Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 28: Gejagt ------------------ Gejagt „Nur mit dem Herzen kann man die Seele eines Menschen erblicken.“ (Annette Andersen, Dichterin) Es herrschte Stille. Absolute Stille. Doch dieses Schweigen – es beruhigte sie nicht, vielmehr schien es ihnen wie die Ruhe vor dem Sturm, als halte das Leben den Atem an. Mit einem Mal wurde die Schwärze von einem durchdringender Ton durchschnitten. Sie konnten nicht ausmachen, woher er kam. Überall um sie herum tönte er, tobte in ihrem Kopf. Ehe ihnen klar wurde, dass er genau dort seinen Ursprung hatte – in ihrem Kopf. Sie drängten sich dicht aneinander, wollten vor dem Eingang in dieses Verließ zurückweichen, weiter in den Raum, fragten sich, ob nicht gerade dort die Gefahr lauerte, blieben stehen. Sie hörten die Atemstöße von einander, unregelmäßig, von Angst erfüllt. Sie spürten die jäh wieder aufgetretene Kälte des Gemäuers wie kleine Stiche auf ihrer Lunge. Hier drin waren sie gefangen, konnten nicht fliehen. Aber was erwartete sie draußen? Das Signal in ihrem Kopf ließ nicht von ihnen ab. Wie eine Alarmsirene. „Raus!“, rief Vitali. Sie stürmten aus dem Raum, dabei einander loslassend, wollten zurück zu der Geheimtür rennen – Ein kurzer Schreckenslaut drang aus Serenas Kehle, als sie die unheimliche Erscheinung sahen. Sie machten eine Kehrtwendung, um in die andere Richtung zu fliehen, stoppten. Da war es wieder: Das Gefühl… Wie an jenem Tag. Zeitgleich verstummte der Signalton. Ängstlich starrten die fünf zurück auf das Leuchten, diese Lichtkugel, die direkt auf sie zugeflogen kam und ihnen merkwürdig bekannt vorkam. Das Licht, das immer wieder für Sekundenbruchteile zu verschwinden drohte, sandte leise Klänge aus, wie eine Stimme, die sie nicht recht vernehmen konnten. Als wäre die Verbindung gestört. „Weg!“, zischte Vitali nervös. „Aber sie sagt doch, wir sollen warten.“, wandte Vivien ein. „Was?“, fragte Ariane verwirrt. Vivien deutete auf das Licht vor ihnen. Vitali fuhr sie an. „Bist du verrückt geworden!?!“ Vivien sah ihn kurz verwundert an, dann griff sie nach Vitali und Justin.. „Nehmt euch an den Händen!“ Die anderen verstanden nicht, aber sie hatten keine Zeit für lange Diskussionen. Sie taten wie Vivien ihnen geheißen hatte. Und tatsächlich! Als sie einander wieder an den Händen hielten, war es, als ob die geheimnisvolle Umgebung, erneut ihre seltsamen Fähigkeiten heraufbeschwor und ihren Blick klärte. Aus dem nebelhaften Leuchten vor ihnen hob sich plötzlich etwas ab: ein mit schimmernden Schmetterlingsflügeln ausgestattetes, auf die Größe einer Hand geschrumpftes blondgelocktes Mädchen. Sogar die Stimme, von der Vivien gesprochen hatte, konnten sie auf einmal entschlüsseln. „Nicht hier raus! Noch nicht! Sie sind da draußen! Ich lenke sie ab. Wartet auf mein Zeichen!“ Im gleichen Moment war die Gestalt auch schon verschwunden und ließ die fünf in völliger Verwirrung zurück. Perplex starrten sie auf die Stelle, an der nur ein Augenzwinkern zuvor das geflügelte Mädchen in der Luft geschwebt war. Dann traf die Erkenntnis sie so brutal, dass es ihnen die Luft aus den Lungen presste. Schatthen! Panik ergriff sie. Sie wollten losrennen, weit fort. Nur die Mahnung des fremden Schmetterlingsmädchens hielt sie noch zurück. Sie sollten auf ein Zeichen warten. Aber was für ein Zeichen? Woher war es überhaupt gekommen? Vielleicht wollte das kleine Ding sie auch nur an diesem Ort festhalten, sie an der Flucht hindern, damit die Schatthen ein leichteres Spiel hatten. Zu viele Fragen schossen ihnen durch die Köpfe. Die wabernde Angst in ihrem Inneren verschlang jeden klaren Gedanken erbarmungslos und stürzte die fünf in vollkommene Ratlosigkeit. Was tun? Die Schatthen! Die Schatthen!! Immer wieder ging es in ihrem Kopf hin und her, in riesigen Lettern raste es durch ihren Geist. Schatthen! Sie begannen zu zittern. Übelkeit und Schwindel wurden in ihnen wach. Plötzlich stand das Schmetterlingsmädchen wieder vor ihnen. „Der Eingang ist frei. Schnell!