Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 25: Finster und Geheim ------------------------------ Finster und Geheim „Es ist nie zu spät, neu anzufangen.“ (Redensart) Zusammen mit ihren Eltern lief Ariane auf die Finster GmbH zu – das vierstöckige Gebäude direkt neben der Baustelle. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, ihre Erlebnisse seien nichts als ein Traum gewesen und kurz fragte sie sich, ob sie sie nach vielen Jahren nicht tatsächlich als Hirngespinst abtun würde. Sie ging schneller, denn die Luft war abgekühlt und in ihrem roten Cocktailkleid begann sie zu frieren. Mit flinken Schritten eilte sie die Eingangstreppe des Unternehmens hinauf und rettete sich in das warme Innere. In der Vorhalle befanden sich rechts die Garderoben, links eine Rezeption, die heute Abend nicht besetzt war. Der Weg geradeaus führte zum Aufzug. An beiden Seiten daran vorbei zog ein Menschenstrom zu zwei großen Türen. Ariane und ihre Eltern folgten den anderen Gästen und betraten einen riesigen Raum, in dem Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern zu hören waren. Ein Büffet mit Getränken und Häppchen war an der einen Seite aufgebaut, dort, wo auch die größte Menschenansammlung zu finden war. Unter den sekttrinkenden Gästen an den Stehtischen erkannte ihr Vater einen seiner Arbeitskollegen. Er führte seine Familie hinüber zu ihm und stellte sie beide vor. Ariane lächelte nur manierlich, als der Mann ihr ein Kompliment für ihre außergewöhnliche Schönheit machte und sie danach wieder wie Luft behandelte. Offensichtlich wurde ohnehin von ihr erwartet, dass sie nur hübsch aussah und keine intelligenten Beiträge lieferte, daher schaute sie sich lieber um, als das belanglose Geplauder zu verfolgen. Höflich entschuldigte sie sich und trennte sich von der Gesprächsrunde. Im Raum verteilt standen und hingen verschiedene Ausstellungsstücke, die ihr weit ansprechender erschienen als der Smalltalk ihrer Eltern. Interessiert schritt sie durch den Saal und betrachtete die Ausstellungsstücke. Es handelte sich offenbar um Gegenstände und Bilder, die symbolisch für die Phasen und Errungenschaften des Unternehmens standen. Was für eine nette Idee. An der Wand entdeckte Ariane eine Kopie des ersten Gesellschaftsvertrags der Firma, außerdem ein Bild von den Bauarbeiten an diesem Gebäude. Nicht weit entfernt stand die Werbung für das neueste Computerprogramm des Unternehmens. Aber die Finster GmbH schien sich nicht nur für die durchaus vielseitige IT Branche zu interessieren, sondern war, wie Ariane überrascht feststellte, darüber hinaus auch sozial engagiert. Eine Fotocollage zeigte, dass die unteren Räumlichkeiten, in denen sie sich befand, für verschiedene Ausstellungen zur Verfügung standen, deren Einnahmen an ein benachbartes Kinderheim gingen. Als Geschenk hatten die Heimkinder zahlreiche Bilder gemalt, die in einem gemeinsamen Bilderrahmen neben der Collage hingen. Ariane lächelte. So etwas diente zwar sicher nur PR-Zwecken, aber süß war es trotzdem. Sie sah sich weiter um. Ein weiterer Aushang informierte darüber, dass die Finster GmbH Berufsberatung für Jugendliche und Praktikumsplätze anbot. Auch unterstützte das Unternehmen ortsansässige Schulen dabei, den Schülern einen Einblick ins Berufsleben zu bieten. Ariane war beeindruckt. All dieses Engagement trotz des doch relativ kurzen Bestehens des Betriebs. Im hinteren Teil des Raumes war ein Rednerpodest aufgestellt