Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 34: Was zum Donner! --------------------------- Was zum Donner! „Sage nicht alles, was du weißt, aber wisse alles, was du sagst.“ (Matthias Claudius, dt. Journalist u. Dichter) Der Blick in den mannshohen Spiegel in seinem Zimmer brachte Erik keine neuen Erkenntnisse. Sein Oberarm sah völlig gesund aus. Keine Wunde, kein Kratzer, kein gar nichts. Und Schmerzen hatte er auch keine, nicht mal ansatzweise. Sich über sich selbst ärgernd schüttelte er den Kopf und zog sich ein Sweatshirt über. Was hätte dort auch sein sollen? Nichtsdestotrotz überkamen ihn einmal mehr die Fragen, auf die er keine zufriedenstellende Antwort fand. Warum hatten Ariane und die anderen die Ausgrabungsstätte besuchen wollen? Was steckte dahinter? Erik seufzte. Vermutlich steckte gar nichts dahinter! Wieso suchte er überhaupt einen tieferen Sinn darin? Er war doch noch nie ein Freund von Verschwörungstheorien gewesen. Dennoch... Das Ganze war zu seltsam. Sein Blick schweifte zum Schreibtisch, auf dem sein Smartphone lag. Für einen Moment überkam ihn das Verlangen, einen der fünf anzurufen, aber das Unterfangen scheiterte bereits an dem Umstand, dass er von keinem von ihnen die Telefonnummer kannte. Dann fiel ihm Viviens SMS von heute Morgen ein. Natürlich. Die fünf verließen den Park. Es war spät geworden und nur noch ein schwaches Dämmerlicht erhellte die Umgebung. Da Ewigkeit in ihrem Hauptquartier zurückgeblieben war, mussten sie auf ihr richtungweisendes Leuchten auf dem Weg zurück zum offiziellen Teil des Kurparks verzichten. Serena beschwerte sich lautstark über die Dunkelheit und die unpraktische Route zu ihrem Geheimversteck. Um sich nicht länger ihr Genörgel anzuhören, hatte Ariane sie an der Hand genommen und geführt. Nach allem, was heute geschehen war, waren sie alle restlos erschöpft, Als sie den gepflasterten Weg erreicht hatten und im Schein der Laternen zum Eingang des Parks liefen, wandte sich Ariane an die anderen. „Zumindest wissen wir jetzt, was das alles zu bedeuten hat.“ „Wenn du das so bezeichnest.“, entgegnete Serena kritisch. Vitali stimmte mit ein. „Was wir jetzt genau machen sollen, wissen wir immer noch nicht.“ „Ach, das wird sich schon so ergeben.“, sagte Vivien optimistisch wie immer. Ein Nachrichtenton ließ sie aufhorchen. Vivien blieb stehen und holte ihr Handy aus dem Rucksack. Nach einem Blick auf den Bildschirm rief sie freudig aus: „Erik!“ Die anderen starrten gespannt über Viviens Schultern, was bei Viviens Größe nicht besonders schwierig war. Morgen 10:30 Treffen bei mir Erik Justin wandte sich an die anderen. „Er hat uns eh schon im Verdacht. Wir sollten vorsichtig sein.“ Vitali sah das locker. „Was soll schon passieren? Wenn er die Wahrheit rauskriegt, fällt ihm höchstens wieder alles ein.“ Er zuckte mit den Achseln. „Das wäre doch eher ein Vorteil.“ Justin war weniger zuversichtlich. „Wenn er unter dem Einfluss der Feinde steht, dann können wir nicht sicher sein, ob es nicht eine Falle ist.“ Vitali musste lachen und legte seinen Arm um Justin. „Hey Mann, hat dich Tiny etwa mit ihrer Hysterie angesteckt?“ Serena starrte ihn argwöhnisch an. „Tiny?“ Vitali grinste. „Na Tiny von Destiny. Sonst bist du doch immer so kirre und glaubst an irgendeinen Hinterhalt.“ Serenas Blick verfinsterte sich. „Erstens: Nenn mich nie wieder Tiny! Und zweitens, bringt uns deine Unbesonnenheit viel mehr in Schwierigkeiten als mein Misstrauen.“ „Unbesonnenheit.“, äffte Vitali sie nach. „Wie äußerst wohlklingend du dich immer artikulierst.“, flötete er mit nasaler Stimmlage, dass Vivien in ein Lachen ausbrach. „Entschuldige, ich wollte nicht Dummheit sagen!“, blaffte Serena. Vitali verdrehte die Augen. „Meine Fresse, musst du immer alles gleich persönlich nehmen?“ „Wir kommen vom Thema ab.