Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 12: Verluste -------------------- Verluste „Es ist hart zu leben, aber härter ist es noch zu sterben.“ (aus Albanien) Der Anblick schien nicht allein ihre Körper, sondern auch die Zeit selbst erstarren zu lassen. Als fessle die gespenstische Erscheinung den Ablauf der Wirklichkeit. Zu krank, zu falsch wirkte das Bild. Dort stand sie, inmitten von flirrender Luft, wie in einem unsichtbaren Inferno. Es trennten sie bloß mehrere Meter und dennoch wirkte Serena unendlich weit entfernt, unerreichbar – für immer. Dunkle Schwaden, die ebenso gut optische Täuschungen hätten sein können, umwaberten ihre Gestalt wie Ausdünstungen von etwas, das sie nicht länger in ihrem Inneren halten konnte. Die schattenhaften Nebel hielten sie gefangen, und doch wirkten sie auf fürchterliche Weise nicht wie etwas, von dem sie besetzt worden wäre. Sie selbst war Teil dieser Schatten und die Schatten Teil von ihr, als seien sie eine tödliche Symbiose eingegangen. Ihr Blick war starr, ihre Haltung angespannt. Dann begriffen die fünf, woran diese Haltung sie erinnerte – an die Angriffsstellung der Schatthen. Doch noch etwas anderes strahlte ihre Gestalt aus, etwas, das fast noch beklemmender war. absolute Verzweiflung. Es dauerte Sekunden, ehe Arianes staubtrockener Mund mühsam erste Worte hervorpressen konnte. „Was ist mit ihr?“ Die anderen schwiegen und konnten ihre Blicke nicht von Serena abwenden. Oder dem, was einst Serena gewesen war. Allein Secret setzte in gedämpftem Ton zu einer Antwort an. „Ihr tätet besser daran, ihr nicht zu nahe zu kommen. Die Spiegel sind ihretwegen zersprungen und euch könnte dasselbe blühen.“ Er wich zurück, um in Deckung zu gehen. Immer noch unter Schock gafften die anderen ihn an, verstanden kein Wort, wollten vielleicht nicht verstehen. Secret versuchte es erneut. „Das ist nicht mehr Serena.“ „Was soll das heißen?“, forderte Ariane zu wissen. „Was auch immer diese Spiegel euch gezeigt haben, in Serena haben sie etwas so Gewaltiges ausgelöst, dass ihr Geist dem nicht mehr standhalten konnte. Sie wird jeden töten, der sich ihr in den Weg stellt. Auch euch.“ In Secrets Gesicht stand nicht der geringste Zweifel. Noch immer weigerte sich der Verstand der anderen, seinen Erläuterungen zu folgen. „Was redest du für ’nen Scheiß?!“, fuhr Vitali ihn an. „Das ist Serena! Was soll sie machen? Dich zu Tode zicken?!“ Es blieb keine Zeit für eine Antwort. Mit Serenas kaum noch menschlichem Schrei schoss die Energiewoge um ihren Körper von ihr weg. Dieses Mal nicht durch eine Spiegelwand abgeschwächt. Wie der Schlag einer eisernen Faust traf die Welle die fünf, raubte ihnen den Atem und schleuderte sie durch die Luft. Der Aufschlag auf dem Boden ließ ihnen vor Schmerz Tränen in die Augen schießen und die Situation noch unwirklicher erscheinen. Die nächsten schweren Atemzüge lang blieben sie liegen, von Entsetzen betäubt. Das musste alles ein kranker Scherz sein. Secret rappelte sich wieder auf, seine Oberarme blutverschmiert. „In Deckung!“, befahl er eindringlich. Dieses Mal widersprachen die anderen nicht. Zitternd krochen sie nach rechts, wo noch einige Fragmente der Spiegelwände standen. Hinter einem größeren Spiegelüberbleibsel fanden sie kurzzeitigen Schutz. „Verdammt! Was sind das für Druckwellen!“, begehrte Vitali auf. „Wie oft noch?“ Secret klang noch immer sachlich. „Sie löst sie aus. Durch ihre Wut.“ „Ey, ich hab schon viele wütende Leute erlebt, aber keiner konnte so was!“, widersprach Vitali. Ariane warf Secret einen flehenden Blick zu. „Was sollen wir jetzt tun?“ Secret klang kalt. „Von hier verschwinden, ehe sie uns erwischt.“ Entgeistert sah Ariane ihn an. „Du willst sie zurücklassen?“ „Du Scheißkerl!“, brüllte Vitali. Gefährlich funkelte Secret ihn an. „Hör zu.