worden. Einige Meter davor, mitten im Raum, befand sich eine mannshohe Glasvitrine. Interessiert näherte sich Ariane ihr. Es befanden sich zwei Steintafeln darin. Ein Schild informierte darüber, dass das neueste Projekt der Finster GmbH eine Produktreihe an Software war, mit der man Ausgrabungsgegenstände und alte Dokumente einscannen, bearbeiten und archivieren konnte. In Rahmen dessen hatte die GmbH eine Ausgrabungsstelle aufgekauft, in Schweigen. Schweigen. Ariane konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Interessanter Ortsname. Dann nahm sie die Tafeln genauer in Augenschein. Sie staunte nicht schlecht, als sie die feinen geschwungenen Linien wahrnahm, die in den Stein eingelassen waren. Altdeutsche Schrift! Arianes Großmutter hatte ihr beigebracht, sie zu entziffern, so hatte sie alte Aufzeichnungen ihrer Urgroßmutter lesen gelernt. Sie hatte es geliebt, diese grazilen Buchstaben zu enträtseln. Dabei hatte sie sich jedes Mal vorgestellt, es handle sich um eine Geheimschrift, hinter der sich ein Abenteuer versteckte. Ein unwillkürliches Lächeln trat bei dem Gedanken auf ihre Lippen und sie wandte sich freudig erregt der rechten Tafel zu, die weniger Text aufwies. In einer, entschlüsselte sie. Einen Augenblick brauchte sie, um sich erst wieder einzulesen, dann konnte sie den Inhalt wiedergeben. In einer Ära, da das Gleichgewicht gestört durch die eine Lebensform, die ... wider die Natur zu verhalten befähigt, der Kampf von Gut und Böse entflammt und das Chaos ziehet herauf. Leben zu Tod, Tod zu Leben. Dies Geschick den ... Beschützern gegeben. Jenseits von Licht und Finsternis erschaffen, müssen ihren Weg sie wählen, der da führt zu Rettung oder Untergang. Seltsam. Eine geheimnisvolle Männerstimme ließ sie aufschrecken. „Kannst du es lesen?“ Die Stimme klang tiefer und reifer als Secrets, aber sie erinnerte sie auf befremdliche Weise an ihn. Sie hatte nicht bemerkt, dass ein Mann neben sie getreten war, vielleicht Ende zwanzig. In dem hellgrauen Anzug, den er trug, stach er eindeutig aus der Masse Schwarzgekleideter heraus. Vielleicht hatte ihm niemand gesagt, dass es nicht der Etikette entsprach, abends einen hellen Anzug zu tragen. Andererseits machte er nicht den Eindruck, als würde er sich von allgemeinen Gepflogenheiten von irgendetwas abhalten lassen. Sofort fiel Ariane seine gelbe Krawatte mit dem verspielten gold-silbernen Paisley-Muster auf. Sie liebte dieses Muster. Ihr Vater trug immer nur langweilige Schlipse in gedeckten Farben. Als Ariane einmal versucht hatte, ihm ein ausgefallenes Muster aufzuschwatzen, hatte er gemeint, das sehe kitschig und unseriös aus. Dieser Mann jedenfalls schien das Gegenteil zu beweisen. Noch immer wartete ihr Gegenüber auf eine Antwort. „Ja.“, stieß Ariane aus. „Es ist Sütterlinschrift.“ Sie verbesserte sich, da sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, von wann die Schrift stammte. „Oder eine andere deutsche Kurrentschrift.“ Der Mann mit den dunkelbraunen Haaren war sichtlich beeindruckt und lächelte begeistert. Dann trat etwas Verschwörerisches auf seine Züge und Ariane bemerkte, dass seine grünen Augen je nach Lichteinfall in ein Grau übergingen. „Kannst du die andere Tafel für mich entziffern?