Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 22: Schule und andere Katastrophen ------------------------------------------ Schule und andere Katastrophen „Leben ist das, was dir passiert, während du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen.“ (John Lennon, engl. Musiker, The Beatles) Schweißgebadet fuhr Justin aus seinem Albtraum auf. Panisch blickte er sich um. Sein Zimmer, sein Bett. Er war in Sicherheit. Erst jetzt begriff er, dass sein Wecker klingelte. Bemüht, die Bilder seines Traums abzuschütteln, schaltete er den Wecker aus. Die Augen wieder zu schließen, traute er sich nicht,. Die Furcht, dass der Traum sich dann erneut fortsetzen könnte, war zu groß. Er hievte sich zum Rand seines Bettes, stellte die Füße auf den Boden und starrte zu Boden. Was hatte diese Vision zu bedeuten? Die logischste Erklärung war, dass die Furcht vor einem erneuten Angriff sein Unterbewusstsein zu diesem Szenario inspiriert hatte. Aber wie häufig kam es vor, dass die Handlung eines Traums über mehrere Nächte hinweg fortgeführt wurde? Und genau das war geschehen! Seit der Nacht, in der sie aus dem Schatthenreich entkommen waren. Heute also zum dritten Mal. Sollte er die anderen informieren? Andererseits würde er ihnen damit vielleicht nur unnötig noch mehr Sorgen bereiten. Das wollte er nicht. Unwillkürlich wanderte sein Blick zum Fenster. Im Zimmer von Vivien und ihren Geschwistern rührte sich noch nichts. Als Justin bemerkte, was er gerade tat, wandte er sich schnell ab. Warum musste er auch ausgerechnet in ihr Zimmer schauen können?! Er seufzte und stand auf. Ein nerviges, piepsendes Geräusch riss Vivien aus dem Schlummer. Etwas unbeholfen tastete ihre Hand herum, bis sie etwas Viereckiges unter ihren Fingern spürte. Sie drückte einen kleinen Knopf und drehte sich dann noch einmal um. Die flauschige Weiche des Bettes war einfach zu verlockend. Einige Zeit später schreckte Vivien auf und starrte auf ihren Wecker. 7 Uhr! Sie musste noch mal eingenickt sein! Eilig sprang sie aus dem Bett und stürmte an ihrer noch schlafenden Schwester vorbei aus dem Zimmer. In Windeseile machte sie sich fertig und zog sich an. Dann hetzte sie in die Küche, wo ihr Bruder bereits am Frühstücken war. Vivien gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und stibitzte sich eine der Toastscheiben von ihrem Teller. Mit großen Bissen verschlang sie den Toast, schnappte sich das Pausenbrot, das ihre Mutter für sie vorbereitet hatte, verstaute es in ihrem Rucksack und rannte ein Tschüss rufend aus dem Haus. Sie stürzte auf das Nachbarhaus zu, klingelte und wartete schnaufend einen Moment. Hoffentlich war sie nicht zu spät! Nach einigen Augenblicken öffnete Justin die Tür. „Morgen!“, rief sie quietschfidel und fixierte ihn dann mit freudigem Lächeln und großen erwartungsvollen Augen. „Willst du mit mir gehen?“ Justin wäre fast die Kinnlade runtergeklappt. Vivien musste sich ein Kichern verkneifen, ein breites Grinsen nahm ihre Züge ein. Röte stieg in Justins Gesicht. Er sah so hilflos und von der Situation überfordert aus, dass Vivien schließlich einlenkte. „Oh, ich dachte, du würdest auch noch zur Schule gehen und wir könnten gemeinsam laufen.“ Sie machte eine gespielte Verlegenheitsgestik. „Ich hab gar nicht überlegt, dass du auch eine Ausbildung angefangen haben könntest.“ Sie lachte kurz auf und streckte dann achselzuckend und mit einem Zwinkern kurz die Zunge heraus. Justin löste sich aus seiner Erstarrung. Es war ihm sichtlich peinlich, dass er ihre Frage, ob er mit ihr gehen wolle, anders verstanden hatte. Der Arme konnte ja nicht wissen, dass sie ihre Wortwahl mit voller Absicht getroffen hatte. „Äh nein. Doch. Also ja.