Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 2: [Der Anfang vom Ende] Glockenspiel --------------------------------------------- [[USERFILE=875731]]   Glockenspiel   „Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.“ (Leo Tolstoi, russ. Schriftsteller)   Am strahlend blauen Himmel über Entschaithal geschah es, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Flauschige Schäfchenwolken zierten das Firmament über dem idyllischen Kurort. Die drückende Hitze der letzten Wochen war verflogen. Eine zarte Brise hatte sie hinweggeweht und sorgte nun für angenehme Abkühlung. Doch nur die Wenigsten schenkten dem viel Beachtung, zu sehr waren die Menschen mit den großen und kleinen Problemen des Lebens beschäftigt. Und so kam es, dass ihnen auch der jähe Wandel direkt über ihren Köpfen nicht auffiel. Es handelte sich dabei nicht um ein sich ausweitendes Ozonloch oder um eine sonstwie von Menschen verursachte Naturkatastrophe. Was da vor sich ging, war sehr viel kleiner und unscheinbarer. Hätte jemand auf die Stelle gesehen, hätte er wohl nur ein Luftflirren wahrgenommen, vielleicht aber auch gar nichts. Die Atmosphäre begann sich an dieser einen Stelle des Firmaments zu komprimieren, zog sich zusammen, immer enger. In dem unsichtbaren Wirbel aus kleinsten Teilchen und Energiequanten funkelte ein goldener Schimmer auf. Ein Medaillon mit einer Schmetterlings-Gravur wurde sichtbar. Von dem Schmuckstück angezogen, ordneten sich die Elementarteilchen zu einer Struktur an. Dann durchzuckte ein Licht kurz den Himmel und enthüllte anschließend eine in der Luft schwebende Gestalt in einer seifenblasenähnlichen Schutzhülle. Der Körper glich dem eines Menschenkindes im Miniaturformat. Wie aus einem langen Schlaf erwacht, öffnete das zusammengekauerte Kleine langsam seine Augen und seine Schutzhülle löste sich in funkelnden Schimmer auf. Zwei hauchzarte Flügelchen entfalteten sich auf dem Rücken des Geschöpfs. Wie bei einem soeben geschlüpften Schmetterling dehnten sie sich nach und nach weiter aus, blühten zu ihrer wahren Pracht auf, bis sie ihre eigentliche Spannweite erreicht hatten und sich erhärteten. Auch in ihrer Form ähnelten sie denen eines Tagfalters, waren jedoch durchscheinend und sonderten sternenstaubartigen Glanz aus. Wie benommen hob das Geschöpf seinen weißblonden Lockenkopf und richtete sich langsam auf. „Die Auserwählten geleitet Ewigkeit.“, säuselte es vor sich hin. Alsdann glitt die Erscheinung geschmeidig hinab in das Zentrum des Kurorts. Augenscheinlich dienten die Flügel ihr dabei eher als Zier, denn mehr als sie flog, schwebte sie, den Naturgesetzen mit leichtfüßiger Eleganz entgehend. Bei jeder ihrer Bewegungen ertönte ein heller, glockenspielartiger Klang, nicht mit dem Gehör, allein mit dem Herzen wahrnehmbar. In der Stadtmitte angelangt, wäre die kleine Gestalt fast über den Haufen gerannt worden. Immer wieder musste sie Personen ausweichen, die keinerlei Notiz von ihr nahmen. Gehetzt und ängstlich flatterten ihre Flügel nun aufgeregt wie die einer Motte. Eilig rettete sie sich zur nächsten Abzweigung, die sie in einen nicht minder betriebsamen Stadtteil führte, eine Geschäftspassage. An beiden Seiten lockten hübsch dekorierte Schaufenster. Im Ausweichflug blickte das Schmetterlingsmädchen sich rasch nach allen Seiten um, als suche es etwas Bestimmtes, ohne genau zu wissen was. Doch die fremden Eindrücke, die auf es einprasselten, waren zu viel. Verstört zog sich die Kleine aus der Menschenmenge zurück und schnappte nach Luft. Wie sollte sie in diesem Wirrwarr das Gesuchte finden? Ratlos stand sie in der Luft. Ihre Hand suchte den goldenen Anhänger auf ihrer Brust und drückte ihn ganz fest, klammerte sich an das letzte Stück Geborgenheit in einer Welt aus vergessenen Erinnerungen. Sie atmete ein und aus. Das Gefühl der Luft in ihren Lungen war noch fremd. Doch ihr blieb der