“ Er wies mit einer Kopfbewegung zur Vitrine. Hätte Ariane die Worte nicht genau verstanden, so wäre sie anhand des Tonfalls davon ausgegangen, er habe sie gerade dazu aufgefordert, für ihn in den Hochsicherheitstrakt der Europäischen Zentralbank einzubrechen. Und dabei lächelte er so vergnügt, als befinde er sich mit ihr auf einer Schatzsuche. So hatte sich bisher nur ihr Vater ihr gegenüber verhalten. Männer nahmen sie normalerweise nicht ernst oder flirteten auf widerliche Art und Weise mit ihr. Ariane lächelte und fühlte sich dazu angestachelt, der Bitte nicht sofort Folge zu leisten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wieso?“ Der Fremde antwortete ihr ohne zu zögern. „Über vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig altdeutsche Kurrentschrift lesen und schreiben.“ Ariane musste grinsen. Sie drehte sich wieder zu der Vitrine und besah sich das zweite Artefakt. Zunächst überflog sie die Inschrift, ehe sie sie stockend vorlas. „Fin- Finster ward es beim Einbruch der Nacht, der da verdrängt des Lichtes Wacht. Das Eine, gespalten nun, entzweit, brachte statt Liebe nur Schmerz und Leid. Entstandenes Leben drohet zu wanken, überschreitet die Schöpfung des Gleichgewichts Schranken. Schicksal, Verändern, Vereinen, Vertrauen, Wunsch – Geheim, Auf diese Beschützer müsst ihr bauen. Bald wird gekommen sein die Zeit. Die Auserwählten geleitet Ewigkeit.“ „Und was soll das heißen?“, fragte der Mann. Dass er sich tatsächlich nach ihrer Meinung erkundigte, freute Ariane so sehr, dass sie sich strahlend zu ihm wandte. „Naja, es … ähm, vielleicht ist es irgendein Mythos oder eine Sage.“ „Auf einer Steintafel?“ „Vielleicht ist ihnen das Papier ausgegangen.“, scherzte sie. Der Mann lachte, dann trat er etwas zur Seite und hielt ihr die Hand hin, als wären sie ebenbürtig. „Nathan.“ Ariane wurde von Stolz erfüllt. Bisher hatte kaum ein erwachsener Mann – außer ihrem Vater – sie behandelt, als wäre sie ihm intellektuell gewachsen. Nicht dass sie nicht schon Männern begegnet wäre, die so zu tun versucht hatten, als seien sie an ihren Worten interessiert, aber der Blick dieser Männer hatte immer eine ganz andere Sprache gesprochen. Dieser Fremde dagegen wahrte eine respektvolle Distanz zu ihr. Fast wie ein junger König. Jedenfalls hatte sie sich als Kind einen König als jemanden vorgestellt, der zwar erhaben über den Dingen stand, aber dennoch freimütig Kontakt zu den Menschen in seinem Reich suchte. Bei dem Gedanken, hier so jemandem zu begegnen, lächelte Ariane. Sie ergriff Nathans Hand. „Ariane.“ „Wieso Auserwählte?“, fragte er. Kurz musste Ariane daran denken, dass sie dieselbe Frage schon mit den anderen erörtert hatte. Allerdings war es etwas ganz anderes, wenn man den Begriff nicht auf sich selbst bezog. „Damit sind wahrscheinlich eine Art Erlöser oder Gottgesandte gemeint wie es sie in manchen Glaubensrichtungen gibt. Die Juden werden auch als das auserwählte Volk bezeichnet. Oder es handelt sich wie im Buddhismus um Menschen, die eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht haben.“ Nathan lächelte, offenbar imponierte ihre Denkweise ihm. Dann drehte er sich wieder zur Vitrine und fixierte die Steintafeln, als hätten sie ihn in ihren Bann gezogen. „Mein Name kommt darin vor.“, sagte er. Für einen Moment rätselte Ariane, was der Name Nathan wohl bedeutete. Doch ehe sie ihn danach fragen konnte – „Ich muss mich entschuldigen. Die Pflicht ruft.“ Er lächelte einmal mehr sein souveränes und doch offenes Lächeln. „Noch einen schönen Abend.“ „Gleichfalls.