“ Ohne länger zu hinterfragen, ob sie der fremden Gestalt trauen konnten, rannten sie los. Sie hetzten durch den geheimen Korridor, stürmten den Weg zurück zum Eingang der Stätte. Das wilde Pochen ihrer Herzen dröhnte in ihren Schädeln. Da war kein Platz mehr für Gedanken. Einfach rennen! So schnell man konnte. Sie erkannten den Ausgang vor sich, rannten weiter. Sie jagten an der Absperrung vorbei, stoppten einen Moment, warfen einen panischen Blick über die Umgebung, von Angst erfasst, sogleich einem Schatthen gegenüber zu stehen. Ihr Hirn registrierte keine Bewegung. Sie rannten weiter. Regen prasselte auf sie nieder. Große, harte Tropfen, die unbarmherzig auf sie eindrangen, als attackiere sie der Himmel selbst. Sie stürmten den steilen Weg hinauf, den sie gekommen waren. Ihre Schuhe sackten in dem matschigen Boden ein. Er schien sie festhalten zu wollen, machte jeden Schritt von ihnen zu einem beschwerlichen Unterfangen, sodass ihr Angstzustand ins Unermessliche wuchs. Endlich oben auf der Straße angekommen, blieben ihre Blicke an einer Gruppe Bäume auf der anderen Seite haften. Sie befanden sich hier abseits des Wohngebiets. Hier war niemand. Nirgendwo ein Haus, in dem man sich in Sicherheit bringen konnte. Sie mussten irgendwo Schutz suchen und zwar schnell, sonst waren sie geliefert. Aber hier draußen gab es keine Gebäude. Und auf offener Flur konnten sie nicht bleiben, die Schatthen hätten sie sofort entdeckt. Keine Zeit, lange nachzudenken! Weg! Sie rannten den Bäumen entgegen. Augenblicklich fuhr ihnen das Brüllen eines Schatthens durch Mark und Bein und setzte all die Befürchtungen, all die grausigen Vorstellungen, die sie seit Tagen verfolgten, frei. Wie ausgehungerte wilde Tiere, die soeben aus ihren Käfigen befreit wurden, machten ihre Ängste sich über ihre Besitzer her. Geradezu blind vor Angst zwangen die fünf sich, nicht stehenzubleiben, rannten schneller. Vivien zog Serena weiter. Die Baumgruppe wurde zu einem kleinen Wald. Die fünf stolperten über die den Weg säumenden Baumwurzeln, rannten weiter. Äste streiften sie, verfingen sich in Arianes Haaren, sie befreite sich. Weiter. Sie erreichten das Ende des Waldes, standen auf einem kleinen Hügel, blickten hinunter ins Tal, wo Mais- und Getreidefelder standen. Auch eine alte Scheune war sichtbar, doch weiterhin keine Menschenseele zu sehen. Die fünf flogen regelrecht den Hügel hinab. Serena stolperte, fiel fast hin, wurde von Vivien und Justin gestützt. Sie rannten weiter. Auf das Maisfeld zu. Suchten in ihm Deckung. Die großen Pflanzen umgaben sie, schlossen sie ein, schützten sie vor den Blicken anderer. Hand in Hand bahnten sie sich einen Weg durch das Grün, das ihnen das Durchkommen nicht leicht machte und ihre Flucht deutlich verlangsamte. Weiter! Von Angst durchflutet sogen sie panisch Luft in ihre Lungen, schlugen die Pflanzenblätter beiseite, ließen das Maisfeld hinter sich. Sie stürmten auf die Scheune zu und rissen das Tor auf, eilten hinein, schlugen das Tor hinter sich wieder zu, schnappten gierig nach Luft. „Ihr könnt nicht fliehen.“, erklang eine Stimme neben ihnen, sodass sie nahezu aufgeschrien hätten. Das kleine Etwas! „Sie sind gleich hier. Ihr müsst euch verwandeln.“ Furcht und Betäubung blickten dem Schmetterlingsmädchen aus den fünf Augenpaaren entgegen. Worte hatten ihren Sinn für die fünf verloren, waren nur noch eine absurde Anordnung von Lauten. als würde man versuchen, eine rückwärts abgespielte Fremdsprache gemischt mit Urwaldgeräuschen verstehen zu wollen. „Eure Kräfte!“, wiederholte das kleine Etwas. Keine Reaktion. Sie startete einen weiteren, verzweifelten Versuch. „Die Wappen.