“, wich Serena aus. „Ja, wegen dir.“, merkte Vitali an. Justin griff seinen Gedankengang wieder auf. „Auf alle Fälle wissen wir nicht, was mit ihm passiert ist und warum er sich nicht erinnert.“ „Die Diskussion hatten wir schon einmal.“, sagte Ariane. Vivien hatte einen anderen Vorschlag: „Wie wär’s wenn wir einfach mal von der Opfer-Rolle rauskommen und selbst was in die Hand nehmen.“ „Ganz meine Meinung!“, rief Vitali. „Schließlich können wir uns jetzt wehren. Also warum drehen wir nicht einfach den Spieß um?“, setzte Vivien fort. Und wieder erklang Vitalis Stimme: „Yeah, gib’s ihnen, Kleine!“ Vivien sprach weiter. „Wir werden die Situation einfach nutzen, um herauszufinden, was mit Erik passiert ist und was der Schatthenmeister vorhat.“ „Woohoo. So ist’s richtig!“ Vitali riss jubelnd seinen rechten Arm in die Höhe, als hielte Vivien eine Ansprache als Kandidatin für das Kanzleramt. Serena durchbohrte Vitali mit ihren Blicken: „Kannst du einfach mal die Klappe halten?“ „Kommt ganz drauf an.“ Vitali grinste. „Was krieg ich dafür?“ „Und was ist mit unserem Training?“, wandte Ariane ein. Sie hatten vorgehabt, am nächsten Tag nochmals zu trainieren. Vivien winkte ab. „Ach, wir haben sicher noch genug Gelegenheit zum Trainieren.“ Sie begann, eine Nachricht zurückzuschreiben. Sonntag halb elf in Deutschland. Die fünf standen in der Kaiserstraße. Standen da und gafften. Ariane konnte es immer noch nicht fassen. „Und ihr seid sicher, dass es dieses Haus ist?“ Ein dunkel gepflasterter Weg, der links und rechts von prächtigen Rosenbeeten flankiert wurde, führte durch den ordentlich gemähten und sonst unbepflanzten Vorgarten zu einem Eingang, dessen Überbau – eine Art zur Straße hin gelegener Balkon – von weißen Säulen getragen wurde. Die dunklen Ziegel des Daches und die dunklen Fensterrahmen unterstrichen das ehrwürdige und stolze Aussehen des symmetrisch geschnittenen Anwesens. Als Ariane gesagt bekommen hatte, dass Erik nicht weit entfernt von ihr wohnte, hatte sie mit allem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit, dass sie sich nun vor dieser luxuriösen Villa wiederfinden würde. Schon bei ihrer Ankunft in Entschaithal hatte sie das edle Gebäude, das eine stoische Würde ausstrahlte, vom Auto aus bewundert und war der Überzeugung gewesen, dass es sich bei den Bewohnern um Adlige handeln musste. Also: Erik von Donner? Nein, das passte nun gar nicht! Andererseits wies die Fassade mit ihrer kalt-strengen, aber ästhetisch formvollendeten Eleganz eine geradezu bestürzende Ähnlichkeit zu Erik auf. „Die Familie Donner gehört zu den reichsten in Entschaithal.“, erklärte Justin. „Ehrlich?“, rief Vitali aus. „Bei der Bude hätte ich jetzt auf Sozialhilfeempfänger getippt!“, scherzte er. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. „Dass die dümmsten Bauern aber auch immer die größten Kartoffeln haben müssen.“ Serena nutzte die Gelegenheit natürlich wieder für Sticheleien. „Ich wusste gar nicht, dass du der Alleinerbe von Bill Gates bist.“ Vitali blieb diesmal jedoch vollkommen locker. „Muss ich wohl vergessen haben zu erwähnen.“ Er grinste entwaffnend. Plötzlich schmiss sich Vivien an Vitalis Arm: „Also Vitali, so als langjährige Freundin von dir werde ich doch sicher etwas von dem Erbe abbekommen.“ „Langjährig?“, kritisierte Serena. Vitali jedoch spielte mit. „Da wird sich schon was machen lassen.“ Er hatte mit einem Mal den Gesichtsausdruck und den nasalen Tonfall eines reichen Schnösels. „Wenn ihr euch mit mir gut stellt, werdet ihr vielleicht auch mal in mein Wochenendhaus auf Hawaii eingeladen.“ Im nächsten Moment lachten Vivien und Vitali laut los. Dann öffnete sich mit einem Ruck die dunkle, mächtige Haustür vor ihnen, ohne dass sie auch nur geklingelt hatten. Erik stand mit einem leicht amüsierten und gleichzeitig genauso überlegen wie immer wirkenden Lächeln vor ihnen. „Wenn ihr schon wegen der Fassade erstarrt seid, sollte ich euch vielleicht besser erst gar nicht reinbitten.