“ Seine Stimme war schneidend. „Dieses Mädchen ist der sichere Tod. Wenn du unbedingt Selbstmord begehen willst, meinetwegen. Aber ich habe nicht vor, mich zerfetzen zu lassen.“ Bei seinen Worten hoben sich Vitalis Nasenflügel voller Abscheu. Es war deutlich, dass er kurz davor stand, handgreiflich zu werden. Secret ließ das kalt. Justin legte Vitali die Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. Mit unerschütterlicher Entschlossenheit fixierte er Secret. „Wir werden alle zusammen hier rauskommen. Keiner wird zurückgelassen!“ Vivien nickte. „Wir warten einfach, bis sie sich beruhigt hat.“, schlug sie lächelnd vor, als handle es sich bloß um den normalen Gefühlsausbruch einer Pubertierenden. „Ihr wollt es nicht verstehen.“, sagte Secret. „Sie ist von Rachegefühlen getrieben und zerreißt ihre Seele. Es ist auszuschließen, dass sie noch einmal von sich aus zurückfindet.“ Eine weitere Energiewoge rauschte über ihre Köpfe hinweg und ließ winzige Spiegelsplitter auf sie nieder regnen. Serena kreischte qualvoll. „Dann müssen wir ihr eben dabei helfen!“, schrie Vivien, sprang auf und rannte Serena blindlings entgegen. Ohne zu zögern folgte ihr Vitali. Auch Justin erhob sich und sah Secret in die Augen. In Secrets Blick war deutlich zu lesen, für wie töricht er das Verhalten von Vivien und Vitali hielt. Justin schüttelte den Kopf, so voller Willenskraft, als sei er von dem puren Wunsch beseelt, Secret das Gegenteil zu beweisen. Schließlich eilte er den anderen beiden nach. Secret stieß abfällig die Luft aus. Sie hatten keine Chance. Ihm fiel auf, dass Ariane vor ihm saß, den Blick gesenkt. Er erwartete bereits, dass sie sich im nächsten Moment dem Selbstmordkommando anschließen würde, doch sie rührte sich nicht. Ein Gefühl der Skepsis wurde in ihm wach, als könne er nicht glauben, dass sie tatsächlich ihr eigenes Leben über das der anderen stellte. „Wollten wir nicht gehen?“ Fast erschrak er über ihre ungerührte Stimme. Er schlug die Augen nieder. Noch einen Moment verharrte er. . „Menschen betrügen.“, hörte er sie sanft sagen, als wiederhole sie ein Mantra. Sollte das eine Rechtfertigung ihres Verhaltens sein? Ihres Betrugs? Er ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie schon ihre Freunde im Stich ließ, sollte sie sich nicht so einfach herausreden. Das war feige. Das war - „Am liebsten sich selbst…“ Ihre Worte trafen ihn unvorbereitet. Fassungslos starrte er sie an. Für einen Atemzug hätte er sich gewünscht, in ihrem Gesicht Abscheu oder Wut zu lesen, doch stattdessen schlug ihm die furchtbare Erkenntnis entgegen, dass sie in sein Innerstes gesehen hatte, als sei er aus Glas. Geschlagen atmete Secret aus. „Warum sitzen wir dann noch hier?“ Ariane lächelte ihn an. Was auch immer dieses Handeln mit sich bringen würde, es fühlte sich richtig an. Einfach nur richtig. Vivien und Vitali hasteten auf Serena zu, Justin hinterdrein. Die Scherben knirschten unter ihren Schuhen und sie hörten ein seltsames Geräusch von der Atmosphäre um Serena herum kommen. Ein wirbelnder, zischender Laut, unwirklich und fremd. Die beiden riefen Serenas Namen, doch sie reagierte nicht, und Justin fragte sich, ob es sinnvoll war, Serena auf sich aufmerksam zu machen. Wenn stimmte, was Secret gesagt hatte, rannten sie einer unabsehbaren Gefahr entgegen. Justin beschleunigte seinen Lauf, um die beiden einzuholen und zur Geduld zu mahnen. Sie brauchten zunächst einen Plan! Doch schon rief Vivien wieder lauthals nach dem fehlenden Mitglied. „Serenaaa!!“ Da waren sie wieder! Serena hatte gedacht, sie hätte sie bereits zerfetzt, aber sie konnte deutlich jemanden ihren Namen rufen hören. Und die Rufe kamen näher. Nein! Sie sollten verschwinden! Verschwinden sollten sie! Für immer!!! Niemand würde ihr mehr wehtun. Niemals mehr!!! All ihre Muskeln verkrampften sich. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer grausigen Dämonenfratze. Schneller als ihm die Augen folgen konnten, schoss etwas aus der lodernden Aura, die sich um sie aufgebaut hatte. Bevor Vivien sich ihrer Lage überhaupt bewusst werden konnte, wurde sie von der Energiewelle erfasst und ging zu Boden. Sie schrie automatisch, ohne dass sie es noch wahrgenommen hätte. Das einzige, das sie noch spürte, war das peinigende Gefühl, dass sich in ihr Inneres fraß. Es brannte! Brannte wie Höllenfeuer in Viviens Adern! Nahm ihr für einen Moment das Augenlicht. Sie lag am Boden, bekam es aber gar nicht mehr mit. Alles in ihr zog sich zusammen, um sich vor der eindringenden Gewalt zu verschließen, doch die fremde Empfindung bohrte sich immer tiefer in sie hinein. Das Gefühl, innerlich zu zerreißen, breitete sich in ihr aus und verpestete mit rasender Geschwindigkeit ihr Herz, ließ sie wütend die Zähne zusammenbeißen, weckte in ihr das Bedürfnis, zu zerstören. Dann erst registrierte sie langsam wieder das Geschehen in ihrer Umgebung. Vitali und Justin knieten über ihr und schrien auf sie ein. Sie konnte die besorgten Stimmen hören, doch die Worte drangen nicht zu ihr vor. Qualvolle Angst zeichnete sich in Justins Gesicht ab, er sah sie so mitleidig an, dass ihr ganz schlecht wurde vor Wut! Sie biss die Zähne zusammen so fest es ging. Doch als Justin sie auch noch an der Wange berührte, hielt sie es nicht mehr aus. Mit zornerfülltem Blick schlug sie seine Hand brutal beiseite. „Fass mich nicht an!!!“, kreischte sie rasend. Justin, zunächst perplex, sah sie getroffen an. Vivien erkannte an seinem Blick, dass sein Herz sich verkrampfte. Wie ein geschlagener Hund wich er zurück. Und obwohl sie all das wahrnahm, verspürte sie keinerlei Mitgefühl für ihn oder gar Reue. Am liebsten hätte sie verzweifelt auf ihn eingeschlagen. Obwohl sie glaubte, noch klar denken zu können, war sie ihren Gefühlen gegenüber machtlos. Sie verstand nicht, was da in ihr vorging! Sie hatte den Eindruck, die Kontrolle über sich zu verlieren. Alles in ihr war so verkrampft, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Kopf drohte zu platzen. Blitzartig schoss es durch ihre Gedanken, als wäre es das Logischste überhaupt. Serena! Es waren Serenas Gefühle! Ariane und Secret hatten die anderen erreicht und knieten sich ebenfalls zu Vivien. „Was ist mit ihr?“, fragte Ariane eilig. „Keine Ahnung.“, sagte Vitali wahrheitsgetreu, während Justin geradezu verschüchtert daneben saß. Vivien lag noch immer am Boden und atmete hektisch, als würde sie einer Panikattacke erliegen. „Wir müssen in Deckung.“, sagte Ariane an Justins Stelle. Viviens Verhalten hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. „Dort hinüber.“ Ariane zeigte nach links zu den Überresten eines weiteren Spiegelraums. Vitali ergriff den Oberarm der am Boden Liegenden, um Vivien nach links zu hieven. „Lass mich!!!“, fauchte sie bitterböse. „Drehst du jetzt auch noch durch!“, schrie Vitali. Secret sah Vivien fassungslos an. „Serenas Gefühle sind auf sie übergegangen.“ „Hä?!“, machte Vitali. „Was meinst du?“, wollte Justin erfahren. Sie hörten ein lautes Klirren und erkannten, dass Serena eine weitere Energiewelle ausgestoßen hatte, allerdings in eine andere Richtung. „Erst mal aus Serenas Schussfeld.“, entgegnete Secret. Justin warf einen besorgten Blick auf Vivien. Sie rührte sich keinen Zentimeter. „Darum kümmre ich mich.“, sagte Secret und packte Vivien grob am Arm. Unter ihrem tollwütigen Toben zog er sie nach oben. Trotzig verlagerte sie ihr Gewicht und wollte nicht auf die Beine kommen. Secret riss brutal an ihr. „Tu ihr nicht weh.“, bat Justin kleinlaut. Eine erneute Scherbenexplosion. Serena schoss wahllos in die Gegend. „Ihr sollt rüber gehen!