“ Ariane noch einmal zunickend, begab sich Nathan hinüber zu ein paar Leuten, die am Rednerpodest versammelt standen. Guter Laune schaute Ariane ihm nach. Anschließend blickte sie sich nach ihren Eltern um. Wie es der Zufall so wollte, kamen die beiden gerade auf sie zu gelaufen. Ihr Vater musterte sie neugierig. „Da hast du dir gleich den richtigen Gesprächspartner gesucht. Nicht, dass das meiner Karriere schaden würde. Aber es verwundert mich doch etwas.“ Bevor Ariane nachfragen konnte, welche Position Nathan in dem Unternehmen einnahm, kam ein Geräusch vom Rednerpodest und alle im Raum richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Sprecher. In seinem grau-silbernen Anzug war Nathan wirklich nicht zu übersehen. Er hatte das Rednerpodest erklommen: „Ich begrüße alle Anwesenden ganz herzlich und danke Ihnen im Namen der gesamten Finster GmbH dafür, dass sie so zahlreich erschienen sind. Ohne die engagierte und passionierte Mitarbeit aller Angestellten wäre diese Firma niemals so erfolgreich geworden.“ Er legte eine bedeutsame Pause ein. „Diese Feier ist für Sie!“ Er wies mit seinen Armen auf die Menschen vor ihm und ließ seinen anerkennenden Blick über sie schweifen. Der ganze Saal applaudierte. Ariane musste während des Klatschens lächeln und verstand gut, dass Nathan die Aufgabe zugeteilt worden war, die Ansprache zu halten. Vielleicht war er ja der Pressesprecher der Firma. Sie sah sich kurz um. Bestimmt würde auch Herr Finster noch ein paar Worte sagen. Es war wichtig, dass sie dann genau zuhörte. Sie lauschte weiter den eindringlichen Worten Nathans. „Ich bin dankbar und stolz, der Geschäftsführer dieses Unternehmens zu sein.“ Ariane stockte. Ge-schäfts-füh-rer…? Sie sah ihren Vater von der Seite an, doch der war weiterhin auf den jungen Mann auf dem Rednerpodest fixiert, der gerade von verschiedenen Etappen in der Geschichte des Unternehmens sprach. Herr Finster war doch der Geschäftsführer des Unternehmens. Jedenfalls hatte sie das so verstanden. Hieß das etwa? Nathan… Finster. Jetzt ergab auch Nathans Kommentar bezüglich der Steintafeln Sinn. Die erste Zeile des zweiten Textes lautete: Finster ward es. Das war sein Name. Währenddessen war Nathan am Ende seiner Ansprache angekommen und wünschte allen Gästen noch einen schönen Abend. Ariane wandte sich eilig an ihren Vater. „Das ist Herr Finster?“ „Ja.“, antwortete ihr Vater leicht belustigt. Ariane gaffte ihn an. „Aber… Ist er nicht zu jung?“ Schelmisch grinste ihr Vater sie an. „Zu jung um Herr Finster zu sein?“ Ariane war nicht zum Scherzen aufgelegt, schließlich hatte sie gerade eine Sympathie für jemanden entwickelt, der vielleicht in die ganze Sache mit ihrer Entführung verwickelt war. Ihr Vater sah ihr die Verstimmung offenbar an und antwortete ihr endlich. „Naja, ich war anfangs auch ziemlich überrascht. Aber er ist ein kompetenter Mann und weiß, wie er mit den Mitarbeitern umzugehen hat. Soweit ich gehört habe, steckt er sein Herzblut in das Unternehmen. Aber ihm gehört schließlich auch der größte Anteil an der GmbH.“ Ariane starrte nochmals auf die Bühne, doch Nathan Finster war nicht mehr zu sehen. Um sich nicht einreden zu müssen, dass sie auf das Schauspiel ihres potentiellen Gegners hereingefallen war, suchte sie hastig nach Alternativen. „Kommt er aus einer bekannten Familie?“ Vielleicht steckte ja der ganze Finster-Clan dahinter. Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Das alles hat er sich selbst erarbeitet. Ich habe gehört, er ist ein Waisenkind.