“ „Wir sind nicht erstarrt.“, meinte Vitali, erneut einen affektiert sprechenden Multimilliardär gebend, „Wir hatten bloß Angst, dass die alte Bude zusammenbricht, sobald wir die Klingel betätigen. Diese alten Gemäuer, denen kann man einfach nicht trauen! Mir erging es nämlich so mit meinem Feriendomizil in Irland, musst du wissen. Ein schönes kleines Landhäuschen. Aber als mein Butler, der sich während meiner Abwesenheit um alles kümmert, eines Tages eintreten wollte, ist das ganze Gebäude in sich zusammengestürzt! Das muss man sich mal vorstellen!“ „Ich hoffe, die Versicherung ist zumindest dafür aufgekommen.“, entgegnete Erik mit künstlichem Ernst, aber kritisch erhobener linker Augenbraue. „Ach Versicherungen!“ Vitali winkte ab. „Bei all dem Geld, das ich hab, bin ich ja froh, wenn mal was kaputtgeht!“ Vitali grinste breit. Erik konnte daraufhin wohl nicht umhin, selbst zu lächeln. Dann streckte er Vitali die Faust entgegen, Vitali schlug mit seiner eigenen dagegen. Es handelte sich offensichtlich um ein Begrüßungsritual zwischen den beiden. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf Eriks Züge. „Du bist echt gestört.“ Vitali nahm dies offensichtlich als Kompliment. „Ich sage nur: harte Arbeit und jahrelanges Training.“ Erik machte eine einladende Kopfbewegung. „Kommt rein.“ Sie folgten ihm ins Innere und Ariane musste Erik Recht geben. Das Innere war noch beeindruckender als die Fassade. Sie traten in eine Halle, von der aus eine große Treppe aus edlem Holz in den ersten Stock führte. Dies tat sie nicht auf direktem Weg. Stattdessen befand sich auf halber Höhe ein Absatz, von dem zwei Läufe abgingen. So etwas hatte Ariane bisher nur in Schlössern gesehen oder in Filmen. Die Wände waren holzvertäfelt und die Inneneinrichtung bestand nur aus erlesensten Möbelstücken, die allesamt wertvolle Antiquitäten sein mussten. Und das war nur der Eingangsbereich. Vitali lief einfach an Erik vorbei und lugte durch den Durchgang an der linken Seite. Ariane erkannte an Eriks Blick, dass ihm das nicht zusagte. Dennoch sagte er nichts. „Ist das euer Wohnzimmer?“, rief Vitali. Er hatte wohl etwas entdeckt, das ihn beeindruckte. Vielleicht hatte Eriks Familie ja das Heimkino, das sich Vitali für ihr Hauptquartier gewünscht hatte. Erik erachtete es offenbar nicht für nötig, darauf zu antworten. Vitali drehte sich zu ihm um. „Hast du ne Schwester?“, fragte er mit großen Augen. Erik verstand offensichtlich nicht, wie Vitali jetzt auf diese Frage kam. „Nein. Ich bin Einzelkind.“ Vitali sah ihn bedeutungsvoll an und grinste breit. „Dann muss ich wohl dich heiraten.“ Erik schnaubte belustigt. „Das sagst dann aber du meinem Vater.“ Vitali ließ sich nicht beirren. „Glaubst du etwa, er würde mich nicht mögen?“ Eriks Antwort klang ernster als Ariane es erwartet hätte. „Er würde mich nur enterben.“ Vitali maß dem offenbar weniger Bedeutung bei. „Ha dann brauche ich dich auch nicht mehr heiraten!“, alberte er. Ariane wandte sich an Erik. Sein Tonfall eben hatte sie nachdenklich gestimmt. „Du verstehst dich nicht so gut mit deinem Vater?“ Erik starrte sie an, als habe sie ihm gerade mitgeteilt, dass er nur noch zwei Monate zu leben hatte. Für einen Moment schwieg er. Ariane schämte sich den Gedanken so leichtfertig ausgesprochen zu haben. Damit hatte sie wohl einen wunden Punkt getroffen. Wieso musste sie was ihn anging immer in jedes Fettnäpfchen treten? Eilig bemühte sie sich, den Schaden zu begrenzen. „Tut mir leid, das war sehr unhöflich!“ Er wich ihrem Blick aus. „Wir haben unterschiedliche Ansichten.