“, forderte Secret nochmals. Er schleifte Vivien unter ihrem Gezeter mit sich, dann biss sie ihm in die Hand. Secret schrie auf und riss Vivien an ihren Haaren zurück. Sie kreischte. Der Laut zerrte an Justins Nerven, im gleichen Moment rannte er zurück. Von dem Geschrei gelenkt, schoss eine Druckwelle nur Millimeter neben Vivien vorbei und fegte die am Boden liegenden Scherben hinfort. Vor Schreck ließ Secret Viviens Kopf los, woraufhin diese mit ihrem Gebrüll aufhörte. Im gleichen Moment sah er Justin neben sich und wurde wütend. Der Junge wollte einfach nicht verstehen, dass sich Vivien gerade wie eine wilde Bestie aufführte. Man konnte sie nicht mit Samthandschuhen anfassen! Doch Justin handelte anders als Secret es erwartet hatte, anstatt ihm zu sagen, er solle weniger brutal mit Vivien umgehen, packte er kurzerhand Viviens Beine. Sie strampelte wild und wollte Justin treten, aber das ließ er nicht zu. „Los!“, rief er. Secret reagierte sofort. Mit Justins Hilfe schleppte er Vivien wie einen Sack Mehl nach links zu den anderen. Dann ließen die beiden sie auf den Boden plumpsen und entfernte sich eilig ein Stück, um nicht geschlagen, getreten oder gebissen zu werden. Ungläubig starrten Ariane und Vitali auf die zum tollwütigen Tier mutierte Vivien, die doch sonst immer die Fröhlichkeit in Person gewesen war. Justin und Secret setzten sich zu ihnen. „Passiert uns das auch, wenn wir getroffen werden?“, fragte Ariane. Secret schüttelte den Kopf. „Ihr könntet von Glück reden, wenn ihr so glimpflich davonkommt. “ Justin blickte betreten auf Vivien. Glimpflich… Er verspürte schmerzhafte Stiche in der Brust. „Du hast gesagt, Serenas Gefühle sind auf sie übergegangen.“, sagte er gedämpft. Wenn schon diese kleine Berührung so etwas bewirken konnte, und das bei dem Sonnenkind Vivien, was musste dann erst in Serenas Innerem vorgehen? Konnten sie ihr denn überhaupt nicht helfen? „Ich habe keine Ahnung, wie sie das gemacht hat. Es hätte sie einfach nur verwunden müssen.“, meinte Secret ernst. Wieder ertönten Serenas schrille Schreie, gefolgt vom Splittern von Spiegeln. Dieses Mal schien ihr Kreischen gar nicht mehr abbrechen zu wollen. Es lag so viel Verzweiflung darin, dass es ihnen die Kehle zuschnürte. Vitali war kurz davor, wieder aufzuspringen. Aber was konnte er tun? „Wenn das so weiter geht, versiegen ihre Kräfte bald.“, sagte Secret in düsterem Tonfall. „Du meinst, sie kommt wieder zu sich?“, fragte Ariane hoffnungsvoll. Secret warf ihr nur einen Blick zu und sie wusste, dass er das nicht gemeint hatte. Plötzlich schreckte er auf. „Auf den Boden!“ Nicht alle von ihnen folgten schnell genug. Die Druckwelle schleuderte Vitali nach vorne. Schmerzhaft kam er auf dem Boden auf. Winzige Spiegelsplitter schnitten ihm ins Gesicht und brannten höllisch. Seine Gelenke taten weh. Im nächsten Moment halfen ihm Ariane und Justin auf. In gebückter Haltung eilten sie weiter nach links und setzten ihn nicht weit von Vivien ab. Sie selbst nahmen zu seiner Linken und seiner Rechten Platz. Vivien, die Serenas Attacke knapp entgangen war, funkelte Justin, der nun neben ihr saß, feindselig an. Justin zwang sich, seinen Blick abzuwenden. Secret kniete sich vor die anderen, zum Aufbruch bereit. Wachsam horchte er auf Schritte in der Dunkelheit. Leises Knirschen war zu hören, denn Serena, die zuvor an einem Punkt verharrt hatte, bewegte sich nun. Sie suchte wohl die Störenfriede, die sie gehört hatte – oder deren Überreste. „Was heißt: ihre Kräfte versiegen?“, wollte Vitali mit grimmigem Gesichtsausdruck von Secret wissen. Ein Teil von ihm kannte bereits die Antwort. Secret sah ihn finster an. Seine Stimme war gedämpft, damit Serena ihre Spur nicht noch schneller aufnahm. „Wenn sie weiterhin solche enormen Wellen freisetzt, wird ihre Energie bald nicht mehr dafür reichen, ihren Organismus aufrechtzuerhalten. Es kommt zum Versagen der Organe.