“ Jetzt war sie auch noch ungewollt beeindruckt. Die Spenden an das Kinderheim hatten also einen persönlichen Hintergrund. Gerade wollte sie ihrem Vater weitere Fragen stellen, als dieser erneut einen Arbeitskollegen entdeckte und samt ihrer Mutter abdüste. Das hieß wohl, dass sie mit ihren Fragen bis später warten musste. Sie blieb, wo sie war, und sah erneut zu dem leeren Rednerpult. Vielleicht konnte sie doch noch Nathan – nein, Finster – ausmachen. Seine Freundlichkeit war wohl nur Taktik gewesen. Wenn er einer der Drahtzieher hinter ihrer Entführung war, dann hatte er sie natürlich sofort erkannt und daher versucht, sich ihr Vertrauen zu erschleichen. Ariane seufzte lautlos. Toll, der einzige, von dem sie sich zur Abwechslung mal nicht auf ihre Weiblichkeit reduziert gefühlt hatte, war ihr mutmaßlicher Widersacher! Frustriert ließ sie ihren Blick über die Leute in ihrer Umgebung schweifen. Und erstarrte. Wie ein Tier auf der Flucht suchte sie schnellstens Deckung hinter der Glasvitrine mit den Steintafeln. O hoffentlich hatte er sie nicht gesehen! Zwei Sekunden verstrichen. Drei. Nichts geschah. Vorsichtig lugte Ariane daraufhin in halb geduckter Haltung noch einmal um die Ecke – wie eine Kriminelle, die von der Polizei verfolgt wurde. Im nächsten Moment wäre sie mit ihrer Nase fast auf einen Menschenkörper gestoßen. Ariane schreckte zurück. Er hatte sie entdeckt! Warum hatte sie auch ein rotes Kleid anziehen müssen? „Spielst du Verstecken?“ Der großspurige Klang seiner Stimme war unverkennbar. In einem schwarzen Anzug stand Erik vor ihr. Wo hatte dieser Typ bloß eine lila Krawatte her und wieso sah das an ihm auch noch gut aus? „Ich dachte, es wäre dir lieber, mich nicht zu sehen.“, entgegnete Ariane. Erik lächelte selbstgefällig. „Wie zuvorkommend.“ Ariane bedauerte es zutiefst, Herrn Finsters Stimme mit seiner verglichen zu haben. Das hatte dieser Mann, ob Feind oder nicht, nun wirklich nicht verdient. Aber sie hatte ja auch an Secret gedacht, nicht an Erik. Secret hatte sich zwar ziemlich abweisend und unnahbar gegeben, aber gehässig war er nicht gewesen. „Was führt dich hierher?“, fragte Erik. Für einen Augenblick glaubte Ariane sogar, dass die Häme aus seiner Stimme gewichen war. Wahrscheinlich war es einfach nur zu anstrengend, diesen herablassenden Tonfall ständig beizubehalten. „Das Gleiche könnte ich dich fragen.“, gab sie zurück. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sie hatte den Eindruck, leichte Gereiztheit aus seiner Stimme herauszuhören. „Ich versuche gerade freundlich zu sein.“ Ariane reagierte in gespielter Überraschung. „Ach wirklich? Das solltest du deinem Gesicht sagen. Ich fürchte, es weiß nichts davon.“ Hatte sich sein Mundwinkel gerade kurz gehoben? Erik schnaubte geradezu belustigt. „Und was genau soll ich ihm sagen?“ „Ich bin sicher, da kommst du auch ganz alleine drauf.“, antwortete Ariane nun ihrerseits gönnerhaft. „Natürlich.“, stimmte Erik zu. „Ich dachte bloß, da du mich so gut kennst, könntest du mir dabei behilflich sein.“ Er hob vielsagend eine Augenbraue. Ariane versuchte, sich von seiner Andeutung auf ihr Verhalten am Morgen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „So wie ich dich kenne, würdest du dir von mir ganz sicher nichts sagen lassen.“ „Da muss ich dir wohl Recht geben.“, sagte Erik. „Das fällt dir sicher schwer.“, erwiderte Ariane. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Du weißt gar nicht wie.