Anhänger. Von einem hoffnungsvollen Drang getrieben, gewann sie anschließend wieder an Höhe und schwebte weiter in den Süden der Stadt. Vorbei an noch mehr Menschen, die allesamt nichts von ihrer Gegenwart wahrnahmen, oder sie auch nur ignorierten, sie vielleicht als Hirngespinst abtaten. Einzig ein paar Tiere blickten der kleinen Seele irritiert hinterher. Zum unzähligsten Mal überflogen ihre grünbraunen Augen die zuletzt verfassten Zeilen, doch es half nichts. Die Hand mit dem Bleistift blieb regungslos, genauso regungslos wie ihre kreativen Gedanken. Die Ränder der Seite, die sie aufgeschlagen hatte, waren bereits vollgekritzelt mit kleinen Bildchen und Schnörkeln, wie immer, wenn sie mit ihrer Geschichte nicht vorankam. Unzufrieden strich sie sich eine der braunen Haarsträhnen ihres Ponys aus dem Gesicht, legte Bleistift und Radiergummi beiseite und schlug den Collegeblock auf ihrem Schoß zu. Auf dem Deckblatt stand in Handschrift ihr Name geschrieben. Serena Funke. Wieder aufblickend, kam sie nicht umhin, dem mit Animebildern beklebten Kalender an der gegenüberliegenden Wand ungewollte Beachtung zu schenken. Freitag, 31. August. Nur noch zwei Tage … Ehe Serena sich einmal mehr in unliebsamen Gedanken an den Schulbeginn ergehen konnte, wurde ihre Zimmertür von einer schwarzgesichtigen Bestie aufgestoßen, die jäh auf sie zustürmte. „Schmuse!“ Freudig begrüßte Serena ihre belgische Schäferhündin und streichelte ihr herbstfarbenes Fell. Eigentlich hieß sie Leila, aber in Serenas Familie sprach man den Hund mit jedweder Bezeichnung an, die einem gerade in den Sinn kam. Hinter der Hündin trat Serenas Schwester Anita ein, eine brünette junge Frau, die vier Jahre älter als Serena war. „Essen ist fertig.“ „Mhm.“, machte Serena. Sie hatte den Ruf ihrer Mutter schon zuvor gehört. „Bitte sag nicht, dass du immer noch an der gleichen Szene arbeitest.“, sagte Anita, wohl weil sie den Block auf Serenas Schoß erkannt hatte. Serena warf Anita einen tödlichen Blick zu. „Du solltest mal Tolkien oder Forsyth lesen. Da könntest du dir ne Scheibe abschneiden.“ Mit diesen Worten verließ Anita das Zimmer, gefolgt von Leila. Serena stieß ein tiefes Grollen aus. Sie hasste es, kritisiert zu werden, besonders von Anita. Und da wurde ihr auch noch vorgeworfen, dass sie ständig schlecht gelaunt sei. Pah. Im Esszimmer hatte sich schon ihre ganze Familie eingefunden. Ihre Eltern, ihre Schwester, ihr jüngerer Bruder Dominik und natürlich Leila. Durch den offenen Durchgang, der Ess- und Wohnzimmer miteinander verband, erhaschte sie einen Blick auf ihre fünf Wellensittiche, die dort auf einem aus Ästen zusammengebastelten Vogelbaum saßen, sangen und sich ihrer Gefiederpflege widmeten. Sie setzte sich, nahm ihren bereits gefüllten Teller entgegen und versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. „War die Post schon da?“ „Du mit deinen ständigen Interneteinkäufen.“, meckerte ihr Vater. Ihre Mutter fuhr ihn an. „Sie kann ja wohl machen was sie will!“ Ihr Bruder Dominik mischte sich hämisch ein. „Hauptsache, sie muss dazu nicht rausgehen.“ „Halts Maul.“, zischte Serena. Ihr Vater schimpfte. „Und wie soll das werden? Will sie jetzt gar nicht mehr in die Schule?“ Jähe Übelkeit stieg in ihr auf. Ihre Mutter brauste auf. „Du mit deinem oberschlauen Geschwätz! Dein Kind war krank! Aber dir ist das ja sowieso egal!“ „Mama.“, sagte Anita gedehnt. „Wir wissen doch alle, warum sie krank war. Wenn sie im Wirtschaftsgymnasium wieder solche Probleme hat, sollten wir über ein Fernstudium nachdenken.“ Serena erhob sich. „Was ist?“, fragte ihre Mutter, als sähe sie keinen Grund für Serenas plötzliches Aufstehen. „Ich hab keinen Hunger.“, stieß Serena aus. „Serena.“, tadelte ihre Mutter. „Lass sie.“, entgegnete Anita noch immer ruhig. „Du weißt doch, wie sie ist.“ Serenas Gesicht schnellte in die Richtung ihrer Schwester. „Geht dich gar nichts an!