“ Mit diesem Satz beendete er gleichzeitig das Thema. Vitali war noch immer bester Laune. Scheinbar hatte er die drückende Stimmung nicht mitbekommen. „Wie wär’s wenn wir in euren privaten Swimmingpool gehen?“ Soweit Ariane das sehen konnte, fand Erik das weniger witzig. Er schaute zumindest zu ernst für Witze. „Habt ihr Badeanzüge dabei?“ Sie und die anderen stockten. Serena konnte nicht an sich halten. „Soll das heißen, ihr habt wirklich einen Swimmingpool?“ Erik seufzte. „Im Keller.“ Vitali kam zu ihnen zurück gelaufen und legte seinen Arm um Eriks Schultern. „Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“ Erik machte nicht den Eindruck, als wäre er der gleichen Meinung. Andererseits hatte Ariane das Gefühl, ihn nicht wirklich einschätzen zu können. Hatte sie immer noch Vorbehalte ihm gegenüber? „Ich will dein Zimmer sehen!“, rief Vivien übermütig. „Wenn ihr meint.“, war Eriks einziger Kommentar dazu. Ariane fragte sich, ob er nicht ohnehin vorgehabt hatte, sie in sein Zimmer zu führen. Er ging auf die große Treppe zu. „Es ist aber nichts Besonderes.“ „Nichts Besonderes!“, spottete Vitali. „Du hast als kleiner Junge wahrscheinlich in einem Ferrari-Bett geschlafen!“, lachte er. „Es war ein Porsche.“, gab Erik unerwartet trocken zurück. Ariane und die anderen waren erneut überrumpelt und starrten Erik ungläubig an. „Das war nur ein Scherz.“, sagte er gefühlsneutral. „Bei Scherzen ändert man die Stimmlage!“, ermahnte Vitali ihn, als wäre es dringend notwendig, Erik über wichtige soziale Konventionen aufzuklären. Ariane konnte sich angesichts dessen ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Du klingst immer gleich bescheuert.“, stichelte daraufhin Serena. Vitali sah Erik an. „Hast du gehört?“ „Ich hab dich gemeint!“, kreischte Serena. Vitali ignorierte es, was Ariane ein Lächeln entlockte. Im ersten Stock führte Erik sie zu einem Zimmer, das eindeutig größer war als die Kinderzimmer, die Ariane gewöhnt war. Es schien sogar in verschiedene Bereiche eingeteilt zu sein. Das war kein Zimmer, das war schon eine Wohnung! Die Blicke der anderen ließen Erik erkennen, wie unbesonnen er diese Einladung ausgesprochen hatte. Seine Neugierde, welches Geheimnis die fünf verbargen, war größer gewesen als seine Vorsicht. Dabei hatte er doch genug Lebenserfahrung gesammelt, um zu wissen, dass fehlende Vorausschau nur Probleme mit sich brachte. „Ich lade nicht so gerne Leute zu mir ein.“, sagte er, „An Platzmangel wird’s wohl nicht liegen.“, meinte Vitali spaßig. Erik wandte seinen Blick ab. „Sollen wir wieder gehen?“, fragte Justin. Er klang, als würde er das wirklich in Erwägung ziehen. Erik ließ Justin einen vielsagenden Blick zukommen. Die Frage war ja wohl zu bescheuert. Außerdem war er Erik Donner. Es durfte nichts geben, das ihn aus der Fassung brachte. „Nehmt Platz.“, sagte er strenger als beabsichtigt und verwies die anderen auf die Couch, den Sessel und den Stuhl, den er bereitgestellt hatte. Doch anstatt sich zu setzen, sah Ariane ihn auf ekelhaft besorgte Weise an. „Hat es einen bestimmten Grund, dass du keine Leute einlädst?“ Er bedachte sie mit einem finsteren Blick, um sie davon abzubringen, ihn auf so bemitleidende Weise anzusehen. Betreten entzogen sich ihre Augen seinem Anblick. Zu spät fiel ihm ein, dass sie das wohl wieder auf sein vermeintlich negatives Bild von ihr zurückführen würde. Er seufzte. Es war nicht seine Absicht, sie erneut zu dieser falschen Annahme zu verleiten. In Anbetracht ihres bisherigen Verhaltens war es kein Meisterstück darauf zu schließen, dass sie unschöne Erfahrungen damit gemacht hatte, falsch eingeschätzt zu werden. Es lag ihm fern, diesem Thema noch mehr Nahrung zu geben. „Äußere Umstände machen nicht den Charakter aus.“, sagte er und konnte nicht fassen, dass er das für sie so formuliert hatte. Irgendwie verärgerte ihn das. Warum waren Menschen bloß so anstrengend? „Wie meinst du das?