“, stotterte er. „Ich gehe auch noch zur Schule.“ Als wäre das die absolut wundervollste Nachricht überhaupt, strahlte Vivien übers ganze Gesicht und packte ihn am Arm, wie um ihn mit sich zu ziehen. „Wa-warte!“, rief er. „Mein Rucksack.“ Vivien kicherte und ließ ihn los. Justin eilte nochmals hinein und kam sogleich mit seinem Rucksack und einem Umschlag in der Hand zurück. Bei dem Anblick des Umschlags schnellte Viviens Laune noch weiter in die Höhe. „Du gehst auch auf die Handelslehranstalt?!“, jauchzte sie. Verlegen nickte Justin. Ihm fiel jetzt erst auf, dass sie am Wochenende gar nicht darüber gesprochen hatten, welche Schulen sie besuchten. Serena hatte so verängstigt geschaut, als Ariane das Thema Schule angeschnitten hatte, dass Vivien schnell das Thema gewechselt hatte. „Welche Schulart? Welche Klasse?“, fragte Vivien überschwänglich. „Wirtschaftsgymnasium. E6.“ „Dann sitzen wir zusammen!“ Ehe Justin noch ein Wort sagen konnte, zog sie ihn mit sich. „Entschuldigen Sie.“, Ariane versuchte die Aufmerksamkeit der Schulsekretärin auf sich zu ziehen. Die Dame sah auf. „Guten Morgen. Ich bin neu hier und hätte gerne gewusst, in welches Klassenzimmer ich gehen muss.“, brachte Ariane ihr Anliegen vor. „Welche Schulart?“, fragte die Sekretärin. „Wirtschaftsgymnasium.“ „Soweit ich weiß, müssten Sie einen Brief erhalten haben, in dem Klasse und Raum stehen.“, entgegnete die Dame. „Es ist so: Ich bin erst frisch hierher gezogen und durch die neue Anschrift hat das mit dem Brief nicht so recht geklappt.“, erklärte Ariane. „Die Liste für kurzfristige Wechsler hängt am Schwarzen Brett aus. Das ist direkt an der Treppe vorne in diesem Stockwerk.“, beschrieb die Sekretärin. Ariane bedankte sich und verließ das Sekretariat. Ihr Vater hatte ihr empfohlen, vom allgemeinbildenden auf ein berufliches Gymnasium zu wechseln, da die Unterschiede in den Lehrplänen von Niedersachsen und Baden-Württemberg dadurch weniger ins Gewicht fallen würden. Nachdem sich ihre Befürchtung, auf einem beruflichen Gymnasium könne man nur die Fachhochschulreife machen, als falsch herausgestellt hatte, war dem nichts mehr im Weg gestanden. Ihre Mutter hatte außerdem angemerkt, dass sie auf diese Weise nicht in eine bereits eingeschweißte Klassengemeinschaft kommen würde. Ariane hatte es unterlassen, sie darüber aufzuklären, dass die Oberstufe am allgemeinbildenden Gymnasium ohnehin nicht mehr aus Klassen aufgebaut war. Vor dem Schwarzen Brett angekommen, musste Ariane zunächst den Zettel für das Wirtschaftsgymnasium ausfindig machen. In dem Schulgebäude der Handelslehranstalt waren nämlich auch ein Berufskolleg, mehrere Berufsschulklassen und eine Wirtschaftsschule untergebracht. In die Suche vertieft, bemerkte sie nicht, wie jemand neben sie trat. Gerade glaubte sie, den richtigen Zettel gefunden zu haben, als derjenige sie höflich ansprach: „Dürfte ich kurz?“ Ariane fuhr beim Klang der Stimme zusammen. Einen Moment lang war sie unfähig, sich umzudrehen. Auch wenn es albern war, wollte sie sich zumindest kurz der Hoffnung hingeben, bevor sie sich der Wahrheit stellte. Schließlich wandte sie sich um. Und erstarrte. Die grünblauen Augen… das ihr vertraute Gesicht. Secret sah sie an, als warte er darauf, dass sie endlich eine Reaktion zeigte. Ehe sie auch nur darüber nachdenken konnte, hatten ihre Beine den Abstand zwischen ihnen überwunden und sie umarmte ihn, wie sie es schon bei Vitali getan hatte, nachdem sie auf der Baustelle wieder zusammengetroffen waren. Es war ihr egal, ob Secret sie deshalb für schwach halten oder sich im nächsten Augenblick darüber beschweren würde. Wie oft hatte die Frage, ob er überhaupt noch lebte, ihr Inneres beherrscht? Und jetzt stand er direkt vor ihr! Ihre Finger gruben sich für einen Augenblick in sein T-Shirt. Dann schnappte sie nach Atem und fand schließlich die Kraft sich wieder von ihm zu lösen. Secrets Blick war hart. Das hätte sie sich wohl denken können. Sie ignorierte es. Hauptsache, er lebte. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie regelrecht angewidert. „Nur weil du ein hübsches Gesicht hast, kannst du dir nicht alles erlauben.“ Sie war zu perplex, um seine Worte einzuordnen. „Das war die dreisteste Anmache, die ich je erlebt habe. Das heißt nicht, dass sie gut war.“, spie er aus. Sie versuchte zu begreifen, was er da von sich gab. Ihr Gesicht verzog sich in völligem Unglauben. Sie wollte etwas erwidern, stockte, starrte ihn sprachlos an. Kein Zweifel, das war Secret! „Du erinnerst dich nicht?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und Hohn trat in seine Stimme. „Jetzt willst du auch noch behaupten, dass wir uns kennen?“ Sein überhebliches Verhalten brüskierte sie. Stolz hob sie ihr Haupt. Sie würde sich nicht von ihm beschämen lassen! Daraufhin schnaubte er verächtlich und sah sie herausfordernd an. „Meinen Namen kennst du dann ja wohl auch.“ Er lächelte herablassend. Sie wollte ihm gerade antworten, als sie erkannte, dass keiner von ihnen Secrets richtigen Name erfahren hatte. Von ihrem Schweigen in seiner Unterstellung bestätigt, verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte demütigend auf sie herab. Seine offensichtliche Verachtung war ihr unerträglich. „Für wen hältst du dich eigentlich?“, stieß sie aus. „Es geht hier doch darum, für wen du mich hältst.“ Ariane biss sich auf die Unterlippe. Es musste doch etwas geben, das auf die Erlebnisse im Schatthenreich hindeutete! Ihr Blick schnellte zu seinem linken Oberarm. In einem verzweifelten Versuch, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, riss sie den Ärmel seines T-Shirts nach oben. „Hast du sie noch alle?!“ Es war der gleiche tobsüchtige Schrei wie damals vor dem Labyrinth, die gleiche Reaktion, der gleiche Satz, den er damals schon gesagt hatte. Aber diesmal war es anders. Nichts! Nicht das kleinste Anzeichen eines Kratzers. Aber das konnte nicht sein! Unwillkürlich schüttelte Ariane den Kopf. Als sie in Secrets Gesicht sah – und sie war sich sicher, dass es Secret war! – erkannte sie eine Mischung aus Unglaube und Abscheu. Ariane war verzweifelt. Was sollte sie jetzt tun? Die Frage erübrigte sich. Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, ließ er sie mit einem Gedankensturm in ihrem Kopf zurück. Serena tapste unschlüssig in einen der Gänge und blickte rechts und links auf die Schilder, die neben den Türen der Klassenzimmer befestigt waren. Die Zimmer waren immer von rechts nach links springend durchgezählt worden. Nervös schnappte Serena nach Luft. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr war übel. So lange hatte sie sich vor diesem Tag gefürchtet. Selbst der Gedanke, dass sie das hier nach allem, was ihr widerfahren war, doch als viel weniger erschreckend ansehen sollte, tröstete sie kein Stück. Vor dem letzten Zimmer links blieb sie stehen. Das Schild zeigte ihr an, dass sie hier richtig war. Eingangsklasse Nummer 6. Serena biss die Zähne zusammen. Sie kam sich wieder so klein und einsam vor. Für einen Moment wünschte sie sich, die anderen wären bei ihr. Aber das war lächerlich. Niemand würde sie beschützen. Sie trat ein. Als erstes erkannte sie, dass zu ihrer Linken die erste Bank direkt an der Tür noch unbesetzt war und stellte, ohne sich noch einmal umzublicken, ihren Rucksack auf die Schulbank. Sie atmete aus. Einen Rundblick wagte sie nicht. „Na, wen haben wir denn da?