“ Wäre das eine melodramatische Filmszene gewesen, hätte sie ihrer Schwester eine Ohrfeige verpasst. Aber das hier war die Realität. Daher eilte Serena einfach nur aus dem Raum, die Rufe ihrer Mutter ignorierend, durch die Küche, in die Diele, wollte gerade die Treppe hinauf in ihr Zimmer flüchten, als sie plötzlich in der Bewegung stoppte. Aber… Aus einem ihr unerklärlichen Impuls heraus, verspürte sie mit einem Mal das brennende Verlangen, hinauszugehen. Das war völlig widersinnig, wo sie sich doch die letzten Monate über vehement geweigert hatte, das Haus zu verlassen! Serena sah zurück zur Tür. Keiner machte sich die Mühe, ihr nachzugehen und sie war froh drum. Dann wandte sie sich erneut der Haustür zu. Vorsichtig schloss sie auf, hoffte, dass es keiner drinnen hören konnte, und hastete mit dem Schlüssel in der Hand nach draußen. Die Tür zog sie sachte zu, sodass sie kein Geräusch erzeugte. Wie sie ihre überängstliche Mutter kannte, hätte diese sofort Panik bekommen, dass sie weglaufen wollte. Vor der Haustür verharrte sie und atmete schwer. Wahrscheinlich war ihr Gesicht jetzt noch blasser als sonst. Nur nicht an den Schulanfang denken. Luft! Luft! Sie brauchte - Ihr Gedankenstrang riss. Eine unaussprechliche Empfindung durchschoss von einer Sekunde auf die andere ihr ganzes Wesen, entflammte die tiefsten, ihr unbekannten Winkel ihrer Seele. Mit feurigen Schwingen erhob sich etwas aus der erkalteten Asche in ihrem Inneren: Schicksal. Nach einer Sekunde, vielleicht aber auch einer Ewigkeit, verglomm das Gefühl und versetzte Serena zurück in die Wirklichkeit. Hektisch suchte sie die Gegend ab, den gepflasterten Weg von ihrem Haus bis zu dem weißgestrichenen Zaun. Doch sie fand nichts. Nichts, das auch nur annähernd den Eindruck machte, eine solche Sinnestäuschung auslösen zu können. Auf der anderen Straßenseite war nur ein schlaksiger, hellbrünetter Junge in ihrem Alter, der samt einigen Einkaufstüten gerade in eine andere Straße einbog. Grimmig betrachtete der Junge die Einkaufstüten. Warum musste ausgerechnet er den Großeinkauf erledigen?! Eine Stunde zuvor war er noch dabei gewesen, in seinem Lieblingsspiel die Bestzeit zu unterbieten, die blauen Augen auf den Bildschirm fixiert. Der Umstand, dass das ganze Haus der Familie Luft von seinen Siegesschreien und – falls es gerade mal nicht so gut lief – auch mal von anstößigen Ausrufen erfüllt worden war, war in Anbetracht dessen doch absolut verständlich gewesen! Trotzdem war seine Mutter ziemlich gereizt ins Zimmer gestürmt gekommen. „Vitali! Hör auf, hier wie ein Irrer rumzuschreien!“ Sie hatte viel lauter gebrüllt als er. Da war er sich sicher. „Ja, ja.“ Natürlich hatte er den Blick nicht vom Fernsehbildschirm gelöst. Aber er hätte sich wohl doch zusammenreißen sollen, anstatt gleich wieder laut zu grölen. Im nächsten Moment war der Bildschirm schwarz geworden. „Aaaaaaaaah!!!!!“ Neben dem Fernseher hatte seine Mutter mit einem der Stecker seiner Spielkonsole in der Hand gestanden. „Maaaaaaam… Weißt du eigentlich, was du da gerade getan hast?!!“ Seine Mutter hatte finster geantwortet: „Dich davon abgehalten, noch weiter herumzukrakeelen.“ „Du hast gerade das Spiel meines Lebens ruiniert!! Ich habe monatelang Blut und Wasser geschwitzt, um so weit zu kommen! Liest du denn keine Familienmagazine?! Dadurch könnte meine gesamte Entwicklung gestört werden! Das ist wie bei einem Schlafwandler, den man aufweckt! Der bekommt auch bleibende Schäden! Das solltest du dir vielleicht vorher überlegen!! Vielleicht brauche ich jetzt psychiatrische Behandlung!!!“ „Du solltest zum Fernsehen gehen. Die können mit solchen Quatschköpfen wie dir noch Geld verdienen. Ich hatte dich gewarnt! Du solltest mir lieber helfen, als durch das ganze Haus zu brüllen!“ „Kann das nicht Vicki machen?