“, hakte Justin nach. „Ich kann es nicht leiden, wenn Leute vorschnelle Schlüsse ziehen und dann irgendwelche Geschichten rumerzählen.“, antwortete er abweisend. Vivien sagte ihm unbekümmert auf den Kopf zu: „Wie dass du ein reicher Angeber bist?“ Sie hatte als einzige bereits Platz genommen und lächelte ihn an. War das Spott? Erik konnte es nicht sagen. Vivien kicherte. „Wir mögen dich so oder so.“ Sie strahlte ihn so freudig an, dass er nur den Schluss ziehen konnte, dass sie eindeutig zu naiv für ihr Alter war. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, ohne sie ihrer kindlichen Vorstellungen zu berauben. Seine Augenbrauen hatten sich automatisch zu einem kritischen Gesichtsausdruck gesenkt. „Es würde dir mehr Freunde bringen, wenn du offener damit wärst.“, meinte Ariane. Eriks verächtlicher Blick durchbohrte Ariane auf brutale Art und Weise. „Und du meinst, ich würde mich über solche Freunde freuen?“ Seine Stimme war zu einem Grollen geworden. „So hab ich das nicht gemeint!“, rief sie lauter und hilfloser als beabsichtigt. Sie hatte doch damit ausdrücken wollen, dass Freundschaften nur entstanden, wenn man sich einander öffnete und Vertrauen schenkte. „Du brauchst auch nicht immer alles gleich falsch verstehen!“ Vitali musste lachen. „Du bist genau wie Serena!“ Sein Lachen schwoll weiter an. „Geschwister!“ Als er daraufhin sowohl von Serena als auch von Erik böse angefunkelt wurde, hätte man wirklich meinen können, die beiden seien verwandt. Vivien klatschte begeistert in die Hände. „Dann kannst du ja doch Eriks Schwester heiraten.“ „Hä?“, machte Vitali. „Halt die Fresse, Vivien!“, kreischte Serena. Vivien lachte. Auch Erik schien davon amüsiert. Erleichtert über die Ablenkung atmete Ariane auf. In Eriks Nähe fühlte sie sich ohnehin schon wie auf glühenden Kohlen. Dass sie auch noch ständig mit ihm aneinandergeriet, machte das nicht besser. Sie ließ sich auf den Stuhl direkt neben ihr sinken, auch weil er am weitesten von dem Schemel entfernt stand, auf dem Erik soeben Platz nahm, „Ich wollte was mit euch bereden.“, sagte Erik wieder todernst. Ariane bekam ein ungutes Gefühl, während die anderen sich nun auch setzen. „Es geht um die Sache am ersten Schultag.“ Ariane schnellte von ihrem Platz auf. „Äh, meine Mutter, wenn sie mich anruft, ist es ein Notfall!“ Sie hatte noch nie eine Ausrede für irgendetwas finden müssen, daher merkte sie zu spät, dass sie irgendwie die Hälfte der Erklärung weg gelassen hatte. Sie drehte sich gerade zur Tür, als ihr Eriks Stimme in einem bedrohlichen Tonfall in den Rücken fuhr. „Du setzt dich.“ Und ehe sie sich versah, saß sie auch schon wieder. Das war so ungerecht! „Ihr verheimlicht mir da was.“, sprach Erik weiter. „Raus mit der Sprache!“ Mit diesem autoritären Ton wirkte er unheimlich. Wie Ariane zuvor sprang nun Vivien von der Mitte der Couch auf, wo sie zwischen Justin und Serena gesessen hatte. Dabei machte sie nicht den Eindruck, davonrennen zu wollen. Stattdessen drehte sie sich zu Erik, salutierte wie beim Militär und stieß mit harten Worten aus: „Sir, jawoll, Sir!“ Es bewirkte tatsächlich, dass Erik schmunzelte und die bedrückende Stimmung, die von ihm ausgegangen war, aufgelockert wurde. Doch was sollten sie Erik nun sagen? Justin ärgerte sich. Er hatte doch gewusst, dass es eine blöde Idee war, zu Erik zu gehen. Hier in Eriks Haus war es schwieriger, seinen Fragen auszuweichen, obwohl sie doch in der Überzahl waren. Wären sie in der Stadt gewesen oder dergleichen, hätten sie seine Frage einfach als Scherz abtun und das Thema auf etwas anderes lenken können, aber hier waren sie wie gefangen in der Höhle des Löwen. Erik würde auch bei einem Ablenkungsmanöver zurück auf die Frage kommen, schließlich hatte er hier Heimvorteil. Was sollten sie tun? Bevor Justin noch viel nachdenken konnte, hatte Vivien bereits angefangen, wie ein Wasserfall zu reden. „Also, das war so: Wir wollten es dir nicht sagen, weil sich Ariane deswegen so schämt.