“ Eine gehässige, harte Mädchenstimme ließ Serena aufschrecken. Fassungslos starrte sie auf die Bank hinter der, an der sie gerade hatte Platz nehmen wollen, und sah sich zwei ihr allzu bekannten Gesichtern gegenüber. Serenas Augen streiften nur beiläufig die graublonde Jugendliche mit der grobklotzigen Ausstrahlung, von der sie angesprochen worden war. Zu schnell verirrte sich ihr Blick zu der rotblonden Person daneben. Und zu spät kam ihr die Erkenntnis, dass sie sich geschworen hatte, diese nie wieder so hilflos anzusehen, wie sie es gerade tat. Amanda. Ihr Inneres, von ihrem Magen über ihren Brustkorb bis zu ihrem Hals, drohte, zerquetscht zu werden. Zwanghaft riss sie sich von dem Anblick Amandas los und wandte sich der anderen zu. Wie Serena es von ihr gewöhnt war, grinste Amandas Schwester Susanne sie herablassend an, dann kam sie auf sie zu. Serena beobachtete schweigend, wie die Blondine etwas versetzt vor ihr stehenblieb und sie auf ihre möchtegern-coole Art von oben bis unten musterte. „Hässlich…“, zischte sie. „Du solltest aufhören, Selbstgespräche zu führen.“, entgegnete Serena fest. Unterdrückter Ärger zeichnete sich auf dem Gesicht ihres Gegenübers ab. „Hast du dich eigentlich schon mal im Spiegel angeschaut?!“ Der altbekannte Spruch. Serena kannte ihn zu genüge. Und was sie ebenfalls kannte, waren die Schwachstellen ihres Gegenübers. „Dass du mit deinem Hintern durch die Tür gepasst hast, wundert mich.“ „Kleines Biest!“ Wutentbrannt blitzten die wässriggrauen Augen ihrer Kontrahentin auf. Doch nicht diese Blondine war es, die Serenas Inneres so sehr aufwühlte. Ohne es zu wollen, wandte Serena sich erneut zu Amanda, die sitzen geblieben war. Noch immer würdigte die bronzeblonde Jugendliche Serena keines Blickes, stattdessen gab sie mit ihrer gezierten Stimme ein kurzes, hohes Seufzen von sich, um klarzustellen, als wie lästig sie die Situation empfand. Ihre augenscheinliche Gleichgültigkeit traf Serena brutaler als jede Ohrfeige. Dann erklang die Serena wohlvertraute Stimme, süß wie Honig. „Susanne.“, sprach Amanda ihre Schwester an. „Niemand ...“ Dieses Mal streiften ihre hellgrünen Augen mit den goldenen Sprenkeln Serena für einen winzigen Moment, so voller grausam desinteressierter Geringschätzung, dass Serena die Luft wegblieb. „…interessiert sich für sie.“ Verstört stand Serena da, bekam keinen Ton mehr heraus. Das war auch gar nicht nötig. Eine feste männliche Stimme ertönte rechts hinter ihr, ohne dass sie ihr Beachtung geschenkt hätte. „Achja?“ Serena sah, wie Amanda sich dem Sprecher zuwandte und ihr Gesichtsausdruck entgleiste. Schockiert widmete sich daraufhin auch Serena dem Neuankömmling, denn soweit sie sich erinnern konnte, gab es nichts, das Amanda jemals aus ihrem ‚Mich lässt alles kalt‘-Modus hätte reißen können. Sie stockte. Seine Statur war athletisch, seine Selbstüberzeugung sprang einem regelrecht ins Gesicht. Ohne auch nur zu zögern, legte er seinen linken Arm einfach um ihre Schultern und spießte Amanda und ihre Schwester dabei mit einem erbarmungslosen Blick auf. „Ich würde euch raten, dass ihr sie in Ruhe lasst.“ Die blaugrünen Augen in seinem makellosen Gesicht waren stechend. „Sie gehört zu mir.“ Vitali lief die Treppe im Eingangsbereich der Schule hinauf und schaute auf die Bezeichnung der Gänge um ihn herum. Er suchte B2. „Vitali!