“ „Dein Bruder Viktor hilft mir bereits, ich wünschte, du wärst auch so ein guter Sohn. Aber nein! Du bist unzuverlässig und ein Faulpelz! Womit hab ich das verdient!“ Seine Mutter hatte eine total bescheuerte, theatralische Geste gemacht. Und er hatte echt keine Ahnung, wovon sie da geredet hatte. „Ich bin der beste Sohn, den man sich vorstellen kann.“, hatte er richtigerweise widersprochen. „Ich bin intelligent, gutaussehend, freundlich, ... ach eigentlich kann man mich gar nicht in Worte fassen!“ Breites Grinsen. „Ja, da fehlen einem die Worte.“ Wieso hatte seine Mutter dabei bloß zynisch geklungen? Naja, um sie wieder gnädig zu stimmen, hatte er sich gezwungen gefühlt, es auf die Schmeichlertour zu versuchen. „Ich würde doch alles für dich tun.“ Schleim, schleim. Im nächsten Moment hatte er einen Zettel mit allerlei Gekritzel vor sich gehabt. „Gut, dann kannst du ja für mich einkaufen gehen.“ Vitali stöhnte bei der Erinnerung. Dann blickte er wieder auf die Tüten. Musste sie ihn denn auch noch diesen Weiberkram einkaufen lassen?! Als Mann Make-up, Strumpfhosen und Enthaarungscreme zu kaufen! Das ging einfach gar nicht! Wenn er sich an die Blicke der anderen Leute erinnerte. Seine Mutter war sadistisch!!! Wieder stöhnte er. Wenigstens musste er jetzt nur noch in einen Gemüse- Sein Herzschlag setzte aus. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich seiner. Für einen Augenblick verschmolz er mit der aufkommenden Brise, war ein Teil des Windes, wurde eins mit allem, ständig die Form wechselnd, nicht der Veränderung unterworfen, sondern das Verändern selbst verkörpernd. Dann war es vorbei. Er schnappte nach Atem und drehte den Kopf in alle Richtungen. Nichts. Sein Gesicht verzog sich zu einer ungläubigen Grimasse. Vielleicht war Videospielen ja doch schädlich …? Neeee!! Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort und betrat kurz darauf einen kleinen Lebensmittelladen. Ein Mann mittleren Alters begrüßte ihn freundlich. „Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Ich soll die Bestellung für Luft abholen.“ „Warten Sie bitte einen Augenblick.“ Der Mann verschwand im hinteren Teil des Ladens. Es gefiel Vitali, hier mit Respekt behandelt zu werden. Er war immer noch beleidigt wegen der Sache mit dem Make-up. So wie er die Leute hier kannte, würde man sich sicher noch Wochen über ihn das Maul zerreißen! Und die Verkäuferin, die ihm den „korallenroten“ Lippenstift aufschwatzen wollte, da diese Farbe ja sooo gut zu seinem Teint passe, regte ihn besonders auf!!! Herr Boden – Vitali hatte ihm den Namen des Ladenbesitzers von einem Schild zugeordnet – kam mit einer Kiste voll Obst und Gemüse zurück, stellte sie auf die Ladentheke und packte alles in mehrere große Tüten. Vitali starrte auf den Berg Lebensmittel. Wie sollte er das denn bloß alles tragen?! Seine Bestürzung war ihm wohl deutlich anzusehen, denn Herr Boden wandte nochmals das Wort an ihn. „Das ist eine ziemliche Ladung. Vielleicht könnte mein Sohn etwas zur Hand gehen, er ist hinten im Lager.“ „Nee, nee. Geht schon.“ Jetzt noch Hilfe vom Sohn eines Fremden annehmen zu müssen, das hätte sein Ego nicht verkraftet. Also zahlte er und ergriff dann mühselig die vier Tüten, die das Gewicht der übrigen weit übertrafen. Er verabschiedete sich und verließ dann, von den Tüten nach unten gedrückt, den Laden. Nur bis zur Bushaltestelle! Nur bis zur Bushaltestelle! Angesichts des seltsamen Anblicks des völlig überladenen Jungen schüttelte Herr Boden mitleidig den Kopf und ging nochmals in den Lagerraum. In Jeans und dunkelgrünem Hemd kniete sein Sohn vor einem der Regale und räumte die letzten Artikel ein. Der Junge atmete erleichtert aus, baute sich wieder zu voller Größe auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die durch ein kleines Fenster fallenden Sonnenstrahlen verliehen seinem kastanienbraunen Haar einen rötlichen Glanz. „Schon fertig, Justin?“, fragte Herr Boden überrascht. „Alles picobello, Paps.