“ „In dem Fall gibt es bestimmt genug andere Personen, die du um Rat fragen kannst und gegen die du keine so große Abneigung hast.“, entgegnete Ariane. Eriks Mundwinkel senkten sich. Für Augenblicke starrte er sie an, stumm und durchdringend. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Geräuschvoll stieß er die Luft aus, als würde er die Situation als furchtbar störend empfinden. Ariane war davon pikiert. Er hätte sie schließlich auch einfach in Ruhe lassen können. Wieder sah er sie an, doch dieses Mal, als studiere er ihre Gesichtszüge, um darin die Antwort für etwas zu finden, das ihm nicht einleuchtete. Der Blick war ihr unangenehm und sie wandte sich ab. „Also was willst du?“ „Herausfinden, mit wem ich es zu tun habe.“, sagte Erik ohne zu zögern. Ariane horchte auf. Sie war überzeugt gewesen, dass er an dem vorgefassten Bild, das er von ihr hatte, nichts mehr ändern würde, Sein ganzes Verhalten in der Schule hatte darauf hingedeutet. „Und ich dachte, das hättest du längst entschieden.“, antwortete sie spitz. „Ich bin bereit dazuzulernen.“, sagte er mit düsterem Blick. Sie sah ihn stumm an. Wenn er wirklich dafür offen war, sein vorschnelles Urteil zu revidieren, war vielleicht ihre eigene Einschätzung übereilt gewesen. Allerdings wollte sie keinesfalls riskieren, dass er noch mal auf die Idee kam, sie wolle ihn mit ihrem weiblichen Charme bezirzen und seine Gunst gewinnen. Sie wandte sich der Vitrine zu. „Was hältst du von diesen Steintafeln?“, fragte sie, um ein unverfängliches Gesprächsthema zu haben. Erst jetzt schien Erik die beiden Steinplatten überhaupt wahrzunehmen. Er begutachtete sie ausgiebig und las die Informationstafel. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er beäugte die Tafeln zweiflerisch, als gäbe es etwas Dubioses an ihnen. „Was ist?“, fragte sie. „Nichts.“, sagte er. „Nichts, was du mir sagen würdest.“, korrigierte sie. Wieder bedachte er sie mit diesem durchdringenden Blick, als wolle er sie entlarven. „Liege ich falsch?“, fragte sie herausfordernd. Erik schien es nicht für nötig zu erachten, ihr zu antworten. Daher setzte sie zu einem neuen Versuch an, ihn zu einer Reaktion zu bewegen. „Dein Vater ist also der Anwalt der Finster GmbH.“ Leise Skepsis trat in Eriks Züge. Dadurch fühlte sie sich zu weiteren Spekulationen ermuntert. „Es gab Probleme bei dem Kauf der Ausgrabungsstätte. Tatsächlich ist er noch gar nicht zustande gekommen und deshalb darf Finster die Steintafeln überhaupt nicht ausstellen.“ Sie lächelte amüsiert über die Geschichte, die sie gerade zusammengesponnen hatte. „Denkst du dir immer solche abstrusen Geschichten aus?“, höhnte Erik. „Zumindest ist mir bewusst, dass es nur Geschichten sind, im Gegensatz zu Personen, die ihre Schlussfolgerung für die Wahrheit halten.“, gab sie mit eindeutigem Blick zurück. Seine Augen verengten sich. Ariane sprach weiter. „Du willst auch nicht, dass man dich wegen deinem Vater in eine Schublade steckt, sonst hättest du in der Schule nicht so auf Herrn Mayers Frage reagiert.“ Erik schwieg. Sie blickte ihm entschlossen in die Augen. „Wir sind uns ähnlicher als du denkst.“ Ein langsamer Augenaufschlag Eriks folgte. „Das heißt wohl, dass ich dir vertrauen soll.” „Das erwarte ich nicht.“, erwiderte Ariane mit fester Stimme. Erik verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann erzähl mir deine Version.“ Ariane stockte. Sie begriff, dass sie sich gerade selbst in eine ziemlich missliche Lage gebracht hatte. Schließlich konnte sie ihm nicht die Wahrheit darüber erzählen, warum sie ihn umarmt hatte. Sie wich seinem Blick aus. „Das geht nicht.