“ Vitali zitterte. Ob vor Wut oder Verzweiflung, konnte er nicht sagen. Eine schreckliche Ohnmacht erfüllte sein Inneres und er wollte irgendwem die Schuld daran geben. Aber davon würde dieses kranke Horrorszenario auch nicht enden. Serenas qualvolle Schreie kamen immer näher und zerfetzten ihre Hoffnung auf ein glückliches Ende. Vivien krümmte sich zusammen, den Kopf zwischen ihre Handballen gepresst. Sie konnte nicht mehr! Es war zu unerträglich. Dann schrie sie aus Leibeskräften. Laut. Schrill. Dem Wahnsinn nahe. Dieses Mal wusste Serena genau, wohin sie zielen musste. Das Spiegelstück, hinter dem sie sich versteckt hatten, zerbarst. Mit unheimlichen Wucht wurden sie getroffen und knallten auf dem harten, kalten Boden auf, dass es ihnen fast die Besinnung raubte. Schritte hallten in der Grabesstille auf dem Untergrund. Das Knirschen von Spiegelbruchstücken, die zertreten wurden. Serena kam auf sie zu. Vivien fühlte zahllose Tränen über ihre Wangen kullern. Die Erschöpfung machte Platz für das, was hinter der Wut gelegen hatte. Ihre Ohnmacht hatte nun endlich ihren Ausdruck gefunden. Dann spürte sie eine Hand ihre Rechte erfassen. Im gleichen Moment wusste sie, dass es Justins war. Selbst auf die Gefahr hin, von ihr gebissen oder gekratzt zu werden, hatte er ihr noch Halt geben wollen. Mit tränenüberströmten Augen begegnete sie seinem scheuen Blick und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen – wären sie nicht beide flach wie zwei Flundern auf dem Boden gelegen. „Ich weiß jetzt, wie wir Serena zurückholen.“, schluchzte sie gedämpft. Schwer atmend näherte sich Serena dem Trümmerhaufen, hinter dem sich ihre Feinde versteckt halten mussten. Wieder spürte sie das quälende Gefühl der Unterlegenheit und des Unwertseins. Sie biss die Zähne zusammen. Niemand würde sich mehr über sie lustig machen! Niemand würde ihr mehr wehtun dürfen! Sie würde es nicht zulassen!!! Regelrecht panisch atmete sie ein und aus. Heiße Tränen trübten kurz ihren Blick und erschwerten das Luftholen. Schlagartig hörte sie ein Geräusch von rechts. Sie riss den Kopf herum. Einer ihrer Peiniger wollte fliehen! Fiebrige Aufregung überkam sie. Schon immer hatten sie sie attackiert und gequält, hatten sich an ihrer Hilflosigkeit geweidet! Sie hatten keinerlei Mitleid gezeigt. Kein Erbarmen. Endlich würden sie dafür büßen! Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich erneut. Unbändige Aggression übernahm die Kontrolle über sie. Die Spiegel reflektierten tiefrotes, bedrohliches Licht um ihre Gestalt. Erbittert streckte sie ihren Arm in die Richtung des Geräuschs. Automatisch sammelte sich eine gewaltige, pechschwarze Energiewelle um sie herum, fand an ihrem Arm zusammen und schoss von dort aus mit einer rasenden Geschwindigkeit auf weitere verbliebene Spiegelteile zu. Mit einem Knall zersplitterten sie. Im gleichen Moment sprang vor ihr eine Person in die Höhe. „Kuckuck!“ Schuss. Gerade noch im letzten Moment warf sich Vivien zu Boden. Sie schnappte nach Luft. Das war knapp gewesen. Hoffentlich war auch Ariane nichts passiert. Als nächstes war Vitali an der Reihe. Sie mussten dafür sorgen, dass Serena zu erschöpft war, um ihre Wut aufrechtzuerhalten. Dann würde Vivien die Chance ergreifen und sich auf sie stürzen, schließlich war sie die einzige, die Serenas Kraft absorbieren konnte. Dann würde Serena nichts anderes übrig bleiben, als ihrer Verzweiflung anders Ausdruck zu verleihen und Vivien würde da sein, um sie zu halten, bis sie sich beruhigt hatte. Links von Serena sprang wieder eine Person aus der Dunkelheit hervor. Es reichte! Ihr Schuss zerfetzte weitere Spiegelüberreste. Sie sah wie etwas durch die Luft segelte und mit einem Schmerzenslaut auf dem Boden aufkam. Sie empfand nicht einmal Genugtuung dabei, oder jedwede Erleichterung. Ihr war elend und das Gefühl von übergroßer Bedrohung engte sie ein. Alles und jeder stand ihr feindselig gegenüber. Sie war ganz allein. Jeder wollte ihr