“, versicherte Justin lächelnd. Sein Vater nickte anerkennend. „Wenn du nicht umsonst arbeiten würdest, müsste ich dich einstellen.“ Justin musste schmunzeln. „Das sollte mir zu denken geben.“ Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter. „Schon als kleines Kind hast du mitgeholfen und hattest nicht einmal Zeit für Freunde.“ „Du übertreibst.“, meinte Justin peinlich berührt und wandte sich zum Gehen. „Sag deiner Mutter einen lieben Gruß von mir.“ „Mach ich!“ Durch den Hinterausgang ging Justin nach draußen und schlenderte den Weg entlang. Noch vor kurzem hatte er mit seiner Familie in der kleinen Wohnung über dem Laden gewohnt. Erst als eine Doppelhaushälfte ein paar Straßen weiter zum Verkauf gestanden hatte, hatten seine Eltern sich endlich dazu entschlossen, dem permanenten Platzmangel ein Ende zu setzen. Seit Jahren hatten sie darauf gespart. Und nun war es bereits einen Monat her, dass sie umgezogen waren. Er wollte gerade eine Straße überqueren, als er plötzlich versteinerte. Fest und unverrückbar wie ein Fels, egal wie sehr der Sturm auch toben mochte, spürte er Vertrauen. Wie eine Erinnerung aus längst vergessenen Träumen, als wäre es sein wahres Wesen. Viel zu kurz hielt der Moment an. Dann entrann ihm das Gefühl und die Realität kam zurück. Justin blinzelte verwirrt. In Gedanken versunken setzte er seinen Weg fort, lief die letzten paar Schritte zur Kreuzung und bog in die Blumenallee ein. „Justiiin!“, rief eine überschwängliche Mädchenstimme von der gegenüberliegenden Straßenseite. Er stoppte und blickte zu dem Haus direkt gegenüber dem seinen. Dort stand die Nachbarstochter. Sie hatte wohl nur kurz den Müll hinausgetragen, denn sie trug weite bequeme Hauskleidung. Obwohl sie kaum ein Jahr jünger war, war sie einen ganzen Kopf kleiner als er. Leuchtend orangefarbenes, knapp schulterlanges Haar umrahmte ihr rundes, sommersprossiges Gesicht. Große, indigofarbene Augen strahlten ihn fröhlich an. Justin verschlug es die Sprache. Ihm wurde flau im Magen. Wie angewurzelt stand er da und konnte nichts anderes tun, als sie stumm anzustarren. Das Mädchen lächelte noch breiter und deutete mit dem Zeigefinger auf sich selbst. „Vivien!“ Wahrscheinlich meinte sie, er habe ihren Namen vergessen und sei deshalb so verunsichert. „Ich weiß!“, stieß Justin mit viel zu hektischer Stimme aus. Er zog seinen Kopf ein und schlug beschämt die Augen nieder. Nur zaghaft wagte er es, wieder aufzublicken, und musste irritiert feststellen, dass Vivien zur Salzsäule erstarrt war. Geistesabwesend stierte sie Löcher in die Luft. „Alles okay …?“, fragte Justin vorsichtig. Beim Klang seiner Stimme schien sie aus einer Trance hochzuschrecken und blinzelte ihn kurz an. „Ich hatte ein seltsames Gefühl …“ Justins Augen wurden groß. Plötzlich kicherte sie hell. Ein warmer, heiterer Klang, der sich in Justins Ohren schöner anhörte als jede noch so virtuose Musikkomposition. „Das liegt sicher an deiner Ausstrahlung! Da werd ich ganz schwach!“ Justins Gesichtsausdruck entgleiste. Hitze stieg in ihm auf, brachte sein ganzes Gesicht zum Glühen. Und er konnte nichts dagegen tun! Während er hilflos dastand, lächelte Vivien ihn einfach nur schweigend an. Dann ergriff sie wieder das Wort. „Ich muss dann wieder rein. Meine Geschwister warten.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich, rührte sich aber nicht, als warte sie auf etwas. Allerdings wusste Justin nicht auf was. Vielleicht hätte er jetzt irgendetwas sagen sollen. War das nicht eine gute Gelegenheit? Aber was sollte er sagen? Sicher würde er sich dann nur wieder blamieren. Ihre lebhafte Stimme ertönte erneut. „Du musst unbedingt mal zu uns rüberkommen und mir dabei helfen, die beiden in Schach zu halten!“, forderte sie eifrig. „Mit etwas Glück könnten wir sogar beide überleben!“ Wieder ihr warmes, heiteres Lachen. „Abgemacht?