒberanstrengt. Das war nichts, was eine MĂŒtze voll Schlaf nicht beheben konnte. Der Prinz lief sich vollstĂ€ndig bekleidet in die Federn fallen und schloss die Augen. Kaum das man ihn in die Einheit aufgenommen hatte, bekam Florean schon die ungeliebten Aufgaben zugewiesen. Man trug ihm auf, Proviant und GepĂ€ck zu sichern und fĂŒr die Abreise vorzubereiten. Das eigene GepĂ€ck trug der wackere Soldat des Imperiums stets selbst. Dazu baute man sich aus zwei Ästen von um die fĂŒnf Zentimeter stĂ€rke ein so genanntes Tragekreuz, an dem die GegenstĂ€nde angebracht wurden. Ein solches Hilfsmittel war in der Regel halb so groß wie sein TrĂ€ger und durch die einfache und effiziente Bauweise preiswerter als ein Rucksack. Wenn es kaputt ging, so fand man im Feld fast immer geeignete Äste, um das Tragekreuz zu ersetzen. Jeder Soldat war jedoch fĂŒr sein Tragekreuz selbst verantwortlich. Florean musste sich stattdessen um die BestĂŒckung der Pferdewagen kĂŒmmern. Die Delegation des Prinzen wĂŒrde gemeinsam mit einer Versorgungseinheit die Reise zum StĂ€hlernen Wall antreten. Wenigstens musste er nicht die StĂ€lle ausmisten, wie die beiden anderen armen Teufel, die heute neben ihm aufgenommen wurden. Immerhin war er nicht allein
 Zwei Mitglieder der Versorgungseinheit waren ebenfalls hier und gingen ihm zur Hand. Sie hatten sich einander flĂŒchtig vorgestellt, so wusste er, dass er eine Mo hieß und der andere Toma genannt wurde. Mo war ein stattlich gebauter junger Mann mit kurzem Haar und vielen Muskeln. Dagegen war Toma eher klein und nicht ganz so gut in Form. Als Florean die Kisten auf dem HĂ€nger festgegurtet hatte, sah er sich zu seinen Kameraden um. Beide waren mit ihrem Wagen schon lange fertig. “Willst du noch weiter trödeln?”, kicherte Mo. “Ich dachte schon, das dauert die ganze Nacht”, spottete Toma. “Wenn ihr schon fertig wart, warum habt ihr mir nicht geholfen?”, fragte Florean erregt. “Dann wĂ€re es bestimmt schneller gegangen!” “Das war einfach zu unterhaltsam”, stichelte Toma. “Schönen Dank!” “Siehst du, wie nett wir sind?”, lachte Mo und versetzte dem jungen Elf einen freundschaftlichen Seitenhieb. “Meine Kehle ist so schrecklich trocken”, meinte er plötzlich. “Warum gehen wir nicht alle in die Taverne einen heben?” “Weil wir morgen auf Mission gehen?!”, erwiderte Florean. “Was bist du denn fĂŒr eine Spaßbremse?”, nörgelte Toma. “Uns steht ein elender Fußmarsch bevor. Wenn nicht im Suff, wie soll man das sonst ertragen?” “Du vertrĂ€gst wohl nichts?”, provozierte Mo. “Komm!”, Er packte seinen Kameraden am Arm. “Du wirst jetzt abgefĂŒllt! Keine Widerrede!” Mo begann an Florean zu zerren. “Das ist ein Befehl eines DienstĂ€lteren!” Der arme junge Mann hatte praktisch keine Chance, dem BesĂ€ufnis zu entkommen. Sie fanden sich in dem Lokal ein, von dem Mo und Toma zuvor gesprochen hatten. Aus Mangel an Trinkerfahrung stieg Florean das GebrĂ€u schnell zu Kopf. Niemand hatte ihm gesagt, dass Bier kein Wasser war! UnverschĂ€mtheit! “Ach so war das?”, fiel ihm Mo ins Wort, als Florean den beiden seine ungekĂŒrzte Lebensgeschichte nĂ€her brachte. “Du willst deinem Vater Ehre erweisen. Darum bist du dem MilitĂ€r freiwillig beigetreten! Dein alter Herr wĂ€re bestimmt stolz!” Endlich stoppte Florean die Geschichten aus der Vergangenheit. “Wieso seid ihr denn im MilitĂ€r?”, fragte er seine Saufkumpanen. “Also ich hatte keine andere Wahl”, gestand Mo. “Ich komme aus armen VerhĂ€ltnissen. Ich habe schon frĂŒh gestohlen. Irgendwann wurde ich erwischt. Als ich vor der Wahl stand, habe ich den Dienst in der Armee dem Knast vorgezogen.” “Falls du eine rĂŒhrselige Geschichte erwartest, so muss ich dich enttĂ€uschen”, eröffnete Toma. “Ich war noch nie besonders fleißig und war andauernd bei den Huren. Mein Vater wurde dem ĂŒberdrĂŒssig und hat mich rausgeworfen. Ich hatte nie etwas gelernt, also blieb nur Soldat zu werden.” “Und das Schlimmste an der Geschichte ist, du bist immer noch faul!”, Ă€rgerte Mo. “Wenigstens bin ich nicht zu dumm zum klauen!” “Ach ja?! Darf ich dich an dein Taschenmesser erinnern?” “Das ist doch schon seit Ewigk-! Du Drecksack!” “Genau, ich hab es!” “Gib es her, du aufgeblasener Gockel!” “Erst wenn du zugibst, dass ich ein guter Dieb bin!” “Gleich setzt es was!” Florean wusste nicht, ob er ihren Streit wirklich lustig fand, oder das nur die Auswirkung des ĂŒbermĂ€ĂŸigen Genuss des Hopfen-Smoothie war. Jedenfalls musste er laut lachen. Das tat gut! Er hatte bestimmt schon seit dem Tod seines geliebten Vaters nicht mehr so herzlich gelacht. Damals hatte ihn das schwer getroffen. Zwar gab es da noch seine Mutter, aber ihr fĂŒhlte er sich nie so verbunden. Er war das Parabelbeispiel eines Pappa-Jungen. Sein plötzliches lospusten beruhigte die hitzigen GemĂŒter, welche schon dazu ĂŒbergegangen waren, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Die anderen beiden ließen voneinander ab und stimmten beim GelĂ€chter mit ein. Der darauffolgende Morgen brachte Florean nichts als Qualen ein. Sein Kopf schmerzte, denn sein Hirn war noch immer in Gerstensaft mariniert, wie ein HĂŒftsteak auf einem Grill. Er hatte es kaum hinbekommen, sein Tragekreuz zu bauen. Der anstrengende Fußmarsch hatte noch nicht einmal begonnen. Das Tagesziel war vor Einbruch der Nacht - selbst wenn diese inmitten der Aschlande nur schwer am Horizont wahrnehmbar war - mindestens dreißig Kilometer zu marschieren. Sein RĂŒckrad berstete jetzt schon fast unter den zwanzig Kilo seines GepĂ€cks. Aber all das Jammern brachte ihm auch nichts. Er biss die ZĂ€hne zusammen. Die MĂ€nner des Verbandes, der kleinsten militĂ€rischen Einheit, marschierten in Reihe und Glied ĂŒber die Pflasterstraßen des Kaiserreichs. Dabei gingen immer fĂŒnf nebeneinander und nutzten so die volle breite des Transportwegs fĂŒr sich aus. Die Spitze der Marschformation bildete der fĂŒnf mal zwölf große Block der schweren Infanterie, gefolgt von den Hilfstruppen und den drei Wagen voller hochwertiger AusrĂŒstung fĂŒr die Front. Dazwischen marschierten Prinz Alaric und seine LeibwĂ€chter. GemĂŒtlich in einer Kutsche zu sitzen, wĂ€hrend die Soldaten laufen mussten, kam fĂŒr ihn nicht in Frage. Er wollte keine Sonderbehandlung! Florean schaute nach vorn zu seinen neuen Bekannten. Wenigstens strafte Mo und Toma der Alkoholgenuss genauso wie ihn. Die Stunden vergingen und das Schuhwerk begann zu drĂŒcken. Es gab keine ZwischenfĂ€lle und der Verband erreichte sein Tagesziel. Nein, ĂŒberbot es sogar ein wenig. In zwölf Stunden hatten sie dreiunddreißig Kilometer zurĂŒckgelegt. Florean war sich sicher, dass seine FĂŒĂŸe bereits jetzt schon die Scheidung einreichen wollten. Und der Marsch an die Grenze wĂŒrde noch viele anstrengende Tage bedeuten. Sehr viele. Zwei Wochen spĂ€ter. Das mĂ€chtige metallene Bollwerk aus dem dunklen Zeitalter kam endlich in Sicht. Ein ewig langer Fußmarsch, unterbrochen von kurzen Schlafpausen, welche nicht einmal ansatzweise zur Regeneration genĂŒgten, kam endlich zu einem Ende. Auf seiner Reise mit dem Verband der Versorgungseinheit sah Florean den Übergang von der leblosen AschewĂŒste des Kernlandes, ĂŒber die fruchtbare Graslande der Provinzen bis hin zu den Schneebedeckten Gipfeln an der Grenze. Da thronte er nun vor ihm. Der StĂ€hlerne Wall. Auf einer LĂ€nge von etwas weniger als einem Kilometer, blockierte er den einzigen Pass durch ein ansonsten unĂŒberwindliches Gebirge. Zumindest den einzigen, welcher fĂŒr Truppenbewegungen geeignet war. Die wenigen verschlungenen Bergpfade, welche ebenfalls nach Frys fĂŒhrten, waren dafĂŒr viel zu schmal. Außerdem bedrohten Schneebretter das Leben derjenigen, welche ahnungslos durch die Winterlandschaft stiefelten. Der Wall hatte eine Höhe von fĂŒnfzig Metern und war außerdem breit genug, um mit schweren Kanonen bestĂŒckt zu werden. Die Vorfahren sollen ihn einst gebaut haben, lange vor der ersten Ära. Sein ursprĂŒnglicher Zweck ist bis zum heutigen Tage genauso rĂ€tselhaft, wie seine Konstruktionsweise. Obwohl er scheinbar nur aus schwarzem Stahl bestand, verzog sich der Wall in der EiseskĂ€lte kein StĂŒck und hielt seit Jahrtausenden allem stand, was gegen ihn zu Felde gefĂŒhrt wurde. Außerdem ließ sich der Wall augenscheinlich öffnen, was ein Spalt genau in der Mitte suggerierte, doch der Mechanismus dahinter war unbekannt. Florean bestaunte die Verteidigungsanlage und war sprachlos. Ein Schreck fuhr durch seinen Körper als Toma ihm unangekĂŒndigt mit der flachen Hand auf die Schulter klopfte. Er zuckte zusammen und zog den Nacken ein, wĂ€hrend er sich von der Mauer abwandte. Der dickliche Soldat musste lachen. “Schreckhaft bist du”, kommentierte er. “Lass das!”, meinte der Elf. “Du hast mich erschreckt!” “Selber schuld, wenn du andauernd die Mauer angaffst!” Florean betrachtete abermals das stĂ€hlerne Bollwerk. “Aber du musst zugeben, dass sie schon beeindruckend ist.” Wer direkt vor ihm stand, kam sich so klein und unbedeutend vor, wie eine Ameise. “Der Wall ist ein einziges Mysterium”, erklĂ€rte Mo. “Zwar benutzt ihn das Imperium fĂŒr seine Zwecke, aber sie wissen auch nicht, wofĂŒr er eigentlich gebaut wurde. Nur dass er viel aushĂ€lt und die Barbaren sich die ZĂ€hne an ihm ausbeißen.” “Also mehr muss ich nicht wissen”, flabste Toma. “Soldaten! Aufstellung!”, brĂŒllte der kommandierende Offizier des Verbandes. Beinahe sichtbar stellten sich die Nackenhaare der drei jungen MĂ€nner auf und sie eilten sich, dem Befehl Folge zu leisten und sich in Formation zu begeben. Alaric bezog seine vorĂŒbergehenden GemĂ€cher in der Festungsanlage, welche den Wall an einer Flanke ergĂ€nzte. Auf der anderen Seite hatte sie einen Zwilling, den wĂŒrde er auch noch inspizieren, sobald er mit dieser fertig war. Doch zuallererst wollte er ankommen. Der Raum war nach seinen WĂŒnschen gestaltet worden. Ein Bett, ein Schrank, ein Wandspiegel und ein Arbeitstisch mit Stuhl und einer Tischkerze. Eine rein funktionale, spartanische Ausstattung. Mehr brauchte er jedoch nicht, um seinen Aufgaben nachgehen zu können. Wenig begeistert schaute er indes dabei zu, wie Soldaten sein GepĂ€ck herein brachten. Eigentlich hatte er vor, sich selbst darum zu kĂŒmmern, doch der Kommandant der Festung bestand darauf, dass ein Mann seines Standes sich keinesfalls mit solchen niederen TĂ€tigkeiten befassen sollte. Wie er es hasste, hochwohlgeboren zu sein! Viel lieber wĂ€re er ein einfacher Soldat, welcher auf dem Schlachtfeld seine Ehre und LoyalitĂ€t bewies. Stattdessen war er der zweite Prinz von Aschfeuer, der Hauptverantwortliche fĂŒr die Armee und deren Zustand, der gefĂŒrchtete Soul Eater und Meister des Anima. Und seit seiner Niederlage gegen Prinzessin Emelaigne auch mit einem Bein im Totenreich - eine Tatsache, welche er dem Kaiser noch immer nicht gebeichtet hatte. Was seine Schwester in dieser Nacht mit ihm anstellte, verschaffte ihm etwas mehr Zeit auf Erden, doch wenn er seinem Instinkt glauben schenken durfte, war dies keine Lösung fĂŒr die Ewigkeit. Die Vorhölle ließ sich nicht gern verarschen und wĂŒrde jene Seele, welche seinen Platz eingenommen hatte, nicht auf Dauer akzeptieren. Die Symptome dafĂŒr zeigten sich ihm bereits. Wie lange blieb ihm wohl noch? Alaric wusste, dass ihn diese Gedanken nirgendwo hinbringen wĂŒrden. Er versuchte, sich von ihnen zu befreien, immerhin hatte er Aufgaben zu erfĂŒllen. Nachdem die Soldaten sein Zimmer verlassen hatten, trat er an eines seiner GepĂ€ckstĂŒcke heran und holte seine Unterlagen, zusammen mit einem TintenfĂ€sschen und einem Griffel, heraus. Er breitete sie auf dem Tisch aus und platzierte die Schreibwerkzeuge. Doch bevor er seinen Bericht schreiben konnte, musste er die Anlage zuerst inspizieren. Er wĂŒrde jeweils den Verantwortlichen jedes Bereiches ausquetschen und sich das Tagewerk demonstrieren lassen. Aber nicht mehr heute. Er war reif fĂŒr das Bett! 🌱 Der Wind wehte grausam den Schnee in die Gesichter und die EiseskĂ€lte in die Glieder der marschierenden Horde. Tief aus der eisigen Einöde marschierte ein grimmiges Heer von wĂŒtenden Kriegern. Gewaltige Gestalten wandelten in ihrer Mitte. Sie trugen schwere GerĂ€te und Waffen bei sich. Im Vergleich zu diesen Giganten wirkten die Menschen neben ihnen wie Spielzeuge. Sie waren geeint durch ihre von Hass erfĂŒllten Herzen. Der Zorn loderte in jedem einzelnen von ihnen. Das Verlangen, es dem ewigen Widersacher endlich heimzuzahlen, trieb die Menschen und die Kreaturen an, den unerbittlichen Schneesturm zu ĂŒberwinden und die feindlichen Festungsanlagen zu erreichen. Niemals vergaßen sie, wie sie einst vom Imperium betrogen wurden. Sie öffneten den MĂ€nnern mit den spitzen Ohren TĂŒr und Tor, ließen sie durch ihre StĂ€dte wandeln und beschenkten sie reichlich. Zum Dank nahmen sie ihnen ihre Söhne und Töchter im Tausch gegen wertlose Waren. Sie brachten ihnen das “bĂŒrgerliche” Leben nahe. Diese Politik der Zwangszivilisierung lag nun Jahrhunderte zurĂŒck, doch der Hass auf die Schwarzelfen und die ErzĂ€hlungen vom Unrecht der Vergangenheit haben in den Liedern der Barden die Zeit ĂŒberdauert. Schon oft versuchten sie, gegen das Imperium in die Schlacht zu ziehen. Stets waren sie am StĂ€hlernen Wall gescheitert. Doch dieses Mal hatte ein mĂ€chtiger und gleichermaßen weiser Kriegsherr Clans vereint und Packte mit den furchterregendsten Kreaturen des ewigen Eises geschlossen, und so ein mĂ€chtiges Heer aus dem Boden gestampft. Vielleicht das mĂ€chtigste, das je gegen das Bollwerk ausgezogen ist, hinter dem sich die feigen Elfen versteckten. Der Tag der Rache war gekommen! Die Faust des Nordens wĂŒrde mit all ihrer StĂ€rke den Feind erbarmungslos zermalmen. Und wenn ihre Mauer unzerstörbar war, hieß das nicht, dass man sie nicht ĂŒberwinden konnte. Schmerz und Leid erwarteten die ehrlosen Spitzohren. Die Kanonen reihten sich auf der Krone der Mauer aneinander. Das weiße Licht der Sonne wurde von den Rohren der schweren Waffen reflektiert. Der Wachposten beobachtete etwas in weiter Ferne. Er hatte gerade nichts besseres zu tun, also schenkte er den eisigen Winden seine Aufmerksamkeit. Ihn faszinierte das Wetter schon immer. Die Unberechenbarkeit, ebenso wie die Schönheit. Er nutzte das Fernrohr, um das Naturschauspiel noch besser beobachten zu können. Die Flocken tanzten in den mĂ€chtigen Böen und verliehen der Wolkenformation etwas Lebendiges. In den oberen Schichten der Wolken rieben sich die Eiskristalle aneinander, was eine elektrostatische Aufladung zur Folge hatte. Gelegentlich zuckten Blitze durch den Himmel. Er erspĂ€hte etwas seltsames. Etwas bewegte sich innerhalb des Sturmes. Als der SpĂ€her genauer hinsah, erkannte er die Konturen eines menschenĂ€hnlichen Wesens. Doch es war viel zu groß. Selbst mit dem Fernrohr sollte er aus dieser Entfernung nicht in der Lage seien, Menschliche gestalten so deutlich auszumachen. Sie musste riesig sein! Aber selbst wenn, wer, der noch ganz bei Trost war, marschierte freiwillig durch dieses lebensfeindliche Wetter? Er wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte und ließ es nicht mehr aus den Augen. Dann offenbarten die Schneeverwehungen weitere Details und ihm wurde klar, dass er schleunigst den Alarm ausrufen musste. Wie war er nur in diese Lage geraten? Florean saß zusammen mit zwei gruseligen Gestalten an einem Tisch, vor ihm ein Stapel Spielkarten. Zuvor waren er, Mo und Toma mit diesen MĂ€nnern aneinandergeraten. Sie hatten sich wegen einer Nichtigkeit gestritten und ein Wort fĂŒhrte zum anderen. Bevor die Situation komplett ausartete, schlug einer der MĂ€nner vor, die Streitigkeiten bei einem Kartenspiel aus der Welt zu schaffen. Florean stimmte zu, obwohl er ĂŒberhaupt keine Ahnung hatte, wie man spielt. Siegessicher grinsten die anderen Beiden. Sie hatten ausgemacht, dass wenn Florean verliert, er und seine beiden Freunde fĂŒr den Rest ihrer Stationierung die Quartiere der Soldaten aufrĂ€umen wĂŒrden. Sollte er gewinnen, wĂŒrden sie im Gegenzug alles machen, was er von ihnen verlangt. Es klang auf den ersten Blick nach einer guten Idee... Sich jetzt erst dem Ausmaß seiner NaivitĂ€t bewusst werdend, starrte Florean völlig ahnungslos auf das Kartendeck in der Mitte des Tisches. Einer der Soldaten lachte. “Na, hast du dich schon mit dem Besen vertraut gemacht?", spottete er. “Der wird bald dein bester Freund.” Der Elf zuckte zusammen. “Nicht verzagen, Toma fragen!”, ermutigte der dicke Mann seinen Freund. “Ich kenne die Regeln, keine Angst.” “Hey, das zĂ€hlt nicht!”, beschwerte sich der zweite Soldat. “Jemanden in einem Spiel ĂŒber den Tisch zu ziehen, das er noch nie gespielt hat, aber auch nicht!”, ermahnte Mo. “Von mir aus! Dann erklĂ€re es ihm. Wir gewinnen sowieso!” Toma nahm neben Florean am Tisch platz und ergriff den Kartenstapel. “Bei diesem Spiel geht es darum, möglichst viele Punkte zu sammeln”, begann er zu erklĂ€ren. “DafĂŒr musst du deine Handkarten klug ausspielen.” Er begann die einzelnen Karten sortiert nach ihrer Farbe ĂŒbereinander hinzulegen. “Man spielt mit zweiunddreißig Karten. Es gibt vier Farben: Kreuz, Pik, Herz und Karo. Die einzelnen Karten haben zudem einen Wert. Siehe da, es gibt sieben, acht, neun und zehn. Verstanden. Außerdem gibt es Bildkarten, welche alle einen höheren Wert haben. Beginnend mit dem Buben, folgt dann Dame, König und das Ass.” Er legte die Karten wieder zusammen und mischte das Deck, bevor er es wieder in der Mitte des Tisches platzierte. “Die jeweiligen Spieler bezeichnet man als Vor-, Mittel- und Hinterhand, je nachdem, in welcher Reihenfolge Karten gegeben werden. Es werden immer sechs Karten ausgegeben. Vorhand spielt dann eine beliebige Karte aus. Die anderen Spieler geben dann jeweils eine Karte in der gleichen Farbe hinzu. Der Spieler, welcher den höchsten Wert besitzt, erhĂ€lt den Stich und darf alle Karten behalten. Wer die meisten Karten in seinen Besitz bringt, hat auch die meisten Punkte.” Toma lĂ€chelte zu Florean herĂŒber. “Alles soweit verstanden?” Florean nickte zaghaft. “Gut! Wir zĂ€hlen auf dich!” “Wehe, ich muss ab morgen wegen dir mehr als mein eigenes Quartier fegen!”, drohte Mo neckisch. Mut machte das Florean ganz sicher nicht. “Ich will mal nicht so sein”, meinte einer der Gegner. “Du darfst als erstes Karten geben. Also los, fang an!” Vorsichtig begann der junge Elf abwechselnd jedem Spieler eine Karte zu geben, beginnend bei sich, bis alle sechs davon auf der Hand hielten. Er sah auf sein Blatt. Er hatte Pik Acht, Karo Zehn, Karo Neun, Herz Bube, Kreuz Dame und Kreuz König. Gar nicht mal so schlecht, dachte er. Doch er behielt sein Pokerface. “Los, spiele eine Karte, Bengel!”, forderte einer der Ă€lteren Soldaten. Zitternd bewegte sich Floreans Hand ĂŒber sein Blatt. Welche Karte sollte er wĂ€hlen? Zwar bescherte ihm das GlĂŒck hohe Karten, doch war es genauso gut möglich, dass seine Gegner ihn ĂŒberbieten wĂŒrden. Letztlich entschloss er sich, in die Vollen zu gehen und ergriff seine höchste Karte. Doch gerade als er sie ansagen wollte, leutete urplötzlich die Alarmglocke. Alaric war gerade dabei, das Munitionslager in Augenschein zu nehmen, die Ausstattung zu prĂŒfen und sich Notizen darĂŒber anzufertigen, als es auf einmal hektisch in der Festung wurde. Etwas musste vorgefallen sein! Vermutlich versuchte erneut ein Heer aus dem Norden den StĂ€hlernen Wall zu ĂŒberwinden. Ein aussichtsloses Unterfangen! In hunderten Jahren Krieg war es dem Feind aus dem ewigen Eis nicht ein einziges Mal gelungen. Allerdings bot sich Alaric nun die einmalige Chance, die Einrichtung wĂ€hrend eines realen Angriffs zu erleben. Er beschloss, die Effizienz der MĂ€nner wĂ€hrend dieses Kampfeinsatzes genau anzusehen. Wenn es nötig wĂ€re, wollte er sich dem Feind selbst annehmen. Angesichts der Kunde eines gewaltigen Heeres aus den eisigen Weiten Frys’ wurden alle verfĂŒgbaren MĂ€nner mobilisiert. Die Versorgungseinheit sollte den Nachschub an Munition und Pulver fĂŒr die großen Kanonen auf der Mauerkrone sicherstellen, wĂ€hrend die Besatzung die schweren Waffen operieren und gegen die Feinde kĂ€mpfen sollte. Die Delegation des Prinzen half ebenfalls. Zwar war es unmöglich, dass ungewaschene Barbaren dieses Wunderwerk der Vorfahren niederreißen konnten, doch man wollte ihnen auch nicht die Möglichkeit geben, es zu versuchen. Auch Florean wurde zum Dienst eingeteilt. Er sollte die Versorgungseinheit unterstĂŒtzen. Seine Aufgabe war es, zusammen mit weiteren Kameraden, die Munition dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wurde. Sie wurde mittels FlaschenzĂŒgen die fĂŒnfzig Meter hinauf auf den Wall gehievt und dann abgeholt. Die massiven eisernen Kugeln waren so schwer, dass sie in einer Schubkarre bewegt werden mussten. WĂ€hrend den Vorbereitungen fĂŒr den Abschuss der ersten Salve hatte keiner Zeit, sich wegen des Aufgebot der Feinde zu Ă€ngstigen. Auf der anderen Seite des Walls brachte sich der Feind in Stellung. Anders als die wohl geformten Formationen des Kaiserreich, standen diese MĂ€nner in chaotisch zusammen gewĂŒrfelten Horden beisammen. In vorderster Front befanden sich die BogenschĂŒtzen. Die aus verschiedenen robusten Hölzern des Nordens gefertigten Langbögen waren in der Lage, selbst auf einer Distanz von zweihundert Metern ihr Ziel nicht nur zu treffen, sondern auch noch zu durchbohren, wenn es keine schwere RĂŒstung trug. Dahinter lauerten unzĂ€hlige Berserker auf ihre Chance, die Feinde der NordmĂ€nner mit ihren ĂŒbergroßen Äxten in kleinste StĂŒckchen zu zerhacken. Es waren wĂŒtende, kampfeslĂŒsterne MĂ€nner mit der Kraft eines BĂ€ren. Unter ihnen gab es auch einige Frauen, welche vielleicht etwas kleiner aber nicht weniger bedrohlich wirkten. Selbst die Frauen des Nordens ĂŒberragten den durchschnittliche Mann des Kernlandes um mindestens einen halben Kopf. Zwischen den beĂ€ngstigenden AxtkĂ€mpfern zogen einige Barbaren riesige, auf Schlitten angebrachte Ballisten an dicken Tauen durch den Schnee, deren Aufgabe es sein sollte, die Kanonen auf der Mauer auszuschalten. Sie waren zwar Barbaren, jedoch keinesfalls dumm, wie es das Kaiserreich propagierte. Der wahre Grund fĂŒr unfreiwillig befeuchtete imperiale Beinkleider waren keine Menschen, sondern die gigantischen Monster. Eisriesen vom Nordpol denen man nachsagte, dass sie nicht aus Fleisch, sondern aus Schnee bestĂŒnden. Einige von ihnen erreichten eine GrĂ¶ĂŸe von zwanzig Metern. Das genĂŒgte nicht den gewaltigen Wall von fĂŒnfzig Metern zu ĂŒberragen, Eindruck konnten sie dennoch schinden. Sie trugen zudem gewaltige dornenbewehrte Keulen mit sich, die sie nur allzu gern einsetzten, menschliche Behausungen zu zermalmen. Doch sie hatten mit den NordmĂ€nnern ihren Frieden gemacht, da auch sie auf Vergeltung gegen das Reich der Schwarzelfen aus waren. Sie waren vielleicht nicht so intelligent wie die Menschen, doch das Konzept eines BĂŒndnisses verstanden sie. Die Barbaren wussten ihre Schlagkraft zu schĂ€tzen. Neben ihren Keulen trugen einige Eisriesen Leitern bei sich, deren Sprossen und Stangen aus ganzen BaumstĂ€mmen gemacht waren. Mit ihnen wollten sie ĂŒberwinden, was als unĂŒberwindbar galt. Die Schwarzelfen sahen sich den Aufmarsch des Feindes nicht lĂ€nger untĂ€tig mit an. “Richtet die Kanonen aus!”, befahl der Kommandant, welcher persönlich die Mauerkrone erklommen hatte, um seine Befehle in die RĂ€nge seiner Untergebenen zu blasen. GeschĂŒtz um GeschĂŒtz wurde in Position gebracht, als die Schreier seine Order die einen Kilometer lange Mauer weiter trugen. “Feuer ohne Befehl!”, ergĂ€nzte der Kommandant und glĂŒhende Geschosse verließen die LĂ€ufe der Kanonen. Die Kugeln schlugen in dem verschneiten Boden ein und wirbelten viel Material auf. Die mutigen Krieger Frys’ stĂŒrmten ohne zu zögern durch den Beschuss. Einige Kugeln trafen ihr Ziel und rissen einige Barbaren in StĂŒcke. Andere wurden von der Druckwelle vom Zentrum des Einschlags weggeschleudert. Die Barbaren wussten allerdings, dass sie nur nah an die Mauer heran kommen mussten, und sie befĂ€nden sich im Schutz des toten Winkels. Die Gestelle der Kanonen konnten kaum weit genug ĂŒber den Rand ausgerichtet werden. Ab einer Entfernung von etwa zweihundert Metern waren die Angreifer vor den tödlichen Geschossen in Sicherheit. Allerdings nahmen sie dann die gegnerischen BogenschĂŒtzen ins Visier. Unter dem Pfeilhagel der elfischen Soldaten, richteten die Barbaren jene Ballisten auf die Kanonen aus, welche den toten Winkel unversehrt erreichten. Einer der MĂ€nner wurde von einem Pfeil genau zwischen den Augen erwischt und brach tot zusammen. Sofort nahm ein anderer Barbar seinen Platz ein. Florean war derweil damit beschĂ€ftigt, eine Schubkarre mit Munition zu bewegen. “Erschießt du einen, kommen drei neue nach!”, hörte er einen der SchĂŒtzen klagen, wĂ€hrend dieser den Bogen erneut spannte und einen Pfeil anlegte. Die Antwort des zweiten verstand Florean nicht mehr, da er einfach immer weiter ging, bis er sein Ziel erreichte. Er lieferte seine Fracht ab und wollte eben beim Ausladen helfen, als sein Blick auf Toma viel. Dieser half gerade nicht weit von ihm dabei, eine Kugel in eine Kanone zu hieven. Er konnte sie nicht allein anheben und benötigte die Hilfe eines zweiten Mannes. Genau in diesem Moment feuerte eine der Ballisten ihren tödlichen Spieß ab. Das Geschoss verfehlte die Kanone haarscharf, traf jedoch Toma genau in der Körpermitte, durchbohrte ihn und riss ihn mit sich ĂŒber die Kante der Mauer hinweg zurĂŒck ĂŒber die Grenze auf imperialen Boden. Florean konnte nicht begreifen, was er da gerade gesehen hatte. “Hey, Soldat!”, schrie ihn ein gestresster Kanonier an, als er wie versteinert an die Stelle starrte, wo zuvor noch sein Freund stand. “Höre auf zu pennen!” “Er ist tot!”, entgegnete er. “Na und? Wir sind Soldaten und als Soldat muss man mit dem Tod rechnen!” “Aber er war mein Freund!” Auf diese Aussage hin packte ihn sein GegenĂŒber und zerrte ihn ĂŒber den Rand des Walls. “Reiß dich zusammen, oder sollen die da unten uns alle abschlachten?! Willst du das?!!” Dann zog er ihn wieder zurĂŒck und ließ von ihm ab. Florean wurde schmerzlichst bewusst, dass das Leben des Einzelnen im Krieg rein gar nichts bedeutete und er funktionieren musste, wollte er eine Chance haben zu ĂŒberleben. Wenn er seine Aufgabe nicht richtig erfĂŒllte, wĂŒrden noch viel mehr den Tod finden. Er schluckte seinen Kummer herunter und nahm seine Arbeit wieder auf. Derweil ertönte ein Horn aus den hinteren Reihen der Angreifer. Ein Signal, auf das die Eisriesen nur gewartet hatten. Endlich konnten sie sich in die Schlacht stĂŒrzen. Bisher hielt sie der Feind in der Hinterhand. Ihre riesigen Beine trugen sie in Windeseile an die Mauer heran. Zu schnell fĂŒr die Kanoniere, um nachzuladen. Die Riesen legten ihre massiven Leitern an dem stĂ€hlernen Bollwerk des verhassten Feindes an und erklommen den Wall. Oben angekommen erhoben sie ihre mĂ€chtigen Schlagwaffen und prĂŒgelten grunzend in blinder Wut auf die Feinde und deren Artillerie ein, wie Kinder, die im Spiel einen Ameisenhaufen mit einem Stock maltrĂ€tierten. Verzweifelt wurden einige Kanonen gedreht und auf die Monster gerichtet. SchĂŒsse wurden eiligst abgefeuert, ohne den Winkel zu korrigieren. Eine Kanonenkugel zerschlug eine Leiter und der auf ihr stehende Riese verlor den Halt. Er klammerte sich mit einer Hand an der Mauerkrone fest und versuchte, sich die Feinde mit der Keule vom Hals zu halten. Doch die Soldaten stachen mit ihren Schwertern in seine Finger, woraufhin er losließ und hinunter stĂŒrzte. Aufgrund seines Gewichtes schĂ€digte ihn der Aufprall viel mehr, als es bei einem Menschen der Fall gewesen