“ „Warum nicht?“, forderte er zu erfahren. Resigniert senkte sie das Haupt. Daraufhin stieß er erneut geräuschvoll die Luft aus. Ariane wagte nicht aufzublicken. Sie hatte nichts, womit sie Erik davon überzeugen konnte, nicht die zu sein, für die er sie hielt. „Du hattest Recht. Mein Vater ist der Anwalt der Finster GmbH.“ Verdutzt blickte sie auf. Wieso redete er noch mit ihr? „Mit allem anderen lagst du daneben.“ Ariane bemühte sich, sich wieder zu sammeln und ihm normal zu antworten. „Und warum hast du dann ein Problem mit diesen Tafeln?“ Erik starrte sie an. „Du hast sie so angeschaut.“, erklärte sie. „Gute Beobachtungsgabe.“ Seine Worte überrumpelten sie. Erik setzte fort. „Ich glaube nicht, dass diese Tafeln echt sind. Deshalb verstehe ich nicht, dass Finster sie hier ausstellt.“ Sie konnte zwar immer noch nicht nachvollziehen, was ihn dazu bewog, nun mit ihr zu reden. Schließlich hatte sie seine Geschichte über sie nicht widerlegen können. Doch Hauptsache, sie führten ein normales Gespräch. „Wieso sollten sie nicht echt sein?“ „Sieh sie dir an.“ Er deutete auf die Inschrift. „Diese feinen Buchstaben im Stein. Für so etwas benötigt man moderne Technik, das bekommt man nicht von Hand hin. Außerdem, was sind das für Zeichen? Das ist kein Latein. Es sind auch keine Runen“ „So hat man früher in Deutschland geschrieben.“, klärte Ariane ihn auf. „Das ist eine Kurrentschrift.“ „Und genau das ist doch wohl seltsam. So was buddelt man doch nicht irgendwo aus.“, meinte Erik. „Aber wenn sie von der Ausgrabungsstelle kommen.“, hielt Ariane entgegen. Erik sah sie ausdruckslos an, als wolle er ihr nicht mehr erzählen. Arianes Augenbrauen zogen sich zusammen, während sie versuchte, daraus schlau zu werden. Dann erhellte sich ihr Gesicht wieder. „Kommen sie etwa nicht von dort?“ Eine abgründige Stimme unterbrach Ariane und Eriks Gespräch. „Noch immer von den Tafeln gefesselt?“ Die beiden drehten sich zu Nathan Finster um. Als sein Blick auf Erik fiel, erschien ein erkennendes Lächeln auf seinen Lippen. „Vertrittst du deinen vielbeschäftigten Vater?“ Er hielt Erik die Hand hin, doch Erik blieb unbewegt stehen und schwieg. Nicht gerade das Verhalten, das man dem Klienten seines Vaters gegenüber an den Tag legen sollte, ging es Ariane durch den Kopf. Finster störte sich an Eriks Unhöflichkeit jedoch nicht. „Ich sehe, dass du dich in intellektuell ebenbürtige Gesellschaft begeben hast.“ Seine Augen wanderten zu Ariane. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Mund zu einem Lächeln verführt wurde. Erst dann bemerkte sie Eriks Gesichtsausdruck. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Der Junge, der jetzt neben ihr stand und dessen distanzierter Blick auf Herrn Finster gerichtet war, war von der Ausstrahlung, vom Gesichtsausdruck, von Sprechrhythmus und Wortklang, in allem: Secret. „Mit dummen Leuten gebe ich mich nicht ab.“ Finster lächelte amüsiert. Angesichts Eriks plötzlicher Verwandlung zunächst noch perplex, musste Ariane erst wieder zu sich finden. Sie musste sich auf etwas anderes konzentrieren. „Wie kann es sein, dass bei Ausgrabungen zwei Tafeln mit deutscher Kurrentschrift gefunden werden? Bei solchen Freilegungen werden doch viel ältere Funde gemacht.“ Ihn zu fragen, ob er rein zufällig mit ihrer Entführung zu tun hatte, wäre wohl etwas zu viel des Guten gewesen. „Allerdings.