“ Zwecklos. Die kleine Seele starrte die fünf entsetzt an. Die Zeit rannte ihnen davon. Die Schatthen waren in unmittelbarer Nähe, das spürte sie deutlich. Wieso hörten die Auserwählten nicht auf sie? Was sollte sie jetzt bloß tun? Sie litt nicht lange unter der Qual, eine geeignete Lösung zu finden… Ohne Vorwarnung schossen die Arme der Schatthen wie tödliche Speere durch das Holz des Scheunentors und packten Justin und Vitali mit erbarmungslosem Griff. Die Mädchen sprangen zu ihnen und zerrten mit aller Kraft an dem halben Dutzend Arme, die die beiden Gefangenen fest umklammert hielten. Vitali rang hilflos nach Luft, die Pranke eines Schatthens hatte sich um seine Kehle gelegt. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, alles schien sich langsam von ihm zu entfernen. Serenas Versuche, Vitalis Hals zu befreien, scheiterten kläglich. Der Griff schien sich dadurch eher noch zu festigen! Hilflos musste sie mitansehen, wie Vitalis Bewusstsein zusehends schwand. Schluchzend wandte sie all ihre Kraft auf, aber umsonst. Sie sah zu den anderen. Ariane war damit beschäftigt, Justin zu befreien, Vivien schien verschwunden zu sein. Keiner konnte ihr helfen. Von Verzweiflung getrieben blieb ihr nur noch eines: So fest sie konnte biss Serena in die Pranke des Schatthens. Ein wütendes Ächzen von sich gebend riss der Schatthen seinen Arm zurück und gab Vitali damit frei. Vitali keuchte, hustete und schnappte nach Luft. Im gleichen Moment kam Vivien mit einer Heugabel bewaffnet zurück, die sie in der Ecke gefunden hatte. Mit ein paar beherzten Stichen in die Extremitäten der Schatthen befreite sie die Arme und Beine der Jungen. Serena verhinderte, dass Vitali zusammenklappte. Sie mussten weiter! An der linken Seite befand sich eine Leiter, die hinauf auf den Heuboden führte. Sie kletterten hinauf, hörten hinter sich das Scheunentor zerbersten, bekamen nicht mehr mit, wie die kleine Gestalt flugs ein grelles Licht aussendete, das die blutdürstige Jagd der Schatthen für kurze Zeit stoppte. Oben angekommen zogen sie mit zittrigen Händen die Leiter hoch, um den Verfolgern den Weg zu erschweren. Sie kämpften sich durch die Massen an Heu in den hinteren Teil. Panik hatte jeden Winkel ihres Körpers eingenommen. Wie in die Enge getriebene Tiere flohen sie kopflos zum weitest entfernten Punkt. Längst nahmen sie das kleine Licht nicht mehr wahr, das ihnen folgte wie ein treues Hündchen. „Eure Kräfte!“, schrie das Schmetterlingsmädchen auf sie ein. „Ihr müsst eure Kräfte einsetzen!“ Das Brüllen der Schatthen fuhr ihnen in den Rücken, trieb sie voran. Unter ihnen erzitterte die Erde, als mehrere Schatthen versuchten, die Luke durch Sprünge zu erreichen. Die Heubüschel wurden weniger und schon im nächsten Augenblick sahen sie sich dem Ende der Scheune gegenüber. Knapp zwei Meter über ihnen befand sich ein großes Fenster. Von außen hatten sie kurz gesehen, dass an die Scheune eine Unterstellung angebaut war, deren Dach auf mittlerer Höhe der Scheune ansetzte. Über dieses Dach konnten sie womöglich fliehen. Reaktionsschnell packte Justin Serena und hievte sie nach oben. Sie war die Unsportlichste von ihnen, folglich sollte sie als erstes gehen. Ohne Worte miteinander austauschen zu müssen, halfen die fünf einander hoch. Die Mädchen zogen die Jungs nach oben. Mit voller Wucht traten sie auf das Fenster ein, das Augenblicke später zerbrach. Dann hörten sie das Kratzen von Pranken auf Holz und starrten nochmals zu der Luke hinüber, durch die sie gekommen waren. Das grausige Brüllen eines Schatthens brachte ihre Körper zum Erbeben, raste durch jede einzelne ihrer Fasern. Die Bestie war hoch genug gesprungen, um sich nun an dem Boden festzukrallen. Keine Zeit, den Schatthen anzugaffen! Sie waren gerade