“ Ihre Augen strahlten. Justin nickte hektisch und kam sich dabei wie ein hirnloser Wackeldackel vor. Noch einmal lächelte Vivien ihm zu. „Ich freu mich drauf!“ Anschließend verschwand sie im Hauseingang. Justin schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Verdammt! Warum musste er sich in ihrer Nähe bloß ständig so dämlich aufführen? Mit einem langen resignierenden Seufzer ging er zu seiner Haustür hinüber, kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und wollte gerade aufschließen, als die Tür bereits eigenständig aufschwang. Sein älterer Bruder Gary, ein junger Mann mit hochgegeltem Haar und einem verschlagenen Blick, stand grinsend vor ihm – keinerlei Familienähnlichkeit mit dem arglos wirkenden Justin mit seinen rehbraunen Augen. „Justin ist verliiiiieebt!!“ Schnellstens drückte Justin ihm beide Hände auf den Mund und schob ihn ins Haus. Er schlug die Tür zu. „Ist es dir etwa peinlich?“, fragte Gary, weiterhin hämisch grinsend. „Ach halt die Klappe!“ „Nanana, unser Musterknabe sollte nicht so mit seinem großen Bruder reden!“ „Ich bin mittlerweile größer als du.“, entgegnete Justin. Das störte seinen Bruder herzlich wenig. „Ich bin ja froh, dass du überhaupt mal Interesse an einem Mädchen zeigst – auch wenn sie mir zu kindisch wäre. Ich dachte ja schon, du wärst schwul!“ Während Justins Blick sich zusehends verfinsterte, legte Gary ihm seinen Arm um die Schultern. „Sechzehn Jahre und noch keinerlei Erfahrung. Das glaubt einem ja keiner!“ In diesem Moment kam ihre Mutter in die Diele getreten. „Worüber unterhaltet ihr euch?“ „Nichts!“, antwortete Justin hastig. „Papa lässt dich grüßen!“ „Justin steht auf das Mädchen von den Nachbarn!“, schoss es aus Garys Mund. „Ach, die kleine Vivien!“, rief seine Mutter. „Sie ist wirklich sehr nett.“, meinte sie lächelnd. „Ein wenig eigen … Aber sehr nett.“ „Könnten wir bitte das Thema wechseln!“, bat Justin. „Aber natürlich.“, sagte seine Mutter in ihrer gewohnt ruhigen Art. „Also, als ich euren Vater kennengelernt habe…“ Reaktionsschnell rief Gary ein lautes „Ich geh in mein Zimmer!“ und düste in rasantem Tempo die Treppe hinauf. Justin starrte ihm hinterher, sah zurück zu seiner Mutter und lächelte verlegen. Ihre Mutter liebte es, in Erinnerungen zu schwelgen, daher kannten Gary und er ihre Geschichten schon bis zum Abwinken. „Ähm, ich…“, gab er stockend von sich. „würde mich dann ausruhen.“ „O natürlich.“ Seine Mutter nickte verständnisvoll. Er lächelte seine Mutter nochmals verlegen an und ging dann vorsichtig die Treppe hinauf, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass er vor ihr flüchten wollte. Er betrat sein Zimmer. Soweit man das heillose Chaos wirklich als solches bezeichnen konnte. Im ganzen Raum waren aller mögliche Krimskrams und unzählige verschiedene Bücher aufeinander gestapelt. Bücher über die Natur, über Naturwissenschaften, über Automobile und Eisenbahnen bis zu Lexika, Märchenbüchern und gewöhnlichen Romanen. Bei dem Umzug waren sämtliche Bücher in seinem Zimmer gelandet und bisher hatte sich keiner die Mühe gemacht, diesen Umstand zu beheben. Justin war darüber nicht sauer, denn zumindest hatte er jetzt ein eigenes Zimmer! Sich mit Gary einen Raum zu teilen, war eine ziemliche Qual gewesen. Vor allem, da Privatsphäre für Gary ein Fremdwort war. Justin setzte sich auf das Bett neben dem Fenster – das einzige nicht vollgestellte Möbelstück hier drin. Ohne darüber nachzudenken, schweifte sein Blick nach draußen und fiel direkt in ein Zimmer des gegenüberliegenden Hauses. Ein Kinderzimmer mit einem Etagenbett und einem einzeln stehenden, in das in diesem Moment Vivien mit ihren beiden kleinen Geschwistern gestürmt kam. Wie eine Wildkatze jagte Vivien ihren Geschwistern hinterher. Die beiden Kleinen, Kai, ein brünetter Junge von etwa zehn, und Ellen, ein blondes Mädchen von fünf Jahren, gingen prompt zum Gegenangriff über und stürzten sich gemeinsam auf ihre große Schwester. Lachend landete die ganze Meute auf dem weichen Teppich zwischen den Betten. Plötzlich stockte Ellen: „Vivien, da beobachtet uns einer!