wĂ€re, welcher aus einer verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig gleichen Höhe stĂŒrzte. Der Riese stand nicht wieder auf. Florean fand sich eingekesselt zwischen zwei wĂŒtenden Eisriesen wieder, welche die Kanonen mit ihren Keulen zermalmten. Dabei schlugen sie wild stets dorthin, wo sich noch etwas bewegte. Schockiert erspĂ€hte Florean Mo, welcher unter einer Kanone eingeklemmt war, deren Halterung den SchlĂ€gen nicht mehr standgehalten hatte. Mo streckte seinen Arm hilfesuchend nach ihm aus, als er ihn bemerkte. Er lag auf dem Bauch und allein konnte er sich nicht befreien. Sofort wollte Florean losrennen, doch dem Riesen wurde bewusst, dass er noch nicht alles totgeschlagen hatte und ließ seine mĂ€chtige Keule noch einmal niedergehen. ZurĂŒck blieb ein zerbrochenes Kanonenrohr und eine zerschmetterte Leiche. “Nein!”, schrie Florean wie von Sinnen, ließ alles stehen und liegen und rannte zum Ort des Geschehens, völlig blind gegenĂŒber der Bedrohung, welche ihn jeden Moment ebenfalls zermalmen könnte. “Mo, stehe auf!”, befahl er und rĂŒttelte verzweifelt am toten Körper seines Freundes. Indes erhob der Eisriese seine Keule und holte fĂŒr einen weiteren Schlag aus. Der Schatten verriet Florean sein nahendes Ende. Er ließ Mo loß und kauerte sich zusammen. Statt eines Einschlages vernahm er das Rasseln einer Kette. Vorsichtig traute er sich aufzusehen. Er hatte viel zu lange nicht eingegriffen. Erst jetzt stieg Alaric die Mauerkrone empor und sah das Ausmaß des feindlichen Überfalls. Alaric verurteilte sich selbst fĂŒr sein Zagen. Aber er rechnete nicht mit einem derart mĂ€chtigen Angriff auf den StĂ€hlernen Wall. Niemand tat das. Die Barbaren waren untereinander zerstritten. Es gab unzĂ€hlige kleinere und grĂ¶ĂŸere FĂŒrstentĂŒmer, deren Jarl meist nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Wenn sie nicht gerade fremde LĂ€nder plĂŒnderten, bekriegten sie sich untereinander. Und da waren auch noch die Eisriesen, die nun Seite an Seite mit den Menschen zu Felde zogen, ungeachtet ihrer Differenzen. Es gab eigentlich nur eine Person im Norden mit genug diplomatischem Geschick, dies alles in die Wege zu leiten. Alaric musste unbedingt wissen, ob er damit Recht hatte. Zuvor galt es, den Ansturm aufzuhalten. Der Prinz beschwor seine Teufelswaffe, als er ĂŒber die Mauer hechtete. “Trenne Körper und Geist, Anima!”, rief er und aus blauen Flammen materialisierte sich eine lange schwarze Kette mit klingenbewehrtem Ende. Als er in Keulenreichweite eines der Eisriesen gelangte, versuchte dieser ihn zu erschlagen, doch Alaric nutzte Anima, um dessen Seele herauszuschneiden und das UngetĂŒm in eine gewaltige leblose HĂŒlle zu verwandeln, die einfach so, regungslos, auf den Sprossen der Leiter verharrte. WĂŒrde sie niemand entfernen, dann wahrscheinlich fĂŒr immer. Alaric benutzte seine besondere FĂ€higkeit “Soul Eater”, um die entrissene Seele aufzunehmen und zu verhindern, dass sie zu dem UngetĂŒm zurĂŒckkehren wĂŒrde. Die Essenz eines Eisriesen war anders, als die eines Menschen. Er fĂŒhlte fĂŒr einen Moment, wie sich die KĂ€lte von frisch gefallenem Schnee in seinem Körper ausbreitete. Ein zweiter Riese war drauf und dran, einen Soldaten zu erschlagen. Alaric attackierte auch diesen mit Anima. Die Kette der Teufelswaffe wickelte sich um die Keule. Er mobilsierte seine TeufelskrĂ€fte und zerrte so stark an der Waffe, dass der Riese mitgerissen wurde und von der Leiter fiel. Als er nĂ€her kam, erkannte Alaric, dass es sich bei dem Soldaten um einen der Rekruten handelte, welche er vor zwei Wochen selbst auserwĂ€hlt hatte. FĂŒr die ihm direkt unterstellten MĂ€nner fĂŒhlte er sich besonders verantwortlich. “Ist alles in Ordnung bei dir?”, fragte er seinen Untergebenen. Wortlos, mit TrĂ€nen in den Augen, blickte Florean zu seinem toten Freund. Alaric erkannte den Toten, auch wenn es bei den ihm zugefĂŒgten Wunden und all dem Blut nicht so einfach war. Es war einer der MĂ€nner aus der Versorgungseinheit, mit denen Florean Umgang pflegte. “Gehe in die Festung!”, befahl Alaric daraufhin. Der junge Soldat gehorchte. Alaric hingegen setzte seinen Angriff auf die Eisriesen fort, welche noch immer die Mauer stĂŒrmten, und einer nach dem anderen stĂŒrzte in den Tod, als der Prinz die Belagerer gewaltsam von der Mauer entfernte. Die Kreaturen waren mĂ€chtig und stark, doch ebenso reaktionslahm und unflexibel. An Kampfmoral schien es ihnen ebenfalls zu mangeln. Die verbleibenden Eisriesen kletterten rĂŒckwĂ€rts ihre Leitern herunter und ergriffen panisch die Flucht, obwohl Alaric erst wenige von ihnen erschlagen hatte. Bei dem Versuch die eigene Haut zu retten, achteten sie weder auf Freund noch Feind und rannten durch die Reihen der Barbaren, wobei sie einige von ihnen zertrampelten. Alaric sprang unbeirrt davon auf eine der zurĂŒckgelassenen Leitern und rutschte an dem Baumstamm hinunter. Kaum unten angekommen, griffen ihn die Barbaren an, doch mit einem Streich des Anima hielt er sie sich vom Hals. Die Waffe traf seine Gegner und entriss ihnen kurzzeitig die Seele. Alaric entschied sich, Soul Eater diesmal nicht einzusetzen und so kehrten die Seelen nach einigen Sekunden in ihre Körper zurĂŒck. Die Angriffe ebbten angesichts der Aussicht auf eine weitere außerkörperliche Erfahrung ab. Niemand wollte von Anima getroffen werden. WeitrĂ€umig gingen die eingeschĂŒchterten Krieger dem Mann mit den rot glĂŒhenden Augen aus dem Weg. Er hingegen bewegte sich unbeirrt auf den AnfĂŒhrer der Armee zu. “Ihr? Hier?!”, fragte ein bĂ€rtiger Mann. Er trug einen verzierten Nasenhelm unter dem seine mĂ€chtige gelockte brĂ€unlich-rote MĂ€hne ans Tageslicht trat. Alaric erkannte, dass eine Vermutung richtig war. “Es ist mir eine Ehre, Jarl Thordir!”, erwiderte er und verneigte sich kurz. Nur dieser Mann war gleichermaßen gewandt mit der Axt und mit der Zunge. Eigentlich betrachtete Thordir alle Kaiserlichen als LĂŒgner. Der Prinz bildete eine Ausnahme von dieser Regel. Ihn sah er als waren Ehrenmann. Einige Male hatten sie bei “Verhandlungen” ihre Argumente ausgetauscht. Eine Verhandlung bedeutete bei den Barbaren stets einen Kampf auszutragen. Derjenige, welcher der stĂ€rkere war, konnte seine Ambitionen durchsetzen. Diese KĂ€mpfe waren nur Show und es war verboten den Gegner zu töten. Meistens ging es darum, dass das FĂŒrstentum die Angriffe auf kaiserliche KĂŒstenstĂ€dte im Westen unterlassen oder dem ungeliebten Feind im Osten des Kontinent einen Besucht abstatten sollte. Thordirs Siegesquote bei seinen KĂ€mpfen mit dem Prinzen war ausgeglichen. Alaric verzichtete sogar auf Teufelswaffe und Teufelskraft. Beide respektierten sich als starke Krieger und so war Thordir gewillt, Alaric anzuhören. “Was wollt Ihr?” “Ich möchte Euch vorschlagen, dass Ihr die Armee zurĂŒckzieht.” “Ha ha ha!” Der Nordmann hielt sich beim Lachen den Bauch. “Wieso sollte ich das tun?” “Weil ich Euch zum Kampf herausfordere. Sollte ich gewinnen, wird sich die Armee zurĂŒckziehen. Solltet Ihr gewinnen, dann dĂŒrft Ihr gern weiter Euer GlĂŒck versuchen und ich halte mich raus.” “Was ist das fĂŒr ein Kuhhandel? Öffnet mir dann gefĂ€lligst das Tor!” “Ich fĂŒrchte, das ist unmöglich. Niemand weiß, wie der Wall geöffnet wird.” Thordir war bewusst, dass Alaric großen Schaden anrichten könnte, wenn er es wollte. Der Prinz wĂŒrde sicher nicht lĂŒgen. Wahrscheinlich wusste wirklich niemand, wie der StĂ€hlerne Wall geöffnet werden konnte. Vielleicht war ein Angriff ĂŒber diesen Weg wirklich aussichtslos. Vielleicht kam ihm zu oft das Wort “Vielleicht” bei seinen GrĂŒbeleien in den Sinn. Der Jarl wollte seine Leute nicht in den sicheren Tod schicken. Selbst wenn es gelĂ€nge, Prinz Alaric auszuschalten, wĂ€re der Preis zu hoch. Ohne einen guten Vorwand konnte er jedoch keinen RĂŒckzug befehlen, ohne vor den anderen Barbaren sein Gesicht zu verlieren. “Na schön, ich akzeptiere.” Es wurde ein neutraler Raum geschaffen. Die Barbaren stellten sich im Kreis um Alaric und Thordir auf. Der Jarl warf seine Berserkeraxt einem Krieger im Publikum zu. Alaric tat es ihm gleich, indem er Anima verschwinden ließ, das bis jetzt noch zum Zwecke der Abschreckung um seinen Arm gewickelt war. Zufrieden lĂ€chelte der Nordmann. “Bringt uns Schwerter und Schilde!”, befahl er anschließend ohne direktes Ziel in die Menge. Seine Untergebenen befolgten die Anweisung und brachten zwei bemalte Rundschilde und zwei Einhandschwerter. Eines der Schilde zierte ein BĂ€r, das andere ein Wolf. Alaric wĂ€hlte den BĂ€r. In beide Schwerter war jeweils das gleiche Runenmuster eingraviert. Die MĂ€nner schnallten ihren Schild um und nahmen das Schwert in die Hand. “Wir kĂ€mpfen hier nicht um Leben und Tod”, erinnerte Thordir. “Es geht einzig und allein um die Ehre.” “NatĂŒrlich!”, bestĂ€tigte der Schwarzelf. Beide steckten die Schwerter weg und gaben sich die Hand. Die Kontrahenten entfernten sich voneinander. Nach einigen Schritten wandten sie einander wieder zu, zogen die Waffen und begannen mit dem Kampf. WĂ€hrend Alaric auf Nummer Sicher ging und Schild voran in der Defensive verblieb, handelte Thordir nach der Devise “Angriff ist die beste Verteidigung” und stĂŒrmte auf seinen Gegner zu. WĂ€hrend ihres Kampfes schenkten sie sich augenscheinlich nichts. Neben den Schwerthieben und den Schildparaden tauschten sie ebenfalls handfeste Argumente in Form von Tritten, KopfnĂŒssen und Ellenhieben aus. Alaric bemerkte jedoch etwas seltsames. Dieses Mal schien Thordir ihn zu schonen. Die Angriffe schindeten zwar mĂ€chtig Eindruck, das war aber auch alles, was sie taten. Er interpretierte, dass Thordir diesen Schaukampf absichtlich verlieren wollte. Vermutlich nutzte er dies als Rechtfertigung, den aussichtslosen Angriff abzubrechen, ohne Ansehen zu verlieren. Dem Prinzen sollte dies nur Recht sein. Niemand sollte in einem Kampf fallen, den man nicht gewinnen kann. Außerdem konnte er sich ohne ein angreifendes feindliches Heer besser auf die Inspektion konzentrieren. Alaric tat Thordir den Gefallen und zerschmetterte dessen Schild. Danach entwaffnete er ihn, was auch ungewohnt einfach vonstattenging. Offenbar hatte er abermals die richtigen SchlĂŒsse gezogen. Demonstrativ richtete er seine Waffe auf den wehrlosen Nordmann. “Ich habe gewonnen!”, verkĂŒndete er. “Das habt Ihr”, bestĂ€tigte Thordir mit gespielter Erschöpfung. Er wandte sich von Alaric ab und sprach zu den barbarischen Zuschauern. “MĂ€nner! Ich gab mein Wort. Lasst uns den RĂŒckzug antreten!” Widerwillig befolgten sie die Befehle des Jarls. Ob sie wollten oder nicht, sie hatten ihm die Treue geschworen. Wenn sie nicht so feige und ehrlos sein wollten, wie die Eisriesen, die im Angesicht des Todes die Flucht ergriffen, mussten sie die Entscheidung des Kriegsherrn akzeptieren. Alaric ĂŒberreichte Schwert und Schild einem der Barbaren. Das feindliche Heer trat den RĂŒckzug an. Bereits im Gehen begriffen, wandte sich Thordir noch einmal zu dem Elfen um und rief ihm etwas zu: “Ihr seid ein Ehrenmann, Alaric! Schade, dass Ihr ein Elf seid. An Euch wĂ€re ein guter Nordmann verloren gegangen!” Nach diesen Worten verließ er endgĂŒltig den Schauplatz des Geschehens. Alaric konnte einen weiteren diplomatischen Erfolg verbuchen. Drei Tage spĂ€ter. Florean stand bei den GrĂ€bern der Gefallenen, um ihnen seinen Respekt zu zollen. Besonders seinen beiden Freunden Mo und Toma, welche er nur kurz kannte, deren Verlust er jedoch kaum ertragen konnte. Die Toten wurden nach der Schlacht schnell im Schatten des erstarrten Eisriesen begraben, welcher noch immer auf seiner Leiter stand. Der Prinz machte sich selbst dabei Notizen. Als könne man die Effizienz eines BegrĂ€bnisses messen. Er hatte ihm zwar einige trostspendende Worte zukommen lassen, doch das machte Floreans Traurigkeit nur noch schlimmer. Am Ende gab der Prinz ihm frei und brach mit seinem ĂŒbrigen Gefolge zum GegenstĂŒck der Festung am anderen Ende des Walls auf. Florean ĂŒberblickte die GrĂ€ber. Wieso hatte gerade er ĂŒberlebt? Normalerweise waren MĂ€nner wie er die ersten, die starben. Welches grausame Spiel trieb das Schicksal mit ihm, dass stattdessen die anderen ihre Leben verloren? Der Elf wandte sich von den GrĂ€bern ab und machte sich ebenfalls auf dem Weg zum anderen Ende des Walls. Er war schließlich noch immer Soldat und dem Prinzen unterstellt. Er musste seine Pflicht erfĂŒllen. Prinz Alaric von Aschfeuer brĂŒtete ĂŒber seinen Berichten. Akribisch brachte er alles geordnet zu Papier, was er sich in den vergangenen Tagen teils hastig notiert hatte. Informationen ĂŒber den Zustand der Festungen: Sie waren beide gut bestĂŒckt. Munition und Schießpulver in ausreichenden Mengen vorhanden und der Verlust einiger Kanonen und MĂ€nner beim Angriff konnte leicht kompensiert werden. Informationen ĂŒber die Moral der Truppe: Trotz eines furchteinflĂ¶ĂŸenden Gegners konnten die MĂ€nner ihre Pflicht erfĂŒllen. Zwar gab es Verluste, doch angesichts der feindlichen Übermacht, hatten sie sich gut geschlagen. Anmerkungen fĂŒr die Zukunft: Die GarnisonstĂ€rke war nicht fĂŒr einen schweren Angriff ausgelegt. Niemand hĂ€tte damit rechnen können, da es noch niemals vorgekommen war, zukĂŒnftig muss man es allerdings in Betracht ziehen. Alaric pausierte seinen Schreibfluss. Letztlich blieb ihm keine andere Wahl, als selbst einzugreifen. Es bestand die Gefahr, dass es den Barbaren gelingen könnte, den Wall zu ĂŒberwinden. Die Untertanen in den angrenzenden Provinzen wĂ€ren dem Zorn der wĂŒtenden NordmĂ€nner ausgeliefert gewesen. Bis die Truppen aus den nĂ€chstgelegenen Festungen zusammengezogen und zum Gegenschlag bereit gewesen wĂ€ren, hĂ€tte es viele weitere unschuldige Tote gegeben. Das wollte er nicht verantworten. Als Prinz war es seine Aufgabe, die Untertanen des Reiches zu beschĂŒtzen. Alles andere wĂ€re einfach nur ehrlos gewesen! Zu versuchen, eine ganze Armee im Alleingang abzuschlachten, war allerdings auch keine Option. Was hĂ€tte er getan, wenn ein anderer Kriegsherr die Barbaren und die Eisriesen in die Schlacht gefĂŒhrt hĂ€tte? Als er all dies niederschrieb, spĂŒrte Alaric erneut einen Schmerz in seinem Kopf. Er stĂŒtzte sein OberstĂŒbchen mit dem linken Arm ab und raufte dabei leicht seine extravagant gestylten Haare. WĂ€hrend er versuchte, die Pein zu ertragen und weiter seine Arbeit zu erledigen, verĂ€nderte sich sichtlich sein Schriftbild. Die perfekten sauberen Buchstaben seiner Handschrift verkamen zu wackeligen und buckligen Abstraktionen ihrer selbst. Sie spiegelten die Qualen ihres Schreibers wieder. Alaric steckte den Griffel zurĂŒck in das Tintenfass und erhob sich. Die rechte Hand gesellte sich zur linken. Das Stechen in seinem Kopf wurde immer mĂ€chtiger. Er spĂŒrte, wie er drauf und dran war, das Gleichgewicht zu verlieren. Aus einem inneren Impuls heraus schleppte er sich erneut zu einem Spiegel. Angestrengt stĂŒtzte er sich links und rechts von ihm am Mauerwerk ab und starrte auf die von Schmerz gequĂ€lte Visage, reflektiert von der GlasoberflĂ€che. Hinter ihm erschien abermals ein Schatten. Langsam tauchte eine menschliche Gestalt aus der SchwĂ€rze auf. Ihr langes blondes Haar und ihre Figur ließen auf eine Frau schließen, doch noch immer konnte man das Gesicht nicht erkennen. Erschrocken sah Alaric hinter sich. Wie so oft war dort niemand. Der Schwarzelf atmete hektisch und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Das war keine einfache Fantasie mehr. Er wandte sich dem Spiegel zu. Der Schock traf ihn wie ein Schlag, sodass er fĂŒr einen Moment allen Schmerz vergaß. Ihm gegenĂŒber war nicht mehr lĂ€nger sein gequĂ€ltes Gesicht. Stattdessen starrte ihm eine blasse Gestalt entgegen. Dieses Mal konnte er sie genau sehen. Haare, golden wie reifes Getreide. Augen, so blau wie der wolkenlose Himmel des SpĂ€therbst. Er erinnerte sich an sie. Sie war die Frau, welcher er einst die Seele stahl. Sie öffnete zaghaft ihren Mund zum sprechen. “Lass mich gehen!”, formulierte sie. Alaric wollte es nicht wahrhaben. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu, doch die stets lauter werdenden Rufe drangen in seinen Geist ein, wie ein ungebetener Gast in eine Hochzeitsfeier. Auch der Schmerz wurde wieder fĂŒhlbar und jedes Wort der Frau löste eine weitere Welle aus, welche sich eines Dolches gleich in seinen SchĂ€del bohrte. Sein Leiden ließ ihn die Beherrschung verlieren. Er riss seine Augen auf, da es sowieso egal war, ob diese geschlossen waren oder nicht. Das Bild der Frau brannte durch seine Lieder, er konnte ihm nicht entkommen. “Was willst du von mir?!”, schrie er verzweifelt in den Spiegel. “Hau ab! Lass mich in Ruhe!” NatĂŒrlich tat sie ihm den Gefallen nicht. “Ich sagte, du sollst verschwinden!” Der Wahnsinn in seiner Stimme intensivierte sich. “HAU AB!!!” Doch der Geist blieb. “Bitte, hilf mir!” Alarics Atmung wurde immer schwerer. Seine Augen begannen zu glĂŒhen. “VeRScHWiNDe!!!!” Er ballte die Hand zur Faust, zerschlug den Spiegel und bohre seinen Arm in das Mauerwerk. Staub und TrĂŒmmer flogen in alle Richtungen. Er zog seine Hand aus der Wand heraus. Splitter blieben in ihr stecken, aber das war ihm egal. Endlich verflog der Schmerz in seinem Kopf. Was war da schon eine stark blutende Hand? Seine Atmung beruhigte sich und das GlĂŒhen in seinen Augen erlosch. Erschöpft ließ sich Alaric auf die Knie sacken. Jedes Mal wurde es schlimmer! Es war nicht mehr auszuhalten! 🌱 Nach einer weiteren lieblosen Nacht schlich sich Belanor abermals davon. Leise schloss er die TĂŒr hinter sich ab und befahl der Wache, er möge vergessen, ihn gesehen zu haben. Er musste sich beeilen, denn das, wonach sich sein Herz wirklich verzehrte, befand sich nicht hinter der TĂŒr zu seinen GemĂ€chern. Die Person, fĂŒr die er wirklich etwas empfand, lebte nicht im Palast, sondern in der Stadt davor. Belanor musste zuerst den Lavasee ĂŒber die lange BrĂŒcke aus Basaltgestein ĂŒberqueren. Als das rote GlĂŒhen schwĂ€cher wurde und Laternen das Dunkle erhellten, fĂŒhrte ihn sein Weg auf die belebte Hauptstraße. Er folgte ihr, bis er einen Platz in der Form eines fĂŒnfseitigen Vieleck erreichte. Ein großer Brunnen speiste sich aus Wasser, dessen Quellen in weit entfernten Gebirgen lagen. Gewaltige AquĂ€dukte in perfekt kalkulierten Neigungswinkeln versorgten Vanitas mit frischem klaren Wasser - und das in rauen Mengen. Hier musste er nun in eine schmalere Straße einbiegen, in der sich GeschĂ€ft an GeschĂ€ft reihte, und auch in der “Nacht” noch reges Treiben herrschte. Es war hier, wo er sie kennengelernt hatte. Sandra, die Frau, die er wirklich liebte. Damals stieß ihn einmal mehr das Verhalten seines angetrauten Eheweibes ab. Sie hatten einen schrecklichen Streit, dessen Thema er inzwischen verdrĂ€ngt hatte. Wahrscheinlich wieder etwas belangloses. Dieses herrschsĂŒchtige Frauenzimmer wollte einfach alles bestimmen. Und lief etwas einmal nicht so, wie sie es sich vorstellte, brach die Hölle los. Belanor dankte allen Göttern von Elfen und Menschen gleichermaßen, dass Lezabel in ihrem Zorn noch keinen ihrer Drachen auf ihn gehetzt hatte. Einmal wagte er es sich, fĂŒr einen Menschen einzutreten und wurde von ihr zur Strafe eine Nacht lang wegen vorlauten Mundwerk ins Verlies geworfen. In der Nacht, als er Sandra traf, musste es etwas Ă€hnlich absurdes gewesen sein. Er wusste nur noch, dass er raus musste. Er hĂ€tte Lezabel niemals heiraten sollen! Er glaubte damals, sie sei eine gute Partie. Er wollte mehr Einfluss. Den hatte er zwar jetzt, aber auf Lezabel könnte er getrost verzichten! Es war eine arrangierte Ehe. Belanor setzte ein natĂŒrliches Verhandlungsgeschick ein, um sein Ziel zu erreichen. Das er im Krieg gekĂ€mpft und sich um Aschfeuer verdient gemacht hatte, wirkte sich gewiss förderlich fĂŒr sein Anliegen aus. Von Tag eins an war es ein Krampf Lezabels Zuneigung zu gewinnen. Die Prinzessin zeigte jeden, den sie fĂŒr ihrer unwĂŒrdig befand, die kalte Schulter. Auch Belanor erging es nicht besser. Allerdings ließ er sich nicht davon abschrecken und blieb am Ball. Das beeindruckte sie mutmaßlich. Langsam kam sie aus ihrem Panzer hervor und zeigte ebenfalls Interesse. Als die Hochzeitsglocken lĂ€uteten, begannen ein paar glĂŒckliche Jahre. Doch diese Zeit war inzwischen lĂ€ngst verlebt. Es wurde immer offensichtlicher, was er sich mĂŒhte an ihr nicht zu sehen. Belanor wĂŒnschte sich, tapfer genug zu sein, um Lezabel trotz ihres Charakters zu lieben. Aber mehr war es nicht. Ein Wunsch. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn je liebte oder damals nur in rechter Stimmung gewesen war. Lezabel war eine Frau, die der Hass antrieb. Trauer ĂŒber den Verlust ihrer Mutter war in Wut auf alle Menschen umgeschlagen. Die Prinzessin machte kleinen Hehl um ihre Ansichten und in einem Land, in dem die Elfen die Menschen ohnehin diskriminierten, störte sich keiner an ihrem Verhalten. Belanor war ihre Predigten ĂŒber den mangelnden Wert eines “Menschlein” so leid. Nun schlenderte er gedankenversunken durch die Gassen. Plötzlich blieb er stehen. Genau an dieser Stelle hatte Sandra einst versucht ihn zu bestehlen. Eine junge Menschenfrau aus der Gosse musste sehen wo sie blieb. Damals war er kurz davor, der diebischen Elster die Hand abzuschlagen, als er ihr Gesicht erblickte und sich sofort in sie verliebte. Ein echtes Klischee. DarĂŒber hatten sie beide oft gelacht. Seither half sie ihm, das Leben mit dieser Hexe von Eheweib zu ertragen, indem er sie immer dann besuchte, wenn er von seiner Frau genug hatte. Mit Sandra konnte er die Liebe und Leidenschaft ausleben, die in seiner Ehe schon lange verloren waren. Endlich kam das Haus, in dem er Sandra eingemietet hatte, in Sicht. Schließlich konnte er seine Geliebte schlecht auf der Straße hausen lassen. Dort war es viel zu gefĂ€hrlich. Ihr könnte wer weiß was zustoßen. MerkwĂŒrdig! Die TĂŒr war nicht abgeschlossen. FĂŒr gewöhnlich sperrte sie sie ab, denn sie wusste nur zu gut, wie gefĂ€hrlich es in den Gassen von Vanitas sein konne. Vorsichtig tastete er sich im dunklen Haus voran, bis er eine Tischlampe fand. Wie es zu jener Zeit ĂŒblich war, trug er Feuerstein und Zunder bei sich, damit er stets Feuer entfachen konnte, wenn er es brauchte. Als er den Docht entzĂŒndet hatte und das gewölbte Glas ĂŒberstĂŒlpte, leuchtete die Flamme den Raum aus. Es schien niemand daheim zu sein. Ebenfalls eine AbnormalitĂ€t! Sandra war immer daheim. Er sorgte fĂŒr ihr Auskommen, sodass sie nicht arbeiten musste. Vielleicht wartete sie bereits im Schlafgemach auf ihn? Er ging dem nach. Im Bett lauerte eine ĂŒble Überraschung auf ihn. Das Licht fiel auf den Körper der jungen Frau, welche bĂ€uchlings quer ĂŒber dem Bett lag. Die Beine gespreizt, die Kleidung zerrissen und die Arme vom Körper gestreckt, bot sie ein schreckliches Bild. Eine Hand krallte sich noch immer am Laken fest. BlĂ€uliche WĂŒrgemale an ihrem Hals verrieten die Todesursache. Die kalten Augen der selbst im Tod noch schönen Frau starrten ihrem Liebhaber an. Es deutete alles auf eine Triebtat hin. Belanor konnte sich nicht mehr halten und fiel auf die Knie, wobei die Tischlampe seinem Griff entglitt und auf dem Boden zerschellte. “Wer hat das getan!”, schrie er seinen Kummer hinaus in die Dunkelheit. “Ich bringe den Verantwortlichen um, das schwöre ich!” Er umarmte die Leiche seiner Geliebten. Sie war so schrecklich kalt. Er wĂŒnschte sich, dass sie seine WĂ€rme spĂŒrte, wo auch immer sie jetzt war. Kapitel 21: Der einzige Überlebende ----------------------------------- 🌱   Durch ein altes, finsteres und ungeziefer verseuchtes GemĂ€uer drangen die angestrengten rhythmischen AtemstĂ¶ĂŸe einer Frau. Wenige Fackeln erhellten den Raum und verrieten beinahe flĂŒsternd schemenhaft seine Ausmaße. Die Frau lag mit angewinkelten, gespreizten Beinen auf einem mit Fellen ausgelegten Bett. Sie war schon so lange hier unten gefangen, dass sie ihren eigenen Namen vergaß. Vielleicht wusste sie ihn noch, doch er war einfach nicht mehr wichtig. Um sie herum standen drei dĂŒstere Gestalten in schmutzigen, vergrauten Roben, deren Gesichter nicht zu erkennen waren. Eine von ihnen zertrampelte angewidert eine Ratte, die soeben auf der Suche nach Nahrung ĂŒber den Boden flitzte. Diese Dunkelheit war die RealitĂ€t der Frau geworden. Unter den Schmerzen der Geburt dachte sie zurĂŒck an die Zeit vor ein paar Monaten, als sie noch in Freiheit lebte. Sie war schon damals in freudiger Erwartung. Sie hatte einen Mann und schon ein weiteres Kind. Eine Tochter. Eines Tages brach zu spĂ€ter Stund ein Feuer aus. Sie konnte sich noch retten, doch fĂŒr ihren Mann und ihre Tochter kam jede Hilfe zu spĂ€t. Niemand konnte mehr etwas tun und sie war dazu verdammt, die ersterbenden Schreie ihrer Familie zu hören, wĂ€hrend diese vom flammenden Inferno verschlungen wurden. Sie verfluchte die Nacht, in der ihr alles GlĂŒck der Welt genommen hatte. Was sollte sie tun? Wo sollte sie hin? Schwanger und ohne Bleibe, irrte sie ĂŒber die kalten Straßen ihrer Heimatstadt. Doch es sollte noch schlimmer kommen. GerĂŒchte waren im Umlauf. MissgĂŒnstige Stimmen verbreiteten LĂŒgen ĂŒber sie, anstatt ihr in dieser schweren Zeit zur Seite zu stehen. Es hieß, sie habe das Haus selbst angezĂŒndet und ihren Mann und ihr Kind ermordet. Was fĂŒr eine absurde und unverschĂ€mte Anschuldigung! Doch es wirkte. Niemand wollte ihr mehr helfen. Der Pöbel forderte ihren Tod. Auf den Straßen war sie nicht mehr sicher und so flĂŒchtete sie in die finstersten Ecken, die sie finden konnte. Hier ernĂ€hrte sie sich von erschlagenen Ratten und anderen Tieren, bis auch dieses Versteck entdeckt wurde und sie abermals zum Fliehen verdammt war. In ihrem Zustand konnte dies nicht ewig so weiter gehen. Schließlich wurde sie eines Tages vom wĂŒtenden Mob aufgegriffen und auf den Scheiterhaufen verfrachtet. Dort sollte sie das gleiche Schicksal wie ihre Familie erleiden und zusammen mit ihrem ungeborenen Kind bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Die gerechte Strafe fĂŒr die Tat, die sie niemals begangen hatte. Man glaubte, ihre Bosheit wĂŒrde auf das Kind ĂŒbergehen. Anfangs bettelte sie noch um Gnade, doch ihre Schreie verstummten schnell nach mehreren SchlĂ€gen in ihr Gesicht durch des Henkers Hand. Sie machte ihren Frieden damit, an diesem Pfahl an diesem Tag ihr Leben auszuhauchen. Vielleicht hĂ€tte sie netter zu ihren Nachbarn sein sollen. Ob sie dann von solchen abscheulichen Anschuldigungen aus niederen BeweggrĂŒnden verschont geblieben wĂ€re? Der Gedanke an die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, trieb ihr die TrĂ€nen ins Gesicht. “Schaut, die Hexe winselt um Gnade”, rief es aus der Menge. Die brennende Fackel war kaum noch zehn Zentimeter von dem aufgeschichteten Holz und Stroh entfernt und die Jubelschreie des Publikums unfassbar laut, als plötzlich ein gut gekleideter Mann kam und anwies, die Hinrichtung zu stoppen. Man band sie vom Scheiterhaufen ab und nahm sie mit, den Protesten des blutrĂŒnstigen, wĂŒtenden Pöbels zum Trotz. Die bewaffnete Begleitung des Mannes hielt den Mob auf Abstand. Wohin die Reise ging, verschwieg man ihr. Es war ihr allerdings gleichgĂŒltig. Hauptsache weg von hier! Als nĂ€chstes fand sie sich in eben dieser Finsternis wieder, in der sie die letzten Monate zugebracht hatte. Man fesselte sie an Armen und Beinen mit widerstandsfĂ€higen Strick und LederbĂ€ndern. So verharrte sie seither. Man kĂŒmmerte sich um ihre dringendsten BedĂŒrfnisse und bearbeite sie mit seltsamen GerĂ€ten. Was das alles zu bedeuten hatte und wer dafĂŒr verantwortlich war, wusste sie nicht. Wollten sie ihr einfach nur ihr Kind nehmen, sobald es da war, oder steckte noch mehr dahinter? Auch das wusste sie nicht und sie wĂŒrde es möglicherweise auch nie erfahren. Nach endlosen Versuchen, sich ihrer Fesseln zu entledigen und pausenlosen Schreien in die Dunkelheit hatte sich die Frau ihrem Schicksal ergeben. In all der Zeit wuchs ihr Bauch zu einer beachtlichen GrĂ¶ĂŸe heran. Und heute war es endlich so weit. Die Fruchtblase war geplatzt. In den letzten Wochen verspĂŒrte sie bereits die ersten Wehen. Diese waren annĂ€hernd schmerzlos. Sie kannte es bereits von der Geburt ihrer Tochter. Sie kĂŒndeten das bevorstehende Ereignis an und sollten den Körper auf das Kommende vorbereiten. Etwa zur gleichen Zeit beginnt der Fötus in der GebĂ€rmutter herabzusinken. Seit dem Platzen der Fruchtblase spĂŒrte sie jedoch regelmĂ€ĂŸig Schmerzen. Die Phase der Latenz lag damit hinter ihr und der Hauptteil konnte beginnen. “Der Muttermund hat sich geöffnet”, hörte sie eine der Gestalten sagen. “Ruhig atmen, Weib!”, befahl eine andere Gestalt. Das war leichter gesagt als getan. Wie sollte ein Mann jemals in der Lage sein, die Pein einer Geburt nachzuvollziehen? Diese unvorstellbaren Schmerzen ließen die Frau in eine Art Trance verfallen. Ihr Körper begann damit, Hormone auszuschĂŒtten, welche ihre Schmerzen betĂ€ubten. Instinktiv begann sie durch eine bestimmte Atemtechnik die Reise des neuen ErdenbĂŒrgers aus ihrem Körper hinaus in diesen dunklen Raum zu beschleunigen. “Ich kann den Kopf sehen!”, verkĂŒndete die erste Gestalt. Lange konnte es nicht mehr dauern. Ermutigt vom nahenden Ende ihrer Qualen, setzte die Frau ihre Anstrengungen fort. Ihr wurde so unfassbar heiß. Als ob die Tore der Hölle in ihrem Körper aufgestoßen wurden. Daran konnte sie sich nicht erinnern. Bei der Geburt ihrer Tochter fĂŒhlte sie nichts der Gleichen. Das konnte nicht normal sein! Diese absurde Hitze strahlte von ihrem Bauch aus und es war ihr, als kochte sie ihre Eingeweide. Sie fĂŒhlte sich, als ob sĂ€mtliches Blut in ihrem Körper verdampfte. Die Finsternis vor ihren Augen fĂ€rbte sich allmĂ€hlich blutrot mit jeder Sekunde, die verstrich. Sie spĂŒrte, wie ihre KrĂ€fte schwanden. Ich brenne, dachte sie. Ich brenne! Bald darauf wurde ihr die Gnade der ewigen Stille zuteil.   