bloß Leid antun. Sie verstand es nicht. Wieso? Wieso hassten sie alle so sehr?! Dumm… Hässlich… Schlecht… Plötzlich kam die jähe Angst in Serena auf, die Atmosphäre selbst wolle sie zerquetschen, um ihrem erbärmlichen Dasein ein Ende zu setzen. Sie spürte schon den äußeren Druck auf ihren Körper. Ihre Innereien taten weh, als verschrumpelten sie gerade zu ausgedörrten, grauschwarzen Überresten. Ihre Glieder waren schwer und schwach. Sicher wollte die Natur ihren schändlichen Fehler endlich beheben und die Missgeburt, die sie ausgespien hatte, zu Staub zermalmen. Dann hörte sie wieder Schritte überall um sich herum. Hektisch drehte sie sich nach allen Seiten. Drückende Hitze stieg in ihr auf. Die Feinde wollten sie einkeilen! Panik packte Serena. Wieder dröhnten die Stimmen in ihrem Kopf. Das gehässige Lachen. Sie war ihnen ausgeliefert! Nie wieder… NIE WIEDER!!! Serenas ohrenbetäubender Schrei breitete sich über das gesamte Gebiet aus, gefolgt von einer gewaltigen Druckwelle, die sich dieses Mal nicht nur in eine Richtung erstreckte. Die Energie schoss von ihrem Körper aus in sämtliche Himmelsrichtungen und fegte alles hinfort, das sich ihr in den Weg stellte. Serena fiel auf die Knie. Ihre gesamte Körperoberfläche wurde von einem fremdartigen Kribbeln heimgesucht. Sie spürte Hitze und Schwindel in ihrem Kopf. Das Blut pochte in ihren Ohren und das Bild vor ihren Augen verschwamm. Eine unbezwingbare Schwäche überfiel sie. Verzweifelt sog sie Luft in ihre Lungen, doch es half nichts. Sie hatte das Gefühle, etwas sauge das Leben aus ihr heraus. Was für eine unerträgliche Hitze! Ihr war so schrecklich schwindlig! Schwärze trat vor ihre Augen. Wie wild trommelte ihr Herz, als wolle es im nächsten Moment zerbersten. Ihre Umgebung verlor sich in einer unendlichen Weite, das Leben entfernte sich von ihr. Ein letztes Mal glühte die unerträgliche Pein in ihrem Leib auf und Tränen, die sie gar nicht mehr spürte, quollen aus ihren Augen. Alle waren gegen sie. Ungeliebt. Verachtet. Verraten. Niemand, kein einziger war für sie da. Niemand! Niemand… Serena kippte nach vorne um. Nach einigen Sekunden kam Secret wieder zur Besinnung. Er biss die Zähne zusammen, schluckte den Schmerz hinunter und raffte sich wieder auf. Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck hervor und versteinerte. Gleichzeitig zerbrach Vitalis Schrei die Totenstille. Panisch humpelte Vitali auf den leblosen Mädchenkörper zu. Auch die anderen vier bahnten sich einen Weg zu der am Boden Liegenden. Secret richtete sich langsam auf und beobachtete mit emotionslosem Gesichtsausdruck das Schauspiel vor ihm. Vitali drehte Serena auf den Rücken und schreckte nach der Berührung mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück, als habe er sich verbrannt. In Wahrheit gewährte Serenas mit Verzweiflung und Zorn erfüllte Aura nicht das Eindringen einer fremden Gefühlsebene. Das Höllenfeuer, das sie heraufbeschworen hatte, war noch nicht erloschen. Sie schien ins Koma gefallen zu sein. Secret wusste es besser. Während Vivien und Vitali vergebens versuchten, Serena wieder zu Bewusstsein zu bekommen, standen Ariane und Justin einfach nur da, starrten entsetzt auf das grausige Szenario. Langsam und bedächtig trat Secret schließlich ebenfalls vor. Vitali und Vivien schrien mit zunehmend gebrochener Stimme auf Serena ein, ohne dass sich jegliche Reaktion zeigte. Vitalis Schreie wurden immer heftiger und hysterischer. Nochmals versuchte er, Serena wachzurütteln und nochmals verbrannte er sich dabei die Hände. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und blickte daraufhin mit feuchten Augen in Secrets ausdrucksloses Gesicht. „Es ist zu spät.“, sagte Secret. Die gesamte restliche Welt verschwamm in diesem Moment im Hintergrund und für einen atemlosen Augenblick waren die Blicke aller auf ihn gerichtet. Die Grausamkeit der Erkenntnis schnitt ihnen ins Fleisch. „Sie war nicht... stark genug.