“, rief eine ihm bekannte Stimme. Vitali sah sich fragend um, dann entdeckte er Ariane, die von der nach oben führenden Treppe eilig heruntergerannt kam. „Hey!“, gab Vitali freudig zurück. Ariane erreichte ihn. „Sag bloß du bist auch hier auf der Schule!“, freute er sich. Ariane nickte hastig. „Vitali, du wirst nicht glauben –“ „Welche Schulart?“, unterbrach Vitali sie. „Wirtschaftsgymnasium, aber –“ „Hey, da bin ich auch! Klasse E6. Und du?“ „Auch E6.“ Ehe sie weitersprechen konnte, hatte Vitali wieder das Wort ergriffen. „Krass! Aber jetzt müssen wir erst noch den Raum finden. Wo ist nur B2?“ Ariane warf einen hastigen Blick auf den Gang hinter ihr, der durch eine Glastür abgetrennt war, und streckte ihren Arm in die entsprechende Richtung. „Dort. Aber –“ „Lass uns reingehen, bevor wir noch in der ersten Reihe sitzen müssen.“, meinte Vitali und lief los. „Jetzt hör mir doch mal zu!“, schrie Ariane ihm empört hinterher. „Komm halt!“, entgegnete Vitali locker. Ärgerlich rannte Ariane ihm hinterher und fragte sich, ob sie jemals dazu kommen würde, ihm von ihrer Begegnung mit Secret zu erzählen. Vitali suchte die Schilder neben den Türen nach ihrer Zimmernummer ab. Als Ariane neben ihn trat, wagte sie einen erneuten Versuch: „Vitali, ich hab Secret –“ „Ja gleich.“, würgte Vitali schon wieder ab. Ariane gab es auf. Die Türen der Klassenzimmer standen alle noch offen. Im hintersten Zimmer der linken Seite stand eine Person mitten im Durchgang, was Vitalis Aufmerksamkeit erregte. „Ist das Serena?“, fragte Ariane, die Vitalis Blick gefolgt war. Serena hatte sich jemandem neben sich zugewandt, jemandem, der seinen Arm um sie gelegt hatte. „Wer ist der Typ?“, brummte Vitali. Erbost wandte sich die Rotblonde ab, packte ihre Sachen und suchte sich einen anderen Sitzplatz, während die Graublonde das Klassenzimmer verließ. Er nahm den Arm wieder von den Schultern der verschüchterten Brünetten und senkte die Stimme, sodass nur sie seine Worte hören konnte. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Er nahm wieder den nötigen Höflichkeitsabstand zu ihr ein. Sie starrte ihn fassungslos an, ja schien geradezu den Tränen nahe zu sein. „Schon gut, die tun dir nichts mehr.“, versuchte er sie zu beruhigen. Doch sie sah ihn so eindringlich an, als wolle sie sich ihm jetzt auch in die Arme werfen. Für einen Moment fragte er sich, ob es nicht doch eine blöde Idee gewesen war, vom Jungeninternat hierher zu wechseln. Ein übertrieben lauter Ruf zog seine Aufmerksamkeit auf sich. „Hey Serena!“ Ein hochgewachsener hellbrünetter Junge kam regelrecht auf sie zu gestürmt, als habe er sie bei irgendetwas unterbrechen wollen. Hinter ihm ganz… ganz langsam folgte die durchgeknallte Blondine von zuvor. Warum bloß?! Warum konnte sie nicht im Erdboden versinken?! Ariane hatte ihn schon zuvor erkannt, was Vitali erst jetzt tat. Vitali war baff. „Das gibt’s ja gar nicht! Alter!“ Der Schwarzhaarige war sichtlich verwirrt von dieser Reaktion. Vitali gab ihm einen kumpelhaften Klopfer auf den Rücken. „Hey Muskelmann, ich dachte schon wir wären dich endgültig los!“ Ziemlich ratlos sah der Schönling ihn an. „Wie bist du denn da wieder rausgekommen? Bei all den Schat-“ Ariane brachte Vitali mit einem Klaps auf seinen Rücken zum Verstummen. „Was geht!“, beschwerte sich Vitali. „Mann Serena, ist deine Brutalität etwa ansteckend?