“ Vivien grinste schadenfroh. Ariane starrte Vivien verzagt an. „Weißt du wir hatten eine Wette abgeschlossen. Erst wollte Ariane gar nicht mitmachen. Es war ihr nämlich schon viel zu peinlich. Aber ich hab sie dann doch überredet gekriegt. Und sie war sogar damit einverstanden gewesen, dass sie, wenn sie die Letzte wäre, das machen müsste, was wir uns für sie ausdenken würden. Aber zurück zur Wette. Also, es ging darum, wer von uns dreien – also Ariane, Vitali und ich – wer von uns am schnellsten ein Kondom aufblasen könnte.“ Vitali, der auf dem Sessel neben Ariane saß, prustete auf einmal los und versuchte mit der Hand sein Lachen zu unterdrücken, was ihm allerdings kein bisschen gelang. Immer wenn er gerade dabei war, sich zu beruhigen und er wieder zu Vivien sah, die mit dieser vollkommen unschuldigen Miene eine solch bescheuerte Lügengeschichte erzählte, fing er sofort wieder an loszulachen. Damit verführte er auch Vivien zu einem breiten Grinsen. Doch sie fing sich eindeutig schneller wieder. Wobei sie von Glück reden konnte, dass sie sich keine von Ariane fing. Arianes entsetztem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wäre es ihr deutlich lieber gewesen, wenn sie Erik die Wahrheit gesagt hätte. Vivien setzte fort: „Wie es der Zufall so wollte, war Ariane die Langsamste und musste deshalb eine Pflicht erfüllen. Sie hatte natürlich gehofft, etwas Einfaches machen zu müssen. Zum Beispiel eine ganze Schokoladentorte essen oder so was. Aber Vitali und ich waren da knallhart!“ Leicht skeptisch sah Erik zu Vitali hinüber, der daraufhin, Viviens Worte bestätigend, heftig nickte. „Aber so was von knallhart!“ „Wir sagten zu Ariane: Ariane, am Montag ist unser erster Schultag und dem ersten schwarzhaarigen Jungen, dem du begegnest, dem musst du um den Hals fallen. Ja! Aber das war noch nicht alles!“ Vivien machte eine ausladende Armgestik. „Denn sie sollte sich dabei so verhalten wie eine der Hauptpersonen aus der Geschichte ‚Balance Defenders‘, die gerade einen totgeglaubten anderen Charakter wiedertrifft. Das ist nämlich eine ihrer Lieblingsszenen, musst du wissen. Und deshalb musste es auch ein Schwarzhaariger sein!“ „Aha.“ Erik schien noch nicht so ganz überzeugt. „Und was war das mit Vitalis Reaktion auf mich?“, bohrte er weiter. Vivien musste prusten und es war fraglich, ob sie dieses Lachen tatsächlich geschauspielert hatte oder ob sie die Situation zum Lachen fand. „Du kennst doch Vitali! Der hat das Ganze natürlich mitbekommen, schließlich hatten wir nur darauf gewartet, bis Ariane endlich einen Schwarzhaarigen trifft, damit wir was zum Lachen haben.“ Sie wirkte wirklich amüsiert. „Leider musste ich natürlich genau an dem Tag verschlafen!“ Vivien machte ein schrecklich unzufriedenes Gesicht, das sich gleich wieder in ein Grinsen wandelte. „Ich hätte echt zu gern gesehen, wie sie sich zum Idioten gemacht hat!“ Sie ließ ein gehässiges Lachen erschallen. Dann drehte sie sich entschuldigend zu Ariane, die einem Ohnmachtsanfall nahe war. „Tut mir leid Ariane, nicht böse sein, ja?“ Anschließend fuhr sie fort: „Vitali hat sich dann natürlich einen Spaß daraus gemacht, Ariane damit aufzuziehen, und hat dich kurzerhand auch wie eben diese Figur aus ‚Balance Defenders‘ behandelt. Ja, und so kam diese tolle Situation zustande. Ich hab mich echt geärgert, dass die Speicherkarte meines Handys voll ist und ich keine Videos aufnehmen konnte! Das war einfach viel zu genial! Ich könnt mich jetzt noch totlachen! Nicht wahr, Vitali?