“, ertönte Secrets Stimme. „NEIN!!!“, brüllte Vitali aufmüpfig in das gleichgültige Schweigen des Todes und schlug Secrets Hand weg, als könne er damit die Wahrheit verdrängen. „Neeeeeiiiin!!!!!“ Ariane sackte in sich zusammen und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Reglos war Justins Blick auf die noch aufgerissenen Augen Serenas fixiert. Das Labyrinth, die Schatthen, den sicheren Tod hatten sie überstanden, um nun eines ihrer Mitglieder zu verlieren? Das konnte nicht sein… Das durfte nicht sein! Herzzerreißendes, unkontrollierbares Schluchzen war für einige Zeit das einzige Geräusch in der sie gefangenhaltenden Schwärze, die sich über ihre Seelen legte. Gebrochen kniete Vivien neben Serena. „Jeder fühlt sich allein.“, flüsterte sie, ohne sich von Serena abzuwenden. Sie erinnerte sich an das, was die Spiegel ihr gezeigt hatten und an die Gefühle, die sie mit Serena geteilt hatte. „Jedem wird wehgetan. Jeder kennt Leid. Und manchmal, da ist es so schlimm, dass wir am liebsten sterben würden. Weil wir es einfach nicht mehr aushalten können! Weil uns keiner versteht. Weil keiner für uns da ist. Weil keiner uns liebt. Aber das stimmt nicht.“ Sie musste nach Luft schnappen. „Es stimmt nicht! Nur manchmal wollen wir die Wirklichkeit einfach nicht sehen. Manchmal ist es einfacher zu denken, dass die ganze Welt uns hasst. Denn dann haben wir ja das Recht, die ganze Welt zurück zu hassen. Die ganze verdammte Welt!“ Sie holte Atem.. „Dabei wollen wir doch nur, dass uns jemand versteht. Wir wollen nur, dass … Dass jemand für uns da ist und uns sagt, dass alles gut wird. Dass uns jemand liebt!“ Vivien schluchzte auf. Dann versuchte sie, ihre Lautstärke zu erhöhen. „Ist es nicht so? Ist es nicht so?!!“ Wieder schluchzte sie. „Antworte mir!“, schrie sie den leblosen Körper vor sich an. Dann weinte sie wieder. „Geh nicht weg. Bitte…“ Nochmals erhob sie ihre Stimme. „Ich hab dich doch lieb!“ Anschließend ertrank ihre Stimme in dem Meer ihrer Schluchzer. Secret atmete geräuschlos aus. Unbedeutend, wie sehr sie sich dagegen sträubten, sie mussten Serenas Tod hinnehmen. Mit einem Mal bemerkte er eine schwache Veränderung der Atmosphäre, konnte aber nicht genau bestimmen, welchen Ursprung sie hatte. Argwöhnisch ließ er seinen Blick über die Gegend schweifen. Doch die Dunkelheit gewährte ihm kaum Einblicke. Er spürte, dass sich Schatthen näherten. Diese Kreaturen, geschaffen aus Hass und Zorn, Inkarnationen der Zerstörungswut, wurden von den Gefühlen, die Serenas ausgestrahlt hatte, angezogen wie die Motten von Licht. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als Serenas Leichnam hier liegen zu lassen. Sie mussten weiter. Secret warf einen letzten, Respekt erweisenden Blick auf Serena, ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Ihr Anblick schmerzte. Die Augen noch immer geöffnet. Die Wangen – noch feucht von unzähligen Tränen. Der Gesichtsausdruck eines Menschen, der keine Hoffnung mehr sah, den Zorn und Verzweiflung zugrunde gerichtet hatten. Er hätte ihr gerne die Augen geschlossen, um ihr so vielleicht etwas Frieden zu schenken, doch er wusste, dass eine Berührung unmöglich war. Die intensiven Schwingungen des Hasses umschwirrten weiterhin Serenas Körper. Wie eine schwarze Gewitterwolke, die Unheil verkündete. Der grauenvolle Gedanke, dass sich diese Wellen in der energetisch aufgeladenen Umgebung selbstständig zusammenziehen und zu einem Schatthen formen könnten, kam in Secret auf. Sofort versuchte er ihn zu unterdrücken. Dann weiteten sich seine Augen. Die Atmosphäre. Diese seltsame Veränderung… Das durfte nicht sein! Überstürzt jagte Secret um die anderen herum und schmiss sich neben Serenas Kopf auf die Knie. „Du musst dagegen ankämpfen!