“ Serenas Lippen schürzten sich verstimmt. Der Blick des Schwarzhaarigen blieb an Ariane haften, es war ein kalter Blick. Sie kannte diesen distanzierten Ausdruck in seinen Augen, überlegen und unnahbar. So hatte Secret geschaut, wenn er über die Fallen gesprochen hatte und die Schwierigkeiten, die vor ihnen lagen. Aber dass er sie so ansah! So wie er ein Problem ansah! Ariane wandte sich Serena und Vitali zu: „Wir sollten uns Plätze suchen.“ Ehe sie dazu kamen, folgte bereits die nächste Überraschung. Die Schulglocke läutete und zwei Personen kamen ins Klassenzimmer gehetzt. Fast hätten sie sie über den Haufen gerannt. „Tadaaa!“ Vivien stand triumphierend vor ihnen. „Ist das nun Schicksal oder was!“ Dann fiel auch ihr das ihnen vertraute Gesicht auf und ihre Fröhlichkeit kannte keine Grenzen mehr. „Secret!!!“, schrie sie übermütig. Auch Justin war anzusehen, dass ihn der Anblick ihres verlorenen Mitglieds tief berührte. Ariane ging dazwischen, ehe sich Vivien in die Arme des Jungen werfen konnte. Sie ergriff Viviens Arm, um sie von vorschnellen Aktionen abzuhalten und forderte nun noch einmal mit mehr Nachdruck: „Wir sollten uns setzen!“ Wie sollte sie den anderen klar machen, dass das nicht Secret war? Naja, eigentlich war sie sich sicher, dass er es war. Aber er war es eben doch nicht. Zumindest nicht derselbe. Ach, das war einfach viel zu kompliziert! „Dann setz dich doch.“, sagte dieser Angeber kalt. Fiel denn keinem der anderen seine Distanziertheit auf? Na gut, Secret war eigentlich schon immer eher gefühlskalt als herzlich gewesen. Justin stimmte zu. „Wir können ja in der Pause reden.“ Er warf dem Schwarzhaarigen ein warmes Lächeln zu. Die Erleichterung darüber, Secret wohlbehalten wiederzusehen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nachdem die zweite Reihe geräumt worden war, war diese noch unbesetzt, genau wie die erste Reihe an der Wandseite und in der Mitte. Die vordersten Reihen waren definitiv nicht die Beliebtesten. „Okay!“, rief Vivien. „Serena und Ariane setzen sich hierhin, Justin und ich dahinter, und Vitali und Secret da drüben hin. Ist doch perfekt!“ „Willst du wirklich, dass ich neben dir sitze?“, fragte Justin zaghaft. Jetzt, wo er nicht mehr der einzige Klassenkamerad war, den Vivien kannte, war er sich unsicher über ihr Angebot. Vivien schaute ihn mit einem Schmollmund an: „Du hast es mir versprochen!“ Justin spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Damit Vivien das nicht bemerkte, setzte er sich schnurstracks auf den ihm zugedachten Platz. Auf Viviens Zügen erschien ein zärtliches Lächeln. Für wie ahnungslos er sie doch hielt! Zu süß. „Die erste Reihe?“, maulte Vitali. Derweil wollte sich der Schwarzhaarige, der sich nicht mit Secret angesprochen gefühlt hatte, auf den Weg zu den hinteren Bänken begeben. Vitali hielt ihn auf. „Hey Muskelprotz, du glaubst doch wohl nicht, dass du dich so einfach nach hinten verziehen kannst. Du wirst mit mir zusammen hier in der ersten Reihe leiden, klar?!“ Ariane platzte heraus: „Ich glaube kaum, dass er sich zu dir setzen will!“ Die anderen sahen sie verwirrt an. Wenn der Schwarzhaarige zuvor noch reichlich unentschlossen gewirkt hatte, jetzt hatte er sich für seinen Sitzplatz entschieden. „Ich finde es hier eigentlich ganz nett.“, sagte er in geradezu gönnerhaftem Tonfall und setzte sich auf den der Fensterseite näheren Platz in der ersten Reihe der Mitte. Auch die übrigen setzten sich. Ariane war einem Nervenzusammenbruch nahe. Was sollte sie bloß tun! Der Typ würde sie doch alle für verrückt erklären lassen! Aber wie konnte sie die anderen denn warnen, wenn er die ganze Zeit in Hörweite war? „Wie hast du es geschafft, da wieder rauszukommen?“, wollte Vitali nun endlich erfahren. „Aus ihren Fängen?“, spottete der Schwarzhaarige zweiflerisch. „Ja.