im Begriff, durch das Fenster zu fliehen, als sie in der Bewegung stoppten und aufschrien. Auf dem leicht abfallenden Dach vor ihnen hockte ein Schatthen in der Stellung einer Kröte, um nicht hinab zu rutschen. Umgehend schlug das Monstrum seine tödliche Pranke in das Dach, sodass die Schindeln zerbarsten. So konnte es sich mit voller Kraft abstoßen um mit einem Satz bei den fünfen zu sein. Und genau dazu setzte es jetzt an. Entsetzt vor dem Fenster zurückweichend, wären sie fast hinab auf den Heuboden gestürzt. Sie waren eingekeilt! Das Scheusal von außerhalb des Fensters kam mit einem lauten den Boden und den Geist der fünf erzittern lassenden Schlag auf und baute sich zu seiner überwältigenden Größe auf. Das Bild der grässlichen Drohgebärde, die als nächstes folgte, brannte sich in ihr Gedächtnis ein. Und das schrille Piepsen von zuvor, das schlagartig wieder aufgetaucht war, zerriss ihnen nahezu das Hirn. Nur den Verstand, den konnte es ihnen nicht mehr rauben, das hatte schon die Angst getan. Im letzten Moment stürzte das kleine geflügelte Wesen vor und breitete schützend seine Arme vor den fünfen aus, als könne es damit den Schatthen abwehren. Der Anblick war grotesk. Die Bestie nahm das Schmetterlingsmädchen nicht einmal wahr. Hysterie packte die fünf, gleichzeitig sandte der Körper der kleinen Gestalt etwas aus. Ein helles Licht, das dieses Mal nicht nur den Schatthen blendete, sondern auch die fünf traf. Als habe jemand eine chemische Reaktion in Gang gesetzt, gab es eine enorme Explosion in ihrem Körper, oder zumindest glaubten sie das, denn das unglaubliche Gefühl, das durch ihre Adern schoss, riss sie mit solcher Kraft aus dem Hier und Jetzt, dass sie nicht länger wussten, was oben und unten, rechts und links war. Und das war in diesem Moment auch vollkommen egal. Von einem Augenblick auf den anderen durchflutete ein gleißendes Licht die Scheune, drang durch die Ritze nach außen, raubte den fünfen kurzzeitig die Sicht. Doch es schmerzte nicht in den Augen, kein bisschen. Vielmehr war es, als wären ihre Augen selbst ein Teil des Lichts. Schwer zu erklären, kaum zu glauben, doch nicht minder wirklich. Das unsagbare Empfinden war zurückgekehrt. Als die Zeit wieder einsetzte, erblickten die fünf um sich herum zauberhaften Glanz und Glitzer, der nach und nach vor ihren Augen verschwand. Ob er wirklich verschwand oder ob ihre Augen ihn nicht mehr zu fassen vermochten, konnten sie nicht sagen. In ihren Köpfen erklang wieder die Singstimme aus der Ausgrabungsstätte, ganz sanft und mit großer Erleichterung und Zuversicht erfüllt. Nicht länger hatten die Melodie und der Rhythmus etwas mit einem Requiem zu tun, nun war es ein Freudengesang. Schicksal Verändern, Vereinen, Vertrauen, Wunsch – Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen Als die Stimme verklungen war, erkannten sie die mysteriösen runden Gebilde. Diese weiß- und gelbgoldenen Schmuckstücke, die sie damals in den Unendlichen Ebenen schon einmal gesehen hatten und bei deren Berührung die seltsame Verwandlung sie erfasst hatte. Wie erstarrt standen die fünf da. Wagten nicht, sich zu bewegen, ihren Blick abzuwenden von den verzierten Kugeln. Hörten ihr Blut rauschen, ihr Herz wild schlagen, ihren Atem. Instinktiv tasteten sie wie Blinde nach den Händen der anderen, ohne ihren Blick auch nur das geringste bisschen abzuwenden. Endlich fühlten sie die Nähe zu ihren Freunden und mit einem Mal war es, als hülle eine sanfte Ruhe sie ein, die ihre Muskeln entkrampfte und die Panik aus ihrem Körper vertrieb. Sie blickten sich um. Kein Schatthen. Kein einziger. Als wäre nie einer da gewesen. Als wäre alles nur ein Streich, den ihre Gedanken ihnen gespielt hatten. Wie Figuren in einem Rollenspiel fühlten sie sich, abhängig von den Entscheidungen des Spielers, nicht