Belanor torkelte durch die Gassen von Vanitas. Sein Magen rebellierte angesichts dessen, was der Elf einen Moment zuvor gesehen hatte. Er suchte Halt an einer Hauswand, wĂ€hrend er sich an ihr Fundament ĂŒbergab. Als Soldat sah er bereits viele Leichen, doch noch nie jemanden, der ihm wirklich etwas bedeutet hatte. Der Schock und der Schmerz suchten ihres Gleichen. Niemals hatte ihn der Verlust eines Kameraden so sehr getroffen, wie jetzt Sandra leblos und geschĂ€ndet in ihrem eigenen Bett vorzufinden. Verzweiflung paarte sich mit Wut. Belanor wusste nicht, ob er traurig sein oder sich dem Zorn hingeben wollte. Neugierig verfolgte das Stadtvolk die unbeholfenen Gehversuche des Elfen. Ein Mitglied des Adelsstandes, vermeintlich volltrunken durch die Gassen von Vanitas schlingern zu sehen, war fĂŒr sie die reinste Komödie. Ausgelassen pusteten einige von ihnen los. Ihr GelĂ€chter war Belanors grausames Geleit. Sie schĂŒrten die finstersten Gedanken in seinem tiefsten Inneren. Diese lachenden HyĂ€nen sollten gefĂ€lligst schweigen. Er hielt es nicht mehr aus! Ohne eine Vorwarnung stĂŒrzte sich der Elf auf einen der lachenden Stadtbewohner, riss ihn zu Boden und begann damit, seinen Zahnstatus nachhaltig zu beeinflussen. Schlag um Schlag von zur Faust geballten HĂ€nden regneten auf den Mann nieder. “Sie ist tot!”, brĂŒllte Belanor. “Begreifst du?! Sie ist tot!” WĂ€hrend der Mann nicht wusste, wie ihm geschah, verging den anderen das Lachen. Die Heiterkeit machte dem Entsetzen Platz, als das Gesicht des Mannes mit jedem Treffer neue Verletzungen dazu gewann und Belanors Hand allmĂ€hlich eine rote Farbe annahm. “Hey! Aufhören!” Mehrere Stadtwachen eilten zum Schauplatz der Gewaltorgie. Passanten hatten sie aufmerksam gemacht. Zwei Soldaten packten Belanor und zerrten ihn von seinem schwer verletzten Opfer weg. “Lasst mich los!”, befahl er ihnen. Die Stadtwachen ließen sich jedoch nicht von seinen Worten beeindrucken. Genauso wenig von seinem Status, als ihnen endlich bewusst wurde, wen sie vor sich hatten. Es war auch völlig egal. Jeder BĂŒrger des Kaiserreich genoss ein gewisses Maß an persönlichen Rechten. Selbst mit einem Menschen konnte man als Elf nicht verfahren, wie man beliebte, wenn dieser kein Unfreier war. Niemandem war es gestattet, einen anderen auf offener Straße zusammenzuschlagen und so die öffentliche Ordnung zu erschĂŒttern. Nicht einmal einem Diplomaten. Darum fĂŒhrten die MĂ€nner Belanor trotz Protesten, unentwegten Hinweisen auf seine AutoritĂ€t und gegen sie gerichtete Aggressionen ab. Der Elf fand sich alsbald im Kerker von Vanitas wieder.   Die große WĂŒste lag endlich hinter ihnen. Nach einer langen und beschwerlichen Reise ließen sie endlich das endlose Sandmeer hinter sich. Die Grenze zu Aschfeuer war nicht mehr weit. Morgen wĂŒrden sie Argentoile, eine Handelsstadt am Pass zwischen Kalifat und Kaiserreich, in der tagtĂ€glich unzĂ€hlige HĂ€ndler ein und aus gingen, erreichen. Jetzt hatte sie allerdings das Dunkel der Nacht verschlungen. Es war Schlafenszeit und die Mitglieder der Karawane hatten ihre Zelte aufgeschlagen. Ebenso befanden sich Nebula und ihre GefĂ€hrten bereits in den Federn. Da die Zelte dank des ĂŒberraschenden Zuwachs der beiden Fremden aus dem Osten erneut Mangelware waren, mussten sie aufgeteilt werden. Clay und Cerise bekamen natĂŒrlich ihr eigenes Zelt. Beide nutzten die Nacht, um sich von den Strapazen des Tages - hauptsĂ€chlich der letzten anstrengenden Stunden Zweisamkeit - zu erholen. Aki wurde indes von Toshiro bewacht, obwohl sie eigentlich seine LeibwĂ€chterin war. LĂ€ngst hatte sie ihre Verletzungen ĂŒberstanden und trotzdem wollte der Oji seine Kunoichi nicht aus den Augen lassen. Auch Henrik und Nebula nĂ€chtigten gemeinsam in einem Zelt. Damit niemand auf dumme Gedanken kam - hauptsĂ€chlich ein gewisser Perversling - bestand Nebula darauf, dass Annemarie als Anstandsdame zwischen ihnen schlief. Und wie sie schlief... Wie ein Stein! Unbestimmte Zeit spĂ€ter schlug Nebula die Augen auf. Irgendetwas verwehrte ihr die Ruhe, welche sie eigentlich dringend benötigte. Schlaftrunken setzte sie sich auf und schielte auf ihre in den Schlafsack eingehĂŒllte Beine. Erst langsam fuhr ihr Geist zu seiner vollen LeistungsfĂ€higkeit an. Auf einmal bemerkte sie, dass sie ganz allein im Zelt war. Sowohl Annemarie als auch Henrik schienen abwesend zu sein. Wo sind sie?, ĂŒberlegte Nebula. Der unwiderstehliche Drang, ihren Verbleib zu ergrĂŒnden, ließ sie aufstehen, obwohl sie eigentlich weiter schlafen wollte. Ihr geliebtes Nachthemd kam zum Vorschein, als sie sich aus dem Schlafsack befreite. BarfĂŒĂŸig trat sie aus dem Zelt. Die anderen Zelte waren ebenfalls verschwunden. Sie war ganz allein. Hier stimmt etwas nicht, erkannte Nebula. Aus Mangel an Optionen beschloss sie weiter diesem seltsamen GefĂŒhl zu folgen. Es fĂŒhrte sie vorbei an dem Lagerplatz, hinaus in einen dichten Wald. Meterdicke BĂ€ume erhoben sich bis fast in den Himmel. Sie konnte den Waldboden unter ihren nackten FĂŒĂŸen spĂŒren. Feuchtes Moos schmiegte sich an sie. Dichter Nebel hing zwischen den BaumstĂ€mmen wie Spinnweben auf einem Dachboden. Aus der dichten Suppe kam ihr jemand entgegen. Es war Annemarie. “Was machst du hier?”, fragte Nebula das Kind. “Ich muss dir etwas zeigen”, antwortete sie und nahm die Blondine an die Hand. In der Ferne sahen sie eine Lichtung mit einem merkwĂŒrdigen Steinkreis in ihrem Zentrum. Gruseliger Bodennebel verhĂŒllte alles. Von ihr gingen entsetzliche Schreie aus. “Wer schreit da?!”, entfuhr es Nebula. “Das muss ich dir zeigen.” Annemarie reichte ihr die Hand. Selbst wenn ihr Instinkt ihr mitteilte, sie solle nicht nĂ€her kommen, hörte sie nicht darauf und tat stattdessen das genaue Gegenteil. Sie ergriff die Hand des MĂ€dchens und ließ sich fĂŒhren. Langsam erschienen die Konturen einer Person, welche ĂŒber etwas gebeugt schien. Sie hielt einen Gegenstand in einer Hand, der wie ein Beil aussah, und bewegte ihn unentwegt auf und ab. Mit der anderen stĂŒtzte sie sich ab. Die Schreie intensivierten sich mit jedem Hieb. Unbeirrt stießen Annemarie und Nebula weiter vor. Sie passierten einen der Steine und der dichte Dunst gab den Blick auf das Geschehen frei, ohne die Gesichter der Anwesenden zu enthĂŒllen. In der Mitte des Steinkreises stĂŒtzte sich die Gestalt auf einen Opferaltar. Auf diesem lag eine weitere Person, welche von der anderen pausenlos mit dem in Blut getrĂ€nkten Hackebeil traktiert wurde. Ihre unteren ExtremitĂ€ten waren bereits in saubere kleine Portionen zerkleinert worden. “Hilf mir!”, flehte sie unter Qualen und reichte nach Nebula aus. Eine mĂ€nnliche Stimme. Noch bevor sie aussprechen konnte, was ihr auf der Zunge lag, lichtete sich die gruselige Suppe endgĂŒltig und die Prinzessin konnte nun erkennen, um wen es sich handelte. Der Mann auf dem Altar, welcher gerade zerstĂŒckelt wurde, war niemand geringerer als Henrik. Und die Person, die ihm das antat, sah aus wie sie selbst, gehĂŒllt in ein scharlachrotes Kleid. Entsetzt trat Nebula einen Schritt zurĂŒck. Dabei bohrte sich ein spitzer Stein in ihre Ferse und brachte sie zu Fall. Sie fing den Sturz mit ihren HĂ€nden ab und starrte verĂ€ngstigt auf die Szenerie vor ihr. “Was machst du schon hier?”, fragte ihr Ebenbild unschuldig, als sei es das normalste auf der Welt den eigenen Freund zu zerstĂŒckeln. “Ich bin doch noch gar nicht fertig!” Schreiend richtete sich Nebula auf. Der Stoff ihres Nachthemd klebte nass von Schweiß an ihrer Haut und ihre Atmung war stark beschleunigt. Sie benötigte einen Moment, um zu realisieren, dass sie sich noch immer im Zelt befand und all dies nur ein böser Traum war. “W-Was ist passiert?!”, schreckte Henrik auf. “Hast du schlecht getrĂ€umt?” Nein, ich mache esoterische AtemĂŒbungen, Trottel! Das hĂ€tte sie gesagt, sĂ€ĂŸe ihr der Schreck nicht noch immer in den Knochen. Der Anblick ihres imaginĂ€ren bösen Zwillings, welcher eines der wenigen Dinge zerstörte, die ihr wirklich etwas bedeuteten, ließ ihr das Blut gefrieren. Der Sinn dieses Traums erschloss sich ihr nicht. Wieso quĂ€lte sie ihr Unterbewusstsein mit solch schrecklichen Bildern? War das wirklich nur ihre Angst vor zwischenmenschlichen Beziehungen? Henrik sah seine Herzensdame frösteln und kroch aus seinem Schlafsack heraus, um ihr WĂ€rme zu spenden. Er trat um die Schlafgelegenheiten herum, hockte sich neben sie und bildete mit seinen Armen eine Mauer, in dem er sie von hinten umarmte. Hinter diesem Wall konnte sich Nebula vor ihrer Angst verstecken. “A-Alles ist gut!” Und trotz all dem Tova Bova schlief Annemarie einfach weiter.   🌱   Die klimatischen Bedingungen am Pass zwischen Yjasul und Aschfeuer waren wesentlich ertrĂ€glicher, als es in der WĂŒste der Fall war. Zwar war es noch immer sehr warm, allerdings nicht mehr brĂŒtend heiß. Inzwischen sah man GrĂ€ser, BĂŒsche und StrĂ€ucher eine Savanne bilden, durchzogen von Baumgruppen. Zypressen und Pinien widerstanden dem trockenen Boden und beschenkten das Auge des Reisenden mit ein wenig GrĂŒn. Die Konturen von Argentoile zeichneten sich bereits in der Ferne ab. Seit dem frĂŒhen Morgen war die Karawane wieder unterwegs. Die Sonne stand inzwischen im Zenit. In vielleicht zwei Stunden wĂŒrden sie die Stadttore erreichen. Schlaftrunken und schweigsam ließ sich Nebula von einem Kamel tragen, wĂ€hrend sie auf dem RĂŒcken des Tieres lag. Ihr war es definitiv immer noch zu heiß, selbst wenn alle anderen meinten, dass sie ĂŒbertrieb. Und dieses dĂ€mliche Kopftuch half auch nichts! Sie nutzte ihren DurchhĂ€nger, um sich von ihrem Albtraum letzte Nacht zu erholen. Henrik und Annemarie gingen neben ihr her. WĂ€hrend sein Schimmel den Wagen mit Carolines Sarg zog, saß Clay ebenfalls auf einem Kamel. Hinter ihm hatte es sich Cerise bequem gemacht. Mit VergnĂŒgen hielt sie sich an seinem muskulösen Körper fest, selbst wenn sie das eigentlich nicht nötig hatte. Sie schmiegte sich mit Wonne an ihn an. Der gut gebaute Schwarzhaarige war ihrem KuschelbedĂŒrfnis nicht abgeneigt. Etwas weiter abseits folgten Aki und Toshiro dem Tross. “Gestattet mir, meine Bedenken zu Ă€ußern, Oji-sama”, eröffnete die Schwarzhaarige. Sie musste etwas Wichtiges mit ihrem Herren besprechen. “Sage ich dir nicht schon seit Jahren, du kannst mich beim Vornamen nennen?”, erinnerte der Blonde, wie schon unzĂ€hlige Male zuvor. “Nenne mich Toshiro!” “Wie Ihr wollt, Toshiro-sama.” “Einfach nur Toshiro...” Es folgte keine Reaktion der Kunoichi. “Fahre bitte fort. Du wolltest etwas sagen.” “Es geht um diese Frau.” “Du meinst Nebula?” “Sie ist gefĂ€hrlich! Bitte haltet Euch fern von ihr.” Toshiro sah zu der auf dem Kamel schlafenden Frau einige Meter vor ihnen. “Sie mag furchteinflĂ¶ĂŸend sein. Doch der Feind ist es ebenfalls. Sie könnte uns eine wertvolle VerbĂŒndete sein. Sie und ihre Leute besitzen große Macht und sind starke Krieger.” “Toshiro-sama, ich muss Euch beschĂŒtzen. Das ist meine Aufgabe und dafĂŒr lebe ich. Diesem Weib zu folgen, halte ich fĂŒr keine gute Idee.” “Sind wir nicht geflohen, um neue VerbĂŒndete zu finden?” “In erster Linie sind wir geflohen, damit Ihr nicht getötet werdet. Wenn Ihr Euch nun unnötig der Gefahr aussetzt, werdet Ihr vielleicht doch noch sterben.” “Was schlĂ€gst du vor, Aki?” “Sobald wir in Argentoile angekommen sind, sollten wir uns von ihnen trennen!” “Das werden wir nicht tun!” “Aber Toshiro-sama- !” “Nein! Ich bin nicht hier, um mich zu verstecken! Mein Vater - nein, mein Volk - zĂ€hlt auf mich! Ich muss meinen Clan retten. Das schaffe ich nicht allein!” Die Augen des jungen Prinzen unterstrichen seine Überzeugung. Akis Verwunderung war groß. FĂŒr gewöhnlich agierte ihr Schutzbefohlener nicht so besonnen. Sie dachte, er wolle sich einfach wieder ohne RĂŒcksicht auf Verluste in den nĂ€chsten Kampf stĂŒtzen. Vielleicht sogar das Teufelsweib zum Duell herausfordern. Oder noch waghalsiger: zu versuchen, ihr den Hof zu machen. Denn wenn er etwas noch mehr liebte als den Kampf, dann waren es die Frauen. Doch offenbar hatte er von Anfang an andere Motive. “Dennoch kann ich das nicht gutheißen!” “Ein GlĂŒck, dass ich der Prinz bin und du meinen Befehlen zu folgen hast!” “NatĂŒrlich werde ich tun, was Ihr verlangt, Toshiro-sama.” Dies allerdings unfreiwillig. Und sie wĂŒrde nicht mĂŒde werden, ihre Bedenken mit ihrem Meister zu teilen. “Dennoch macht Ihr es mir nicht gerade leicht.” “Du bist stark. Du wirst das schon schaffen!” Sorglos verschrĂ€nkte Toshiro seine Arme hinter dem Kopf und begann zu pfeifen. “Mögen uns die Götter hold sein!” Und da war er wieder! Der unverbesserlich sorglose Prinz. Am Tag seiner Geburt musste sie seinem Vater mit zarten fĂŒnf Jahren schwören, ihn unter Einsatz ihres Lebens zu beschĂŒtzen. Sie musste seiner Entscheidung folgen. Als seine LeibwĂ€chterin stand es ihr nicht zu, ihn zu irgendetwas zu zwingen. Sie musste darauf vertrauen, dass er irgendwann von selbst die Erkenntnis erlangte, dass dieses Teufelsweib Gefahr bedeutete, und er endlich zur Vernunft kam. Bis dahin blieb ihr nichts anderes ĂŒbrig, als ihre Aufgabe unter diesen widrigen UmstĂ€nden so gut zu erfĂŒllen wie möglich.   Belanor saß in sich zusammengesackt auf der Pritsche der Kerkerzelle, in die er nach seinem Gewaltexzess von der Stadtwache geworfen wurde. Seine Ellbogen lasteten auf seinen Schenkeln, wĂ€hrend seine Finger tief in seinen zerzausten Haaren vergraben waren. Die Augen fixierten starr einen willkĂŒrlichen Punkt am Zellenboden. Der Diplomat verharrte so ohne jegliche Bewegung. Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nur grob abschĂ€tzen. Vielleicht ein paar Stunden? Um ehrlich zu sein, interessierte es ihn wenig. Tief im Inneren des Verließ strahlten die WĂ€nde aus schwarzem Basaltgestein die WĂ€rme des Magmasees ab. Aber die KĂ€lte des Schocks saß zu tief in den Knochen Belanors, als dass diese WĂ€rme es vermochte, ihm ein wenig Linderung zu verschaffen. Seine Gedanken wurden unentwegt vom Bild seiner Geliebten und dem, was man ihr angetan hatte, heimgesucht und kreisten um die Frage, womit Sandra das verdient hatte. Dennoch war dies keine Entschuldigung dafĂŒr, das Gesicht eines freien Mannes zu Brei zu schlagen. Das war dem Schwarzelf bewusst. Sicherlich wĂŒrde er schon bald wegen seiner Tat von der Stadtwache verhört werden. Zeit hatte fĂŒr ihn die Bedeutung verloren. So war es auch unklar, ob die KerkertĂŒr wirklich einen Moment nachdem sich der Gedanke daran formte, aufgestoßen wurde oder ob noch einmal Stunden dazwischen vergangen waren. Ausdruckslos sah Belanor zu dem Mann, der an die GitterstĂ€be herantrat. “Ich fiel bald aus dem Stuhle, als mich die Kunde erreichte”, sprach ein ĂŒberaus verwirrter und ebenso enttĂ€uschter Alaric. Der zweite Prinz von Aschfeuer erkannte den geschickten Diplomaten nicht mehr wieder. “Ihr sollt auf der Straße einen Passanten halb tot geprĂŒgelt haben, meinten die BĂŒttel.” Der Elf vor den Gittern sah den dahinter perplex an. “Ich wollte es nicht glauben, bis ich Euch hier drinnen sah. Gleich nach Eurer Heimkehr auf der Straße eine SchlĂ€gerei anzufangen, sieht Euch nicht Ă€hnlich. Was ist in Euch gefahren?” “Sie ist tot!” Plötzlich starrte Belanor den Prinzen an und riss die Augen weit auf. “Ermordet! Habt Ihr verstanden?! Ermordet!” “Wer wurde ermordet?” “Das einzige, was ich geliebt habe.” Alaric war klar, dass damit nicht seine Schwester gemeint sein konnte. Zum einen hatte er sie vor einer halben Stunde noch gesehen und zum anderen wurde hinter vorgehaltener Hand schon lange ĂŒber den Zustand der Ehe Lezabels getuschelt. Zwar machte er sich nichts aus dem GeschwĂ€tz in den GĂ€ngen und Gassen, doch jedes GerĂŒcht beinhaltete stets einen Funken Wahrheit. “Eure Geliebte?”, schloss er aus seinen Überlegungen. “Sandra!”, schrie Belanor gequĂ€lt auf. “GeschĂ€ndet hat man sie!” Danach sank er zusammen und begann entsetzlich zu weinen. “So blau!” Wortbrocken unterbrachen seine Qualen. “Ich habe noch nie so einen blauen Hals gesehen!” “Mir ist klar, wie sich das anhören muss”, eröffnete Alaric, “aber vielleicht solltet Ihr Euch beruhigen und ganz von vorn beginnen. Sonst kann ich Euch nicht helfen.” “Womit wollt Ihr helfen, Hoheit?!”, wehklagte der inhaftierte Botschafter. “Ich kann alles in meiner Macht stehende tun, damit ihr Gerechtigkeit widerfĂ€hrt." “Sie ist tot! Keine Gerechtigkeit der Welt wird das Ă€ndern!” “Aber ich kann den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen!” Belanor sammelte sich und atmete tief ein, als versuchte er mit der Luft die StĂ€rke einzusaugen, die er fĂŒr das Kommende benötigte. “Als ich von meiner Reise in den Palast zurĂŒckkehrte, erwartete mich schon Eure Schwester. Die Fahrt war anstrengend aber diese Hexe hatte nichts besseres zu tun, als sich an mich ranzuschmeißen, also leistete ich ihr Beischlaf, damit sie nicht wieder Streit anfĂ€ngt.” Den Zustand dieser Ehe als “zerrĂŒttet” zu bezeichnen, wĂ€re die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Alaric machte es traurig. Als Lezabel den Botschafter heiratete, hatte er seiner Schwester das GlĂŒck gewĂŒnscht. Er glaubte, es wĂ€re Balsam fĂŒr ihre Seele und vielleicht tĂ€te sie irgendwann ihren Hass auf die Menschen und die ganze Welt vergessen. Welch ein naiver Idiot er doch war. So funktionierte das einfach nicht
 “Ich wartete, bis sie schlief und stahl mich davon. Danach bin ich in die Vorstadt gegangen und habe das Haus von Sandra besucht.” Den Schwur seiner Frau gegenĂŒber zu verraten, sei ihre Beziehung noch so kaputt, widerte Alaric an. Ein ehrloses Verhalten sondergleichen! Ein hinterhĂ€ltiger Verrat an Lezabel und mindestens genauso schĂ€ndlich dieser anderen Frau gegenĂŒber, die fĂŒr die Fleischeslust Belanors herhalten musste. Keine von ihnen hat das verdient! Aber Alaric wusste, dass ihn seine Ansichten nur stören wĂŒrden. Und es stand ihm eigentlich auch nicht zu, ĂŒber etwas zu urteilen, wovon er die Einzelheiten gar nicht kannte. Ginge es nicht um die Familie, wĂŒrde er es ganz bestimmt auch nicht tun. Er musste sich davon befreien. Es gab immerhin einenMord! “Die TĂŒr stand offen. Das machte mich stutzig. Ich betrat das Haus und dachte, dass sie vielleicht schon im Bett auf mich wartete
” Belanor verließ die mentale StĂ€rke wieder. Er sackte zusammen und legte das Gesicht in die HandflĂ€chen. “Und dann?” “Das tat sie auch
”, brachte der Diplomat weinend hervor. “Wie habt Ihr sie aufgefunden?” Alaric beobachtete sein GegenĂŒber. Der Verlust seiner Geliebten hatte ihn sichtlich getroffen. Es waren wohl doch keine leeren Worte gewesen. Ihn voreilig zu verteufeln war falsch. Offenbar teilten die zwei etwas, was er fĂŒr Lezabel nicht oder nicht mehr empfinden konnte. Aber hĂ€tte er nicht die Scheidung verlangen können, anstatt Lezabel hinter ihrem RĂŒcken zu betrĂŒgen? Alaric spĂŒrte Mitleid ins sich aufkeimen Die Gedanken von eben taten leid. Genauso das er ihn jetzt ausquetschte, wie eine reife Frucht. Doch es musste sein
 “Sie lag auf dem Bauch”, antwortete Belanor unter seelischen Qualen. “Man hatte sie erwĂŒrgt. Und man hatte noch mehr mit ihr getan. Allein beim Gedanken daran verlangt es mir danach, das Dreckschwein zu vierteilen, was dafĂŒr verantwortlich ist!”. “Rein vom Gesetz her ließe sich das einrichten”, meinte Alaric nachdenklich. “Aber warum habt Ihr einen Unbeteiligten attackiert?” Belanor riss sein Haupt empor. “Weil ich das Lachen nicht mehr ausgehalten habe!” “Das Lachen?” “Als ich Sandra
 gefunden habe, traf es mich wie ein Schlag. Ich lief orientierungslos durch die Straßen und habe mich bestimmt auch ĂŒbergeben.” “Das war der Schock. Ihr mĂŒsst einen Eindruck gemacht haben. Der Pöbel hielt Euch bestimmt fĂŒr besoffen. Hat der Mann deshalb gelacht?” “Nicht nur er! Alle haben gelacht! Es war, als lachten sie ĂŒber Sandra!” “Ich verstehe
” “Gar nichts versteht Ihr!” Belanor stießen die Worte des Prinzen sauer auf. ”Oder hat man Eure Geliebte zu Tode vergewaltigt?!” Wie konnte er es wagen, zu behaupten, dass er ihn verstehe? “Gar nichts versteht Ihr!” “Ich rede mit der Stadtwache und lasse das Nötige veranlassen. Unter diesen UmstĂ€nden mĂŒsst Ihr mitnichten in diesem Loch verrotten. Ich werde mich fĂŒr Hausarrest und einen nachsichtigen Richter einsetzen.” “Und was soll das bringen? WofĂŒr soll ich jetzt noch leben?” “Ein Verlust ist niemals leicht und es wird nicht aufhören wehzutun. Aber mit der Zeit wird es immer weniger schmerzen.” Alaric wusste, dass er nicht mitreden konnte. Er erinnerte sich kaum an seine Mutter, aber er sah, was ihr Verlust aus seinen Geschwistern gemacht hatte und das genĂŒgte ihm, um alles zu versuchen, dass Belanor sich nicht dem Hass und der Gewalt ergab. “Lasst mich allein!”, forderte Belanor. “Ich habe genug!” Alaric spĂŒrte, dass jedes weitere Wort vergebens wĂ€re. Er trat wortlos von den GitterstĂ€ben weg und verließ den Kerker. Hinter ihm schoben die Wachen die massive, eisenbeschlagene TĂŒr zu und der Diplomat war wieder allein mit seinem Kummer.   Hinter dem Pass nach Yiasul befand sich die Handelsstadt Argentoile. Die mediterrane Landschaft dominierte hier und man wĂŒrde kaum glauben, im Kaiserreich Aschfeuer zu sein, könnte man nicht am weit entfernten Horizont die AschesĂ€ule des Elendsschlund erspĂ€hen, wie sie unheilschwanger in den Himmel aufstieg. Die Stadt stand Nebula und ihren Begleitern offen, nachdem sie getarnt als HĂ€ndler aus der WĂŒste eingedrungen waren. Es stellte sich als ĂŒberraschend einfach heraus, in den Massen unterzutauchen. In einer großen Gemeinschaft kĂŒmmerten sich die wenigsten um einander, geschweige denn um Fremde aus dem Morgenland, die nur kamen, um ihre GeschĂ€fte zu tĂ€tigen und danach wieder zu verschwinden. Aber die GleichgĂŒltigkeit der Bewohner von Aschfeuer kam ihrer Sache zu Gute, also konnte sie es getrost mit GleichgĂŒltigkeit ihrerseits beantworten. Nebula fĂŒhlte sich wie befreit, da sie endlich das ungeliebte Kopftuch gegen ihren wohl vertrauten Kapuzenmantel eintauschen konnte. Sie befanden sich nun offiziell im Feindesland. Aus diesem Grund wollten sie kein Risiko eingehen, aufzufallen. Daher teilten sie sich auf und mieteten sich in unterschiedliche Herbergen ein. Argentoile war groß genug, so dass sie zahlreich vorkamen. NatĂŒrlich bezogen Clay und Cerise ein Zimmer. Der Schwarzhaarige hatte vorgeschlagen, Annemarie mitzunehmen. In Anbetracht ihrer Haarfarben könnten sie die kleine locker als ihre Tochter ausgeben, ohne dass jemand Fragen stellen wĂŒrde. Die fehlenden Spitzohren wĂ€ren auch nicht weiter schlimm. Wenn MischblĂŒter wie Cerise mit einem Menschen ein Kind zeugten, war es sehr wahrscheinlich, dass dieses Merkmal endgĂŒltig verloren ging. Cerises Ohren waren auch nicht mehr so spitz, wie es jene ihres elfischen Elternteils gewesen sein mussten. NatĂŒrlich gefiel es der Rothaarigen gar nicht, sich wegen des Kindes in Enthaltsamkeit zu ĂŒben. Eigentlich hatten Nebula und Henrik geplant, sich als Geschwister einzumieten, doch der Herbergsbesitzer mutmaßte gleich, dass sie verheiratet waren. Warum passierte das immer wieder? War es wirklich so offensichtlich, das die Prinzessin den Schmied heimlich nachsah, wenn niemand darauf achtete? Nein, quatsch! Das tat sie gar nicht! Aki und Toshiro hingegen konnten nicht verbergen, dass sie aus weiter Ferne kamen. Ihre mandelförmigen Augen und die akzentuierten Wangenknochen verrieten ihre fernöstliche Herkunft. Stattdessen entschieden sie sich dafĂŒr, sich gar nicht zu verstellen. Toshiro trat als Adliger auf und stellte seine LeibwĂ€chterin als seine Konkubine vor. Aki spielte wenig begeistert ihre Rolle. Das konnte wahrlich nur auf Toshiro-samas Mist gewachsen sein! Nachdem auch die Unterbringung ihrer sieben Sachen geregelt war, beschloss die Kerngruppe, sich rein zufĂ€llig auf einem der MĂ€rkte ĂŒber den Weg zu laufen und gemeinsam zu erkunden, was die Stadt ihnen zu bieten hatte. Sofort zog es die kriegerisch veranlagte Prinzessin zum nĂ€chsten Waffenstand. Zwar benötigte sie nichts, aber einfach mal gucken war nicht verboten. In dem Punkt war sie wohl ganz klischeehaft weiblich, auch wenn es ihr mehr das Schwert als der Schuh angetan hatte. Sie entdeckte ein schönes StĂŒck und ließ es sich herĂŒberreichen. Verspielte Gravuren durchbrachen die Reflektion des Sonnenlicht. Dieses Schwert war eindeutig fĂŒr den Schaukasten geschaffen worden. Plötzlich schoss ein dunkler Schatten ĂŒber den gepflasterten Boden des Marktes und verstörte Jauchzer ertönten. Sofort blickten Nebula und die anderen gen Himmel und entdeckten den Verursacher. Ein Drache war soeben ĂŒber die Stadt geflogen. Das schuppige UngetĂŒm schien ein kleines Dorf etwa einen halben Tagesmarsch entfernt anzusteuern. Nebula ahnte nichts Gutes.   🌱   Der beißende Geruch der noch immer zĂŒngelnden Glut brannte in ihren Lungen. Von weitem konnte man schon die RauchsĂ€ulen aufsteigen sehen. Obwohl sie sich sofort zum Ort des Geschehens aufmachten, nachdem das schuppige UngetĂŒm ĂŒber ihre HĂ€upter hinweg gesegelt war, erreichten sie das Dorf erst viele Stunden spĂ€ter. Zu spĂ€t, um noch etwas ausrichten zu können. Die Überreste der GebĂ€ude gaben ihrem eigenen Gewicht nach. Wo man hin sah, pflasterten bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichen die schlammigen Gassen und Pfade. Überall stank es nach verbranntem Fleisch und Tod. Geschockt sahen Nebula und ihre Begleiter, was von dem einst lebendigen Dorf ĂŒbrig geblieben war. Der Drache war natĂŒrlich schon seit Stunden fort. Eine Spur der VerwĂŒstung war das Einzige, das die Kreatur hinterließ. “W-Was ist hier bloß passiert?”, machte sich Henrik Luft. “Der Drache hat hier alles abgefackelt”, stellte Nebula fest. “Ist auch schwer zu ĂŒbersehen”, kommentierte Cerise. “Mir wird ĂŒbel”, gestand Clay ein. Die GerĂŒche an diesem Ort waren fĂŒr ihn und seine Nase zehnmal schlimmer als fĂŒr die anderen. “Warum w-wurde das Dorf a-angegriffen?”, grĂŒbelte Henrik. “Vielleicht wurde es ihm befohlen”, mutmaßte Clay. “Im TrĂŒben stochern bringt uns auch nicht weiter!”, merkte Nebula an. “Lasst uns die TrĂŒmmer durchsuchen. Vielleicht finden wir da Antworten.” Angesichts der schrecklichen Anblicke, die dieser Ort fĂŒr sie bereithielt, war es eine weise Entscheidung gewesen, Annemarie bei Toshiro und Aki zu lassen. Grausam verstĂŒmmelte Leichen sind nichts, das man einem Kind zeigen sollte. Die Gruppe verteilte sich und begann, die Überbleibsel der Siedlung auf Links zu drehen. Cerise und Henrik hockten jeweils ĂŒber einem TrĂŒmmerhaufen und gruben sich durch die Fragmente. Als er ein Brett zur Seite rĂ€umte, erschrak Henrik. Eine kleine, von Ruß bedeckte Hand war darunter zum Vorschein gekommen. “Oh mein Gott!”, rief er aus. Dass auch Kinder bei diesem Angriff ums Leben gekommen sein mussten, war logisch, aber erst jetzt wurde es ihm schmerzlich bewusst. Clay und Nebula konnten ihre große Kraft dazu verwenden, schwere Balken und Mauerwerk beiseite zu rĂ€umen. Was war das? Nebula vernahm ein schwaches Rufen. “Hilfe!” Das hatte sie sich doch nicht eingebildet. Irgendwer war dort unten noch am Leben! Die Prinzessin setzte ihre TeufelskrĂ€fte ein, packte eines der großen TrĂŒmmerteile und warf es wie ein Spielzeug zur Seite. “Hilfe!” Diesmal war der Ruf lauter. Clays Ohren zuckten. Da er selbst mĂ€chtig LĂ€rm erzeugte, hatte er es erst jetzt gehört. Sofort begab er sich zu der Ruine, an der sich Nebula zu schaffen machte, und begann ebenfalls zu wĂŒhlen. “So helft mir doch!” Wer immer dort unten war, wurde hörbar immer schwĂ€cher. “Cerise! Henrik”, rief der JĂ€gersmann. “Kommt mal her. Da unten ist wer!” Sofort ließen die Angesprochenen alles stehen und liegen und eilten ebenfalls zur Hilfe. Alle vier stemmten und buddelten, bis sie einen Hohlraum freigelegten. Er war kaum groß genug, dass jemand hockend darin Platz finden konnte. Verzweifelt reckte eine Frau ihren Kopf durch die Öffnung und saugte die Luft ein, von der sie eben noch viel zu wenig hatte. Sie war sehr geschwĂ€cht. Mit MĂŒhe hielt sie sich am Leben fest. “Alles wird gut”, versuchte Clay auf sie einzureden. “Wir holen Euch da raus.” “Nehmt es!”, brachte die Frau aus ihren verrußten Lungen hervor. “Was sollen wir nehmen?”, versuchte Nebula zu ergrĂŒnden. Die Frau machte eine streckende Bewegung und reichte ihnen ein mit TĂŒchern umwickeltes, zappelndes BĂŒndel. Henrik nahm es entgegen. Umgehend begann das Etwas zu schreien. Es handelte sich um einen SĂ€ugling. Das Kind war etwas schmutzig, aber sonst in gutem Zustand, in Anbetracht verschĂŒttet worden zu sein. Die Frau musste es vor den herabfallenden TrĂŒmmerteilen beschĂŒtzt haben. Erstaunt sah Henrik erst zu Nebula, dann zu den anderen und schließlich wieder zu der Frau. “Ein Kind?”, staunte Nebula. “Lescar”, bettelte die Frau verzweifelt. “Br