“, sagte Vitali, als begreife er beim besten Willen nicht, was daran lustig sein sollte. Die Augenbrauen seines Gegenübers senkten sich. „Wieso gibst du dich mit ihr ab, wenn du sie so schlimm findest?“ Vitali verzog den Mund. „Es geht nicht um Serena!“, schimpfte er aufgebracht. Der Schwarzhaarige zog kurz die Augenbrauen irritiert zusammen. „Ich meine, deine Freundin, die Blondine.“ „Ariane.“, verbesserte Vitali. „Von ‚Blondine‘ ist sie nicht so begeistert.“ „Wir sind nicht dazu gekommen, uns vorzustellen.“ „Wieso vorstellen?“ Vitali schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie geht’s überhaupt deiner Wunde?“ „Welche Wunde?“ „Wie witzig.“, höhnte Vitali und verstellte seine Stimme: „Der starke Held, der seine Schmerzen versteckt.“ Er schnaubte. „Na, der Wunde an deinem linken Oberarm natürlich!“ Ariane, die nur durch den Mittelgang von Vitali getrennt wurde, hielt das nicht länger aus und sprang wie vom Donner gerührt auf. „Vitali, dürfte ich mal kurz mit dir reden? Und mit euch auch.“ Vitali war Arianes Verhalten schleierhaft. „Warum denn?“, wollte er wissen. Arianes Blick machte durchaus deutlich, dass er diese Frage besser unterlassen hätte. Vitali war verwirrt. Hatte Ariane heute ihre Tage, oder was?! Der Schwarzhaarige mischte sich ein. Seine Augen fixierten Ariane. „Du solltest akzeptieren, dass es Dinge gibt, die du auch mit deinem Aussehen nicht bekommen kannst, anstatt gleich deine ganze Clique gegen mich aufhetzen zu wollen.“ Ratloses Schweigen bei den vier übrigen. Sie verstanden nur Bahnhof. Und Ariane stand wortlos da, brachte keinen Ton mehr heraus. Sie wusste nicht, welcher Wunsch in ihr größer war, diesem Großmaul Kontra zu geben oder zu heulen, weil er ja alles falsch verstehen musste, wenn er sich nicht mehr erinnerte! Sie versuchte Mut zu schöpfen. Vielleicht klappte es ja auf diese Weise. Akribisch kratzte sie sämtliche ihr innewohnende Würde zusammen, um sich nicht sofort im nächsten Mauseloch zu verkriechen. Dann richtete sie das Wort an den Angeber. „Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen.“ Vitali musste natürlich sofort reinquatschen: „Hä? Wieso wollt ihr euch denn ständig vorstellen?!“ Der Secret-Verschnitt stützte sich mit seinem Ellenbogen auf den Tisch und ließ sein Kinn auf seiner Faust ruhen. „Ja, wieso vorstellen? Ich dachte, du kennst mich.“ Ariane sog Luft in ihre Lungen. Sie richtete ihre Wirbelsäule auf und versuchte, eine so königliche Haltung einzunehmen wie nur möglich. Ihr Blick wurde kalt. „Da du dich nicht mehr erinnerst, dachte ich, wir sollten uns neu vorstellen.“, sagte sie distanziert. „Außerdem hattest du wohl Recht, ich muss dich verwechselt haben. Die Person, die ich meinte, war ganz anders als du.“ Diesen Wink mussten die anderen verstanden haben! „Man sollte eben nicht allein auf das Äußere gehen.“, entgegnete er mit diesem arroganten Lächeln. Nicht minder überzeugt hielt Ariane dagegen. „Das wäre das Letzte, was ich täte.“ Mit diesen Worten setzte sie sich wieder. Vitali starrte den Jungen neben sich verstört an. „Nee! Jetzt sag bloß nicht, du hast schon wieder nen Gedächtnisausfall. Kommt so was bei dir öfter vor oder bist du ne gespaltene Persönlichkeit, oder was?“ Im nächsten Moment war Vivien vor die Bank der beiden getreten. „Hi! Ich bin Vivien. Der neben dir ist Vitali. Das da hinten Justin, da drüben Serena. Und Ariane kennst du wohl schon.“ Zunächst etwas überrumpelt, antwortete der Schwarzhaarige: „Erik Donner.“ „Also Erik.“ Vivien strahlte. „Ich glaube, wir werden die besten Freunde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)