von ihren eigenen, und immer wieder dazu verdammt, das gleiche Spiel zu spielen, gegen die Schatthen, wieder und wieder, und immer wieder, bis in alle Ewigkeit. Dann fiel ihnen das kleine Mädchen mit den Schmetterlingsflügeln ein. War es ebenso verschwunden? Vielleicht waren sie ja doch verrückt. Vielleicht waren sie nur in einem Traum, einem nicht enden wollenden Traum. Doch das geflügelte Mädchen war noch da, lag zu ihren Füßen. Leblos. Die fünf erwachten aus ihrer Trance und knieten sich zu dem fremden Helferlein. Behutsam hob Justin den winzigen menschlich wirkenden Körper auf und bettete ihn vorsichtig auf seine Rechte. Wie lange würde es dauern bis weitere Schatthen hier ankamen? Vitali und Ariane sprangen zurück auf den Heuboden. Beide halfen Serena herunter. Damit Justin springen konnte, nahm Vivien ihm das Schmetterlingsmädchen ab und reichte es ihm, als er unten angekommen war. Dann kam auch sie mithilfe von Ariane und Vitali wieder auf den Heuboden. Für einen Moment blieben sie stehen. Wo wollten sie überhaupt hin? Was, wenn sie den Schatthen genau in die Arme liefen? Hier drin bleiben oder rausgehen? Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Die Kugeln über ihnen schwebten plötzlich über ihre Köpfe und leuchteten erneut auf. Lichtstrahlen hüllten die fünf wie Wände ein. Wegrennen konnten sie nicht mehr. Entsetzt starrten sie auf das leuchtende Gefängnis, das sie eingeschlossen hatte. Auf erschreckende Art und Weise erinnerte es sie an die schwarze Kugel, in der damals ihre Reise in das Schatthenreich begonnen hatte. Dieses Mal kamen die Wände allerdings nicht auf sie zu. Sie blieben, wo sie waren. Es tat sich nichts weiter. „Vielleicht ist es nur Licht!“, rief Vivien, wie um ihren eigenen Kampfgeist wiederzuerwecken. Angesichts der Tatsache, dass dies in der Ausgrabungsstätte der Fall gewesen war, erschien der Gedanke gar nicht so abwegig. Vivien machte ein paar Schritte auf die Lichtwände zu und streckte ihren Arm aus. Doch obwohl die Abgrenzung wie pures Licht aussah, war sie so hart und undurchdringlich wie Beton und ließ Vivien nicht passieren. Dafür bewirkte Viviens Körperkontakt etwas anderes. Es öffnete sich zwar keine Tür, aber die Lichtwände wurden so durchsichtig wie Glas und gewährten den Blick auf ihre Umgebung. Von den Schatthen war keine Spur. Nur das Durcheinander – das kreuz und quer den Boden säumende Heu – zeugte noch von der Hetzjagd. Das Blickfeld verschwand, als Vivien ihre Hand wieder wegzog. Die Wände strahlten wieder in ihrem weißen Licht, in dem zeitweise kleine Regenbögen zu glitzern schienen. Es blieb dabei, sie waren gefangen. Schon wieder. „Es sieht nicht so aus, als wäre das das Werk der Schatthen.“, gab Ariane zu bedenken. „Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber eingesperrt sein, ist für mich kein positives Zeichen!“, schimpfte Serena. Mit aller Kraft schlug Vitali auf eine der Wände ein. Diese fing den Schlag aber mühelos ab und wurde bei seiner Berührung bloß kurzzeitig durchsichtig. „Verdammt! Ich hab die Schnauze voll davon, ständig gefangen zu sein und auf irgendwas zu warten!“, brüllte er aus Leibeskräften, als würde ihn jemand, sobald er nur laut und wütend genug rief, erhören und sämtliche Probleme aus dem Weg räumen. Aber wer auch immer ihn hätte erhören können, derjenige hörte wohl gerade nicht hin. „Das bringt nichts.“, sagte Justin ruhig. Vitali fluchte und setzte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Boden, als wäre er eingeschnappt. „Vielleicht ist es noch ein Schutz von der kleinen Fee ist?