 Bringt ihn nach Lescar!” “Was ist in Lescar?”, fragte Clay. “E
 Er muss dort
 hin! Bitte! Er
 muss
” Der VerschĂŒtteten schwanden endgĂŒltig die KrĂ€fte und sie konnte sich nicht mehr halten. Sie begann wieder tiefer in das Loch hineinzurutschen. GeistesgegenwĂ€rtig packten Nebula und Clay jeweils einen Arm. Gemeinsam zogen sie die Frau heraus. Ein maltrĂ€tierter Körper mit schwersten Verbrennungen kam zum Vorschein. Durch die Reste ihrer Kleidung blitzten die mit Brandblasen ĂŒbersĂ€ten, zerschmetterten, blutenden Beine hervor. Vorsichtig wurde die Frau auf den RĂŒcken gelegt. Cerise hockte sich neben sie hin und begutachtete die Verletzungen. Ihrer Sprachlosigkeit entnahmen die anderen, dass es wirklich so ernst um die Fremde stand, wie es den Anschein hatte. Cerise wechselte zur oberen HĂ€lfte und prĂŒfte den Atem. Als sie diesen nicht mehr hören konnte, suchte sie einen Puls. Auch hier wurde sie nicht mehr fĂŒndig. Mit einem KopfschĂŒtteln bereitete sie ihre gebannt auf sie schauenden Begleiter auf ihre Schlussfolgerung vor. “Die ist hinĂŒber”, sprach sie nur, stand auf und entfernte sich von der Leiche. Da konnte niemand mehr etwas machen. WĂ€hrenddessen hatte der SĂ€ugling in Henriks HĂ€nden aufgehört zu schreien. Stattdessen streckte er seine Arme aus und strahlte den Schmied freudig an. Babies waren so unschuldig. Der Kleine verstand gar nicht die Schwere der Situation. Fröhlich lĂ€chelte er, wĂ€hrend seine Finder nicht wussten, was sie als nĂ€chstes tun sollten.   Bald sollte Belanor dem Haftrichter vorgefĂŒhrt werden. Das hatte ihm eine der Wachen mit Garfieldgrinsen im Gesicht mitgeteilt. Er war noch immer nicht zu einem Schluss gekommen, ob der Mann ihn verhöhnen wollte, da ein Diplomat hinter Gittern kein alltĂ€glicher Anblick war, oder nur ein paar Mal zu oft auf den Helm bekommen und nun nicht mehr alle Kerzen im Kronleuchter hatte. Der Haftrichter konnte sich ruhig noch Zeit lassen. Belanor wollte einfach nur seine Ruhe. Hier unten im Kerker hatte er dir zu genĂŒge! Hinter diesen GitterstĂ€ben befand sich sein eigenes kleines Reich der Finsternis, in dem er den Verlust des einzigen Lichts in seinem Leben beweinen konnte. Er war genĂŒgsam. Viel mehr als die harte Pritsche an der Wand und die stinkende Latrine in der Ecke benötigte er dazu nicht. Die meiste Zeit saß er sowieso nur herum und versuchte, den Anblick aus seinem Kopf zu bekommen, der sich tief in seine Seele eingebrannt hatte. Dieses Unterfangen war bisher von wenig Erfolg gekrönt. Belanor vernahm, dass die schwere TĂŒr zu den Verließen erneut aufgestoßen wurde. Was wollte der Prinz schon wieder von ihm? Geduldig wartete der Diplomat, bis die Person vor die GitterstĂ€be trat. Zu seiner Überraschung war es nicht Alaric, der sich vor ihm aufbaute. Stattdessen schritt Lezabel an die Kerkerzelle heran. Zwei Palastwachen begleiteten sie. Überrascht sah Belanor seine Frau an. “Mein liebster Gemahl, was habt Ihr nur angestellt”, sprach sie mit weicher Stimme. Belanor war nicht klar, ob auch sie ihn verhöhnen wollte. “Ihr wart so plötzlich verschwunden, als ich nach unserer gemeinsamen Nacht erwachte. Voll der Sorge habe ich nach Euch suchen lassen. Mein kleiner Bruder verriet mir, dass Ihr im Kerker sitzt. Ich wollte es nicht glauben.” Sie muss sich wahrlich einen abbrechen, dachte Belanor. Die Rolle des besorgten Eheweibes zu spielen, war eindeutig zu viel des Guten. Es passte so gar nicht zu ihrem Charakter. Jetzt war er sich sicher, dass Lezabel ihn verhöhnte! “Mein Bruder meinte, Ihr hĂ€ttet in der Unterstadt eine SchlĂ€gerei angezettelt”, fuhr Lezabel aufgesetzt melodramatisch fort. “Aber warum tut Ihr das, wo Eure Waffe nicht die Faust, sondern die Zunge ist?” Am liebsten wĂŒrde er sie sofort anschreien. Doch er sorgte sich um das Bisschen, was ihm von seinem Ruf geblieben war. Die Etikette zu wahren war mindestens genauso wichtig wie sein Stolz. Darum entschied er, bei dem Spiel seines Eheweibes mitzumachen. “Wollen wir das wirklich besprechen, wĂ€hrend fremde Ohren lauschen?”, fragte er und meinte offensichtlich die Palastwachen. “Das sind taube Ohren”, meinte Lezabel. “Diese MĂ€nner hören nur Befehle.” “Welche Gefahr fĂŒrchtet Ihr hier unten, dass Ihr sie mitbringt?” “Sie wĂŒrden mir selbst auf den Abort folgen, wenn sie könnten. Es sind treue Seelen, die nur ihre Pflicht erfĂŒllen.” “Wollt Ihr, dass sie Euren privatesten Geheimnissen lauschen?” “Ihr habt so Recht, mein liebster Gemahl.” Lezabel gab ihren Begleitern ein Zeichen, woraufhin diese kehrt Marsch machten und durch die KerkertĂŒr heraus marschierten. “Ihr seid so klug, darum habe ich Euch geheiratet”, sprach Lezabel wĂ€hrenddessen. Belanor ging nicht auf ihre Heuchelei ein. Die TĂŒr fiel ins Schloss und sofort froren die Mimen auf den Gesichtern ein. “Bist du fertig mit dem Theater?!”, beschuldigte Belanor seine Frau. Lezabel lachte hexenhaft. “Als ich hörte, dass man Euch ins Loch geworfen hat, wollte ich es wirklich nicht glauben. Das musste ich mit eigenen Augen sehen.” “Und? GefĂ€llt Euch, was Ihr seht?” “Wahrlich erquickend und labend!” “Habt Ihr nun Eure Neugier gestillt? Dann tretet mir aus den Augen.” Lezabel trat stattdessen nĂ€her an die GitterstĂ€be heran. “Ich frage mich noch immer, was Euch so weit trieb, dass Ihr Euch am Pöbel vergeht.” “Hat der Prinz es Euch nicht verraten?” “Er meinte etwas davon, dass Ihr Eure wahre Liebe verloren hĂ€ttet. Aber das kann doch gar nicht sein. Ihr habt mir Eure ewige Liebe geschworen und ich bin noch sehr lebendig.” “Also hat er es Euch doch erzĂ€hlt.” “Aber Eure Worte sind so seltsam, Liebster.” Verhöhnte sie ihn oder glaubte sie tatsĂ€chlich, was sie da absonderte? “Macht Euch nichts vor. Ihr wisst genau, dass zwischen uns lĂ€ngst keine Liebe mehr ist. Wenn ich Euch Beischlaf leiste, ist dies nicht mehr als PflichterfĂŒllung.” “Ach so?”, erwiderte Lezabel in höchst ironischem Tonfall. “Und ich dachte, Euer wildgewordenes Herumgestocher zwischen meinen Schenkeln wĂ€re nur Ausdruck Euer brennenden Leidenschaft. Aber nun wird mir einiges klar. Bei Euren anderen Pflichten strebt Ihr schließlich auch danach, so schnell wie möglich zum Abschluss zu kommen.” “Wollt Ihr mich beleidigen?”, fragte Belanor rhetorisch. “Ich?”, spielte Lezabel die Getroffene. “Nicht doch!” “Beleidigt nicht meine Intelligenz, indem Ihr Euch dumm stellt.” “Aber ist das nicht das, was ihr MĂ€nner wollt? Ein dummes Frauchen, dass Euch auf allen Ebenen unterlegen ist und zu Euch aufsieht, wie zu einem Gott?” “Ich gehöre nicht zu diesen MĂ€nnern!” “Eine Schande! Solche sind mir die Liebsten. Sie sind am einfachsten zu manipulieren, weil sie aufgrund ihres riesigen Egos ihren winzigen Intellekt maßlos ĂŒberschĂ€tzen.” “Mit Verlaub, Ihr seid eine boshafte Hexe!” “Ich mag ein MiststĂŒck sein, aber ich habe nie unseren Schwur verraten.” Endlich hatte er sie soweit. Es war in der Tat nicht mehr als ein Schauspiel, das sie ihm vorfĂŒhrte. “Also wisst Ihr es doch.” “Alle haben es gewusst!”, erhob die Prinzessin ihre Stimme. “Der ganze Hofstaat tuschelt darĂŒber, wie Euer Glied sich andauernd in fremden Genitalien wiederfindet!” Lezabels Wut trieb ihr Zornesfalten in das sonst so glatte Gesicht. “Nur ich war die blöde Kuh, die sich vorgemacht hat, dass dies alles nur GerĂŒchte sind.” Auf einmal schlug ihre Mime in ein diabolisches Grinsen um. “Aber damit ist es jetzt vorbei!” Schock zeichnete sich in Belanors Gesicht ab. “KĂŒnftig werdet Ihr Euren Schwanz in der Hose lassen”, fuhr Lezabel fort. “Was habt Ihr getan?!”, verlangte der Diplomat zu erfahren. Lezabel beugte sich noch nĂ€her an die Gitter heran, bis ihr Gesicht das Eisen berĂŒhrte. “Seid Ihr da noch nicht von selber drauf gekommen?”, verhöhnte sie ihren Gatten. Belanor umklammerte die GitterstĂ€be. “Was habt Ihr getan?!!”, schĂ€umte er. Lezabel zuckte zurĂŒck. “ZĂŒgelt Euer Temperament. Ich heirate einen Mann und keinen tollwĂŒtigen Kampfhund!” “REDET!” “Ich ließ Euch beschatten. Viel habe ich Euch zugetraut, doch was meine Spione mir berichteten, war unaussprechlich. Anstatt dass Ihr den Anstand habt, mich mit einer richtigen Frau zu betrĂŒgen, habt Ihr es mit diesem Menschlein getrieben. Da hĂ€ttet Ihr genauso gut ein Schaf, ein Schwein oder sonst ein Hoftier ficken können.” WĂŒtend trat und schlug Belanor nach Lezabel, doch die Gitter hielten. “Ihr wollt wissen, was ich tat?”, fragte sie ihn daraufhin. “Ich habe Euer kleinen Schlampe ein paar richtige MĂ€nner geschickt.” “Nein!” Voll des Entsetzen stellte Belanor das Randalieren ein. “Das
 wart Ihr?!” Die Prinzessin genoss den Anblick, wie ihre EnthĂŒllung sich in die Seele ihres GegenĂŒbers fraß. Offenbar hatte er ihr das nicht zugetraut. Seine Realisation, dass sie hinter Sandras Ableben steckte, war zu köstlich. Wohltuender als ein Bad in warmer Milch. Er musste es einfach erfahren, damit er noch mehr leiden konnte. Sonst wĂ€re es nicht halb so befriedigend. “Ich habe die MĂ€nner handverlesen, die Eure kleine Schlampe totgefickt haben! Ich trug ihnen auf, jede einzelne ihrer Öffnungen zu stopfen. Und sie haben ihre Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt.” Lachend genoss Lezabel ihren Triumph ĂŒber den untreuen Gatten. Sein Schmerz war die gerechte Strafe fĂŒr seinen Ehebruch. “Gefesselt hat man sie und dann geschĂ€ndet. Am Anfang soll sie noch Euren Namen gerufen haben. Aber als einer ihr seinen Schwanz in den Mund geschoben hat, war endlich Ruhe! Dann soll sie nur noch geheult haben, wĂ€hrend man es ihr besorgt hat.” “Ihr grausames MiststĂŒck!”, schrie Belanor. “Ich werde Euch den Hals umdrehen!” Erneut ging er auf die Gitter los. “Man sollte mit Euch das Gleiche machen! Euch solange vergewaltigen, bis es Euch oben wieder herauskommt!” AmĂŒsiert kicherte Lezabel. “Wie ein cholerischer Vogel in seinem KĂ€fig”, lachte sie. Ihr gefiel, wie er sich wand, dieser Wurm. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Ein herrlicher Anblick! “Mir den Hals umdrehen?”, fragte sie anschließend. Provokant kam sie in seine Reichweite. “Tut Euch keinen Zwang an!” Sie reckte ihm den Hals hin. “Versucht es, wenn Ihr Euch traut!” Diese Gelegenheit ließ er nicht verstreichen. Belanor schob den rechten Arm durch die GitterstĂ€be und umklammerte Lezabels Hals. Er wandte alle seine Kraft auf, doch sie verzog keine Mime. “Ist das schon alles, was Ihr drauf habt?”, provozierte sie ihn. “Könnt Ihr nicht einmal meinen zarten verletzlichen Hals zudrĂŒcken? Seid Ihr sogar dazu zu schwach? Ich wusste doch gleich, dass Ihr kein richtiger Mann seid!” Die Nadelstiche wirkten und Belanor packte sie mit der verbliebenen Hand. Sein Zorn mobilisierte aus unbekannter Quelle noch mehr KrĂ€fte. Er wĂŒrgte Lezabel unerbittlich weiter, obwohl sie kaum eine Reaktion zeigte. “JĂ€mmerlich!”, schrie sie ihn an. Ihre roten Augen begannen zu glĂŒhen und schwarze Arterien erschienen auf ihren Armen und in ihrem Gesicht. “LAsS mICh dIR zEiGeN, wIE dAs GeHT!” Die dĂ€monische Kraft des Draco Oculus durchströmte den Körper der Prinzessin. Sie spĂŒrte, dass die böse Macht in jede Faser ihres Körpers eindrang. Es war berauschender, als es die BerĂŒhrung eines Mannes je sein konnte! Sie umklammerte die Arme ihres Mannes und befreite sich aus seinem WĂŒrgegriff, indem sie die ExtremitĂ€ten Belanors entgegen all seiner Gegenwehr von sich weg drĂŒckte. Nachdem dies vollbracht war, streckte sie ihrerseits einen Arm durch die GitterstĂ€be, packte seine Kehle mit der rechten Hand und begann ihn zu wĂŒrgen. Dabei hob sie ihn an. Seine Beine verloren den Kontakt zum Boden und die Luft zum Atmen wurde ein knappes Gut. Instinktiv versuchte er, die Hand seiner Frau von seinem Hals zu entfernen, doch seine Kraft reichte dafĂŒr nicht aus. Dann trat er nach ihr, doch auch das beeindruckte sie wenig. Belanor tat das einzige, was ihm noch geblieben war, ihr seine Verachtung zu demonstrieren. Er sammelte den Speichel in seinem Mundraum und spuckte Lezabel ins Gesicht. Angewidert wandte seine Frau den Kopf ab. Sofort ließ sie ihn bezahlen, indem sie ihren Gatten gegen die Zellenwand ein paar Meter hinter ihm stieß. Voll des Hasses blickte Belanor auf, der Hexe von Eheweib ins Gesicht. Das dĂ€monische GlĂŒhen in ihren Augen war bereits wieder vergangen und die schwarzen Arterien verschwunden. “Von mir aus könnt Ihr hier unten verrotten, Liebster Ehemann”, sprach sie, nachdem sie sich den Speichel aus dem Gesicht wischte. “Ihr werdet verrotten, sobald man von Euren Taten erfĂ€hrt!”, entgegnete er. “Das wird sich zeigen”, antwortete Lezabel. “Was glaubt Ihr, wem man mehr Glauben schenkt? Der armen Betrogenen oder dem umtriebigen Bastard?” Hexenhaftes Lachen hallte triumphierend durch den Kerker. GemĂ€chlich schritt die Prinzessin davon und ließ ihren tobenden Gemahl zurĂŒck. Sie hatte erreicht, was sie wollte.   Der SĂ€ugling lag rĂŒcklings auf der Platte eines runden Tisches und wackelte hektisch mit seinen kleinen Ärmchen und Beinchen. Sein anfangs niedliches LĂ€cheln war umgeschlagen in ein ohrenbetĂ€ubendes Geschrei. Der Junge kniff die Augen zusammen und das Gesicht war von der Anstrengung schon rot angelaufen. Ratlos standen die jĂŒngeren Gruppenmitglieder um den Tisch herum, wĂ€hrend Clay sich das Schauspiel aus der Ferne ansah. Inzwischen waren sie aus dem zerstörten Dorf zurĂŒck und hatten den SĂ€ugling in den Gutshof gebracht, in dem Clay, Cerise und Annemarie eingemietet waren. “Was hat er denn?”, fragte Nebula in die Runde. Cerise hob abweisend die Arme an. “Keine Ahnung”, behauptete sie. “Babies gehören zu den Dingen, die ich tunlichst vermieden habe.” “Eine reife Leistung
”, murmelte Nebula. “Der ist echt laut!”, merkte Annemarie an. “Aber sĂŒĂŸ!” “V-Vielleicht hat er Hunger”, mutmaßte Henrik. “Könnte sein
”, pflichtete die blonde Prinzessin bei. “U-Und?”, druckste Henrik herum. “Was ‘Und’?”, zischte Nebula. “K-Kannst du ihn nicht fĂŒttern?” “Womit denn?” “D-Die B-Brust g-geben?” Schlagartig fĂ€rbte sich das royale Gesicht scharlachrot. “W-Was?” Nebula wurde zum Bildnis der EntrĂŒstung und ihre flache Hand fand den Weg auf Henriks Wange. “P-Perversling!”, schimpfte sie. Cerise wandte sich zum Kichern ab. Sie hatte zwar keine Ahnung von Babies, aber so viel, dass eine Frau erst eins bekommen musste, um Milch zu haben, war ihr schon bekannt. Auch Clay fand das Gehabe der “Kinder” belustigend. Noch immer verharrte er fernab des Tisches an der Wand und genoss die Darbietung. “Aua!”, beschwerte sich der Braunhaarige und rieb die geschwollene GesichtshĂ€lfte. “Frechheit! Ich bin doch keine Milchkuh!” Und selbst die mussten vorher kalben! “A-Aber was machen w-wir dann mit ihm?” “Heuern wir eine Amme an”, warf Cerise ein. “Soll die dann die ganze Zeit mit uns rumreisen?” “Ihr könntet Henrik endlich Mal ranlassen. Ich wette, der Kleine trifft beim ersten Mal. Dann wĂ€re das Milchproblem auch gelöst.” Die Halbelfe wurde von beiden entsetzt angestarrt. “Ich glaube bis dahin ist er verhungert”, meinte Annemarie neunmalklug. Clay entschied, endlich einzugreifen. Den SĂ€ugling weiter warten zu lassen, nur damit er sich an dem unbeholfenen Verhalten seiner Begleiter erfreuen konnte, war nicht richtig. Er stieß sich aus seiner bequemen, an der Wand lehnenden Haltung ab und trat an den Tisch mit der kleinen Heulboje heran. “Lasst mich mal machen”, sagte er. “Ich hatte schließlich schon zwei von der Sorte.” Erleichtert nahmen alle anderen eine Beobachterrolle ein. “Sie haben nicht immer Hunger”, erklĂ€rte der erfahrene Vater. Clay hob das Baby an und schnĂŒffelte zwischen den kleinen Beinchen, die aus den TĂŒchern herausragten und noch immer heftig in Bewegung waren. Ruckartig rĂŒmpfte er die Nase und hielt den kleinen Stinker auf ArmlĂ€nge auf Abstand. “Manchmal haben sie die Hosen voll.”   “Vertraust du ihnen immer noch nicht?”, fragte Toshiro seine LeibwĂ€chterin. “NatĂŒrlich nicht!”, antwortete Aki. Beide lugten vorsichtig durch den Spalt der offenen TĂŒr. So hatten sie die ganze Szene, wie Nebula und die anderen ratlos mit dem SĂ€ugling zu Gange waren, beobachtet und zugegeben ebenfalls ihren Spaß damit gehabt. “Aber können solche lustigen Leute schlecht sein?” “Der grĂ¶ĂŸte Gaukler kann trotzdem ein Mörder sein!”, belehrte die Kunoichi. “Dir geht es doch noch immer um Nebula”, stellte Toshiro fest. “Toshiro-sama!”, exklamierte die Schwarzhaarige. “Leise!”, ermahnte sie ihr Gebieter. “Sonst hören sie uns noch!” “Sie ist ein Monster!” “Im Krieg sind Monster genau das, was du brauchst!”   🌱   Abermals schmerzte Alaric das Haupt von der vielen geistigen Arbeiten. Er hasste diese Verwaltungsaufgaben. Doch es waren eben seine Aufgaben, und sie wollten gemacht werden. Außerdem musste irgendwer die Ermittlungen zum Mord an der Menschenfrau leiten und da es außer ihm keinen interessierte, tat er es zusĂ€tzlich nebenbei. Er ĂŒberlegte, ob er zum Heiler gehen sollte, damit dieser etwas gegen die Kopfschmerzen unternehme, doch viel mehr als eine Paste aus Minze, Ladanum und Essig aufzutragen, wĂŒrde der wahrscheinlich auch nicht machen. Da konnte er spĂ€ter selbst die KĂŒchenkrĂ€uter plĂŒndern, sobald er sein Tagewerk verrichtet hatte. Wenn es denn jemals ein Ende nahm
 Der gefaltete Zettel zu seiner Linken kam ihm wieder in den Sinn. Erschrocken stellte er fest, dass es schon Stunden her war, dass man ihn ihm ĂŒberbracht hatte und er ihn eigentlich dringend lesen sollte. Ein Page brachte das SchriftstĂŒck und diskutierte ewig mit ihm herum, dass er sich unbedingt sofort um diese vertrauliche Angelegenheit kĂŒmmern sollte. Da er ihm aber nicht verraten wollte, worum es ging und darauf bestand, dass nur er es lesen durfte, hatte er ihn vertröstet und erst einmal mit den Protokollen zu den Ermittlungen weiter gemacht. FĂŒnf Minuten plante er dafĂŒr ein. Einen Satz wollte er noch zu Ende schreiben. Daraus wurden mehr und mehr und nun waren drei Stunden ins Land gezogen. Alaric legte den Griffel beiseite und nahm das Blatt Papier an sich. Nachdem er es aufgefaltet hatte, offenbarte es ihm seine Mitteilung: “Bitte kommt zu mir in den Kerker. Ich muss dringend mit Euch sprechen. Belanor.” Besser, wenn er es gleich hinter sich brachte. Zwar wĂŒrde Belanor ihm aus offensichtlichem Grund nicht davonlaufen, aber es wĂ€re dennoch unhöflich, ihn noch lĂ€nger warten zu lassen. Vielleicht waren ihm noch Details eingefallen, die er nun mit ihm teilen wollte.   Zwei Palastwachen standen links und rechts vom verschlossenen Durchgang zu den Kerkerzellen. Dem einen war langweilig, also pfiff er eine Melodie. Dem anderen juckte das Hinterteil und er kratzte sich, um sich Erleichterung zu verschaffen. Beide wurden von dem flackernden Licht der Fackeln angestrahlt. Hier unten gab es nur die WĂ€rme der Aschlande, aber aus Mangel an Fenstern nicht ihr Licht. Der Mann mit dem juckenden Hinterteil sah die Pfeife genervt an. Ihm gefiel das Lied wohl nicht? Miteinander sprechen taten sie auch nicht, obwohl sie sich hier seit Stunden die Beine in den Bauch standen und auf die Wachablösung warteten. Vielleicht mochten sie sich nicht besonders
 In gewohnt royaler Manier schritt der zweite Prinz die Treppe herab, welche in den kleinen Raum mit der Pforte zu den Kerkerzellen fĂŒhrte. Kaum dass die MĂ€nner ihren Oberbefehlshaber erspĂ€hten, nahmen sie eine stramme Haltung ein und beendeten jegliches Kratzen oder Pfeifen. “Eure Hoheit!”, stießen sie im Gleichklang aus. “RĂŒhren, MĂ€nner!”, befahl Alaric. Sofort wechselten die Palastwachen in einen weniger steifen Stand. “Womit haben wir die Ehre Eures Besuchs verdient?”, fragte der mit dem Juckreiz. “Ich möchte noch einmal den Gefangenen sehen.” “Aber sicher, Eure Hoheit”, bestĂ€tigte die Pfeife. Sofort wurde die schwere TĂŒr geöffnet und gab den Weg ins Innere frei. Alaric durchschritt sie und begab sich zur Zelle des Diplomaten. Der Mann pflegte zwar nicht andauernd zu Pöbeln, wie die, welche sonst in diesen RĂ€umlichkeiten untergebracht wurden, aber irgend etwas von ihm hĂ€tte man vernehmen mĂŒssen. Die WĂ€nde warfen jedes GerĂ€usch zurĂŒck. Das beunruhigte Alaric und er beschleunigte seinen Gang. Der Klang seiner AbsĂ€tze hallte wieder in der Leere. Aus irgend einem Grund war in diesem Kerker kein anderer Gefangener untergebracht. Nach ein paar weiteren Schritten hatte er die vom Eingang aus dritte Zelle erreicht und erlebte eine böse Überraschung, mit der er nicht gerechnet hatte. Er fand Belanor nicht etwa schlafend vor, so wie er es zuerst vermutet hatte. Stattdessen hing der Körper des Mannes vor ihm mit dem RĂŒcken zugewandt. Er war aufgeknĂŒpft am Laken der Pritsche, das oben an den Gittern festgeknotet war. Entsetzt eilte Alaric zu dem Haken, an dem die SchlĂŒssel zu den Zellen hing, und riss das Bund förmlich von der Wand. Hastig, aber nicht panisch, steckte er den SchlĂŒssel in das zugehörige SchlĂŒsselloch und schloss die Zelle auf. GĂŒnstigerweise hing Belanor neben der TĂŒr, wodurch Alaric einfach eintreten konnte. Sofort löste er den Körper aus dessen demĂŒtigenden, schlaffen Haltung und wuchtete ihn auf die Pritsche. RoutinemĂ€ĂŸig fĂŒhlte er nach einem Puls, auch wenn er sich das eigentlich hĂ€tte sparen können, denn die Zeichen standen ohnehin nicht gut. Das Offensichtliche bestĂ€tigte sich: Belanor, der gefeierte Diplomat des Kaiserreichs, war tot. Alaric konnte nicht begreifen, wie das möglich sein konnte. Belanor war nicht so schwach und ehrlos, dass er sich in den Tod flĂŒchtete, selbst wenn sein aufgedeckter Ehebruch mit einem Menschenweib sicher fĂŒr jeden Marktschreier ein gefundenes Fressen war, das er ausrufen könne, um damit interessierte Zuhörer anzulocken und ihnen bei der Gelegenheit gleich ein paar Waren aufzuschwatzen. Einen Selbstmord schloss der Prinz kategorisch aus! Ungehalten zitierte er den Arschkratzer und die Pfeife herbei. “MĂ€nner, Antreten!” NatĂŒrlich gehorchten sie aufs Wort und bauten sich vor ihm auf. Streng sah Alaric den MĂ€nnern ins Gesicht. “Wer war alles bei dem Gefangenen?”, stellte er sie zur Rede. “Nun
 das
”, nervös fummelte der eine am Halsausschnitt seines Brustpanzers herum. “Raus mit der Sprache!” “Man hat uns befohlen, zu schweigen”, erklĂ€rte der andere. “Dann befehle ich, dass ihr zwei sprecht!” Aber der von HĂ€morrhoiden Geplagte und der Hobbymusikant reagierten nicht. “Ihr wagt es, meine Befehle zu verweigern?” “Nun
 Na ja
 nein.” “Das bedeutet, die Person steht ĂŒber mir in der Hackordnung?” Verhaltenes Schweigen. “Also liege ich richtig.” Der Kreis der VerdĂ€chtigen verkleinerte sich dramatisch. Vor ihm hatten nur drei Personen im ganzen Kaiserreich PrioritĂ€t bei der Befehlsvergabe. Leider waren diese Leute alle mit ihm verwandt und Alaric gedachte weder seine Geschwister noch den Kaiser zu verdĂ€chtigen, ohne irgendeinen Beweis in der Hand zu haben. ZĂ€hneknirschend entließ er die MĂ€nner aus dem Verhör. “Wegtreten.” Die Kerkerwachen gehorchten. Alaric wandte sich ab und schenkte der Zelle und der Leiche darin wieder seine Aufmerksamkeit. Hier mussten sich doch Spuren finden lassen