“, sagte Finster mit selbstsicherem Blick und für einen Moment kam es Ariane so vor, als habe er damit nicht auf ihre Frage geantwortet, sondern ihren unausgesprochenen Gedanken bestätigt. Dann fuhr er fort. „Manch einer würde behaupten, es handle sich um Fälschungen“ Aus seinen Augenwinkeln blickte er Erik an, als wisse er über dessen Skepsis Bescheid. „Aber etwas sagt mir, dass die Antwort nicht so einfach ist. Was meinst du?“ Ariane blickte nachdenklich zurück auf die Steinplatten. „Was ergäbe es für einen Sinn, irgendeinen Text in deutscher Kurrentschrift in zwei Steinplatten zu brennen?“, überlegte sie laut. „Ein solcher Fund ist rein geldmäßig nicht viel wert.“ „Nur wenige Leute erkennen auch den immateriellen Wert der Dinge. Doch deshalb sind sie nicht weniger wertvoll.“ Ariane lächelte und ermahnte sich dann, dass sie ihm nicht trauen durfte. Dann bemerkte sie plötzlich, was sie hier tat. Woher nahm sie sich das Recht, Nathan als Bösewicht abzustempeln? All die Kränkungen, die sie selbst aufgrund vorschneller Verurteilung erlitten hatte und nun tat sie genau dasselbe? „Es ist schön, einem jungen Menschen zu begegnen, der sich für solche Artefakte interessiert.“, meinte Nathan Finster. Er griff in sein Jackett, um eine Visitenkarte und einen Stift herauszuholen. Damit schrieb er etwas auf die Rückseite der Karte und streckte sie hernach Ariane entgegen. „Das ist meine private Emailadresse. Vielleicht fällt dir ja ein, was der Text auf den Tafeln bedeuten könnte und lässt mich daran teilhaben.“ Ariane bedankte sich und nahm die Karte entgegen. „Ich sollte mich jetzt wieder den anderen Gästen widmen, ehe sie sich beleidigt fühlen.“ Für einen Augenblick trat etwas Schelmisches in seinen Blick. „Einen schönen Abend noch.“ Er löste sich von ihnen und wurde sogleich von einigen Gästen angestürmt. „Komischer Kauz.“, bemerkte Erik abfällig. „Viel eher ein sagenumwobener Phönix.“, berichtigte Ariane und drehte sich einmal mehr zu den Steintafeln um. Flüchtig sah sie dann zu Erik neben ihr. „Findest du nicht auch, dass diese Tafeln irgendetwas Sonderbares ausstrahlen?“ „Dafür bin ich wohl nicht feinfühlig genug.“, dementierte er. Nicht feinfühlig genug… Und das sollte der Junge sein, der drei Nächte zuvor noch hellseherische Fähigkeiten besessen hatte? Andererseits war es ihr ganz recht, wenn Erik sich so wenig wie möglich wie Secret verhielt. Seine plötzliche Verwandlung eben war schon schlimm genug gewesen. Es war leichter, Secret und Erik als zwei getrennte Personen anzusehen. Was Ariane allerdings nicht wusste, war, dass Erik sehr wohl dieses Sonderbare empfand, nur dass es nicht von den Tafeln ausging, sondern von ihr. Nach einer Erklärung für ihr groteskes Verhalten am Morgen suchte er zwar vergeblich, aber etwas stimmte auch nicht mit dem Bild der ausgefuchsten Femme fatale oder der durchgeknallten Spinnerin. Besonders die nicht minder seltsame Reaktion ihrer Freunde auf ihn hatte Erik nachdenklich gestimmt. Erst im Nachhinein waren ihm die eindeutigen Parallelen zu Arianes Handlungen aufgefallen. Zum Beispiel Vitalis Bemerkung über eine Wunde an seinem linken Oberarm. Sie stand zweifellos im Zusammenhang mit Arianes Aktion, seinen linken Ärmel nach oben zu ziehen. Was das alles zu bedeuten hatte? Erik hatte keine Ahnung. Aber im Geheimen war der Wunsch in ihm erwacht, dieses Rätsel zu lösen. Hosted by Animexx e.V. 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