“, flüsterte sie ängstlich. Vivien schaute erst zweiflerisch, dann wurde ihr Blick mit einem Mal todernst. Sie sprach mit eindringlicher, gedämpfter Stimme. „Ja, das ist einer von der Kripo! Die hab ich angerufen und erzählt, ihr wärt kleinwüchsige Kriminelle, die mich und meine Eltern gefangen halten. Jetzt haben sie gesehen, wie ihr mich quält und gleich kommt ein Spezialeinsatzkommando, um mich zu retten!“ Sie funkelte ihre Geschwister düster an. „Das ist meine Rache dafür, dass ihr mir beim letzten Mal den ganzen Kuchen weggegessen habt!“ Mit einem Mal brach sie in boshaftes Gelächter aus, das sich beim Anblick der schockierten Gesichter ihrer beiden Geschwister alsbald in schadenfrohes Gekicher umwandelte. „Ich wusste die ganze Zeit, dass du lügst.“, sagte Kai mit vor der Brust verschränkten Armen. „Du bist ganz gemein! Da ist wirklich jemand!“, protestierte dagegen Ellen. Vivien stützte sich auf und schaute in halber Seitenlage aus dem Fenster. Schmunzelnd erkannte sie, dass es sich bei dem Späher doch tatsächlich um Justin handelte! Fröhlich winkte sie ihm zu, woraufhin der Junge sich mit hochrotem Kopf abwendete. Ellen kroch derweil zu ihr und stupste sie an. „Wer ist das?“ „Das ist einer der Leute, die mir helfen, die Welt zu retten!“, erklärte Vivien überzeugt. „Lügnerin!“, schrie Kai und startete mit Ellen sogleich einen lautstarken Kitzelangriff auf seine große Schwester. Das einzige, das Vivien rettete, war die Stimme ihrer Mutter, die zum Essen rief. Und weil es Freitag war, es also selbstgebackenen Kuchen gab, waren die beiden Schleckermäuler Kai und Ellen schneller nach unten gestürmt, als Vivien gucken konnte. Auf dem Rücken liegend, kicherte sie in sich hinein. Nochmals schaute sie zu Justins Zimmer hinüber und ein zärtliches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Dann erinnerte sie sich an das Gefühl von zuvor. Als sei etwas in ihr aufgeblüht, erweckt durch einen flüchtigen Klang. Wirklich seltsam… Vivien schüttelte den Gedanken ab. Wenn sie noch ein paar Kuchenkrümel abbekommen wollte, musste sie sich beeilen. Sie stand auf und blickte nochmals aus dem Fenster, doch Justin war nicht mehr zu entdecken und auf der Straße war nur ein silberner Audi mit Hannoveraner Autonummer zu sehen. Der Audi fuhr in den Osten Entschaithals, bis er im Mozartweg zum Stehen kam. Sogleich sprang die rechte Hintertür auf. Ein Mädchen in einem sportlichen weißen Kleid mit orangefarbenen Streifen an der Seitennaht schwang sich aus dem Autoinneren. „Endlich!“ Genüsslich streckte sie sich und sog eifrig die frische, angenehm kühlende Luft ein. Im Sonnenlicht schimmerte ihre taillenlange Haarpracht wie ein feiner Goldregen. Mit Vorfreude in den Augen drehte sie sich um. Ihr Vater war gerade aus der Fahrertür gestiegen und gönnte sich ebenfalls ein paar Streckübungen. „Tja Ariane, es dauert eben ein Weilchen von Hannover bis hierher.“ „Es wäre schneller gegangen, wenn du dich in Entschaithal nicht noch verfahren hättest.“, neckte ihn seine Frau von der anderen Wagenseite. „Wer von uns beiden kommt denn von hier?“, hielt Herr Bach entgegen. „Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, da vergisst man einiges.“, rechtfertigte sich Arianes Mutter. „Außerdem bist du doch schon letzte Woche hierher gefahren, um alles zu organisieren.“ Sie grinste ihn herausfordernd an. Ariane musste über die Neckereien ihrer Eltern schmunzeln. „Hauptsache, wir sind jetzt hier.“ Ihre Mutter trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. „Genau! Endlich wieder zu Hause!“ Arianes Vater öffnete den Kofferraum. „Hannover ist Arianes Zuhause!“, widersprach er. Ihre Mutter ließ von ihr ab und näherte sich ihrem Vater. „Sie ist in Entschaithal geboren.