   Nachdem Clay ihnen eine Lektion in Sachen Babysitting erteilt hatte, waren die anderen aufgebrochen, um sich in der Stadt umzuhören. Sie entschieden, dass es klug wĂ€re, sich aufzuteilen und strömten in verschiedene Richtungen aus. Henrik war zurĂŒck in den Gutshof gegangen. Nebula traute ihm nicht zu, dass er an Informationen kommen wĂŒrde. DafĂŒr war er einfach zu schĂŒchtern. Auf Cerise hingegen setzte sie ihre Hoffnungen. Wenn diese sexbesessene, mörderische Elfe etwas konnte, dann war es aus den Schatten heraus Informationen zu beschaffen. Dieser Toshiro wollte ebenfalls helfen, wovon seine Begleitung nicht besonders angetan zu sein schien. Nebula machte sich natĂŒrlich auch selbst auf den Weg. Die Kapuze tief im Gesicht, streifte sie durch Argentoile und war in Gedanken versunken. Die Geschichte mit dem Baby hatte ihr vor Augen gehalten, dass sie nicht alles wusste. Ob sie wollte oder nicht, alleine wĂ€re sie mit dem Findling aufgeschmissen gewesen. Einer dieser Momente, wo sie froh war, Freunde zu haben, die ihr halfen. Einen Moment ließ sie sich dazu hinreißen, an das Baby zu denken. Wie niedlich es lachen konnte. Der Anblick des hilflosen Geschöpfes hatte etwas in ihr bewegt, wovon sie glaubte, dass es nicht existierte. Gleichzeitig war da aber auch ihre Ahnungslosigkeit. Sie verstand sich auf das KĂ€mpfen, aber bei dem Kind hatte sie versagt. Sie ertappte sich bei der Frage, ob sie vielleicht doch irgendwann einmal eins haben wĂŒrde? Und wie wĂŒrde das funktionieren im Hinblick auf ihre KrĂ€fte? WĂ€re das Kind ĂŒberhaupt noch ein Mensch? “Jetzt reicht es aber!”, rief sie sich selbst zur Besinnung. Verdammt, warum mussten Babies so verdammt niedlich sein?! Statt sich sinnloser TagtrĂ€umereien hinzugeben, entschloss sich die Blondine, etwas Sinnvolles zu tun und befragte Passanten zu dem Dorf, das der Drache zerstört hatte. Die Leute waren bestĂŒrzt, sprachen aus, dass sie sich fĂŒrchteten, aber hatten keine wirklich gehaltvollen Dinge zu sagen. Nach ungezĂ€hlten FehlschlĂ€gen wollte sie schon aufgeben. Die Leute schienen genauso wenig zu wissen wie sie selbst. Welchen Zweck hatte es, immer wieder dasselbe zu fragen, um die gleiche Antwort zu erhalten? Sie wollte gerade wieder in der AnonymitĂ€t der Massen aufgehen, als sie an einer dunklen Gasse vorbei kam. “Ihr sucht nach Antworten?”, fragte eine mĂ€nnliche Stimme aus den Schatten. Nebula wandte sich der GerĂ€uschquelle zu. “Geht nach Lescar”, setzte die Stimme fort. “Sucht dort nach Philippe. Er wird Antworten fĂŒr Eure Fragen haben.” “Wer ist dieser Phillipe?”, rief sie in die Gasse. Kein Sterbenswörtchen wurde erwidert. VerĂ€rgert stieß Nebula in die Dunkelheit vor, fand aber niemanden. Wer auch immer mit ihr sprach, war ein Meister der Tarnung. Die Blondine fand zurĂŒck auf den Weg und tauchte zwischen den Menschen ab. SpĂ€ter sollte sie erfahren, dass die anderen auch an Philippe verwiesen wurden. In Lescar sollte sich dieser aufhalten, genau dort, wohin sie auch den SĂ€ugling bringen sollten. Das konnte kein Zufall sein!   Ammon genoss sein Leben. NatĂŒrlich besaß er als Prinz sein eigenes Schloss in der Provinz ForĂȘt de Blanchiment, von dem aus er zur Jagd reiten, die Bauern tyrannisieren und eine Vielfalt anderer Schindluder treiben konnte. All die Dinge, mit denen man sich als Feudalherr so seine Zeit vertrieb, wenn einem langweilig war. Schließlich war er nicht so bescheuert wie sein kleiner Bruder, der das spartanische Leben eines Soldaten den Privilegien eines Prinzen vorzog, wann immer er konnte. Ammon war in Gedanken versunken. Er grĂŒbelte, wie er sich heute von seiner schlimmsten Seite zeigen könnte. Was blieb ihm anderes ĂŒbrig, wenn ihn die TrivialitĂ€t des Lebens quĂ€lte, wĂ€hrend er auf Neuigkeiten zu dem von ihm in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt wartete und dieser dumme Bote schon seit Tagen ĂŒberfĂ€llig war! Er hatte schon lange nicht mehr sein Recht der ersten Nacht eingefordert. Ob zufĂ€llig gerade irgendwer in der Provinz heiraten wollte? Hoffentlich konnte der BrĂ€utigam nicht den Stechgroschen aufbringen, wie beim letzten Mal. Man, das war vielleicht eine Blamage! Und die Braut eine wandelnde SĂŒnde auf zwei Beinen. Wie gern hĂ€tte er sie das fleischerne Schwert zwischen seinen Schenkeln spĂŒren lassen, doch leider war das Gesetz das Gesetz und alles konnte man sich auch nicht erlauben. Schließlich musste man in der Öffentlichkeit sein Gesicht noch zeigen können. Die Finger des Prinzen klopften auf der Lehne seines Throns. Es wollte ihm doch tatsĂ€chlich nichts einfallen! SehnsĂŒchtig dachte er an Prinzessin Emelaigne. Elfenfrauen waren alle so schrecklich dĂŒrr. Die wollte er nicht haben! Die Menschen hatten es da viel besser! Ihre Frauen boten wenigstens etwas zum anfassen! Aus diesem Grund hatte er darauf bestanden, die Prinzessin von Morgenstern zu heiraten. Was wĂ€re es fĂŒr eine Freude gewesen, sie jede Nacht zu besteigen und es ihr zu besorgen, bis sie durchgeritten sei wie sein Gaul, den er letzte Woche notschlachten ließ. Aber aus der Hochzeit war bekanntlich nicht viel geworden. EnttĂ€uscht seufzte er. Plötzlich wurde die TĂŒr zum Thronsaal von den Wachen geöffnet. Ein Bote in schmutzigen GewĂ€ndern trat durch die Pforte ein. Ammon kicherte bei dem Gedanken, dass dieser Mann gewiss auch geritten war, wie ein Teufel. Im zĂŒgigen Schritt trat der Mann nĂ€her an den Prinzen heran und fiel vor der ersten Stufe des erhöhten Podestes auf die Knie. “Eure Hoheit!”, sprach er mit gesenktem Haupt. “Ich bringe die Kunden aus Pierre Noir.” Interessiert hob sich eine Augenbraue des Prinzen. “Sprich!”, befahl er. Der Bote hob den Kopf und sah Ammon in die Augen. “Der Magnus lĂ€sst verlauten, alles verlaufe zu seiner vollsten Zufriedenheit.” Daraufhin erklomm er die Stufen zum Thron und ĂŒbergab Ammon eine Schriftrolle. Sofort danach verneigte er sich wieder und trat zurĂŒck, bis er wieder vor der ersten Stufe des Podestes stand. Ammon brach das Siegel mit dem Wappen der Festung Pierre Noir und begann zu lesen. Ein wohlwollendes Grinsen zierte daraufhin des BlaublĂŒters Antlitz.   Ein menschlicher Sklave, gekleidet in abgerissenen Lumpen und ohne Schuhe an den Beinen, schob eine Schubkarre vor sich her. Er hatte ein simples GemĂŒt und dachte an nichts anderes als die ErfĂŒllung seiner Aufgabe. Der Wind blies ihm ins Gesicht und trieb den unangenehmen Gestank von verbranntem Fleisch in seine Nase. Ein Umstand, der ihm sein Tagewerk nicht gerade versĂŒĂŸte. Hoffentlich erbarmte sich der Wind und drehte bald. Der Sklave brachte die grotesk entstellte Fracht zu einer großen Grube. Angestrengt stemmte er das TransportgerĂ€t an und ließ den maltrĂ€tierten weiblichen Körper in den Abgrund zu den anderen fallen. Kapitel 22: Die Faust des Nordens --------------------------------- 🌱 KĂŒhn und unerschrocken sah Henrik dem kleinen Satansbraten in die Augen. Das winzige Etwas zappelte wild und ungestĂŒm mit Armen und Beinen und schrie aus LeibeskrĂ€ften. Beinahe unbegreiflich, wie ein so kleines Geschöpf derart monströsen Krach verursachen konnte. Was im Namen des namenlosen Gottes konnte er jetzt schon wieder wollen? GefĂŒttert hatte er ihn schon, das konnte es nicht sein. Auf einmal dĂ€mmerte Henrik Schlimmes. War es im Bereich des Möglichen, dass er ihn schon wieder wickeln musste? Das sowas immer nur dann passierte, wenn er an der Reihe war
 Die anderen durchkĂ€mmten derweil die Wildnis nach etwas Essbarem. Der Weg nach Lescar entpuppte sich als lĂ€nger als gedacht. Widrige Witterungsbedingungen zwangen die Gruppe, eine lĂ€ngere Pause einzulegen. Die VorrĂ€te neigten sich dem Ende entgegen und weit und breit kam kein Dorf in Sicht. Die Stadt war ebenfalls noch ein gutes StĂŒck entfernt. Darum ging sogar Annemarie mit, weil sie unbedingt helfen wollte, auch wenn sie nicht mehr beitragen konnte, als ein paar Beeren und Pilze zu sammeln. Die beiden Fremden folgten ihnen ebenfalls. Henrik ließen sie mit dem SĂ€ugling allein. Wunderbar! Vorsorglich rĂŒmpfte der Braunhaarige die Nase, wĂ€hrend er damit begann, die Genitalien des Kindes freizulegen. Kaum dass die Wickel entfernt waren, stellte er fest, dass seine Vermutung falsch gewesen war. Der Kleine hatte sich nicht beschmutzt. Schnell bedeckte Henrik die Scham des Kindes wieder und begann nachzudenken. Seine Mahlzeit hatte er erhalten. Da ihm leider keine Amme zur VerfĂŒgung stand, musste Henrik ihn so fĂŒttern, wie es in so einem Fall ĂŒblich war. Er vermengte Brotkrumen mit abgekochter Milch und stellte daraus einen Brei her. Vorsichtig hatte er es dem SĂ€ugling eingeflĂ¶ĂŸt. Danach war der Schreihals eine Weile ruhig gewesen, bis er aus heiterem Himmel anfing zu heulen. Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht? Der Krach, den der SĂ€ugling fabrizierte, war kaum noch auszuhalten. Wie sollte man da in Ruhe nachdenken? Aber dann kamen ihm die Worte von Clay in den Sinn. Vielleicht die letzte Rettung fĂŒr seine strapazierten Nerven. Immerhin schrie der Satansbraten schon seit einer geschlagenen halben Stunde und hielt einfach nicht den Rand! Eine Symphonie des Schmerzes, die Henriks Ohren bis zum Ertauben quĂ€lten. Manchmal kommt es vor, dass SĂ€uglinge bei der FĂŒtterung zu viel Luft verschlucken, hatte Clay gesagt. Dann quĂ€lt sie der wellenartige Schmerz der Koliken, was sie zum Schreien veranlasst. Den Bauch zu massieren, verschafft Abhilfe - sowohl dem betroffenen Baby als auch den Nerven derjenigen, die diesen Zinnober erdulden mĂŒssen. Henrik beugte sich herunter und legte den Bauch des Kindes frei. Vorsichtig rieb er im Uhrzeigersinn auf dem zarten Geschöpf herum. Die hektischen Bewegungen des SĂ€uglings wurden weniger und der Junge schien sich endlich zu beruhigen. Henrik fiel ein Stein vom Herzen. WĂŒrde der Junge noch schreien, wenn die anderen wiederkehren, mĂŒsste er sich bestimmt wieder einiges anhören. Plötzlich entwich dem Kleinen ein BĂ€uerchen. Eigentlich eine völlig normale Sache
 In diesem Fall entwichen jedoch keine Gase seinen Mund. Auch nicht der Brei, mit dem Henrik ihn gefĂŒttert hatte. Stattdessen breitete sich ein kleiner rötlich-gelber Feuerball aus, der Henriks Gesicht einhĂŒllte und ihm die Haarspitzen versenkte, bevor er sich auflöste. Entsetzt starrte der verrußte Braunhaarige auf das Kind. Was war gerade geschehen? Einige Tage zuvor. Alaric sah kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Nicht nur, dass er von Zeit zu Zeit immer dann von Halluzinationen geplagt wurde, wenn er in den Spiegel sah, nein nun tĂŒrmten sich obendrein die Leichen, deren Ableben es zu untersuchen galt. Wo er auch hinblickte, Arbeit grinste ihm frech ins Gesicht. Ihm entwich ein Seufzer. Noch immer wusste er nicht, was Lezabels Gatte ihm mitteilen wollte, bevor er ihn erhĂ€ngt in der Kerkerzelle vorfand. NatĂŒrlich wurde der Tote in Augenschein genommen. Alaric entdeckte bei seiner Untersuchung des Tatort keine Unstimmigkeiten mit dem suggerierten Selbstmord des Diplomaten. Am Hals fanden sich Spuren, die mit einer Selbststrangulation einher gingen. Die Äderchen in den Augen waren geplatzt. Dies passiert, wenn jemandem gewaltsam die Luft zum Atmen genommen wird. Auch bei einem Selbstmord kein Widerspruch. Alaric hatte es schon oft bei zum Tode verurteilten Verbrechern gesehen, die ihr Ende durch den Strang fanden. Die Schlaufe setzt unter dem Kinn an und bildet nach oben zeigende Strangmarken, weil das Gewicht den Körper zum Boden hinzieht. Auch bei dem Toten konnte Alaric diese Spuren ausmachen. ZusĂ€tzlich entdeckte Alaric AbdrĂŒcke, die ihn an die Finger einer Hand erinnerten. Allerdings waren sie nicht die Todesursache. Bei einer Leiche verstĂ€rkten sich BlutergĂŒsse und diese AbdrĂŒcke waren schwach. Daraus schloss Alaric, dass bereits eine Heilung der gequetschten BlutgefĂ€ĂŸe begonnen hatte. Aber er wollte einfach nicht glauben, dass Belanor sich feige aus der Verantwortung stahl. Vielleicht war die Szenerie gestellt? Einen Giftanschlag konnte er in diesem Fall nicht ausschließen. Aber es mĂŒsste ein schnell wirkendes Gift gewesen sein, das keine Ă€ußeren Anzeichen zurĂŒck ließ, wie beispielsweise Schaum vor dem Mund oder einen seltsamen Geruch, denn der TĂ€ter oder ein Komplize mussten die Zeit haben, den Ort des Geschehens so zu inszenieren, wie Alaric es vorgefunden hatte. Eine Substanz, welche alle diese Kriterien erfĂŒllte, war ihm allerdings nicht gelĂ€ufig. Sein Leibarzt wusste ebenfalls keinen Rat - vielleicht dem geschuldet, dass er sich hauptsĂ€chlich damit beschĂ€ftigte, Leben zu bewahren und es nicht zu nehmen. Alaric wĂ€re besser beraten, einen professionellen Mörder zu befragen. Unter den schĂŒtzenden FlĂŒgeln eines seiner Verwandten war der TĂ€ter unerreichbar fĂŒr ihn und Alaric sah sich aus Frust und Verzweiflung gezwungen, seltsame Wege einzuschlagen. Es gab diesen Kult, der eine bösartige Gottheit verehrte. Die AnhĂ€ngerinnen dieser Sekte wurden ĂŒberall in der bekannten Welt geschĂ€tzt als zuverlĂ€ssige Agentinnen, die ihren Auftrag, sei es Spionage oder Meuchelmord, stets erfĂŒllten und niemals einen Kontrakt offen ließen. Wenn jemand wusste, wie man ohne Spuren mordet, dann doch wohl sie. Der Prinz filzte die alten Schriften nach einem berĂŒchtigten Ritual, mit dem mutmaßlich Kontakt mit der bösen Gottheit hergestellt werden konnte. Schließlich konnte er nicht einfach den Bibliothekar danach suchen lassen, ohne unangenehme Fragen zu provozieren. Niemandem war es bisher gelungen in Erfahrung zu bringen, wo dieser Kult seine ZufluchtsstĂ€tten hatte und gefangene AttentĂ€terinnen verrieten nichts, egal wie schlimm man sie folterte. Darum galt dieses Ritual als einzige Möglichkeit, die Dienste der Schwesternschaft der Schatten anzufordern. Alaric war ein rational denkender Elf. Aus diesem Grund hatte er sich noch nie damit auseinandergesetzt. Aber seine Mittel waren ausgeschöpft. Die staatlichen Organe gaben nichts mehr her. Er war verzweifelt. Einen Kult von Mörderinnen zu Rate zu ziehen, schien seine einzige Wahl zu sein. Endlich! In einem dicken, alten Buch wurde er fĂŒndig. Nachdem er die zentimeterdicken Verschmutzungen davongeblasen und sich vermutlich eine Staublunge eingefangen hatte, laß er stundenlang in dieser EnzyklopĂ€die der geheimen Wahrheiten, bis er es endlich entdeckte: Das Ritual zur Anrufung der Mutter der Zwietracht. Die Gottheit - oder der DĂ€mon - welche der Kult verehrte. Schnell und dennoch grĂŒndlich schrieb sich der Prinz die Einzelheiten heraus. ZurĂŒck in seinen GemĂ€chern bereitete er das Ritual vor. Die vorausgesetzten GegenstĂ€nde hatte er bereits zusammengetragen. Benötigt wurde eine Amphore mit brennbarem Öl, fĂŒnf Kerzen und eine große Schale. Dabei wurde explizit ausgewiesen, dass die Schale feuerfest sein musste. Alaric hatte sich fĂŒr eine der goldenen Obstschalen aus dem Empfangsraum fĂŒr auslĂ€ndische Diplomaten entschieden. Das sollte die Anforderung erfĂŒllen. Des Weiteren musste er eine Puppe aus Stroh und Strick bereithalten, die mit verschiedenen KrĂ€utern gefĂŒllt war. Als erstes entfernte der Prinz den Teppich aus der Mitte des Raumes und setzte die Schale an seiner statt auf dem steinernen Boden ab. In einem Kreis von einem Meter Durchmesser stellte er die Kerzen auf, die sich bereits in entsprechenden Kerzentellern befanden. Unter Zuhilfenahme der Feuersteine, welche er immer bei sich trug, entzĂŒndete er die Kerzen. Als er nach der Amphore mit dem Öl griff, stellte er kurz in Frage, ob er sein geistiges Tafelsilber noch beisammen hatte, oder nun vollends am Rad drehte. Entschlossen schĂŒttelte er den Kopf, entfernte den Korken von der Amphore und goss das Öl in die Schale. Danach entzĂŒndete er ein StĂŒck altes Papier und warf es hinein. Sofort entfachte ein Feuer. Es wirkte enttĂ€uschend ordinĂ€r. Aber noch war die Formel nicht gesprochen! Alaric atmete durch. “Mutter der Zwietracht”, begann er zu sprechen. “Beseele die Flammen, die deinen Körper verzehrten.” Alaric warf die Puppe ins Feuer. Das Aroma der KrĂ€uter verbreitete sich in der Luft, als sie mit der Puppe verbrannten, die der Prinz ebenfalls ins Feuer warf. “Schenke mir dein Gehör!” Doch nichts passierte. Noch einmal erhob der Prinz seine Stimme. “Schenke mir dein Gehör!” Erwartungsvoll starrte er auf das Feuer in der Schale und rechnete mit einer Reaktion. Aber es passierte weiter nichts. “Mhm”, brummte Alaric daraufhin und wandte sich ab. “Nichts als ein AmmenmĂ€rchen”, murmelte er in sich hinein. Aber er wurde sogleich eines Besseren belehrt. Plötzlich hallte ein Mark und Bein erschĂŒtterndes Kreischen einer Frau durch seinen Kopf. Alaric war sich sicher, dass es außer ihm niemand vernahm, andernfalls wĂ€ren lĂ€ngst die Wachen vor der TĂŒr hinein gestĂŒrmt, um nach dem Rechten zu sehen. Zeitgleich wurde der ganze Raum in einen goldenen Schein getaucht, nur unterbrochen vom pechschwarzen Schlagschatten, den Alarics Körper an die Wand warf. Sichtlich ĂŒberrascht, wandte sich der Prinz wieder der Schale in der Mitte des Raumes zu. Das Feuer in ihr leuchtete in einer IntensitĂ€t, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Alaric trat angesichts des blendenden, grellen Feuers einen Schritt zurĂŒck. Also stimmte es doch! Noch einmal rief Alaric sich den nĂ€chsten Schritt ins GedĂ€chtnis. “Mutter”, begann er seine Bitte an die mysteriöse Gottheit zu formulieren. “Ich bin Alarc von Aschfeuer. Ich erbitte die Dienste deiner Töchter! Schicke mir eine fĂŒr meine Schwester Lezabel und eine fĂŒr meinen Bruder Ammon. Sie sollen herausfinden, ob einer von ihnen hinter dem Tod des Diplomaten Belanors steckt und in welche unehrenhafte Schandtaten sie sonst verwickelt sind.” Erneut vernahm er das Kreischen, wie zur BestĂ€tigung seines Auftrages. Er ging zu seinem Arbeitstisch, auf dem er zwei GegenstĂ€nde bereitgestellt hatte, und nahm sie an sich. FĂŒr jeden Auftrag und jede beteiligte Schattenschwester musste man einen Gegenstand von großem Wert opfern. Alaric trat abermals an das goldene Feuer heran, um seinen Tribut zu entrichten. “Ich biete dir diese Kette fĂŒr meine Schwester dar.” Er warf das mit Edelsteinen besetzte SchmuckstĂŒck hinein in das Feuer. Es verglĂŒhte in einem unnatĂŒrlich weißen Leuchten. “Und dieser Kelch soll fĂŒr meinen Bruder sein.” Alaric ĂŒbergab einen Trinkbecher aus schwarzem Obsidian, gefasst in kunstvoll verziertem Silber, den Flammen. Auch er verschwand in gleißendem Weiß. Das Kreischen der Flammen fand ein letztes Mal den Weg zurĂŒck in seinen Geist und einen Moment spĂ€ter verpuffte das Feuer. Schlagartig kehrte der Raum zu seinem vorherigen rot schimmernden DĂŒsternis zurĂŒck und nur der improvisierte Altar in der Mitte des Raumes, bestehend aus einer verrußten Goldschale und fĂŒnf geschmolzenen Kerzen, erinnerte noch an das Geschehene. Über der Schale entstanden aus glĂŒhenden Fragmenten zwei SchriftstĂŒcke, die langsam zu Boden segelten. Alaric bĂŒckte sich nach ihnen. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, erkannte er, dass auf ihnen etwas geschrieben stand. Er hielt zwei VertrĂ€ge in HĂ€nden, die Wort fĂŒr Wort widerspiegeln, worum er zuvor die Mutter der Zwietracht gebeten hatte. Und dass die Beschattung seiner Geschwister von zwei Frauen mit den Namen Cinnamon und Rose durchgefĂŒhrt werden wĂŒrde. Sofort kamen Alaric Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, sich mit einer bösartigen Gottheit und ihren blutrĂŒnstigen AnhĂ€ngerinnen zusammen zu tun. ZurĂŒck in der Gegenwart. Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. In den klimatisch gemĂ€ĂŸigten Teilen des Kaiserreiches kĂŒhlten die Temperaturen allmĂ€hlich ab. Die BĂ€ume begannen sich von ihrem BlĂ€tterkleid zu trennen und sich so auf den Winterschlaf vorzubereiten. Die Luft roch bereits nach Frost. Der erste Schnee kĂŒndigte sich an. Diese Zeichen veranlassten die Tiere des Waldes allmĂ€hlich an die Zeugung der nĂ€chsten Generation zu denken. Mit dem Beginn der kalten Tage begann ebenfalls die Paarungszeit. Die MĂ€nnchen der verschiedenen Gattungen der hiesigen Fauna fĂŒhrten untereinander teils blutige KĂ€mpfe, um auszumachen, wer der StĂ€rkste von ihnen war und das Recht zur Fortpflanzung hatte. Dabei wurden sie von ihren weiblichen Artgenossen kritisch beĂ€ugt. Diese wĂŒrden sich gewiss nur mit den Siegern abgeben, um gesunden Nachwuchs zu garantieren. So kam es, dass sich inmitten einer Lichtung auch die Platzhirsche zur Brunft einfanden. Vor Kraft nur so strotzende GeweihtrĂ€ger suchten Streit mit Ihresgleichen. Die HirschkĂŒhe beobachteten interessiert das Geschehen. Zwei Kontrahenten hatten sich gefunden. Beide waren kapitale Exemplare. Ihre Geweihe erreichten eine beachtliche GrĂ¶ĂŸe. Mit jedem Jahr, das ein MĂ€nnchen verlebte, trieb es einen grĂ¶ĂŸeren Kopfschmuck aus. Es zeigte, dass sie beide sehr erfahrene Tiere waren, wenn sie es geschafft hatten, dieses Alter zu erreichen. Ernst sahen sie sich in die Augen. Paarhufe scharrten erregt das Moos vom Waldboden. Schnaubend wurde warme Atemluft in die kalte AtmosphĂ€re abgegeben und kondensierte sofort zu einem weißen, durchsichtigen Nebel. Die Spannung des bevorstehenden Aufeinandertreffens war greifbar. Dann gab es kein Halten mehr! Beide MĂ€nnchen stĂŒrmten aufeinander zu und verkeilten ihre Geweihe. Ein lautes Krachen ertönte, als die knochenartigen Gebilde aufeinander trafen. Ineinander verhakt, kreisten die brĂŒnstigen Platzhirsche immer wieder umeinander und lange sah es so aus, als ob es auf absehbare Zeit keine Entscheidung geben wĂŒrde. Doch gewann einer von ihnen ĂŒberraschend die Oberhand. Ängstlich löste sich der andere von seinem Gegner und sah zu, dass er unverletzt entkommen konnte. Die Blicke der HirschkĂŒhe waren dem Sieger nun sicher. Erhaben stolzierte er mit angehobenem Geweih auf der kleinen Lichtung auf und ab, um seinen Sieg zu feiern. Nachdem er ein paar Runden gedreht und seine Fleischbeschauung beendet hatte, schickte er sich an, die erste Hirschkuh zu beglĂŒcken. Doch wenn er glaubte, dass sie es ihm so leicht machte, hatte er sich geschnitten. Immer wieder hob der Platzhirsch die Vorderhufe an und versuchte das Weibchen zu besteigen. Doch die dachte nicht im Traum daran, ihn einfach gewĂ€hren zu lassen. Stattdessen entzog sie sich ihm immer wieder und scheuchte ihn in seiner Begierde ĂŒber die Lichtung. FĂŒr ihn war es ein Ritual, das ihn nur weiter betörte. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude! Endlich schien die Hirschkuh genug davon zu haben, ihn zum Gespött des Waldes zu machen, stellte ihren Widerstand ein und kam zum Stehen. Diesmal verhinderte sie nicht mehr, von ihm bestiegen zu werden. Und innerhalb weniger Sekunden war vollbracht, wofĂŒr der Platzhirsch ihr eine halbe Ewigkeit hinterher gerannt war. Eine war geschafft, unzĂ€hlige weitere warteten noch. Wirklich anstrengend, mĂ€nnlich zu sein! Aber er wurde nicht mĂŒde, seine Gene zu verstreuen. Gerade stieg er von der Letzten ab, als ein fremdartiges GerĂ€usch durch den Wald hallte und an seine Ohren drang. Aufgeschreckt sprangen die Weibchen wie vom Hafer gestochen in alle Himmelsrichtungen davon und verschwanden im Dickicht. Der Platzhirsch blieb jedoch stehen. Er witterte die widernatĂŒrliche Gefahr, die seiner Lichtung immer nĂ€her kam. Sein Instinkt sagte ihm, dass sein Leben nichts zĂ€hlte, wenn nicht die Saat, die er mit seiner inbrĂŒnstigen MĂ€nnlichkeit in den HirschkĂŒhen gesĂ€t hatte, in Sicherheit war. Darum blieb er. Bot sich selbst als Opfer dar, damit seine Weibchen entkommen konnten. Äste wurden unter mĂ€chtigen SchlĂ€gen zerbrochen. Der Platzhirsch streckte der heranstĂŒrmenden Bedrohung sein Geweih entgegen. Aus den Tiefen des Unterholz brach ein heller Schatten hervor. Eine muskulöse, wolfsartige Kreatur mit weißem Pelz stĂŒrzte sich ohne RĂŒcksicht auf Verluste auf das MĂ€nnchen, warf es mit einem mĂ€chtigen Prankenhieb zu Boden und verbiss sich in seinem Nacken. Das Blut spritzte wie aus einer FontĂ€ne und besudelte das Schneeweiße Fell des Monsters und das bösartige Knurren der Bestie ließ selbst die Vögel auf den BĂ€umen die Flucht ergreifen, wĂ€hrend sich die Kreatur an ihrer Beute labte. 🌱 Einige Tage zuvor. Eines Schwertes gleicht, schnitt der Kiel des riesigen Drachenbootes durch die eisigen, kalten GewĂ€sser des Ozeans. Der Wind hatte lĂ€ngst seinen Dienst versagt und das aus roten und weißen Streifen zusammengenĂ€hte Segel hing zusammengerollt am Mast. Ruder tauchten perfekt synchron im Takt des Paukenschlages in das Wasser ein, schoben das Schiff mit einem krĂ€ftigen Stoß der vereinten KrĂ€fte von zweihundert Armen, verteilt auf zwei Seiten zu je fĂŒnfundzwanzig SitzbĂ€nken, unaufhaltsam dem Ziel entgegen. Das Gewicht der Paddel erzwang, dass jedes von ihnen von zwei Besatzungsmitgliedern gehalten werden musste. Den unermĂŒdlichen Muskelbergen der Barbaren als Frys wurde keine Pause gegönnt, wĂ€hrend sie das Schiff allein durch menschliche Körperkraft auf zwanzig Knoten beschleunigten, was einer Geschwindigkeit von etwas mehr als siebenunddreißig Stundenkilometern entspricht, und allein dadurch schon Ehrfurcht und Angst in die Herzen der KĂŒstenbewohner einziehen ließ. Das maritime GefĂ€hrt war kunstvoll verziert mit Ornamenten, die reale und mythische Wesen gleichermaßen darstellten. Bemalte Rundschilde mit den Familienwappen der Krieger zierten zudem die Seiten des Schiffes und taten allen Kund von den glorreichen Taten der Vorfahren. Aber den wahren Blickfang und Namensgeber dieser Art von Schiffen, stellte der detailreiche Drachenkopf dar, welcher aus einem einzigen, riesigen StĂŒck Holz hergestellt und am Bug des Schiffes angebracht war. Eine wunderschöne Schnitzerei, deren durchdringender Blick dem Ungewissen entgegen gerichtet war. Dieser Schrecken der Meere war auf den Namen Isbrann getauft worden. Einige kleinere Schiffe begleiteten das Flaggschiff. Sie waren jeweils mit wesentlich weniger Kriegern bemannt, konnten aber dennoch durch die leichte Bauweise und den flach unter der WasseroberflĂ€che liegenden Kiel mithalten. An Deck der Isbrann befanden sich außerdem mehrere Zelte, wo man den Proviant und die Beute lagerte. Die Krieger selbst schliefen bei Wind und Wetter an Deck. Alles was sie brauchten, damit ihnen im Schneesturm nicht die Nase abfrohr, waren Met und die wĂ€rmenden Gedanken an Rauben, Brandschatzen und Morden. Etwas, was sie bei ihrer Ankunft zu genĂŒge tun wĂŒrden, als Vergeltung fĂŒr die Niederlage am StĂ€hlernen Wall. Mit verschrĂ€nkten Armen stand Sjur mitten zwischen seinen MĂ€nnern und blickte hinaus auf die langsam am Horizont erscheinende KĂŒste. Er war nicht nur der KapitĂ€n der Isbrann, sondern auch der Jarl seines Clans. Dem geschuldet trug er einen aufwĂ€ndigen Kettenpanzer und einen reichlich verzierten SchĂ€delhelm, unter dem sein rotes Deckhaar hervor hing und mit dem doppelt geflochtenen Bart eine Einheit bildete. Die Rache war ihm ein persönliches BedĂŒrfnis, da sein kleiner Bruder beim Angriff auf die Festungsanlage der Schwarzelfen sein Leben verloren hatte. Es war kein Trost fĂŒr Sjur zu wissen, dass er ehrenvoll im Kampf fiel, wenn es im Zuge eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Unterfangens geschehen war. Er wusste das und er hatte es ihm auch gesagt, doch Angar ließ sich von der Silberzunge des Thordir einlullen und fĂŒr die Schlacht begeistern. Dabei musste Sjur seiner Mutter einst am Sterbebett versprechen, immer auf seine Geschwister zu achten. Zwar waren es noch immer sieben an der Zahl, aber hier ging es ums Prinzip! Ein Angriff auf die ein oder andere ungeschĂŒtzte Siedlung des Imperiums wĂŒrde Angar zwar nicht zurĂŒckbringen, aber Sjur immerhin erlauben, ihre Straßen in seinem Namen in Blut zu ertrĂ€nken. Plötzlich legten sich sachte ein paar Arme ĂŒber seine Schultern. “GrĂŒbelst du wegen des Schlachtplanes?”, hauchte ihm eine Frauenstimme ins Ohr. Sie gehörte Valdis, seinem Eheweib. Im Gegensatz zu dem, wie es in anderen Teilen der Welt gehandhabt wurde, scheuten sich die Frauen aus Frys nicht vor der Schlacht. Voller Eifer fuhren sie mit auf die RaubzĂŒge. So wie ein JĂŒngling als Schildknappe seinen Mann stehen musste, bevor er sich ein Eheweib nehmen durfte, zogen auch die Frauen als Schildmaiden in den Krieg, ehe man ihnen die Heirat erlaubte. Valdis war zwar ein gutes StĂŒck kleiner als ihr Gatte, aber dennoch mit ĂŒber zwei Metern kein bisschen weniger furchteinflĂ¶ĂŸend. Und als einziges weibliches Wesen unter einhundert Kriegern musste sie das auch sein. Zwar waren auf den anderen Schiffen ein paar Kriegerinnen, doch nicht hier auf dem Flaggschiff. Wenn nach Wochen der Reise ein Mann auf dumme Gedanken kam, ĂŒberließ sie es nicht etwa Sjur, ihn in die Schranken zu weisen, sondern vermöbelte ihn stattdessen eigenhĂ€ndig. Trotz ihrer dicken Muskelberge, hatte sie sich ihre weiblichen Rundungen bewahrt, auch wenn sie in blanker Schönheit zu sehen, einzig ihrem Gatten vorbehalten war. Sie trug keinen Helm, da sie ihre Weiblichkeit stolz auf dem Schlachtfeld prĂ€sentierte. Ihre langen, strohblonden Haare waren auf einer HĂ€lfte des Kopfes aufwĂ€ndig geflochten und mit Perlen und anderem Schmuck verziert. “Oder trĂ€umst du schon von den Kehlen, die du aufschlitzen wirst?” “Ein bisschen von beidem, mein teures Weib”, antwortete Sjur. Irgendwann musste er Valdis davon ĂŒberzeugen, daheim zu bleiben, wenn sie ihm Kinder gebĂ€ren sollte. Alle seine Geschwister haben bereits eine Familie gegrĂŒndet. Aber er und Valdis waren viel zu beschĂ€ftigt damit, Leben zu nehmen, dass sie nicht dazu kamen, zur Abwechslung welches zu schaffen. Aber wenn er es sich wagte, sie hinter den Herd zu verbannen, wĂŒrde sie ihn gewiss entmannen! Und dann hĂ€tte sich die Familienplanung auch erledigt