“, überlegte Ariane laut und erklärte das unbekannte kleine Wesen kurzerhand zur Fee. Daraufhin besahen die fünf sich das ohnmächtige Geschöpf genauer. Der grazile Körper war ganz der eines kleinen Menschenmädchens von vielleicht fünf, sechs Jahren. Ihre Glieder waren so zierlich und zerbrechlich, dass Justin schon Angst hatte, ihr beim Aufheben etwas gebrochen zu haben. Hellblondes, gelocktes Haar fiel der Kleinen über die schmalen Schultern. Sie hatte ein zauberhaftes, asymmetrisch geschnittenes Kleid an, das auf der einen Seite nur bis zu ihrem Knie, auf der anderen bis zu ihrem Knöchel reichte. Ihre Füßchen steckten in kleinen Ballerinas. Und um ihren Hals trug sie eine lange Goldkette, an deren Ende auf Herzhöhe ein winziges goldenes Medaillon hing. Auf dem Medaillon war ein kleiner Schmetterling eingraviert. Sehr passend, denn die hauchzarten, durchsichtigen Flügelchen ähnelten denen von Schmetterlingen. Die Kleine war bleich und gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. „Sieht nicht so aus, als würde sie das bewirken.“, sagte Serena bedrückt. „Sieht nicht so aus, als würde sie noch irgendwas bewirken.“, gab Vitali taktlos von sich. Besorgt blickte Justin auf seine Hand hinab. „Glaubt ihr sie überlebt?“ Vivien beäugte das kleine Etwas eingehender. „Sie atmet noch.“ Die winzigen Bewegungen waren nur bei sehr genauem Hinsehen zu erkennen. Auf diese Erkenntnis hin wandelte sich Serenas Gesichtsausdruck prompt. „Wichtiger ist doch, wie wir hier rauskommen.“, entgegnete sie mit betont teilnahmsloser Stimme. Ungewohnter Weise war Vitali ihrer Meinung. Was brachte es, sich über die kleine Gestalt Gedanken zu machen, wenn die Schatthen in Kürze hier waren, um sie alle zu töten? Nichts half es! Ariane hielt dagegen. „Und wo wollt ihr hingehen? Draußen lauern sicher noch Schatthen.“ „Es kommt von den Kugeln.“, rief Vivien mit einem Mal und zunächst war den anderen nicht klar, was sie damit meinte. Dann folgten sie ihrem Blick und erkannten, dass das Licht der Wände von den runden Gebilden über ihren Köpfen ausging. Aber was hatte das zu bedeuten? „Vielleicht wollen sie uns schützen.“, kam es Ariane in den Sinn. „Einsperren und beschützen ist ja wohl nicht dasselbe!“, wetterte Serena. Ariane warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie fand es ziemlich ironisch, dass ausgerechnet Serena das sagte, die von ihrer Mutter ganz offensichtlich auf ziemlich fragwürdige Weise beschützt wurde. „Uns bleibt wohl nichts anderes übrig als zu warten, bis das kleine Mädchen wieder aufwacht.“, meinte Justin. „Vielleicht weiß sie eine Antwort.“ Vitali stöhnte entnervt. Sie fanden sich also damit ab, für unbestimmte Zeit warten zu müssen. Eine andere Wahl hatten sie ja ohnehin nicht. Nachdem der Schock langsam nachließ, spürten sie, wie klitschnass sie waren. Glücklicherweise schützten die Lichtwände sie vor dem Luftzug hier oben auf dem Heuboden, allerdings wussten sie davon nichts. Ihnen war kalt und übel. Sie konnten sich nicht länger auf den Beinen halten, daher teilten sie die Heubüschel, die mit ihnen eingeschlossen worden waren, untereinander auf und legten damit den Boden aus, auf dem sie sich niederließen. Vivien sorgte dafür, dass sie sich dicht zusammensetzten, um sich so gegenseitig etwas Wärme zu spenden. Für Minuten saßen sie einfach nur schweigend da und atmeten. Atmeten tief ein und aus, um ihre überstrapazierten Nerven zu beruhigen. Sie wollten gar nicht darüber nachdenken, was gerade passiert war, wie knapp sie ein weiteres Mal dem Tod entkommen waren. Vielleicht hätten sie niemals zu dieser Ausgrabungsstätte gehen sollen, vielleicht hätten die Schatthen sie dann in Ruhe gelassen. Wieso konnten sie sich nicht einfach irgendwo verstecken, wo die Schatthen sie nicht finden konnten? Weil es einen solchen Ort einfach nicht gab. Erneut starrten sie die funkelnden Lichtwände an. „Woher wussten sie, dass wir hierher kommen würden?“, fragte Ariane in die Stille. „Vielleicht weil ein gewisser Jemand ihrem Chef eine E-Mail geschrieben hat.