“ „Als wir umgezogen sind, war sie gerade mal ein Jahr alt!“, meinte Herr Bach, während er das Gepäck herausholte. „Na und?“ Ihre Mutter nahm ihm eine der Reisetaschen ab. „Daran kann sie sich gar nicht mehr erinnern!“, sagte er. „Das weißt du aber genau!“ Belustigt schüttelte Ariane den Kopf. „Ich frage mich, wie ihr beide zusammengekommen seid.“ Ihre Eltern sahen einander kurz an und antworteten dann in einem Anflug trockenen Humors. „Er hatte Geld.“ „Sie sah gut aus.“ Daraufhin musste Ariane lachen. „Und ich hatte schon befürchtet, ihr hättet aus oberflächlichen Gründen geheiratet!“ Ihre Eltern zogen unbedarfte Gesichter. „Wir doch nicht!“ Schließlich brach die ganze Familie Bach in ein Lachen aus. Ariane betrachtete das cremefarbene Haus mit den orangenen Dachziegeln. Keck lächelnd, wandte sie sich an ihren Vater. „Wo ist das Schloss?!“ Ihr Vater lachte. „So viel mehr verdiene ich hier auch wieder nicht.“ Ihre Mutter scherzte. „Da musst du dir wohl doch einen reichen Ehemann suchen.“ „Hey, hey!“, warf Herr Bach ein. „Meine Prinzessin braucht keinen reichen Schnösel, sie hat Köpfchen! Das schafft sie ganz allein.“ Er zwinkerte seiner Tochter zu. Ariane grinste über beide Ohren. „All die Schönheit verschwendet an jemanden, der sie nicht richtig einzusetzen weiß.“, lamentierte ihre Mutter. Ariane sparte sich einen Kommentar darauf. Während ihre Eltern bereits mit ihren Koffern zum Hauseingang liefen, blieb Ariane noch einen Moment stehen und sah sich um. Die hübschen Einfamilienhäuser entlang der Straße, die gepflegten Vorgärten voller Blumen und Gewächse, der Gehweg, mit Bäumen und Grünflächen verschönert. Ihre Mutter hatte mit ihren begeisterten Beschreibungen also doch nicht übertrieben. Dann hörte sie eine etwas lautere Gruppe Jungen in die Straße einbiegen. Sie schenkte ihnen keine Beachtung und machte sich daran, eine Tasche aus dem Kofferraum zu holen. Ein Pfiff drang an ihr Ohr. Sie sah auf und bemerkte, dass die Jungen auf der anderen Straßenseite stehen geblieben waren und sie unverhohlen anstarrten. Zu voller Größe aufgerichtet, warf sie ihnen einen kalten Blick zu. Doch statt die Jungen zum Weitergehen zu bewegen, hatte ihre Aufmerksamkeit nur den Effekt, dass die Jungen anfingen, ihr Anmachsprüche zuzurufen. „Hey Süße!!“ „Wie wär’s mit uns?“ „Hast du Lust auf ein bisschen Spaß?“ Zunächst bemüht, ihre Würde zu wahren, wandte sie sich wieder dem Kofferraum zu, aber als auch das nichts half, hielt sie es nicht länger aus: „Glaubt ihr wirklich, dass ein Mädchen darauf steht, wenn man ihr blöde Kommentare zuruft und ihr nachpfeift? Zur Info: Nein! Wir mögen das nicht!“ Die Jugendlichen starrten Ariane im ersten Moment perplex an, dann erschien eine Mischung aus Unglaube und Abscheu auf ihren Gesichtern. „Die hat sie doch nicht alle.“, sagte einer zu den anderen. „Voll die Gestörte.“, stimmte ein zweiter zu. Kopfschüttelnd liefen sie weiter und warfen ihr Blicke zu, als wäre sie gemeingefährlich. Ariane seufzte. Wieso kam sie sich jetzt so vor, als hätte sie sich falsch verhalten? Sie holte eine Tasche aus dem Kofferraum und lief auf die Haustür zu. Und sie hatte geglaubt, dass hier alles anders - Etwas durchfuhr sie, schlug Wellen in ihrem Inneren und brachte sie an einen Punkt, an dem sie glaubte, dass Wünsche tatsächlich wahr werden konnten. Was? Ariane wirbelte herum, suchte hektisch die Gegend ab. In ihren Ohren klang noch das Geräusch nach, ein Zusammenspiel klarer, hauchzarter Töne, ähnlich einem Glockenspiel. Dort! Für einen kurzen Moment glaubte sie, vor sich auf der Straße etwas Kleines, Leuchtendes zu erkennen. Sie blinzelte. Und verlor das Bild. Ihre Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben. Auf der Straße war nichts. Die lange Autofahrt war vielleicht zu viel gewesen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)