 Die gefĂŒllten Schleppnetze des Fischkutters hingen schwer an seinen Seiten. Die SeemĂ€nner waren dabei, die Beute einzuholen. Die reichen FischgrĂŒnde in der Bucht sicherten ihnen ein Auskommen. Die nĂ€hrstoffreichen Strömungen lockten immer wieder neue SchwĂ€rme verschiedenster Arten an, sodass ihnen der Fisch niemals auszugehen schien. Mit flinken Fingern wurden die FrĂŒchte des Meeres aus den Maschen gepult. Die ein oder andere Krabbe hatte sich ebenfalls in das Netz verirrt, was nicht unbedingt ungelegen kam. Schließlich galten sie als Delikatesse. Einzig die Fische, die fĂŒr zu klein erachtet wurden, warfen die Fischer zurĂŒck ins Meer, damit sie weiter wachsen konnten. “Segg mal, mien Jung, wo geiht dat eegentlich dien Moder?”, fragte der Ă€lteste unter den Fischern den jĂŒngsten. “Is se ĂŒmmer noch bettlĂŒgersch?” “Dat geiht ehr goot”, antwortete dieser. “De Medizin hett hulpen.” “Ik heff di dat ĂŒmmer seggt: En hitten Grog wirkt wahre Wunner!” Der Mittelalte grinste verschmitzt. Doch seine heitere Stimmung sollte ihm schnell vergehen, als er sich umdrehte. Er erblickte fremde Schiffe mit angsteinflĂ¶ĂŸenden Schnitzereien von Drachenköpfen auf sie zukommen. “Bi dat Klamottermann! WarĂ€ger!”, rief er aus. Sofort drehten sich die anderen beiden um und stellten mit Schrecken fest, dass er ihnen keinen BĂ€ren aufgebunden hatte. AngefĂŒhrt vom grĂ¶ĂŸten der maritimen Fahrzeuge, ruderten die randvoll mit Kriegern besetzten Drachenboote an ihnen vorbei. Sie steuerten direkt auf den Hafen von AsenrĂ© zu. Gelehmt vor Furcht starrten die Fischer ihnen entgegen. An Deck des fĂŒhrenden Drachenbootes stand eine blonde Frau mit schön anzusehenden Haaren. Auch von weitem konnten sie sehen, dass das Barbarenweib von gewaltiger Statur war. Sie gestikulieren ihnen mit dem auf die Lippen gelegten Zeigefinger, dass sie sich ruhig verhalten sollten. Eine Aufforderung, der die drei Fischer nur allzu gerne nachkamen. Die Wellen des Fahrwassers der Drachenboote schlugen von allen Seiten gegen den Fischkutter, als die Barbaren an ihm vorbei zogen. Nachdem sie es passiert hatten, wollten die MĂ€nner gar nicht glauben, dass sie unbeschadet davon gekommen waren. FĂŒrchtete man die Barbaren nicht dafĂŒr, dass sie wahllos jeden aufrechten BĂŒrger abschlachteten, der ihnen im Weg war? Vielleicht waren sie die MĂŒhe einfach nicht wert, extra das Schiff zu verlassen, nur um sie einen Kopf kĂŒrzer zu machen. Sie konnten ihr GlĂŒck kaum fassen. Beinahe hĂ€tten sie es fĂŒr einen Traum gehalten, wĂŒrden nicht ihre schweißnassen Kleider darauf hindeuten, dass das gerade wirklich passiert war. OhrenbetĂ€ubend hallte der Gong der großen Glocke durch den Hafen von ArsenrĂ©. Der Turm, in dem sie aufgehangen war, wurde errichtet, um vor herannahenden Gefahren zu warten. Oft bestanden diese aus einer Sturmflut oder einer Windhose, beides PhĂ€nomene, die in diesem Teil des Kontinents keine Seltenheit darstellten. Strenge Winde aus der Teufelssee peitschten das Meer und wirbelten die Luftschichten durcheinander. Sie trieben Heiß und Kalt in die direkte Konfrontation. Eine BrutstĂ€tte des unbĂ€ndigen Chaos, die oft gefĂ€hrliche StĂŒrme gebar und den Bewohnern der gebeutelten KĂŒste entgegen warf. Ein Blick in das klare Blau des Himmels ließ jedoch erahnen, dass die Gefahr eine andere sein musste. LĂ€ngst hatten aufmerksame MĂ€nner mit Argusaugen die sich nĂ€hernden Drachenbote der WarĂ€ger erspĂ€ht. Sie kamen, um zu plĂŒndern! Es gab keinen anderen Grund fĂŒr die Barbaren aus Frys, den Hafen von ArsenrĂ© anzusteuern. Die Stadt war nicht dafĂŒr bekannt, dass sie große ReichtĂŒmer beherbergte. Einzig Fisch, Krabben und Hummer wiesen einen kurzweiligen Wert auf, der jedoch schnell den Besitzer wechselte und aus der Stadt in die Provinzen des Kaiserreichs exportiert wurde. Allerdings bedeutete dies zwangslĂ€ufig, dass mit keiner großen Garnison zu rechnen war. Mit Sicherheit war es die Aussicht auf Erfolg, die die WarĂ€ger anlockte. Eilig und dennoch geordnet, fanden sich die MilizionĂ€re bei der Waffenkammer ein und ließen sich Schwerter, Speere und Schilde wie am Fließband aushĂ€ndigen. Große Verteidigungsanlagen besaß ArsenrĂ© nicht, aber um ein paar mordlĂŒsterne, stinkende Barbaren zurĂŒck in ihre eisige Heimat zu jagen, sollte es allemal reichen. Die Befestigung des Hafens ließ viel zu wĂŒnschen ĂŒbrig. Zwar gab es ein steinernes Hafenbecken, doch ein großer Teil des Pier bestand aus hölzernen Stegen, an denen die Boote und die Kutter mit Tauen festgebunden waren. MilitĂ€rische Schiffe, welche die Barbaren hĂ€tten abfangen können, suchte man hier vergebens. Echte Verteidigungsanlagen gab es nicht. Einzig am linken und rechten Ende des Hafenbeckens war jeweils eine drehbare Balliste auf erhöhter Position angebracht. Diese Waffen waren in der Lage, auch brennende Speere abzufeuern. Mit ihnen könnte man die nahenden Feinde schwer schĂ€digen. Dazu musste man sie allerdings zuerst treffen. Erschwerend kam hinzu, dass die dem Feind nĂ€her gelegene rechte Balliste bei der letzten Sturmflut beschĂ€digt wurde und gegenwĂ€rtig unbrauchbar war. Zur Verteidigung stand demzufolge nur die linke zur VerfĂŒgung und die war fast außer Reichweite. Dennoch wurde die Kriegsmaschine bemannt und feuerte alsbald Geschosse in die Richtung des Feindes. Derweil positionierten sich die MilizionĂ€re und erwarteten ihren Einsatz. Schulter an Schulter bereiteten sie sich auf die Landung der Barbaren vor. Angesichts der Hundertschaften konnte man den Mut verlieren. Die Tatsache, dass der Hauptmann noch immer nicht aufgetaucht war, drĂŒckte die Moral des versprengten Trupp von um die sechzig MĂ€nner noch weiter. Wo blieb er die ganze Zeit? Einige Meter entfernt vom Flaggschiff der WarĂ€ger tauchte ein brennender Speer mit nicht zu ĂŒberhörendem Platschen in die kalte See ein. Beim Kontakt mit der WasseroberflĂ€che zerbrach das Geschoss und von den Flammen blieb nicht mehr als eine kleine Dampfwolke zurĂŒck. “Der war schon ziemlich nahe”, gab Valdis zu bedenken. “Hast du etwa Schiss, dass sie uns versenken?”, fragte Sjur provokant. “Ich fĂŒrchte einzig, eines Tages zu alt zum kĂ€mpfen zu sein!” “Alt zu werden, ist eine Auszeichnung”, meinte ihr Gatte. “Ein alter Krieger zu sein bedeutet, dass deine Gegner nicht alt geworden sind.” “Deine Weisheiten nĂŒtzen uns nichts, wenn sie uns erschießen, Liebster.” “Dann zeige ihnen deine heißblĂŒtige Seite, Weib.” “Und Gefahr laufen, das Schiff abzufackeln? Bestimmt
” Die einhundert Ruderer trieben die Isbrann voran. Sie fĂŒhrte die kleineren Drachenbote hinein in das Hafenbecken. Es wurde noch einmal gefĂ€hrlich, da sie nun vollends in der Reichweite der Balliste waren. Aber je nĂ€her sie dem Pier und den sich vor Angst befeuchtenden MilizionĂ€ren kamen, desto unwahrscheinlicher war es, dass der Feind einen weiteren Schuss abgeben wĂŒrde. Wenn eines der brennenden Geschosse die HafengebĂ€ude traf, wĂ€re die Katastrophe vorprogrammiert. Am Ende des Piers kam die Barbarenflotte zum stehen. Die wilden Krieger bereiteten sich mental darauf vor, möglichst viele Elfen und deren menschlichen Stiefelleckern den Gar auszumachen. Die kleineren Begleitschiffe zogen an der Isbrann vorbei, da diese zwischen den Stegen des Pier besser manövrieren konnten. Die Drachenbote brachten sich in Stellung, sodass ihre Decks eine BrĂŒcke zu den Stegen darstellen. Sie erlaubten es allen Kriegern, schnell die Distanzen zu ĂŒberbrĂŒcken. Entschlossen stellten sich die MilizionĂ€re den Feinden entgegen. Derweil schwappten die mordlĂŒsternen NordmĂ€nner ĂŒber die Reeling des letzten Schiffes, wie Wasser aus einer ĂŒbervollen Badewanne, wenn sich ein Fettsack hineinsinken lĂ€sst und den gesamten Inhalt durch seine Masse verdrĂ€ngt. Wie es Sjur bereits vermutete, stellten die Kaiserlichen den Beschuss augenblicklich ein, als die Gefahr bestand, ihren eigenen Leute zu treffen. Wie berechenbar sie doch waren. Aber das zeichnete die Legionen des Drachenkaisers aus. Die Elfen nannten es Besonnenheit, er betrachtete es als Feigheit. Wussten sie denn nicht, dass ein jeder, der durch eine Waffe starb, spĂ€ter an der Seite der Götter saß und bis zum Ende aller Tage mit ihnen trinken durfte? Eine grĂ¶ĂŸere Ehre konnte einem Sterblichen nicht zuteilwerden. Und Sjur schwor sich, im Gedenken an seinen kleinen Bruder möglichst vielen von ihnen zu ermöglichen, ihren Schöpfer zu treffen. Seine Axt wĂŒrde das schon richten! WĂ€hrend Sjur und Valdis sich noch zusammen mit der Besatzung der Isbrann ĂŒber die letzten Decks bewegten, hatten sich die ersten Krieger bereits auf die Stege geschwungen und diese ĂŒberquert. Nun stĂŒrzten sie sich auf den Feind. Wie wildgewordene Berserker wirbelten sie herum, zerbrachen Speere und Schilde und drangen die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger immer weiter zurĂŒck in die Stadt. Laut klopfte es an der TĂŒr zu Surins Zimmer. “Hauptmann!”, rief es von der anderen Seite. “Hauptmann!” Als ob das ohrenbetĂ€ubende GelĂ€ut der Alarmglocke nicht schon lĂ€rmend genug wĂ€re! Wie sollte man da auch nur ein Auge zubekommen? Widerwillig schlug Surin die Decke zurĂŒck und schwang sich missmutig aus seinem Bett. Dabei zog er seine langen seidigen Haare hinter sich her, wie ein Kometenschweif. Noch in seinem Nachtgewand trat er an die TĂŒr heran. Jetzt war er sowieso wach, da konnte er sich auch das Anliegen des Klopfers anhören. Hoffentlich war es nicht schon wieder eine Sturmflut
 Der Hauptmann hatte seinen MĂ€nnern immer wieder gesagt, sie sollen ihn nicht wegen so etwas bei seinem Schönheitsschlaf stören! Als er den endlos erscheinenden Weg von seiner Schlafgelegenheit bis zur TĂŒr ĂŒberbrĂŒckt hatte, entsperrte er das Schloss und ein völlig aufgelöster MilizionĂ€r fiel ihm beinahe in die Arme. “Hauptmann Surin!”, exklamatirte der Soldat. MĂŒde rieb sich der Elf die in schwarzen Ringen eingefallenen Augen. “Barbaren ĂŒberfallen die Stadt!” Irritiert zuckten seine spitzen Ohren. Hatte er gerade ‘Barbaren’ gesagt? “Sie fegen durch unsere Reihen wie die Berserker!” “Das könnte daran liegen, dass es Berserker sind”, erwiderte Surin altklug gĂ€hnend. “Bitte, leiht uns Eure Kraft!”, forderte der MilizionĂ€r. Ob es ihm gefiel oder nicht, der Appell seines Untergebenen ließ ihm keine andere Wahl. Er kam nicht darum herum, tatsĂ€chlich seiner Pflicht nachzukommen und seine MĂ€nner gegen die Angreifer in der Schlacht zu fĂŒhren. Konnten die Barbaren nicht einen anderen Tag zum Angreifen aussuchen? Heute war Surin so gar nicht nach Anstrengung. So eine Frechheit! DafĂŒr wĂŒrden diese ungewaschenen Wilden bezahlen! “Ich komme sofort!”, versprach er. Sein Untergebener ließ sich trotz seiner unlusten Äußerung davon ĂŒberzeugen und eilte sich, zurĂŒck an die Front zu kommen und seine Kameraden zu unterstĂŒtzen. Surin wandte sich um und sah zurĂŒck auf sein Bett, das direkt unter dem Fenster stand. Der eindringende Wind streichelte sachte die Gardinen. Es sah so einladend aus. Der Zustrom von frischer Atemluft tĂ€te ihm gewiss wundervolle TrĂ€ume bescheren, wĂ€re da nicht dieser LĂ€rm! Und bei einem Angriff des Feindes hatte er nicht den Luxus, sich eine Auszeit zu genehmigen. Na schön, er wĂŒrde gehen. Aber nicht bevor er sich umgezogen und seine Haare gemacht hatte! Er sah bestimmt schrecklich aus
 Mit voller Wucht traf eine Barbarenaxt auf einen MilizionĂ€rsschild und spaltete ihn in Zwei. Überrumpelt von den durchschlagenden Argumenten des wilden Kriegers aus dem Norden, stĂŒrzte der Verteidiger rĂŒcklings zu Boden. Die beiden Teile seiner einstigen Protektion taten es ihm gleich. Der HĂŒne von einem Mann holte zum vernichtenden Schlag aus. Sein Opfer sah sich seinem nahenden Ende schutzlos ausgeliefert. Mitten im Gerangel konnte er keine Hilfe von seinen Kameraden erwarten. Verzweifelt streckte er beide Arme in einem aussichtslosen Versuch, das Unausweichliche abzuwenden. “Ashborn: Zerstreue und vernichte!” Beinahe hĂ€tte er die Stimme fĂŒr eine Einbildung gehalten. Aber es gab keinen Zweifel an ihrer AuthentizitĂ€t. Diese langsame Ausdrucksweise. Ein Tonfall, wie wenn der Sprecher bereits zur einen HĂ€lfte ins Reich der TrĂ€ume ĂŒbergetreten und zur anderen an Langerweile verstorben ist. Das konnte niemand anderes als Kommandant Surin sein! Mit einem Mal schoss eine Aschewolke auf den Nordmann zu, durchdrang Kettenhemd und Untergewand und breitete sich in der Luftschicht darunter aus, bis sie den Körper des Mannes vollkommen umhĂŒllte. “Eine Milliarde Schnitte!” Vor den Augen des noch immer am Boden liegenden MilizionĂ€r, wurde dem Barbaren ĂŒberall am Körper die Haut in Fetzen vom Fleisch gerissen und weiter zerkleinert, bis sie in einem roten Nebel verdampfte, welcher Teilweise auf den MilizionĂ€r herab rieselte, wie ein warmer FrĂŒhlingsregen. Unter entsetzlichen Schreien kollabierte der Angreifer und fand binnen weniger Sekunden durch den Schock der vollstĂ€ndigen HĂ€utung ein schreckliches Ende. Nichts, als ein entstellter blutiger Haufen Muskeln, gekleidet in Stoffen und Kettenhemd, verblieb. Die weit aufgerissenen Augen wĂŒrden noch lange von seinem unsĂ€glichen Leid kundtun, bis irgendwann, wenn die Schlacht geschlagen war, die KrĂ€hen vom Himmel herab segelten, um sich an ihnen zu laben. Ein Bild des Schreckens, das die Macht besaß, sĂ€mtliche Kampfhandlungen fĂŒr einen Moment zum Erliegen kommen zu lassen. Freund und Feind wandten sich gleichermaßen unglĂ€ubig um. Ihre Blicke folgten der Wolke aus Asche, die sich von dem Toten entfernte und unnatĂŒrlich durch die Luft bewegte, bis sie auf die Querstange eines Schwertes ohne Klinge traf. Es wurde von Hauptmann Surin einhĂ€ndig am gebeugten rechten Arm auf Kopfhöhe gehalten, wĂ€hrend der linke Arm nach vorn vom Körper gestreckt wurde und alle Finger der Hand gespreizt waren. AllmĂ€hlich verdichtete sich das ominöse PhĂ€nomen und offenbarte, dass es sich dabei um die vermisste Klinge des Schwertes handelte. “Eine Frechheit!”, echauffierte sich der Kommandant der Miliz. “So einen Radau zu veranstalten, wenn ich einfach nur schlafen will!” Das lĂ€ssige GĂ€hnen des Elfen mit den langen seidigen Haaren, kurz nachdem er einen Menschen bei lebendigem Leibe gehĂ€utet hatte, zementierte die Schockstarre. “WĂ€rt ihr so gut, freiwillig zu sterben? Dann kann ich mich wieder hinlegen.” Sjur spannte die Muskeln in seinem Arm, holte aus und schleuderte seine Axt mit voller Kraft dem Kommandanten des Feindes entgegen. FĂŒr das, was er vorhatte, benötigte er sowieso zwei freie HĂ€nde. Gekonnt wich Surin dem Wurfgeschoss aus. Die Axt wirbelte noch etwas herum, bis sie nach rechts abdriftete, an Momentum verlor und sich letztlich in den Boden des Hafen bohrte. Sjur hatte nichts anderes als ausgezeichnete Reflexe von einem Waffenmeister erwartet. Und es wĂ€re doch schade, wenn sich ihr Kampf so schnell entscheiden wĂŒrde! Der Elf verhieß einen echten Gegner, der es wĂŒrdig war, dass Sjur sein Ass aus dem Ärmel zog. Breitbeinig stellte sich der BarbarenanfĂŒhrer hin und schlug beide FĂ€uste zusammen. “Erstarre”, beschwor er herauf, “Icebringer, Faust des Nordens!” KĂ€lte entwich aus dem Zwischenraum seiner FĂ€uster und kroch seine HĂ€nde entlang, bis sie fast hinauf zu den Ellenbogen reichte. Schwarze Eiskristalle wuchsen in Etappen und zersprangen sogleich wieder. AllmĂ€hlich entstanden zwei dunkle Armstulpen. Sie wurden von einem weißen Nebel umhĂŒllt, der aus der in der Luft enthaltenen Feuchtigkeit gespeist wurde. An den Seiten befanden sich Erhebungen, an deren Ende je eine ominöse Öffnung zur Seite abstrahlte. Valdis beobachtete ihren Gatten aus einiger Entfernung. Sie wollte ihm nicht im Weg herumstehen, wenn er drauf und dran war, seinen Spaß zu haben. Sollte es gefĂ€hrlich werden, hĂ€tte sie Mittel und Wege, rechtzeitig einzugreifen. Die MilizionĂ€re zogen sich zurĂŒck und die Barbaren wichen auf vom Hauptweg abstrahlende Stege aus, damit das Duell der Waffenmeister beginnen konnte. “Roaaarrrr!”, brĂŒllte Sjur und setzte sich in Bewegung. Nachdem er einige Meter Distanz zurĂŒckgelegt hatte, sprang er vom Boden ab. Dabei holte er mit dem rechten Arm zum Schlag aus und eine blaue Stichflamme aus purer KĂ€lte zĂŒndete aus der Seite seines Armstulpen. “Raketenschlag!” Sie verschaffte ihm genug Antrieb, dass er wie eine Kanonenkugel den Rest des Weges zu seinem Gegner ĂŒber den Steg fegte. Der Schlag traf Surin mit unvorstellbarer Kraft, riss ihn von den FĂŒĂŸen und katapultierte ihn gegen eine Hauswand. Er durchbrach sie RĂŒcken voran und passierte auf seinem Weg verĂ€ngstigte Stadtbewohner, welche verzweifelt in ihrem Heim Schutz gesucht hatten und ihm nachsahen, bevor er auch die zweite Hauswand durchschlug und erst an der Fassade des dahinter stehenden GebĂ€udes zum Stoppen kam. Risse breiteten sich hinter ihm im Putz aus. Surin benötigte einen Moment, um zu verarbeiten, was gerade mit ihm geschehen war. Sjur nahm eine Verteidigungsstellung ein, wĂ€hrend er auf den Konterangriff seines Gegners wartete. Der Kommandant der Miliz schritt derweil lĂ€ssig durch das Loch in der Wand des Hauses vor ihm und passierte erneut die noch immer verĂ€ngstigten Stadtbewohner - dieses Mal jedoch in die andere Richtung - bevor er ihr Heim durch das gegenĂŒberliegende Loch wieder verließ. Er klopfte sich den Staub von der Kleidung ab, als er sich seinem Gegner prĂ€sentierte. “Meine GĂŒte”, kommentierte er. “Ich habe meine Uniform erst neulich aus der Reinigung geholt.” Sjur wollte sich weder vom gelangweilten Gehabe des Elfen noch von der Tatsache provozieren lassen, dass sein Schlag augenscheinlich nicht den geringsten Effekt hatte. Dieser Mann war kein einfacher Hauptmann! Von jemanden seines Schlages wĂŒrde man erwarten, dass er Legionen befehligte und nicht einen Haufen von bewaffneten Zivilisten, die vielleicht fĂŒnf Wochen Kampftraining genossen hatten, wenn es hochkam. Surin genoss den verwirrten Gesichtsausdruck des WarĂ€ger. Bestimmt fragte er sich, wieso seine Anstrengungen vergebens waren. Wieso er in diesem Kaff einen so starken Gegner wie ihn antraf. Nun, das war einfach. Eines Tages kam dieser verdammte BĂŒrokrat eines Prinzen und nahm seine Abteilung auseinander. Die Angewohnheit, den Großteil des Tages zu verschlafen, kam offenbar nicht besonders gut an. Aber was sollte er tun, wenn er immer so mĂŒde war? Letzten Endes ließ dieser hochwohlgeborene Drecksack nicht mit sich reden und versetzte ihn in die Mitte von Nirgendwo, wo seine mangelnde Disziplin nicht zum Problem wurde. Aber das war in diesem Moment alles nicht mehr wichtig. Der Elf setzte zum Angriff an. “Eine Million Schnitte!” Die Klinge von Ashborn zersprang in unzĂ€hlige Splitter, welche erneut den schwarzen Nebel formten und mit hoher Geschwindigkeit auf den Barbaren zusteuerten. Sjur schlug mit beiden FĂ€usten auf den Boden. “Eisschale!” Augenblicklich gefror die Luft um ihn herum und formte eine HĂŒlle, die der Nebel nicht zu durchdringen vermochte. Surin beorderte seine Klinge zurĂŒck. Sjur ließ seinen Schild zerspringen und zĂŒndete die eiskalten Flammen seiner Armstulpen. Mit krĂ€ftigen SprĂŒngen attackierte er unentwegt den Feind, welcher jedoch immer im letzten Moment auswich. Derweil zerstörten die SchlĂ€ge allmĂ€hlich den Hafen. Sie verursachten bei jedem Treffer Staubwolken und Splitter. Surin fand eine LĂŒcke im Angriffsmuster des Barbaren und nutzte sie aus, indem er Sjur einen krĂ€ftigen Tritt gegen den Unterkiefer beibrachte, der ihn meterweit durch die Luft gleiten ließ, bevor er unsanft aufkam. Sofort versuchte Sjur, aus seiner misslichen und verwundbaren Lage zu entkommen und aufzustehen. Aber Surin wollte ihm dazu keine Zeit lassen. Er bereitete einen weiteren fatalen Angriff vor. “Eine Million Schnitte!” Erneut schoss der todbringende Nebel auf Sjur zu und er wusste, dass er nicht mehr genug Zeit zur VerfĂŒgung hatte, seinen Schild aufzubauen. Er machte sich bereit, bald in der großen Methalle zu sein, als aus der Ferne die Stimme seines Weibes an sein Ohr drang. “Verbrenne und verheere, Flameburst!” Es zauberte ihm ein LĂ€cheln auf das Gesicht. Ein roter Feuerschweif durchbohrte die Aschewolke und brachte sie aus dem Gleichgewicht, sodass ihre Bewegung gestoppt wurde. Die Millionen Klingen der Teufelswaffe wurden in alle Richtungen auseinandergetrieben. Sjur schenkte Valdis einen kurzen, danksagenden Blick. Am anderen Ende des Steges stand sie. Einen schwarzen Bogen in den HĂ€nden haltend, dessen Enden in Flammen standen und mit einer glĂŒhenden Sehne verbunden waren. Wieder einmal hatte sie ihm aus der Patsche geholfen. Allerdings durfte er nicht nachlassen, sondern musste die Gunst der Stunde nutzen, bevor der Elf seine Waffe wieder unter Kontrolle bekam. Er sah sich um und durch eine glĂŒckliche FĂŒgung des Schicksals steckte seine Axt, die er zuvor geworfen hatte, in Armreichweite neben ihm im Boden. Sofort griff er nach ihr und zog sie heraus. Eine Schicht aus schwarzem Eis bildete sich und umschloss seine Waffe. Getrieben von der Kraft seiner Armstulpen, katapultierte er sich nach vorn und trieb die Axt einmal quer ĂŒber den Rumpf seines Gegners. Blut spritzte und gefror sofort danach. Surin wusste gar nicht, wie ihm geschah, als er RĂŒcklings in das Hafenbecken stĂŒrzte und unterging, den schwarzen Nebel seines Schwertes hinter sich her ziehend. Erleichtert stieß Sjur einen Siegesschrei aus. VerĂ€ngstigt ließen alle Verteidiger ihre Waffen fallen und rannten davon, wie die Hasen. Sie wussten, dass wenn ihr Hauptmann geschlagen war, sie nicht das Geringste auszurichten vermochten. Es stimmte, was man sagte: Man muss der Schlange den Kopf abschlagen. Begeistert stimmten die anderen Barbaren in den Jubel ihres AnfĂŒhrers mit ein. Ein dĂŒsteres Schicksal stand den Dorfbewohnern bevor
 🌱 ZurĂŒck in der Gegenwart. Langsam segelte eine Schneeflocke vom Himmel herab. Lange war sie gereist. Hinter ihr lag ein weiter Weg, der oben in den undurchsichtigen Wolken begann, die die schwache Sonne des ausklingenden Herbstes verdunkelten. Der Abstieg bestand aus ruhigen und turbulenten Etappen. Mehrfach hatten sie die Winde verschiedener Luftströmungen erfasst und mit sich gerissen. Es war nach bestem Willen nicht möglich zu erkennen, wo die Schneeflocke von den KrĂ€ften der Natur hingetrieben wĂŒrde. Sie war allerdings bei weitem nicht die erste ihrer Art. UnzĂ€hlige ihrer Schwestern wurden mit ihr zum Spielzeug der Winde, wĂ€hrend die Schwerkraft allmĂ€hlich die Oberhand gewann und sie mit ihrer Anziehungskraft dem Boden nĂ€her brachte. Alleine war jede von ihnen unwesentlich, bedeutungslos. Doch vereint zu Tausenden - Millionen - vermochten sie es, die Welt in ein winterliches Kleid zu hĂŒllen. WĂ€hrend der Boden mit weißem Puder abgedeckt wurde, bereiteten sich Fauna und Flora auf das kommende Jahr vor. Wenn der Lebensrhythmus von Mensch und Tier langsamer wird, dann besitzt das Weiß des Winters die Macht, die Zeit anzuhalten. Jeder, welcher schon einmal das VergnĂŒgen hatte, auf einem verschneiten Pfad zu wandeln, wĂ€hrend jeglicher Laut vom Schnee geschluckt wurde, sodass einzig das Knirschen der eigenen Schritte zu vernehmen war, der weiß, wie es sich anfĂŒhlt. Und die Schneeflocke war selbst TrĂ€gerin eines verschwindend geringen Teils dieser Ruhe und wĂŒrde dazu beitragen, sie der Winterwelt aufzuerlegen. Die Strömungen der Winde trieben sie nun auf einen großen Baum zu. Er hatte schon den Großteil seiner BlĂ€tter verloren und stand entblĂ¶ĂŸt bereit, sein neues Kleid zu empfangen. Die Flocke durchquerte eine LĂŒcke zwischen den Ästen nach der anderen, ohne mit einem von ihnen zu kollidieren, wohingegen viele ihrer Schwestern nicht dieses GlĂŒck teilten. FĂŒr sie war die Reise an diesem Punkt zu Ende. Aber die Schneeflocke flog einfach immer weiter, bis sie die Gabelungen des GewĂ€chses hinter sich ließ. Ungehindert konnte sie nun ihren Weg auf den Boden fortsetzen. Ein sanfter Luftstoß ließ sie in einer AbwĂ€rtsspirale nach unten wirbeln. Einige Umdrehungen hielt er die Schneeflocke in seinem Bann, bis es ihr gelang auszubrechen und unbehelligt weiter hinab zu segeln. Endlich war das Ende des langen Weges in greifbarer NĂ€he. Mit der Grazie einer Feder landete die Schneeflocke auf der Wange einer Frau und schmolz sofort. Ein kĂŒhler Strom floss das Gesicht der Unbekannten herunter und weckte sie sanft aus ihrem Schlaf. Die Frau strich sich die blonden StrĂ€hnen aus dem Gesicht und sah sich um. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie keine Kleider trug. Trotzdem schien ihr die KĂ€lte nichts auszumachen. Erst jetzt wurde ihr all das Rot um sie herum bewusst. Sie lag in einer Blutlache. Aber es war nicht ihres. Ihre makellose Haut wies keinen Kratzer auf. Neben ihr befand sich der fĂŒrchterlich zugerichtete Kadaver eines Hirschbock. Die Eingeweide des stolzen Tieres brachen aus den klaffenden Wunden in seiner Bauchdecke heraus. Teile von ihnen lagen in StĂŒcke gerissen ĂŒberall verstreut. Die Frau sah kurz auf, als mĂŒsse sie die Situation erst begreifen. Ihre anfĂ€ngliche Verwirrung verflog und unbĂ€ndiger Hunger erwachte in ihr. Sie beugte sich ĂŒber den Tierkadaver und vergrub ihr Gesicht in den Innereien des Hirsches. Alaric quĂ€lte ein mulmiges GefĂŒhl. Kurz nachdem er aufgestanden war, ĂŒberbrachte ihm ein Page eine Botschaft. Cinnamon und Rose wollten sich mit ihm treffen, um die Ergebnisse ihrer Spionage an ihn weiterzureichen. Als Ort fĂŒr die Übergabe bestimmten sie ausgerechnet den Schwarzen Palast - eine der am besten gesicherten Anlagen im ganzen Kaiserreich. Der Prinz war zwiegespalten. Zwar verlangte es ihm danach zu sehen, wie die Schattenschwestern es bewerkstelligen wollten, einzudringen, und er zweifelte auch nicht daran, dass es ihnen gelingen wĂŒrde