“, zischte Serena. Dieses Mal konterte Ariane nicht. Getroffen sah sie Serena an. „Daran liegt es nicht.“, entgegnete Justin streng. „Sie waren nicht wegen uns hier.“ „Hä?!“, stieß Vitali aus. „Dann sind sie wohl nur zufällig in die gleiche Richtung wie wir gerannt, oder was?“ „Das meine ich nicht.“, antwortete Justin ruhig. „Ich glaube, sie haben die Ausgrabungsstelle bewacht.“ „Hä?“ „Man bewacht das, was wertvoll ist oder wovon eine Gefahr ausgeht.“, definierte Vivien. „Und was für ’ne Gefahr soll das sein?“, fragte Vitali. Vivien zog ihr Handy hervor und streckte es den anderen entgegen. „Eine, die hier drin versteckt liegt.“, prophezeite sie verschwörerisch. „Ja klar.“, spottete Vitali. Da nur Ariane die Inschriften entziffern konnte, streckte Vivien ihr das Handy hin. Anschließend versuchte Ariane zunächst für sich den Inhalt zu entschlüsseln. Derweil lehnte sich Vitali gegen die Wand hinter ihm, doch als diese durchsichtig wurde, rückte er weiter vor. Sollte tatsächlich noch ein Schatthen herumstreunen, war es ihm lieber, wenn das Monstrum nicht gleich wusste, dass sie in diesem Lichterkreis steckten. Ariane begann, den anderen vorzulesen: „Auserwählt jene, deren Weg führt durch Dunkelheit und Licht, ein mühevoller Weg ist es, den ihr beschreitet. Viele Fragen, keine Antwort. Wege, Ziele, Unwissenheit. Diese Worte, Ermutigung und Ermahnung zugleich, sollen euer Selbst befreien, das da verschüttet liegt in eurem Ich. Was ihr tut und glaubt, bestimmt das Sein. Auf der Suche nach der Bestimmung, die euch leitet, erwacht eure wahre Macht. In euch liegt der Schlüssel zur Erlösung. Ihr, die treibende Kraft, die ihr auf die Geschicke des Lebens wirkt, seid Rettung und Untergang.“ „Geht das auch noch in gut deutsch?“, beschwerte sich Vitali. „Wie soll uns das weiterbringen?“ „Es ist auf jeden Fall von Auserwählten die Rede.“, freute sich Vivien. „Und dass sie alles retten oder zerstören können.“, ergänzte Serena. „Toll.“, grummelte Vitali. „Können die nicht einfach kurz und knapp sagen, wie wir die Schatthen loskriegen?“ „Vielleicht ist der restliche Text etwas konkreter.“, sagte Ariane und wechselte mit einer Wischbewegung auf die nächste Fotografie. Wieder verging kurze Zeit bis sie fortsetzte: „Geheim vereinen sich der Wunsch zu verändern und das Schicksal und so wird Vertrauen euch leiten bis zur Ewigkeit. Finster ist, was euch erwartet, die Hoffnung, im Schatten schlummernd. Sie bringt die Entscheidung, wenn ihr den Glauben habt an das, was eure Augen nicht sehen und euer Herz allein erahnt.“ „Das ist ja noch schlimmer!“, schrie Vitali. „Das bringt überhaupt nichts!“ „Wir müssen nur genauer über den Sinn nachdenken.“, behauptete Justin. „Ja, wenn wir nur lange genug darüber nachdenken, dann steht da sicher plötzlich was Brauchbares.“, spottete Vitali. Serena war genervt. So sehr sie hasste, es zuzugeben, sie war Vitalis Meinung, und das obwohl sie sich sicher war, weit mehr von dem Inhalt verstanden zu haben, als Vitali es je können würde. „Das ist bloß eine Lobeshymne auf die tollen Auserwählten.“, stellte sie fest. „Kein Wort darüber, welchen Hintergrund das Ganze hat und wieso diese verdammten Schatthen gerade uns für diese bescheuerten Auserwählten halten.“ „Suuuperkräfteee.“, erinnerte Vivien flötend. Serena stöhnte auf. „Schwachsinn.“ Unglücklich sah sie zu Boden. „Ich wünschte, das alles würde einfach aufhören.“ „Das wünscht sich wohl jeder von uns.“, erwiderte Justin. Vivien begehrte auf: „Dann hätten wir uns vielleicht gar nicht kennen gelernt!“ Sie klang, als wäre das die schlimmste Variante, die sie sich vorstellen konnte. „Wir sind in der gleichen Klasse.“, kam es verständnislos von Vitali. „Aber zwischen ‚in der gleichen Klasse sein‘ und ‚einander kennen‘ liegt ein riiiiiesengroßer Unterschied!