“ Vitali nickte hektisch und grinste dabei übers ganze Gesicht. Eriks skeptischer Blick wanderte von Vivien zu Vitali, hinüber zu Ariane, die daraufhin ihr Gesicht in den Handflächen verbarg. Justin konnte nachvollziehen, dass ihr diese Geschichte entsetzlich peinlich war. Auf einmal musste Erik leise lachen und schüttelte unwillkürlich den Kopf, als fände er die Gedanken, die er sich zuvor gemacht hatte, plötzlich absurd. „Ihr seid total verrückt!“ „Danke!“ Vivien verbeugte sich. „Endlich mal jemand, der unsere harte Arbeit zu schätzen weiß!“ Dann sah Erik wieder auf und wandte sich an Ariane. „Warum hast du mir das nicht einfach gesagt?“ Vivien konnte in diesem Moment nicht einschreiten. Hätte sie an Arianes Stelle geantwortet, hätte die ganze Geschichte an Glaubwürdigkeit verloren. Nun hing alles von Ariane ab. Sie wirkte nicht gerade so, als könne sie in ihrem momentanen seelischen Zustand in das Lügenspiel miteinsteigen. Das bereitete Justin reichlich Sorgen. Doch mit einem Mal sprach Ariane in lebhaftem Ton: „Wie denn? Du hast mir doch gar nicht die Chance für Erklärungen gegeben! Du hast mich gleich abgestempelt. Und danach…“ Ariane zog ein leicht gekränktes Gesicht. „Du hättest dich bloß darüber lustig gemacht. Da war eines so schlimm wie das andere.“ Obwohl Schauspiel nicht gerade Arianes Stärke zu sein schien – dazu hatte sie etwas zu Wahrheitsliebendes und Stolzes an sich – hatte ihre Reaktion vollkommen authentisch gewirkt. Dass sie in dem beschriebenen Fall tatsächlich so gefühlt hätte, glaubte Justin ihr. Auch Erik machte den Eindruck, dass Arianes Worte ihn von der Echtheit dieser Lügengeschichte überzeugt hatten. Schlussendlich hörte sie sich ja auch um einiges glaubhafter an als die Wahrheit – so lächerlich das auch klingen mochte. „Ich hab noch nie so bekloppte Leute wie euch kennengelernt.“, eröffnete Erik ihnen. „Und ich war auf einem Jungeninternat.“ Dann schnaubte er belustigt. „Wir geben uns auch die größte Mühe.“, erwiderte Vivien strahlend. Justin lächelte unwillkürlich. Sein Blick ruhte auf Vivien. Es war unglaublich, dass sie es mit einer solchen Leichtigkeit geschafft hatte, Erik von seinen Verdächtigungen abzubringen. Sie musste das von Anfang an geplant haben. Aber wieso hatte sie ihn und die anderen nicht vorgewarnt? Schließlich hätte ein falscher Zug der anderen sie verraten können. Viviens Blick begegnete dem seinen. Sie lächelte ihn wissend an. Und als habe er ihre Gedanken gelesen, wusste er, warum sie es so und nicht anders gemacht hatte: Die Reaktionen durften nicht einstudiert wirken! Erik war schlau und vor allem hatte er einen Blick für Details, für Gesten und den Sprachrhythmus, immerhin war er derjenige, der ihnen im Schatthenreich mit seinem sechsten Sinn weitergeholfen hatte. Hätten sie von Viviens Plan gewusst, dann wären all die spontanen Reaktionen wie Arianes Entsetzen und ihr leidender Blick schlichtweg weggefallen. Damit wäre auch die Überzeugungskraft geschwunden, schließlich hatte Vivien die Verschwiegenheit der fünf mit Arianes Beschämung begründet, und diese Beschämung ließ sich nicht so leicht vortäuschen. Es war perfekt! Vivien war – Plötzlich fiel Justin auf, dass er sie immer noch anstarrte! Und Vivien antwortete mit einem koketten Augenaufschlag, den er nicht richtig deuten konnte und für ein kritisches Begutachten seiner Person hielt. Beschämt sprang er auf – offensichtlich veranlasste die Umgebung die Leute hier ständig zu dieser ruckartigen Bewegung. Er warf seinen Kopf regelrecht in Eriks Richtung. „Ähm, Erik? Wo ist denn die Toilette?“, fragte er hastig. „Wenn du aus dem Zimmer rausgehst rechts, ganz hinten, das letzte Zimmer des Gangs. Soll ich’s dir zeigen?“ „Nein, nein, schon okay.