 Andererseits wollte er aber nicht die von ihm fĂŒr gut befundenen Sicherheitsmaßnahmen torpediert sehen. Über den Zeitpunkt ihres Erscheinens ließen sie Alaric ebenfalls im Dunkeln. Der Prinz vermutete, dass sie ihm nicht vertrauten und auf diese Weise einer möglichen Falle vorbeugen wollten. Wenn niemand wusste, wann sie kamen und wie sie kamen, gestaltete sich das Legen eines Hinterhaltes schwierig. Alaric blieb nichts weiter ĂŒbrig, als zu warten. Die Informationen sollten ohne Umwege direkt an ihn ausgehĂ€ndigt werden. Dazu wĂŒrden sie sich ihm schon zu erkennen geben. Aus Mangel an Alternativen ging Alaric seinem Tagewerk nach. Es war ein Versuch, nicht andauernd daran denken zu mĂŒssen, welche schmutzigen Geheimnisse die Agentinnen ĂŒber seine Geschwister aufdeckten. Vielleicht wĂ€ren die Informationen nicht so brisant, wie er es befĂŒrchtete. Die naive Wunschvorstellung des kleinen Bruders. Alaric vergrub sich in Arbeit, damit diese aus seinem Geist verschwinden möge. Er nahm sich einen Stapel Dokumente in seine GemĂ€cher mit. Wenn er sich an diesem Ort aufhielt, wurde die Situation berechenbarer. Durch die Blei gefassten Fenster konnte niemand eindringen, ohne Krach zu verursachen und die Wachen zu alarmieren. Das ließ die TĂŒr als einzigen Zugang. Er musste nur den Zugang zu seinen GemĂ€chern im Blick behalten, um nicht ĂŒberrascht zu werden. Die vermeintliche Kontrolle ĂŒber die Situation schenkte ihm ein GefĂŒhl der Sicherheit. Es wĂŒrde helfen, den Gedanken ruhen zu lassen und konzentriert zu arbeiten. Wie es typisch fĂŒr ihn war, hatte er jede Hilfe beim Tragen des Stapels abgelehnt. Doch dass ihm eine der Wachen, deren Gesicht von einem schweren Helm verdeckt wurde, seine TĂŒr öffnete, konnte er nicht mehr verhindern. Er bedankte sich, wie es Ehre und Anstand verlangten, trat ein und stieß die TĂŒr hinter sich mit dem Fuß zu. Anschließend wuchtete er die Papiere auf seinen Arbeitstisch. Die nĂ€chsten Stunden vergingen ohne einen Zwischenfall. Die Planungen fĂŒr die Zusammensetzung der Kohorten und deren AusrĂŒstung gingen fast wie von selbst von der Hand. Alaric schmunzelte. Eine weitere Unterschrift fand ihren Platz auf dem SchrifttrĂ€ger vor ihm. Heute hatte er offensichtlich einen Lauf! Als er sich gerade das nĂ€chste Dokument vornehmen wollte, vernahmen seine Ohren ein merkwĂŒrdiges Rascheln. Suchend blickte sich der Prinz in seinen GemĂ€chern um. Was mochte sein Ausgangspunkt sein? Schnell machte er seinen Kleiderschrank als Quelle des befremdlichen GerĂ€usches aus. Sachte erhob er sich von seinem Stuhl. Seine Hand wanderte zu seinem Schwert, als er sich vorsichtig dem MöbelstĂŒck nĂ€herte. Bevor Alaric etwas tun konnte, sprang die TĂŒr des Schrankes auf, und ein MĂ€dchen entstieg ihm. Sie hatte dunkelrote Haare, die in zwei verspielten Zöpfen gefunden waren. Ihr Alter schĂ€tzte er auf vielleicht vierzehn Jahre. Zu seiner Verwunderung kniete die Rothaarige vor ihm nieder und verharrte. “Bist du Rose?”, fragte Alaric. “Wie lange bist du da schon drin?” Er erhielt keine Antwort. Daraufhin öffnete sich die TĂŒr und einer der WĂ€chter trat ein. “Euer Hoheit”, sprach der Mann, als er das fremde Kind erblickte. “Wer-”, wollte er fragen, als eine Hand einen in BetĂ€ubungsmittel getrĂ€nkten Lappen an seinen Helm hielt und er das Bewusstsein verlor. Die andere Wache packte ihn und zerrte ihn hinein zu Alaric und legte ihn auf den Boden ab. Danach verschloss sie die TĂŒr und begann sich des Helmes zu entledigen. Als dieser fiel, und lange tĂŒrkis-grĂŒne Haare zum Vorschein kamen, vermutete Alaric, dass dies Cinnamon sein mĂŒsse. Im Gegensatz zu Rose schien sie schon weit ĂŒber dreißig zu sein. Auch sie kniete vor Alaric nieder. “Bringt Ihr mir die Informationen, die ich angefordert habe?” Wortlos zĂŒckten das MĂ€dchen und die Frau jeweils eine mit Wachs versiegelte Schriftrolle und boten sie Alaric am ausgestreckten Arm dar. Sofort nahm er ihre Mitbringsel an sich. Die fremden Eindringlinge erhoben sich und verließen Alarics GemĂ€cher. Cinnamon nahm den Helm wieder an sich, den sie zuvor abgelegt hatte, und versteckte ihre grĂŒnen Haare unter ihm. Alaric beobachtete, wie Rose die TĂŒr hinter ihnen schloss. Einige Minuten spĂ€ter kam der bewusstlose WĂ€chter wieder zu sich. Erschrocken hob er sein Haupt. Hilfe suchend, sah er seiner Hoheit in die Augen. “Was ist geschehen?”, fragte er. Ihm wurde bewusst, dass er noch immer auf dem Boden lag und eilte sich, sich zu erheben. “Verzeiht
” Alaric legte die Schriftrollen auf seinem Arbeitsplatz ab. “Wer war das vorhin, Euer Hoheit?” Offensichtlich meinte er das MĂ€dchen, das er bei ihm gesehen hatte. Eigentlich verlangte es sein eigenes Protokoll, dass er nun Alarm schlagen ließ, doch Alaric bezweifelte, dass von den Eindringlingen noch eine Spur zu finden war. Darum entschied er, nicht unnötige Ressourcen dafĂŒr zu vergeuden. “Das war eine Dienerin meiner Schwester”, flunkerte er. “Sie hat mir eine Nachricht ĂŒberbracht. Kein Grund zur Beunruhigung." Der WĂ€chter versuchte, seine Zweifel aus seinem Hirn zu schĂŒtteln. “Aber du solltest einen Heiler aufsuchen”, riet der Prinz. Ihm war immerhin Schwarz vor Augen geworden. “Ihr habt Recht.” Nun verließ auch er das Zimmer und Alaric war wieder allein. Zögerlich wandte er sich den SchriftstĂŒcken zu, deren Inhalt ihm vielleicht nicht gefallen wĂŒrde. Nachdem der Notruf aus ArsenrĂ© in der nĂ€chstgelegenen Garnison eingetroffen war, schickte man umgehend eine Hundertschaft aus, die den Feind aus der Stadt vertreiben sollte. Doch als sie ihr Ziel erreichten, fehlte von den Barbaren jede Spur. Die Überbleibsel ihrer Taten waren jedoch umso sichtbarer. Der Zorn der WarĂ€ger hatte die Ortschaft schwer getroffen. Feuer brannten in den eingestĂŒrzten Ruinen einstiger HĂ€user. Der beißende Geruch der schwarzen Schwaden kroch in die Lungen der Soldaten und hinterließ einen Geschmack von Holzkohle und verbranntem Fleisch. Einige von ihnen mussten husten, in anderen stieg Übelkeit auf. Die Zerstörung schien omniprĂ€sent. Zwischen den TrĂŒmmern lagen vereinzelte Leichen. Die Hinterbliebenen beklagten ihre Verluste. “Unfassbar!”, erhob einer der Soldaten die Stimme. “All das hier sollen gewöhnliche Menschen getan haben?” “Man versucht sich stets in Grausamkeit zu ĂŒbertreffen”, meinte ein anderer. Die Hundertschaft wurde von Offizieren der Versorgungseinheit begleitet. Sie fĂŒhrten Baumaterialien, Zelte und HilfsgĂŒter mit sich. Schnell wurden fĂŒr die Überlebenden des Angriffs provisorische UnterkĂŒnfte aus dem Boden gestampft und Essensausgaben eingerichtet, damit die grĂ¶ĂŸte humanitĂ€re Not gelindert werden konnte. Unterdessen durchkĂ€mmen die Soldaten die Ruinen nach weiteren Überlebenden. Irgendwann hatten sie sich bis zum Hafen vorgearbeitet. Die Spuren des Kampfes legten Zeugnis ĂŒber den Verlauf der Schlacht ab. Einer der Soldaten blickte hinaus in die kĂŒnstliche Bucht und entdeckte etwas im Wasser treibend. “Schaut, dort!”, rief er seinen Kameraden zu. Das Objekt schien sich an einem Pfeiler des Stegs verhakt zu haben. Es schien sich um eine Person zu handeln. Sofort eilten drei der Soldaten ĂŒber den ramponierten Übergang, dem seltsamen Objekt entgegen. Als sie es erreichten, bewahrheitete sich ihre Vermutung. Es handelte sich tatsĂ€chlich um eine Person. Ein mĂ€nnlicher Elf mit langen seidigen Haaren, welche frei im Wasser trieben und von den Wellen in Bewegung gesetzt wurden. Es gab gar keinen Zweifel an der IdentitĂ€t der Person. Es musste sich um Kommandant Surin handeln. Sein Oberkörper zierte eine Schnittwunde, welche ihm diagonal beigebracht wurde. Allerdings schien das Blut bereits geronnen zu sein. Vorsichtig frischten die Soldaten den vermeintlichen Kadaver aus dem Wasser. Der Routine folgend wurden die Vitalfunktionen geprĂŒft. “Ich spĂŒre einen Puls!”, verkĂŒndete einer der MĂ€nner verwundert. Surin riss plötzlich seinen Mund auf und begann zu schnarchen. “Ich fasse es nicht, der pennt!” Nach erfolgreicher Jagd kehrten Nebula und die anderen zurĂŒck zum Lager, in dem Henrik schon sehnsĂŒchtig auf sie warten musste. Ihre BemĂŒhungen zur Nahrungsbeschaffung hatten sich ausgezahlt. Jeder leistete seinen Teil, egal wie groß dieser ausfiel. FĂŒr die der Jagd bewanderten, stellte es keine besondere Herausforderung dar. Clay und Nebula brachten beide je ein Rotwild zur Strecke. Annemarie sammelte Beeren und Pilze, so wie man es ihr aufgetragen hatte. Cerise interessierte sich einzig fĂŒr die giftigen unter ihnen. FĂŒr Aki kam es einer PrĂŒfung gleich. Sie nutzte die Gelegenheit, ihre Belastbarkeit auszutesten. Toshiro fĂŒhlte sich wie Zwiegespalten. Er wollte nicht, dass sie sich ĂŒberanstrengte, aber von ihrer Pflicht ließ sie sich so oder so nicht abhalten. FĂŒrs erste sollte dies genĂŒgen. Bald wĂŒrden sie sich sowieso nur schwerlich selbst versorgen können, denn sie konnten den Schnee förmlich riechen, wie er oben in den Wolken hing, bereit auf sie herabzurieseln. FrĂŒher oder spĂ€ter wĂŒrden sie die Stadt erreichen. Bis dahin konnten sie ihre ÜberschĂŒsse unter der Hand loswerden. Nicht dass jemand in Lescar auf die Idee kam, unangenehme Fragen zu stellen. In Aschfeuer gab es gewiss Ă€hnliche rechtliche Grundlagen fĂŒr die Jagd, wie in Morgenstern, und eine Anklage wegen Wilderei konnten sie nicht gebrauchen. Mit ihrer reichen Beute betraten sie das Camp. Wie erwartet, kam Henrik ihnen sogleich entgegen. Er sah merkwĂŒrdig aus. Seine Haare wirkten, als hĂ€tten sie Bekanntschaft mit dem Lagerfeuer gemacht. “Was ist denn mit dir passiert?”, fragte Cerise. Sie gab sich keine MĂŒhe, ihr Lachen zu verbergen. “Hast du dein Haupthaar als Zunder benutzt?” “H-Ha ha”, erwiderte Henrik wenig begeistert. “Was ist denn passiert?”, fragte Annemarie mit großen Augen. “Das glaubt ihr m-mir doch s-sowieo nicht
”, befĂŒrchtete der Braunhaarige. “Versuche es!”, forderte ihn Nebula auf. “D-Der Junge wars!” UnverstĂ€ndige Blicke trafen ihn. “E-Er hat g-gerĂŒlpst
 und d-” “-dabei deine Haare in Brand gesteckt?” “J-Ja!” Jetzt starten sie ihn an, als hĂ€tte er nicht mehr alle Groschen im Klingelbeutel. “E-Es ist die W-Wahrheit!” Er hatte Recht. Niemand wollte ihm Glauben schenken. Kapitel 23: Drachenkind ----------------------- 🌱 GenĂŒssliche DĂ€mpfe stiegen empor in den klaren Nachthimmel. Gewiss wĂŒrde der Wohlgeruch auch die Sterne des Firmamentes erfreuen, wenn sie denn Nasen hĂ€tten, die das herrliche Aroma aufnehmen könnten. Ein rhythmisch wiederkehrendes Quietschen störte jĂ€h die besinnliche Stimmung. Eine Konstruktion aus in der Mitte ĂŒber Kreuz gebundenen StĂ€ben war um das Lagerfeuer errichtet worden. Der nĂ€chtliche kalte Wind der Winterlandschaft ließ die Flamme flackern und die Schatten derjenigen wilde TĂ€nze auffĂŒhren, die sich zusammengefunden hatten. In der Gabelung der verbundenen StĂ€ben lag waagerecht ein Spieß, der durch den Körper eines Tieres getrieben war. An seinem Ende befand sich ein Aufsatz mit einem Kurbelgriff, der mit einem Gewinde festgeschraubt werden konnte. Mit ihm wurde der köstliche DĂŒfte emittierende Braten ĂŒber dem Feuer gedreht, bis er von allen Seiten gut durch war. Missmutig stand Nebula am Feuer und drehte die Kurbel. HĂ€tte sie nur nie darauf bestanden, bei der Zubereitung des Abendessen zu helfen
 Da die anderen befĂŒrchteten, dass sie nicht einmal Fleisch anbraten könne, ohne eine kulinarische Katastrophe zu fabrizieren, war der undankbare Job des Kurbeldrehers die einzige Aufgabe, die sie ihr zutrauten. Das Holz des Griffes Ă€chzte und stöhnte unter dem Druck, den die Finger der Blondine ausĂŒbten, wĂ€hrend sie versuchte, ihrer Wut Herr zu werden. Am liebsten hĂ€tte sie ihre ZĂ€hne darin vergraben. Zuvor wurde der Braten von Clay und Henrik gewĂŒrzt und vorbereitet. Clay hatte sich um die Innereien gekĂŒmmert. WĂ€hrend die anderen die FĂŒllung genießen wĂŒrden, mit der Henrik das ausgehöhlte Tier gestopft hatte, sollten die Eingeweide Clays inneren Wolf sĂ€ttigen. Da Toshiro die Nahrungszubereitung in guten HĂ€nden wusste, beschĂ€ftigte er sich damit, zu trainieren und noch mehr Muskeln anzuhĂ€ufen. WĂ€hrend Annemarie vergnĂŒgt in ihrem MĂ€rchenbuch schmökerte, förderten Aki und Cerise den kulturellen Austausch, indem sie ihr Wissen um die effizientesten Methoden zur Beendigung von Leben teilten. “Ä-Ähm Leute”, begann Henrik zu sprechen. “H-Hallo! Ich
” Aber scheinbar hörte ihm niemand zu. Plötzlich durchbrach ein schreckliches Grölen die Idylle. Sofort sahen sich alle nach der Quelle um. Clay hatte das Elend nicht mehr lĂ€nger mit ansehen können, und verschaffte sich an Henriks Stelle Gehör durch sein wölfisches GebrĂŒll. “Der Junge will was sagen.” "Ach, ist das Essen fertig?”, fragte Nebula. “Kann ich das Kurbeln einstellen?” “N-Nein!”, antwortete der Braunhaarige. Er hatte sich die Zeit mit dem SĂ€ugling vertrieben und mit ihm gespielt. Nun hob er ihn an und stĂŒtzte seinen Kopf auf seinem Ellenbogen. “E-Er braucht einen Namen.” Vorsichtig kraulte er den Jungen unter dem Kinn. “Schließlich ist er kein D-Ding.” “Das wĂ€re nicht klug”, Ă€ußerte sich Aki. “Ihm einen Namen zu geben, zieht zwangslĂ€ufig eine emotionale Bindung nach sich. Dann fĂ€llt die Trennung schwerer.” Beinahe erschrocken blickten sich einige zur sonst so schweigsamen Frau um. “Vielleicht hat sie Recht
”, grĂŒbelte Clay und strich sich ĂŒber seinen Bart. “Och nö!”, schrie Annemarie auf. “Ich will einen Namen aussuchen!” “Reicht es nicht, ihn Schreihals zu nennen?”, kommentierte Cerise. “Laut ist er ja.” Nebula funkelte sie bestimmend an, wĂ€hrend sie das Kurbeln fortsetzte. Ihre TĂ€tigkeit reduzierte die Bedrohlichkeit ihres Blicks allerdings erheblich. “Oh, oh, oh! Ich habs”, verkĂŒndete Annemarie. “Wir nennen ihn HĂ€nsel.” Cerise stieß die flache Hand auf ihr Gesicht und schĂŒttelte mit dem Kopf. Das Baby sperrte den Mund auf und schrie, als tĂ€te es sein Missfallen kund. “W-Wir können ihn n-nicht nach irgendeinem MĂ€rchen nennen”, mahnte Henrik. “Wie wĂ€re es mit Adrian?”, schlug Clay vor. Aber auch das beruhigte den Kleinen nicht. Nebula stellte das Kurbeln ein. “Ein Kind bekommt seinen Namen bei der Weihung”, intervenierte sie. Hastig verbarg sie das Zittern ihrer rechten Hand. Genervt stöhnte Cerise und rollte mit den Augen. Als ob der Krach nicht schlimm genug wĂ€re, kam jetzt die Prinzessin mit ihren verklemmten Moralvorstellungen dazu. Angelockt von der hitzigen Diskussion, fand Toshiro zu ihnen. Er hatte sogar sein Training beim einhunderteinundvierzigsten LiegestĂŒtz abgebrochen, um seine eigenen Argumente mit einzubringen. “Wir nennen ihn Kaji”, verkĂŒndete der muskulöse Blonde. “Das bedeutet Feuer.” Wie durch ein Wunder beruhigte sich der SĂ€ugling. “W-Wieso wollt Ihr das bestimmen?”, fragte Henrik. “Genau!”, schmollte Annemarie. “Ich will! Ich!” “Ihm gefĂ€llt es offenbar”, meinte Toshiro. TatsĂ€chlich lachte der Junge und wackelte vergnĂŒgt mit Armen und Beinen. “Außerdem
” Toshiro trat an Henrik heran und nahm ihm den SĂ€ugling ab. Er umfasste den Oberkörper des Kindes und hielt ihn Henrik gegenĂŒber, sodass sich ihre Gesichter gegenĂŒberstanden. Plötzlich öffnete der Junge seinen Mund und rĂŒlpste. Eine kleine Stichflamme verließ seinen Mund und versengte Henriks Haar. “... passt es zu ihm.” Cerise gab sich hemmungslosem GelĂ€chter hin. Sogar Aki konnte es ein Schmunzeln entlocken. Fassungslos fror Henrik rußiges Gesicht ein. Erst wollte es ihm keiner Glauben und jetzt nutzten sie es, um sich auf seine Kosten zu amĂŒsieren. Angestrengt kniff Alaric sein verbliebenes Auge zusammen, als er ein allerletztes Mal seine Muskulatur anspannte und die nötige Kraft aufbrachte, den finalen LiegestĂŒtz zu beenden. Danach stĂŒtzte er auch den rechten Arm auf den Boden auf, welchen er zuvor auf dem RĂŒcken gehalten hatte. Mit einem GefĂŒhl der Zufriedenheit nutzte er beide ExtremitĂ€ten als Aufstehhilfe. Einarmige LiegestĂŒtze gehörten zu seinem tĂ€glichen Übungen. Mit dem rechten Arm hatte er zuvor schon begonnen und nun waren auch die Trainingseinheiten des Linken vollstĂ€ndig. Kurz verschnaufend bewegte sich der jĂŒngste Spross der Kaiserfamilie zu einer Wasserschale und betrĂ€ufelte seine schweißgetrĂ€nkte Stirn mit dem erfrischenden kĂŒhlen Nass und ließ es anschließend ĂŒber seinen entblĂ¶ĂŸten Oberkörper laufen. Die Ströme der FlĂŒssigkeit bahnten sich ihren Weg ĂŒber die HĂŒgel und TĂ€ler seines ansehnlichen Waschbrettbauch, bis sie vom Saum seines Beinkleides aufgesogen wurden. Der rhythmische Paukenschlag seines Herzens gab ihm das wohltuende GefĂŒhl, etwas getan zu haben - anders als seine administrativen TĂ€tigkeiten. Körperliche ErtĂŒchtigung war der mehr als notwendige Ausgleich dazu. Statt zu trainieren hĂ€tte er sich ebenso gut die Erkenntnisse der Schattenschwestern zu GemĂŒte fĂŒhren können, die noch immer auf seinem Schreibpult lagen. Aber noch hatte er sich nicht dazu durchringen können, die Siegel zu brechen. WĂ€re sein Körper das einzige, das er stĂ€hlen wollte, hĂ€tte Alaric sich den Weg in die Garnison sparen können. Doch fĂŒr das Training seiner FĂ€higkeiten benötigte er Platz, den seine GemĂ€cher ihm nicht bieten konnten. Auf dem Aufmarschplatz gab es genug freie FlĂ€che und bis zum Morgenappell waren noch mehrere Stunden Zeit. Diese gedachte der Prinz zu nutzen. “Trenne Körper und Geist!”, beschwor er. “Anima!” Er nahm die ĂŒbliche Pose ein. An seinem zur Seite hin ausgestreckten Arm begann ein kaltes Feuer zu lodern. Zwischen den saphirblauen Flammen materialisierte sich eine Kette, die sich einer Schlange gleich rasselnd um Alarics Arm wand. Plötzlich fuhr ein Schmerz durch Alarics Kopf wie ein Messer durch Butter. Er ließ den Prinzen auf die Knie fallen und sein Haupt ergreifen. Indes entschwanden die Segmente des Anima und die Flammen erloschen. Alaric nutzte den freigewordenen Arm, um Halt auf dem Boden des Platzes zu finden. Er keuchte und kniff erneut sein Auge zu. Der imaginĂ€re Dolch in seinem SchĂ€del wurde gedreht und quĂ€lte ihn. Dann öffnete er sein Auge wieder. Sein Blick fiel auf einen ledernen Stiefel. Vor ihm stand eine Person, die zuvor noch nicht da gewesen war. Alaric hob sein Haupt. “Geht es Euch gut, Hoheit?”, fragte der Soldat, der vor dem Prinzen stand. Nicht selten kam seine Hoheit hierher, um seine KrĂ€fte zu trainieren. Er hatte gerade seinen Rundgang absolviert, als er Alaric zusammenbrechen sah. Er war sofort zu ihm geeilt. Aber der Prinz hatte seine Rufe scheinbar ĂŒberhört. “Mein Kopf!”, exklamierte der Hochwohlgeborene. “Soll ich einen Heiler rufen?”, erkundigte sich der Soldat. Inzwischen fĂŒhlte sich der Schmerz wie eine Speerstange an, die quer durch seinen SchĂ€del getrieben wurde. “Es geht schon”, versicherte er und stand vorsichtig auf. Unter Aufwartung all seiner KrĂ€fte verließ er den Aufmarschplatz. Der Soldat blieb noch einen Moment stehen, bis er seine Runde wieder aufnahm. Als Alaric sich unbeobachtet fĂŒhlte, wanderte die Hand zurĂŒck an seinen Kopf. Zwar wurden die Schmerzen allmĂ€hlich weniger, den Gefallen zu verschwinden, taten sie ihm allerdings nicht. Er musste dringlichst etwas gegen diesen Fluch unternehmen, nun da es begonnen hatte, seine FĂ€higkeiten zu beeintrĂ€chtigen. Mit nichts als einem Namen betraten Nebula und die anderen die Stadt. Die Suche nach diesem Philippe glich der nach einer Nadel im Heuhaufen. Lescar war nicht gerade klein. Wo sollten sie beginnen? Die ersterbende Stimme der Frau, die ihnen den SĂ€ugling ĂŒbergab, hallte noch immer in den Ohren der Prinzessin nach und trieb sie voran. Vielleicht gehörte der Name dem Vater des Kindes. Die Kunde von der Zerstörung des Dorfes musste inzwischen auch in die Stadt vorgedrungen sein. Sicherlich wĂŒrde er sich freuen, dass sein Sohn wohl auf war. Vielleicht war auch eine Belohnung drin - in fremden Landen musste man sehen, wo man blieb. Aber dazu mussten sie den Mann erst ausfindig machen. Die besten Chancen rechnete sich die Gruppe auf den MĂ€rkten aus. Die Knotenpunkte des zivilen Lebens waren stets reich an Möglichkeiten. Anschlagbretter offerierten AuftrĂ€ge fĂŒr Tagelöhner, der Stadtschreier unterrichtete die Einwohner von Lescar ĂŒber aktuelle Ereignisse und an den MarktstĂ€nden gab es reiche Angebote. Menschenmassen strömten gleich Blut durch ein GefĂ€ĂŸsystem auf den unzĂ€hligen Straßen zum Hauptmarkt. Irgendjemand wusste immer etwas. Man musste nur die richtige Person abgreifen. Es wĂ€re nicht klug gewesen, die ganze Zeit ein Baby durch die Stadt zu schleppen. Darum blieben Annemarie und Henrik zurĂŒck in einem Gasthaus, um auf den Jungen aufzupassen. Die verbliebenen FĂŒnf strömten aus und begannen die Passanten zu fragen. KopfschĂŒtteln um KopfschĂŒtteln. Die Sonne rannte ĂŒber das Himmelszelt wĂ€hrend Nebula und den Anderen ein Schulterzucken nach dem anderen entgegnet wurde. Niemand wollte einen Philippe kennen. Nicht einmal Cerise gelang es, ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen. Allerdings konnte man auch nicht erwarten, dass sie sofort Erfolg haben wĂŒrden. Als der Tag sich dem Ende entgegen neigte, trafen sich alle am großen Brunnen mitten auf dem Markt wieder. Sie tauschten sich ĂŒber ihr kollektives Versagen aus. Auch Aki, Clay und Toshiro hatten nichts herausfinden können. WĂŒtend trat Nebula gegen einen hölzernen Eimer, der ihrem Kraftausbruch nichts entgegenzusetzen hatte und in seine Einzelteile zerfiel. “Verdammt!”, machte sie ihrem Ärger Luft. “Irgendwer muss den Kerl doch kennen!” “Das ist in der Tat seltsam”, pflichtete Cerise bei. “Philippe ist in Aschfeuer kein so seltener Name.” Sie grĂŒbelte. “Ich hatte schon das GefĂŒhl, als ob einigen der Name etwas sagt. Aber sie haben geschwiegen.” “Also habe ich mir das nicht eingebildet!”, sagte Toshiro. DemĂŒtig fiel Aki vor ihm auf die Knie, begleitet von den skeptischen Blicken der anderen. “Es tut mir leid, dass ich auch nicht von Nutzen sein konnte, Toshiro-sama.” Als ob sie eine Strafe erwartete, sah sie den jungen blonden Mann an. “Ich denke, heute erreichen wir nichts mehr”, meinte Clay. “Lasst uns zurĂŒck zur Herberge gehen. Sonst kommen wir noch in die Sperrstunde.” VernĂŒnftig! Nicht auszudenken, die Stadtwache hĂ€tte einen Grund, sich fĂŒr sie zu interessieren. Die anderen stimmten zu und sie kehrten zurĂŒck. Außerdem stiefelten sie schon den ganzen Tag durch die KĂ€lte. Vor dem GebĂ€ude erwarteten sie nicht nur Henrik und Annemarie - letztere hielt den kleinen Kaji in ihren Armen - sondern auch ein paar ungebetene GĂ€ste. Vorsichtig gingen Nebula und die anderen weiter, bis das spĂ€rliche Licht die MĂ€nner als Mitglieder der Stadtwache erkennbar machte. Verflucht! Hatten sie es nicht mehr rechtzeitig geschafft? Einige Meter vor dem alten Fachwerkhaus kam der Tross zum stehen. Nebula und die anderen sahen verwirrt zu den Soldaten. Es ging doch nicht etwa um die von der Prinzessin begangene SachbeschĂ€digung? Einer der MĂ€nner trat vor und machte sich sprechbereit. “Was wird uns vorgeworfen?”, kam Nebula ihm zuvor. “Ihr seid die Fremden, die zu viele Fragen stellen!”, meinte der Mann. “Z-Zu v-viele?”, stotterte Henrik Ă€ngstlich. “Oh, waren es etwa die falschen?”, fragte Cerise zynisch. “Das tut uns aber Leid.” “Wenn Ihr nicht unsere Fragen beantwortet, wird es das sicher.” Er wandte sich zu den anderen Stadtwachen um. “MĂ€nner: AbfĂŒhren!” Zwei von ihnen verblieben am Eingang des Gasthofs, wĂ€hrend der Rest begann, nun auch die Ankommenden zu umstellen. Aki zuckte bereits der Finger. Sie wollte einen Abzug betĂ€tigen. Auch Toshiro verspĂŒrte die Lust, lieber gleich als spĂ€ter loszuschlagen. Mit fixiertem Blick und breitem Grinsen im Gesicht starrte er den AnfĂŒhrer der Soldaten an. Um einer Eskalation vorzubeugen, beschlossen Nebula und ihre Begleiter, dass es besser war, den Wachen Folge zu leisten und sie zu begleiten. “Wo werden wir hingebracht?”, fragte Clay. “Zur Garnison”, antwortete der GruppenfĂŒhrer. Einen Moment spĂ€ter setzten sich alle in Bewegung. Erst sah es so aus, als ob man sie tatsĂ€chlich zum MilitĂ€rgebĂ€ude bringen wollte. Doch als sie an ihm vorbei gefĂŒhrt wurden und eine verdĂ€chtig abgelegene Gasse betraten, wanderte auch Nebulas Hand allmĂ€hlich an die Waffe. Das stank doch zum Himmel! Plötzlich gab der GruppenfĂŒhrer seinen MĂ€nnern ein Zeichen und jeder versuchte, sich einen von Nebulas VerbĂŒndeten zu schnappen. Einer packte Annemarie, aber sie rammte ihm zielsicher den Ellenbogen in den Schritt und entschwand, wĂ€hrend er sich vor Schmerz krĂŒmmte, beschĂ€mt von einem kleinen MĂ€dchen ausgetrickst worden zu sein. Sie versteckte sich zusammen mit dem Baby hinter einem großen Fass. Clay, Henrik, Toshiro und sogar Cerise hatten weniger GlĂŒck und wurden mit einer Klinge am Hals in Schach gehalten. Aki zog ihre Bayonettpistolen und fuhr mit einem Knopfdruck die Klingen aus, bevor ihre Manndeckung reagieren konnte. Nebula wehrte ebenfalls den Versuch der Gefangennahme mit ihrem Schwert ab. WĂ€hrend die anderen Gefangenen Ă€ngstlich auf die Klinge an ihrer Kehle blickten, brachte Cerise den Mann hinter sich Mittels erotischem Augenkontakt ins Schwitzen. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger ĂŒber die Klinge, bis die Haut brach und roter Lebenssaft austrat. GemĂ€chlich fĂŒhrte sie den verletzten Finger zum Mund und leckte sich den Blutstropfen ab. Augenklimpernd wandte sie sich dem Mann hinter ihr zu. “Du hast aber ein scharfes Schwert”, hauchte sie. 🌱 Alaric hatte es sich inmitten seiner GemĂ€cher im Schneidersitz bequem gemacht. Noch immer beunruhigte ihn, dass Anima beim Training scheinbar den Gehorsam verweigert hatte. Das hatte es noch nie getan! Schon wieder fĂŒhrte der Weg zur Lösung seines Problems ĂŒber ein Ritual. Seit seiner Jugend hatte man ihn schon darauf vorbereitet, ein Waffenmeister zu sein. Anders als bei solchen, die nur durch Zufall in den Besitz einer Teufelswaffe gelangen, genoss er ein mentales Training. Unter anderem lehrte man ihm eine Technik, mit der es ihm möglich war, die Seelenwelt des Anima zu betreten. Zwar gab es FĂ€lle, wo die Waffe selbst den Kontakt suchte, aber fĂŒr den Waffenmeister war das Ritual - abgesehen von Befehlen wĂ€hrend des Kampfes - die einzige Möglichkeit, bewusst mit der Waffe zu kommunizieren. Alaric schloss seine Augen und verlangsamte seinen Atem. Er konzentrierte sich und horchte in sich hinein. Die lĂ€stigen Gedanken an seine Pflichten schob er beiseite - fĂŒr den Moment. Langsam verhallten die StörgerĂ€usche in seinem Kopf. Alaric fand sich im imaginĂ€ren Bild einer pechschwarzen stĂŒrmischen See wieder, die von Minute zu Minute immer ruhiger wurde, bis er mit dem kleinen Ruderboot, in das er sich hinein fantasiert hatte, zu den Ufern einer farblosen Insel rudern konnte. Er sprang aus seinem Transportmittel hinaus in den schneeweißen Sand. Der Prinz sah nach oben und erblickte den ebenfalls weißen Himmel mit seiner schwarzen Sonne. In seinem Kopf hatte er das von jeglichen TĂŒnchen befreite Reich von Anima betreten. Hier wirkte er wie ein Fremdkörper mit all den Farben - seien es die Seinen oder jene der Gewandung seines imaginĂ€ren Selbstbildes. Ein unwirklicher und surrealer Ort. Alles war einfach falsch. Licht war dunkel und Schatten war hell. Hier kam er nicht gern her. Diese Ebene der Existenz, die jeglicher Logik trotzte und sich seiner Kontrolle entzog, ließ Unbehagen in ihm aufsteigen. Es war, als ob an jeder Ecke ein neuer Gedanke an unaussprechliche Grausamkeit nur darauf wartete, von ihm Besitz zu ergreifen. Ein schwacher Charakter wĂŒrde ihnen gewiss verfallen. Schritt um Schritt entfernte sich Alaric von seinem Boot und drang tiefer in den finsteren Urwald ein, in dessen Mitte Anima auf ihn warten wĂŒrde. Mittels eines mĂ€chtigen Hiebes seines Schwertes zerteilte Alaric eine pechschwarze Rankenpflanze, die ihm den Weg versperrte. Es war erstaunlich, wie realistisch diese erdachte Welt war. Er spĂŒrte den Widerstand des GewĂ€chses, als befinde er sich in einem echten Urwald und schlage sich durch echtes Dickicht durch. Und vorhin war es ihm, als habe ihn ein lĂ€stiges Insekt um etwas Blut erleichtert. Hinter der Ranke kam ein schmaler, halb zugewachsener Weg zum Vorschein. Ein grĂ€ulicher Pfad, der sich von dem viel hellem Boden sichtlich abhob. An seinem Ende konnte man schemenhaft eine Lichtung erkennen. Alaric wusste bereits, was sich dort befand. Er tat es zwar nicht gern, aber es war mitnichten das erste Mal, dass er die Insel in seinem Geist aufsuchte. Zielstrebig ĂŒberbrĂŒckte der Schwarzelf die Distanz und trat aus dem Urwald heraus. TatsĂ€chlich erwartete ihn eine Lichtung. In ihrer Mitte befand sich eine massive Stufenpyramide, um die etwas Lebendiges herum gewickelt zu sein schien. Die pechschwarzen Sonnenstrahlen wurden von der schuppigen Haut aufgesogen wie Tinte von einem FĂŒllfederhalter. Langsam wand sich der kraftvolle Leib um die Konstruktion und das Haupt einer gigantischen Schlange erhob sich. Mit unentwegten ZĂŒngeln erfasste sie die GerĂŒche ihrer Umgebung. Dann streckte sie ihren Körper in die Höhe. Ihr Kopf verdeckte die schwarze Sonne. Ein heller Schatten fiel auf Alaric. “Was willst du von mir?”, fragte die Schlange ungehalten. Sie sprach ohne ihr Maul auch nur ein StĂŒck zu bewegen. Alaric mĂŒhte sich, den Augenkontakt mit der Kreatur zu halten, die ihn haushoch ĂŒberragte und wie der Turm von Babel in den Himmel reichte. “Sprich!” “Heute hast du mir den Gehorsam verweigert”, klagte der Prinz an. “Wieso gehorchst du deinem Meister nicht?” “Du willst mein Meister sein und bist nicht einmal Herr ĂŒber dich selbst?” “Wie meinst du das?”, fragte Alaric unverstĂ€ndig. “Etwas anderes hat Anspruch auf deine Seele erhoben.” Anima musste die ewige Dunkelheit meinen. “Deine Existenz ist mit der Menschenfrau verbunden, der du mich einst die Seele entreißen ließt. Eine so reine Seele habe ich noch nie gefĂŒhlt. Das vergesse ich nicht. Sie hat deinen Platz im Limbus eingenommen. Aber nicht aus freien StĂŒcken. Ich spĂŒre, wie die Menschenfrau um ihre Freiheit kĂ€mpft.” “Das war nicht meine Entscheidung”, verteidigte sich Alaric. “Ich unterlag im Kampf und wurde gegen meinen Willen ins Leben zurĂŒckgeholt!" “Aber seid ihr Sterblichen nicht so versessen auf euer kurzes Dasein?” “Nicht wenn jemand anderes an meiner statt leiden muss!” “Wie Nobel von dir! Dennoch warst du es, der mich ihre Seele entreißen ließ.” “Woher sollte ich wissen, dass meine Schwester-” “In einem Anfall von Überheblichkeit warst du der Ansicht, die Menschenfrau fĂŒr eine LĂŒge bestrafen zu mĂŒssen, bei der sie keine große Wahl hatte, als ihre Rolle zu spielen!” Ertappt verzog Alaric sein Gesicht. Anima lebte in seinem Körper und in seinem Geist. Da war es wenig verwunderlich, dass es genauestens ĂŒber ihn und sein Seelenleben Bescheid wusste. Es war beĂ€ngstigend, einen GesprĂ€chspartner zu haben, vor dem es keine Geheimnisse gab. “FrĂŒher hast du die Dinge noch hinterfragt. Aber dann hast du beschlossen, die Augen zu verschließen und zu funktionieren. Die Erwartungen deines Vaters zu erfĂŒllen und ihm ein guter Sohn zu sein. Auf dem Bankett hast du den Betrug an ihm aufgedeckt und bist beinahe automatisch zu dem Schluss gekommen, dafĂŒr Rache nehmen zu mĂŒssen.” Alaric rang mit der Fassung. “Aber ich