“, schrie er den leblosen Körper an. „So schnell verlässt die Seele den Körper nicht. Du kannst es noch aufhalten! Bitte!“ Die anderen folgten Secrets Aktion mit apathischen Blicken. Eine seelische Betäubung hatte ihr abstumpfendes Netz über sie geworfen. Nur so waren sie dem Wahnsinn entronnen, der sie nach dem Verlust ihres Mitglieds zu verschlingen drohte. Die emotionale Qual war auf diese Weise langsam einer dumpfen Gefühlsleere gewichen, die es erst wieder abzustreifen galt. „Lebt sie noch?!“ Vitali wollte laut rufen, aber es war nur ein heiseres Flüstern, das er herausbrachte. Secret hätte so oder so nicht auf seine Frage geantwortet. „Serena!“ Auch Viviens Stimme war schwach, aber der winzige Funken Hoffnung, den sie aus der Fehlinterpretation von Secrets Worten schöpfte, gab ihr neue Kraft. Sie griff nach Serenas Hand und verbrannte sich die Finger wie Vitali zuvor. Es war ihr egal! Gleichzeitig kamen nun auch Justin und Ariane an die Seite der Totgeglaubten gestürmt und riefen ihren Namen. Doch Secret musste erkennen, dass jegliche Appelle umsonst waren. Alles lief auf das Unvermeidbare hinaus: Die Geburt eines Schatthens! Wie vom Leibhaftigen verfolgt sprang Secret auf. „Wir müssen hier weg!!!“ Die anderen sahen ihn nur verständnislos an. Dann blickte Ariane unwillkürlich zurück auf Serena und stieß im gleichen Moment einen Schreckenslaut aus. Secrets Herzschlag setzte aus. Der Schock zog den Augenblick in eine qualvolle Länge. Bis die Zeit ihn schließlich zum Zerreißen brachte. In dieser Sekunde hatte Secrets Gehirn erst die Kraft, zu verarbeiten, was sich da vor seinen Augen abspielte, was sich an Serenas Körper zeigte. Eine Träne. Sie glitzerte in Serenas entseelten Augen auf, wanderte zu ihren Augenwinkeln und lief dort die Seite ihres Gesichts hinunter. Für einen atemlosen Moment waren alle Blicke auf sie gerichtet. Andächtiges Schweigen herrschte, als fürchteten die fünf, sie könnten durch Geräusche jegliche weitere Reaktion verscheuchen. Doch mit einem Schlag wurde ihre Ungewissheit zertrümmert – einem Augenschlag. Serenas Augenlider hatten geblinzelt. Dennoch dauerte es noch eine Sekunde, ehe die fünf es wirklich begriffen, ehe sie es nicht mehr als bloßen Wunschgedanken abtaten. „Serena!“, schrie Vivien und bedeckte den Oberkörper des Mädchens mit dem eigenen und umklammerte es wie ein kleines Kind. Daraufhin spürte sie, was in der Dunkelheit keiner von ihnen erkannt hatte: das schwache Auf und Ab von Serenas Brustkorb. Ein seltsames Geräusch stieg aus Viviens Kehle, eine Mischung aus Lachen und Schluchzen. „Sie lebt… Sie lebt!“ Unverhofft wich die schmerzhafte Anspannung von Secret wie eine übergroße Last und nahm alle störenden Gedanken mit sich. Geistesabwesend hörte er das schluchzende Lachen nun auch von den anderen kommen und ehe er sich versah, hörte er eine weitere Stimme miteinstimmen, die er erst im nächsten Moment als seine eigene identifizierte. Er spürte etwas Unbekanntes: ein seltsam drückendes Gefühl, das sich einen Weg von seinem Magen, über seinen Brustkorb, hin zu seinem Kopf bis zu seinen Augen bahnte und dort mit einem Kitzeln in der Nase seinen Blick für kurze Zeit trübte, um sich in einer ungewohnten Feuchte über seine Wangen zu entladen. Durch den Schleier aus blindem Zorn, hinein in den Krater der Verlorenheit war etwas zu Serena vorgedrungen, hatte etwas in ihr bewirkt, hatte ihre Aura zu einer Veränderung angeregt, die als schwacher Wandel in der Atmosphäre zu spüren gewesen war. Sie hatten den letzten Funken Leben in ihr mit einem zarten Hauch auf Neue entfacht – diese wenigen Worte. Und obwohl Serenas Bewusstsein sich später an all das nicht erinnern konnte, wirkte der Satz, den die gleiche Mädchenstimme ihr wieder und wieder sagte, wie heilender Balsam für ihre Seele. „Wir haben dich lieb.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)