“, beharrte Vivien. „Jetzt tu doch nicht so, als wären wir dir wichtiger als ein normales Leben ohne ständige Angst, von Schatthen angegriffen zu werden!“, wetterte Serena. Vivien strahlte einmal mehr über das ganze Gesicht. „Also ich finde, es gleicht sich aus!“ Und das Schlimmste war, dass sie das augenscheinlich wirklich ernst meinte. Serena verdrehte demonstrativ die Augen und versuchte dadurch zu vertuschen, dass sie – wie so oft bei Viviens kitschigen Worten – einmal mehr dieses überflüssige, bescheuerte Gefühl in ihrer Brust verspürte. Da Ariane nicht davon ausging, dass die übrigen Fotos weiterhalfen, gab sie Vivien das Handy zurück. Wieder verfiel die Gruppe in Schweigen. Vivien sah hinüber zu Justin, der mit betrübtem Gesichtsausdruck die kleine Gestalt in seinen Händen betrachtete. Das kleine Etwas regte sich immer noch nicht. Vivien machte ein unzufriedenes Gesicht. Sie hasste es, wenn solch eine niedergedrückte Stimmung herrschte. Im nächsten Moment machte ein heller Blitz Justin nahezu blind. Er schreckte zusammen und blickte auf. Vivien grinste ihn über ihr Handy hinweg an. „Was machst du?“, fragte Ariane. „Ich hab noch keine Bilder von euch!“, rief Vivien fröhlich. „Also wird es mal Zeit, welche zu machen.“ „Das ist hier kein Schulausflug!“, keifte Serena. Vivien lächelte ihr bloß zu und schaute sich dann das Ergebnis ihres Schnappschusses auf dem Display an. „Ha! Ich wusste es. Die Wand und das kleine Mädchen – auf einem Foto kann man sie nicht sehen.“, verkündete sie ihre Entdeckung. „Super. Beweisfotos können wir also auch vergessen.“, grummelte Vitali. Plötzlich gab Justin ein erschrockenes Geräusch von sich, als sei er von diese Feststellung vollkommen schockiert. Vivien machte eine abwinkende Handbewegung. „Ach, das würde uns doch selbst mit Fotos keiner glauben.“ „Das ist es nicht. Sie bewegt sich!“ Sofort versammelten sich die vier um Justin und das Schmetterlingsmädchen. Serena bemerkte spöttisch: „Wahrscheinlich hat Viviens Blitz sie aus dem Schlaf gerissen.“ Langsam… ganz langsam… kam die kleine Gestalt wieder zu sich. Sie gab leise jammernde Geräusche von sich und drehte sich in Justins Hand, als wolle sie nicht erwachen oder als wehre sie sich gegen den Schmerz, der mit dem Wiedererwachen einherging. Dann öffnete sie langsam die Augen. „Kiyaaaaaaah!“ Das Mädchen kreischte mit seiner glockenhellen Stimme und wäre fast von Justins Hand gekullert, als es die riesigen Köpfe sah, die sich allesamt zu ihm herunterbeugten. „Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.“, flüsterte Justin in sanftem Ton. Offenbar realisierte das Mädchen erst jetzt, wo es sich befand und was geschehen war, daraufhin beruhigte es sich langsam wieder. „Danke, für deine Hilfe.“, sagte Justin im Namen von allen. „Kannst du uns sagen, was diese Wände zu bedeuten haben?“, fragte er vorsichtig. Gleich einem unbeholfenen Tierjungen sah sich die Kleine um. Ihr Blick wanderte nach oben und entdeckte die Kugeln. Ihre Augen wurden groß. „Die Wappen…“, hauchte sie bewundernd. Die fünf warfen sich fragende Blicke zu und starrten dann ebenfalls hinauf zu den Kugeln. Wieso nannte die Kleine sie Wappen? Sie hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den schildförmigen Zeichen, die man als solche bezeichnete. „Wieso haben die Kugeln uns eingesperrt?“, wiederholte Ariane die Frage. „Sie schützen euch vor den Schatthen.“, antwortete das Schmetterlingsmädchen. Seine großen Augen strahlten so unschuldig wie die eines Neugeborenen. „Weil ihr so schwach seid.“ Schwach! Dass er sich das von einem handgroßen Mädchen mit Flügeln anhören musste! Vitali stank das gewaltig. Wütend mischte er sich ein. „Ich hab jetzt die Schnauze voll von diesem Mist. Verdammt noch mal! Raus mit der Sprache. Was hat das alles zu bedeuten?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)