”, flĂŒsterte er. “Du stehst praktisch mit einem Bein im Grab. Der Limbus fordert deine Seele ein. Das Herz dieser Menschenfrau ist viel zu rein, als dass die Dunkelheit es akzeptieren wĂŒrde. Deine Wiederbelebung war kein Segen, sondern ein Fluch. Du hast deine Seele nur auf Zeit zurĂŒck erhalten. Die Finsternis wird dich frĂŒher oder spĂ€ter holen kommen.” “Und darum verweigerst du mir den Gehorsam?” “Richtig!”, brĂŒllte Anima donnernd. “Du verabscheust Ehrlosigkeit. Ich SchwĂ€che. Beides hast du in dieser Nacht unter Beweis gestellt! Ich werde dich beobachten und dann entscheiden, ob ich dir gehorche. Und jetzt verschwinde!” Blitzschnell schoss der Kopf der Schlange auf Alaric zu und ihre Beißwerkzeuge vergruben sich an der Stelle im Boden, an der er einen Moment zuvor noch gestanden hatte. Eine Wolke aus Schmutz wurde aufgewirbelt. Die Priesterinnen des Tempels hatten soeben die Prozedur der Einbalsamierung abgeschlossen. Behutsam rieben sie nun die kalte Haut des humanoiden Kadavers mit heiligem Öl ein. Diese letzte Ölung war eine zeitaufwĂ€ndige Prozedur. Die traditionellen Riten schreiben vor, dass sie nur von den Glutjungfern durchgefĂŒhrt werden durften. Frauen, die durch das Feuer gezeichnet wurden, und ihren heiligen Dienst beim Elendsschlund leisten. Die Hand einer der Frauen streifte dabei ĂŒber die vernĂ€hte Öffnung am Bauch des Toten, wo zuvor die Organe entnommen worden waren. Sie war sauber vernĂ€ht. Die Glutjungfer konnte stolz auf ihre Arbeit sein. Es war wichtig, die HĂŒlle in einem guten Zustand der Asche zurĂŒckzugeben, andernfalls wĂŒrde man den Vulkan erzĂŒrnen. So sehr die Schwarzelfen die Menschen fĂŒr ihren Glauben an den namenlosen Gott auch belĂ€chelten, hingen viele an ihren eigenen alten Traditionen fest. Die Überzeugung der Reinigung durch die Asche schenkte vielen SĂŒndern Hoffnung. Der Körper war nun völlig entleert. Frei von allen SĂŒnden seines Besitzers. Nach dem Glauben der Schwarzelfen saß die Seele in den GedĂ€rmen. Der Leib war nicht mehr als ein GefĂ€ĂŸ. Die Entfernung der Innereien war deshalb ein wichtiger Bestandteil des Bestattungsritual. Der Körper wurde spĂ€ter den heißen Strömen aus dem Inneren der Erde ĂŒbergeben, sodass nach der Zerstörung eine neue Schöpfung folgen konnte. Aber mit den Organen wurde anders verfahren. Man wollte sichergehen, dass die Seele ihren Weg in das Jenseits fand. Darum wĂŒrden die GedĂ€rme zwei Wochen lang sorgsam entwĂ€ssert und anschließend von den Priesterinnen unter freiem Himmel verbrannt, auf dass sich die Asche der Organe mit jener der Ahnen vereinigte, die bereits ihren Platz in der großen Aschewolke gefunden hatten. Was anschließend ĂŒbrig blieb, wurde in Urnen gefĂŒllt und in einer Krypta zur Ruhe gebettet. Belanors sterbliche Überreste stellten da keine Ausnahme dar. Egal welche Verfehlungen er zu seinen Lebzeiten begangen haben möge, das Feuer des Berges wĂŒrde ihn von allen seinen SĂŒnden reinwaschen. Wenn er zu Lebzeiten selbst nicht viel mit Religion anfangen konnte, waren seine Mutter und seine Geschwister sehr glĂ€ubig. Sie lebten in den verschiedensten Winkeln des Kaiserreichs, aber einmal im Jahr pilgerten sie nach Vanitas und besuchten den Tempel am Elendsschlund. Dieses Jahr mussten sie zweimal zusammenkommen. Die Mutter wollte fĂŒr ihren Sohn ein gutes Leben nach dem Tod arrangieren und hatte die notwendigen Tribute entrichtet, damit die Glutjungfern zu Werke gingen. Nachdem die Haut Belanors vollstĂ€ndig mit den Ölen gesalbt war, zogen die Priesterinnen ihm sein letztes Hemd an. Es war die Gewandung, in der sein Leichnam in die Lava geworfen werden sollte. In den meisten FĂ€llen bestanden sie aus einfachen gewebten Stoffen, aber Belanors Familie war sehr reich, weshalb sein letztes Hemd sĂŒndhaft teuer war. Als der Körper bekleidet war, wurde er mit einem Laken abgedeckt. Die Glutjungfern ergriffen die Schalen mit den Organen und ihre Werkzeuge und verließen die Kammer. Der Körper des Diplomaten wĂŒrde die nĂ€chsten Tage aufgebahrt werden, damit sich seine Angehörigen angemessen verabschieden könnten. Die großen TĂŒren zum Einbalsamierungsraum wurden geschlossen. Plötzlich kĂŒndigte sich hoher Besuch an. Begleitet von zwei Leibwachen, erschien niemand geringerer als die Prinzessin auf der BildflĂ€che. Lezabel wollte ihrem verstorbenen Ehemann einen Besuch abstatten. Die Glutjungfern verneigen sich. “Ich möchte meinen Gatten sehen!”, verlangte die dĂŒnne Schwarzhaarige. “Gewiss, Eure Hoheit!”, antwortete eine der Priesterinnen. Sofort wurde die soeben geschlossene TĂŒr wieder geöffnet. Lezabel wandte sich an ihre LeibwĂ€chter. “Ihr bleibt draußen und passt auf!”, bellte sie ihre Befehle in einem abfĂ€lligen Tonfall. Ihre Wachen, einer kahlköpfig mit akzentuierten Riechorgan und der andere mit einem kindlichen Milchgesicht, standen stramm und salutieren. Lezabel trat ein und schloss die TĂŒr hinter sich. Nun war sie allein in der Kammer. Sie sah sich um. Es gab nicht viel zu sehen. Glattes Mauerwerk mit kultischen Wandmalereien. Ein paar Tische, auf denen Leichen einbalsamiert wurden. Sie waren alle leer, bis auf einen. Unter dem Laken musste Belanor liegen, dachte die Prinzessin. Lezabel trat an den Tisch heran. WĂ€hrend sie dies Tat, hallten die Schritte in ihren schweren Absatzstiefeln von den WĂ€nden wieder. Die Prinzessin ergriff das Laken, schlug es schwungvoll zurĂŒck und enthĂŒllte den Leib ihres Gatten. Ihr Blick fiel auf das Gewand aus teurer Seide. “Schwiegermutter hat weder Kosten noch MĂŒhen gescheut”, stellte sie fest. Lezabel schritt um den Tisch herum und fing ein Bild ihres Mannes aus jedem erdenklichen Blickwinkel ein. Die Glutjungfern hatten gar wundersame Arbeit geleistet. Es war nicht eine Spur der Strangmarken zu sehen, die Alaric an seinem Hals entdeckte, als er ihn tot in der Zelle fand. “Die wissen wie es geht”, flĂŒsterte Lezabel wĂ€hrend sie mit ihren Fingern ĂŒber den Hals Belanors fuhr. Sie spĂŒrte das Öl auf der Haut. “Habt Ihr Euch aus der Verantwortung gestohlen”, warf sie der Leiche vor. Ihre Augen, die bis eben noch Bewunderung fĂŒr die Arbeit der Glutjungfern wiederspiegeln, wechselten in einen abfĂ€lligen Ausdruck. “Ob die Ahnen das gut finden
”, stichelte sie. Wen wollte sie damit beleidigen? Als Toter konnte Belanor es nicht mehr hören. Nach dem Glauben der Schwarzelfen war nicht einmal mehr seine Seele anwesend, da sie zuvor mit den Eingeweiden aus dem Raum getragen worden waren. Lezabel musste sich einfach nur selbst gefallen wollen
 “Wirklich schade!”, sprach die Prinzessin weiter, wĂ€hrend sie sich neben der Körpermitte in Stellung brachte. Zielsicher griff sie nach Belanors GemĂ€cht. “Einen Toten zu quĂ€len macht keinen Spaß!”, sprach sie abfĂ€llig, wĂ€hrend sie das GeschlĂ€chtsteil mit all ihrer zur VerfĂŒgung stehenden dĂ€monischen Kraft zerquetschte. Einen tiefen Atemzug nehmend, schreckte Alaric aus der Trance auf. Erleichtert stellte er fest, dass er nicht im Magen einer ĂŒbergroßen Schlange gelandet war und sich stattdessen wieder in der realen Welt in seinen GemĂ€chern befand. Das schwache rote GlĂŒhen des Lavasee unter dem Palast, das durch die in Blei gefassten Fenster hinter ihm eindrang, beruhigte seinen aufgewĂŒhlten Geist. Er erhob sich aus dem Schneidersitz und stand auf. Noch einmal musste er es versuchen. Er streckte seinen Arm aus und rief Anima herbei: “Trenne Körper und Geist, Anima!” Aber nichts geschah. Die Schlange ließ ihren Worten Taten folgen. Er musste ihr beweisen, dass er ihrer noch immer wĂŒrdig war. 🌱 “Was wollt Ihr wirklich von uns?!”, fragte Nebula fordernd. Der AnfĂŒhrer der Geiselnehmer zeigte keine Reaktion. Ein kurzer Augenkontakt zwischen den Freunden genĂŒgte. Als erstes erledigte sich Cerise ihres Geiselnehmers. Dem armen Mann war sowieso trotz der KĂ€lte viel zu heiß in seiner Haut. Er konnte nicht mehr klar denken, angesichts des verfĂŒhrerischen Halbblutes in seiner Gewalt, und war so ein leichtes Opfer fĂŒr die Rothaarige. Mit einem Stoß ihres Hinterkopfes ĂŒberraschte sie ihn. Danach entzog sie sich ihm und schlug ihm ins Gesicht. Toshiro ergriff die Klinge vor ihm und setzte ihren TrĂ€ger mit einer elektrischen Entladung außer Gefecht. Das Schwert von Clays Möchtegern-Geiselnehmers zerbrach, als dieser es mit bloßen HĂ€nden zerdrĂŒckte. Er musste nicht Henrik sein, um das schlechte Handwerk zu bemerken. Die Klinge hatte nie eine anstĂ€ndige HĂ€rtung erfahren. Henrik nutzte seine KrĂ€fte und bewegte die Waffe von seiner Kehle weg. Danach ließ er sie - mit samt ihres TrĂ€gers - an einer Hauswand aufschlagen. Angesichts der schlechten Performance seiner Untergebenen war anzunehmen, dass der AnfĂŒhrer dieses Überfallkommandos nun doch gesprĂ€chsbereit war
 “Sagt Ihr uns jetzt, was Ihr von uns wollt?” In regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden wiederholte sich das GerĂ€usch eines Tropfens, der von der durch Kondenswasser befeuchteten Decke hinunter auf den steinernen Boden fiel. Die Luft war bedrĂŒckend schwer und feucht. Moose und Schimmel hatten sich ĂŒberall im Mauerwerk festgesetzt. UngefĂ€hr alle 10 Meter erhellte eine Fackel die Umgebung. Sie steckten in einfachen Metallhalterungen. Die Gruppe ließ sich von ihren ehemaligen Angreifern leiten. Ihr Weg fĂŒhrte durch einen Wartungstunnel der stĂ€dtischen Wasserversorgung. Er transportierte schon lange kein Wasser mehr und verlief neben dem eigentlichen Abwassersystem. Augenscheinlich war er nun einem neuen Zweck zugefĂŒhrt worden. Unentwegt nach einem ganz bestimmten Namen zu fragen, hatte ungewollte Aufmerksamkeit heraufbeschworen. Es stellte sich heraus, dass die MĂ€nner zu diesem Philippe gehörten, den Nebula und die anderen zu finden versuchten. Entweder taten sie so, als seien sie bei der Stadtwache, oder es war ihnen gelungen, diese zu unterwandern. Philippe musste seine Leute geschickt haben, als ihm zugetragen wurde, dass jemand Kontakt mit ihm suchte. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Eine unbeleuchtete Abzweigung fĂŒhrte zu einer unscheinbar wirkenden TĂŒr. Alsbald wurde sie aufgestoßen und gab den Blick auf den gewaltigen Raum frei, den sie verbarg. Es handelte sich um eine mehrere Stockwerke große Zisterne. Die Vertrauten blickten nach unten. Nur der Boden war noch mit Wasser gefĂŒllt. Sie wurde bestimmt seit langer Zeit nicht mehr genutzt. Der Zugang lag im oberen Teil und einige HĂ€ngebrĂŒcken verbanden Holzkonstruktionen im leeren Innenraum. Auf ihnen hatte man HĂŒtten und WerkstĂ€tten errichtet. Interessiert sahen sich die Neuankömmlinge um. Es kam einer Stadt unter der eigentlichen Stadt gleich. Aber nichts stach so sehr hervor wie die unzĂ€hligen Schilde und Banner mit ihren Wappen. Sie stellten allesamt das gleiche Motiv dar. “W-Was ist das a-alles hier?”, stammelte Henrik. “Das ist ja wuselig hier!”, entfleuchte es Annemarie, als ihr Blick auf die Menschen fiel, die sich im Komplex herumtreiben. “Scarlet Sword”, sagte Cerise. Sie deutete auf eines der Wappenschilde mit dem blutroten Schwert darauf. “Mit denen hatte ich schon
 Ă€hm
 zu tun.” Nebula dachte sich ihren Teil und schwieg. “Wow!”, staunte Annemarie. “Du kennst echt jeden!” Sie trug noch immer den SĂ€ugling, der ganz aufgeweckt mit den kleinen Ärmchen ruderte. Gemeinsam folgten sie den MĂ€nnern weiter und drangen tiefer in die Anlage vor, bis sie eine grĂ¶ĂŸere Plattform mit einem massiven Holzanbau erreichten. Aki wirkte nachdenklich. Ob sie grĂŒbelte, wie das ganze Holz hierher gebracht wurde, ohne Aufsehen zu erregen? Der Gang wĂ€re dafĂŒr auf jeden Fall zu schmal. Nebula und ihre Vertrauten wurden bereits von einem stĂ€mmigen Mann und dessen beiden LeibwĂ€chtern erwartet. Sie standen vor einer großen TĂŒr, die links und rechts von weißen Flaggen flankiert wurde. Sie hingen herunter wie Wandteppiche und zeigten ebenfalls das Symbol des roten Schwertes. Gefasst wurde den AusfĂŒhrungen von Nebula und ihren Begleitern gelauscht. Nachdem sich der AnfĂŒhrer des Lagers als Philippe zu erkennen gegeben und sie hereingebeten hatte, ließ er sich von ihnen berichten, woher sie seinen Namen kannten und was sie von ihm wollten. Nun saßen sie alle um einen großen runden Tisch. Sie sagten ihm, was sie bedenkenlos weitergeben konnten. Dass sie geschĂ€ftlich unterwegs waren, als plötzlich ein Drache ĂŒber ihre Köpfe flog, wĂ€hrend sie ihrer TĂ€tigkeit auf dem Markt nachgingen. Das UngetĂŒm steuerte ein Dorf an, etwa einen halben Tagesmarsch entfernt. Sofort gaben sie ihrem unguten GefĂŒhl nach und machten sich auf den Weg. Alles, was sie noch vorfanden, beschrĂ€nkte sich auf Tod und Zerstörung. Der Drache hatte in dem Dorf keinen Stein auf dem anderen gelassen. Auf den Pfaden lagen die Opfer seines Feuerodems. Als sie die TrĂŒmmer durchsuchten, stießen sie auf eine Frau, die sie mit letzter Kraft bat, ein Baby nach Lescar zu bringen. SpĂ€ter gab ihnen jemand den Rat, in der Stadt nach Philippe zu fragen. “So habt Ihr also von mir erfahren”, sammelte Philippe seine Gedanken. Er wirkte seit der ErwĂ€hnung des Drachen nervös. Sein Blick wanderte stets zwischen den Gesichtern der Fremden und dem Baby, um das sich Annemarie kĂŒmmerte, hin und her. “Irgendwer konnte seinen Mund nicht halten
” “Gutes Personal ist Mangelware”, kommentierte Cerise. “Habt Ihr darum Eure Schergen geschickt?”, fragte Nebula. “Ich musste eure Absichten in Erfahrung bringen.” “Ihr hĂ€ttet fragen können!” “Ich habe die Situation gern unter Kontrolle.” “U-Uns die Schwerter an die Kehle halten, ist der f-falsche Weg!”, stellte Henrik klar. Abermals verirrten sich Philippes Blicke. “Man kann nie vorsichtig genug sein.” “Es ist etwas mit dem Jungen”, mutmaßte die sonst stille Aki. “Ihr seht ihn andauernd an.” Sie hatte lĂ€ngst bemerkt, dass ihr GegenĂŒber unentwegt den SĂ€ugling anstarrte. Eine Tatsache, die auch an den anderen nicht unbemerkt vorbeigegangen war. Einen Moment schwieg der AnfĂŒhrer von Scarlet Sword. “In der Tat”, bestĂ€tigte er anschließend. “ReneĂ©!”, rief er aus. “Kommst du bitte?” Die TĂŒr hinter ihm öffnete sich und eine schwangere Frau trat ein. Ihr Bauch war kugelrund. Bestimmt war es bald soweit. “Das ist meine Frau ReneĂ©â€, stellte sie Philippe vor. “WĂ€rst du so gut, dich um das Kind zu kĂŒmmern?”, wandte er sich an sie. “Ich muss unseren GĂ€sten etwas zeigen.” Die Frau kam seiner Bitte nach und trat an den Tisch heran. Sie streckte die Arme aus, bereit, das Kind in Empfang zu nehmen. Ein Moment des Zögerns verstrich. “Keine Angst, sie hat schon gegessen”, scherzte Philippe, wohl auf ReneĂ©s ĂŒberschĂŒssige Schwangerschaftspfunde anspielend. ReneĂ© zog ihre Arme wieder ein. Sie ging zu ihrem Mann und er fing sich einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Danach kehre sie zu Annemarie zurĂŒck und streckte abermals ihre Arme aus. Nachdem Nebula ihre Zustimmung durch Nicken signalisierte, ĂŒberreichte Annemarie den SĂ€ugling, fĂŒr den sie sich seit jeher verantwortlich gefĂŒhlt hatte. “Du bist aber ein SĂŒĂŸer!”, meinte ReneĂ© und schaukelte das Kind sorgsam. Philippe erhob sich. Nebula und die Anderen verstanden dies als Aufbruchsignal und taten es ihm gleich. “Stopp!”, intervenierte der AnfĂŒhrer von Scarlet Sword. “Nur die HĂ€lfte von euch. Die andere bleibt hier. Als RĂŒckversicherung.” “Immer etwas in den Hinterhand haben”, brachte Nebula ihren Unmut zum Ausdruck. “So haben wir bisher ĂŒberlebt.” “Keine Angst, Blondie, ich pass schon auf deinen Liebsten und das Gör auf!”, bot sich Cerise an. “Wenn die Typen eine krumme Nummer abziehen wollen, werde ich mich um sie kĂŒmmern”, versicherte sie, wĂ€hrend sie lĂ€ssig ihre FingernĂ€gel begutachtete. “Danke fĂŒr das Angebot”, zeigte sich Nebula erkenntlich. “D-Das wird nicht nötig sein”, meinte Henrik. “Ich komme mit.” “Dann bleibe ich”, verkĂŒndete Clay. Er fĂŒhlte sich in der NĂ€he dieses Philippe unwohl. Seine Anwesenheit weckte eine Urangst in ihm. Und er roch auch nicht so, wie ein normaler Mensch riechen sollte. Trotzdem bot er sich freiwillig an. NatĂŒrlich blieb auch Annemarie - immerhin war das Baby dort. Das Quartett aus Aki, Henrik, Nebula und Toshiro folgte Philippe durch die TĂŒr, aus der zuvor ReneĂ© gekommen war. Sie fĂŒhrte in ein weiteres Tunnelsystem. Nach einer gefĂŒhlten Ewigkeit in der stickigen, dunklen Passage sahen sie die Sonne durch einen von GeĂ€st verdeckten Ausgang wieder. Nacheinander traten sie aus der Finsternis heraus. Zuerst Philippe, gefolgt von Nebula, Henrik und Toshiro. Aki schĂŒtzte den RĂŒcken ihres Schutzbefohlenen. Sie entstiegen dem unscheinbaren Loch im felsigen Boden. Sofort bedeckte Philippe den Zugang mit Steinen, Zweigen und Schnee. Nun befanden sie sich ein gutes StĂŒck von der Stadt entfernt. Nebula sah sich um und konnte nichts von Relevanz entdecken. Misstrauisch machte sie sich kampfbereit. “Warum habt Ihr uns mitten ins Nirgendwo gefĂŒhrt?”, fragte sie. “Es ist einfacher, es zu zeigen
”, meinte Philippe. Er entfernte sich von der Gruppe. Nach einigen Metern stoppte er und begann sich seiner Kleidung zu entledigen. “W-Was macht der da?”, fragte Henrik verdutzt. “Der macht sich nackig!”, kommentierte Toshiro belustigt das Offensichtliche. “J-Ja, das s-sehe ich. Aber w-warum?” Plötzlich breitete Philippe die Arme aus, als wolle er eine göttliche Macht anrufen. Seine Haut begann zu glĂŒhen und anschließend zu verbrennen. Sein Körper nahm an GrĂ¶ĂŸe und Masse zu. Philippes Schreie deuteten darauf hin, dass der Prozess sehr schmerzhaft fĂŒr ihn war. Die Hitze schmolz den Schnee und versengte das Gras um ihn herum. Nebula und die anderen konnten die Temperaturen fĂŒhlen. Die glĂŒhende Gestalt verlor jegliche Ähnlichkeit zu der eines Menschen. FlĂŒgel entstanden. Der Hals verlĂ€ngerte sich. Ein Schwanz wuchs. Aus dem Schreien wurde ein bestienhaftes GebrĂŒll. Letztlich kĂŒhlte das GlĂŒhen ab und enthĂŒllte die schuppige Haut eines Drachen. Mit einem mĂ€chtigen Schlag seiner Schwingen erhob sich Philippe in die LĂŒfte und zog seine Kreise um seine zutiefst verwunderten und schockierten GĂ€ste. Ein paar Runden drehte Philippe in Drachengestalt ĂŒber den anderen, bevor er landete, seine menschliche Gestalt wieder annahm und die Darbietung beendete. Ohne ein Wort der ErklĂ€rung fĂŒhrte er seine sprachlosen GĂ€ste zurĂŒck in das Hauptquartier von Scarlet Sword, nachdem er sich wieder bekleidet hatte. Inzwischen hatten alle wieder am großen, runden Tisch Platz genommen. Die ZurĂŒckgebliebenen erfuhren, was sich fernab von den Augen neugieriger BĂŒrger abgespielt hatte und wollten es ebenfalls nicht glauben. “Du kannst zu einem Drachen werden?”, staunte Annemarie. Eine Tatsache, die es vermochte, das MĂ€dchen vom kleinen Kaji abzulenken. “Also ist er ein Werdrache?”, entfleuchte es einem ungewöhnlich aufgeregten Clay. “Wundert Euch das ĂŒberhaupt nicht?”, fragte er Cerise, deren Körpersprache die ĂŒbliche GleichgĂŒltigkeit verlauten ließ. “Wieso?”, tat die Rothaarige, als ob es das Normalste auf der Welt wĂ€re, wenn sich jemand in einen Drachen verwandelte. “Ihr könnt zum Wolf werden. Wen ĂŒberrascht es noch, wenn sich jemand in einen Drachen verwandelt?” “Wie ist das m-mö-öglich?”, wollte Henrik wissen. Philippe senkte sein Haupt. “Das ist eine lange Geschichte”, leitete er ein. Gebannt warteten alle auf seine ErklĂ€rung. “Damals war ich Soldat. Man brauchte Freiwillige, um eine neue Waffe zu testen. Ich habe mich fĂŒr das Programm freiwillig gemeldet. Ich wurde mit anderen Testsubjekten in umfunktionierten FolterstĂŒhlen gefesselt und man machte Experimente mit uns. Wir bekamen regelmĂ€ĂŸig eine Substanz gespritzt. Das Zeug hat in den Adern gebrannt wie flĂŒssiges Feuer! Viele haben das nicht ĂŒberlebt." Was das wohl fĂŒr eine Substanz war, grĂŒbelte Nebula. Vielleicht eine Droge? Aber welche Droge verleiht die FĂ€higkeit, ein Drache zu werden? “Die anderen Versuchskaninchen sind der Reihe nach jĂ€mmerlich verreckt. Das Zeug ließ sie von innen heraus verbrennen! Viel mehr als eine verkohlte Leiche blieb nicht ĂŒbrig.” Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um den Brechreiz zu stoppen. “Die wenigen ‘Patrioten des Reiches’, die das ĂŒberlebten, hat man darin unterwiesen, ihre neuen FĂ€higkeiten zu nutzen.” “Also Feuer spucken, Kinder fressen, Jungfrauen entfĂŒhren und was ein Drache sonst noch so wissen muss?”, stichelte Cerise. “Findet Ihr das etwa lustig?!”, echauffierte sich Philippe. “Aber ja, das beschreibt es ganz gut. Man machte uns zu Tötungsmaschinen und testete uns in einer Schlacht gegen die Armee eines kleinen Königreichs im Westen.” Eine schockierende Erkenntnis drang in Nebulas Gedanken ein. Sprach er etwa ĂŒber die Schlacht von Wolfshofen? “Also sind die Drachen in Wirklichkeit Menschen?”, fragte Clay. "Nein! Schön wĂ€r’s
 Die Drachen der Prinzessin sind nicht das Resultat eines Experiments. Gegen einen von denen hĂ€tte ich nicht den Hauch einer Chance.” “Aber was verspricht man sich davon?” “Weil die Drachen nur Prinzessin Lezabel unterstehen”, mutmaßte Cerise. “Die Experimente werden nicht auf ihren Befehl geschehen”, teilte Philippe seine Vermutung. “Aber wissen kann ich es natĂŒrlich nicht...” “U-Und was hat das mit dem Jungen z-zutun?”, fragte Henrik nach. “Das ist die nĂ€chste Stufe des Experiments”, schlussfolgerte Toshiro. “Ich habe sofort gespĂŒrt, dass mit diesem Kind etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, aber er ist wie ich.” “Aber w-wenn ein Erwachsener es kaum ĂŒ-ĂŒberlebt, wie kann es sein, dass ein-” Begleitet von einem dumpfen Schlag, trafen zwei HandinnenflĂ€chen auf der Tischplatte auf. Die Beine ihrer Sitzgelegenheit kratzen auf dem Boden, als Nebula sich ruckartig erhob. “Jemand experimentiert an Menschen rum!”, sprudelte es aus ihr heraus. “Nicht genug! Sie schrecken nicht einmal davor zurĂŒck, Kinder fĂŒr ihre Ziele zu missbrauchen!” Die Blondine ballte eine Faust. “DafĂŒr werden sie bĂŒĂŸen!” “W-Wisst Ihr vielleicht etwas, dass uns h-helfen könnte?”, fragte Henrik. “Angeblich verschwinden Leute in Arnage.” “Ob da ein Zusammenhang besteht
”, dachte Aki laut. “Wir wissen es nicht genau.” Philippe stand auf und kramte etwas in einem Schrank herum, bevor er mit einer Landkarte zurĂŒckkam. “Arnage ist ein gutes StĂŒck entfernt.” Sein Finger zeigte auf einen Punkt auf der Karte. “Eure Antworten könnten dort sein.” “Wir werden schon wieder einfach weitergeschickt?”, beschwerte sich Cerise. “Ihr könnt gern hier bleiben!”, wurde die Rothaarige von Nebula zurechtgewiesen. “Das ist gar keine schlechte Idee.” Kritik blieb an Cerise genauso wenig hĂ€ngen wie RĂŒhrei an einer Teflonpfanne. “Einer muss sich um den Kleinen kĂŒmmern. Das können wir unseren Gastgebern schlecht dauerhaft aufhalsen.” “Wenn das so ist, bleibe ich auch und passe auf, dass Ihr es richtig macht”, sprach Clay. Eigentlich war ihm dieser Drachenmann unheimlich, aber er wollte auch nicht, dass Cerise allein unter Fremden zurĂŒckblieb. Sie Ă€rgerte ihn, indem sie ihm die Zunge rausstreckte. “Ich will auch hierbleiben!”, forderte Annemarie. Nebula wusste nicht so recht, wie sie entscheiden sollte. Die Prinzessin war keine TrĂ€umerin. Sie wusste, dass sie sich frĂŒher oder spĂ€ter von dem Kind trennen mussten. Auf ihren Reisen konnten sie auf Dauer keinen SĂ€ugling im Tross gebrauchen. Ein Baby mitzunehmen ging zu weit! Der kleine Rotschopf baute eine immer enger werdende Beziehung zu Kaji auf. Es wĂ€re besser, wenn Annemarie nicht so viel Zeit mit ihm verbrĂ€chte. Dann wĂ€re der Schmerz der Trennung, sobald sie eine Bleibe fĂŒr den Jungen gefunden hĂ€tten, nicht ganz so schlimm fĂŒr sie. Andererseits war es genauso unverantwortlich, ein kleines MĂ€dchen auf eine potentiell gefĂ€hrliche Reise mitzunehmen. Letztlich entschied sie sich, Annemaries freiwillige Meldung anzunehmen. Tags darauf brachen sie auf. Clays Pferd leistete ihnen gute Dienste dabei, den Wagen mit ihren Habseligkeiten zu ziehen. Egal was die anderen dachten, Nebula wollte den Sarg stets bei ihr Wissen. Sein Inhalt war zu wichtig, als dass sie ihn zurĂŒcklassen könnte. Viel zu lange schon hatte Alaric sich davor gedrĂŒckt, die Informationen ĂŒber seine Geschwister zu lesen. Er hatte Angst davor, dass die EnthĂŒllungen, die in den SchriftstĂŒcken festgehalten waren, sein Bild von seinen Geschwistern dauerhaft zum Schlechten hin verĂ€ndern könnten. Die ganze Zeit lagen die Schriftrollen auf seinem Arbeitstisch. Ihre Wachssiegel schrien danach, gebrochen zu werden. Bisher wurde Alaric von der Furcht vor dem Ungewissen zurĂŒckgehalten. Es war ihm bewusst, wie feige das war. Zum Teufel damit! Er hatte es angefangen, jetzt musste er es zu Ende bringen. Alaric streckte sich nach der ersten Schriftrolle. Er nahm sie an sich und berĂŒhrte das Wachssiegel mit seinen Fingern. Einmal hielt er noch inne und ĂŒberlegte, ob er es wirklich wissen wollte. Doch dann warf er alle Zweifel ĂŒber Bord und brach das Siegel. Nun gab es kein ZurĂŒck mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)