“ Mit diesen Worten begab er sich auch schon aus dem Zimmer. Vor der Tür atmete Justin geräuschvoll aus. Von Viviens Blick war ihm noch ganz heiß. Wo er jetzt schon mal nach dem Weg zur Toilette gefragt hatte, konnte er sich dort auch gleich mit etwas Wasser abkühlen. Mist! Er wusste einfach nicht, wie man sich einem Mädchen gegenüber verhielt! Er seufzte. Ganz so stimmte das auch wieder nicht. Bei Serena und Ariane hatte er keinerlei Probleme. Er wusste bloß nicht, wie er sich Vivien gegenüber verhalten sollte. Nochmals seufzend schlug er den Weg nach rechts ein. Er war nur einige Schritte gekommen, als er links von sich etwas zu spüren glaubte. Justin blieb stehen. Sicher bildete er sich nur etwas ein. Was sollte er denn hier ganz plötzlich spüren? Er setzte seinen Weg fort, hielt aber nach dem nächsten Schritt bereits wieder inne. Vielleicht sollte er auf sein Gefühl hören. Vielleicht steckte doch etwas dahinter. Justin sah sich um. Woher sollte dieses Gefühl stammen? Er stand hier inmitten eines Flurs! Dann wandte er sich nach links, er stand direkt neben einer Zimmertür. Aber er konnte doch nicht einfach so mir nichts dir nichts im Haus fremder Leute in irgendwelche Zimmer eindringen! Das gehörte sich einfach nicht. Justin schaute zurück zu Eriks Zimmertür. Soweit er verstanden hatte, waren Eriks Eltern nicht zu Hause. Keiner würde es merken, wenn er nur einen kurzen Blick in das Zimmer hineinwerfen würde. Ja, er würde nur kurz hineinsehen und da dort sicher nichts war, könnte er beruhigt weitergehen. Noch einen Augenblick rang er mit sich. Er befand sich im Hause Donner, Erik war einer der Beschützer, auch wenn er nichts davon wusste – wie er auch von allem anderen nichts mehr wusste. Erik war anders. Er war nicht wie sie gefangen worden, zumindest sprach einiges dagegen. Warum war es bei ihm anders gewesen? Vielleicht – Geräuschlos öffnete Justin die Zimmertür. Es fühlte sich komisch an. Noch nie zuvor hatte er gegen irgendwelche Regeln verstoßen. Aber einmal war ja immer das erste Mal! Justin fragte sich, ob dieser Satz in seinem Kopf wohl durch den Einfluss von Vitali und Vivien entstanden war. Vor sich sah er ein geräumiges Zimmer mit einem gewaltigen Mahagonischreibtisch. Direkt daneben stand ein Computer mit Flachbildschirm. An der linken Wand stand ein riesiges, mit zahllosen Gesetzesbüchern ausgestattetes Regal, daneben ein Aktenschrank. Auch ein Multifunktionsgerät mit Drucker, Scanner, Fax und Kopierer gehörte zu der Zimmereinrichtung. Natürlich fehlte auch nicht das gute alte Telefon. Ganz eindeutig handelte es sich hierbei um Herrn Donners privates Arbeitszimmer. Justin bekam ein schlechtes Gefühl. Erneut schaute er zurück in den Gang. Dann war es wieder da, dieses seltsame Ziehen in seiner Brust, als würde ihn etwas hereinrufen. Das Ganze machte Justin Angst. Was hatte das zu bedeuten? Justin biss die Zähne zusammen. Dieses Gefühl kam nicht aus dem Nichts. Es wollte ihm etwas sagen, zeigen. Etwas Wichtiges. Lautlos huschte Justin in das Arbeitszimmer und schloss die Türe hinter sich. Da stand er nun. Und was jetzt? Zunächst ratlos schaute Justin sich um, dann schloss er kurzerhand die Augen und versuchte in sich hineinzuhören. Wovon ging das Rufen aus? Er öffnete wieder die Augen und ging wie von Geisterhand getrieben hinter den Schreibtisch. Instinktiv suchte er den Boden ab. Neben dem Schreibtisch stand ein Papierkorb. Der Papierkorb! Er nahm ihn genauer unter die Lupe. Auch wenn der Gedanke, in einem Mülleimer nach etwas zu suchen, im ersten Moment etwas absurd klang, Justin wusste, dass er das Richtige tat. Ein zerknüllter Zettel stach ihm ins Auge. Im gleichen Moment wusste er, dass er dieses Zettels wegen hier herein gekommen war. Er nahm ihn zur Hand und entfaltete ihn eilig. Seine Augen flogen über die Zeilen des beschriebenen Papierstücks, dann steckte er den Zettel in eine der Taschen seiner Cargohose und verließ den Raum eilig wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)