Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 50: [Entwicklungen und Verwicklungen] Talentsucher ---------------------------------------------------------- Talentsucher „Wo Liebe und Talent zusammenkommen, darf man ein Meisterstück erwarten.“ (John Ruskin, engl. Schriftsteller, 19.Jhr.) Auf dem großen Platz am Eingang der Vorburg waren sie auf die Klasse und ihre Lehrerin gestoßen, die natürlich von den ganzen Ereignissen nichts mitbekommen hatten. Die ganze Gruppe glaubte doch tatsächlich, nur zur vereinbarten Uhrzeit am ausgemachten Treffpunkt zusammengefunden zu haben. Entsprechend wurden den sechsen Vorhaltungen gemacht bezüglich ihres vermeintlich verspäteten Eintreffens. Also wirklich! Auf Eriks ausdrücklichen Wunsch hin hatten sie auch seine Ohnmacht nicht als Entschuldigung nutzen können. Als sie wieder in den Bus einstiegen, machte auch der Busfahrer nicht den Eindruck, etwas von dem Lichtspektakel, das die Burg eingehüllt hatte, bemerkt zu haben. Die fünf fragten sich, ob dieser Mensch einfach nur nichts von seiner Umgebung wahrnahm oder ob er ebenfalls vom Schatthenmeister manipuliert worden war. Dann kam ihnen der Gedanke, dass möglicherweise keine der beiden Optionen zutraf. Wussten sie denn, ob andere Menschen das Licht sehen konnten? Aber schlussendlich war das unwichtig. Die Hauptsache war, dass sie die Situation wohlbehalten überstanden hatten, genauso wie Erik. „Hast du schon für Wirtschaft gelernt?“, hörte Vitali eine Klassenkameradin in der Sitzreihe vor ihm zu ihrer Sitznachbarin sagen. „Wann schreiben wir überhaupt Wirtschaft?“, fragte er daraufhin Erik neben sich. „Übernächste Woche Montag.“, antwortete Erik, ohne lange zu überlegen. Vitali machte große Augen. „Echt?!“ Serena, die mit Ariane in der Sitzreihe hinter ihm saß, spottete: „Hast du schon mal was von einem Schülerkalender gehört?“ „Davon gehört hab ich schon.“, meinte Vitali locker. „Aber …“ Er drehte sich zu Serena um und schüttelte sachte und ernst den Kopf. „Ich glaub nicht wirklich dran.“ Dabei machte er ein Gesicht, als habe sie ihn nach dem Yeti gefragt. Serena verzog den Mund. „Wir könnten doch zusammen lernen!“, schlug Vivien von der gegenüberliegenden Sitzreihe vor. „Dafür brauchst du viel Platz.“, entgegnete Erik. Vivien grinste vergnügt. „Deshalb gehen wir auch zu dir!“ Erik konnte nicht umhin kurz aufzulachen. „Schon mal was davon gehört, dass es unhöflich ist, sich selbst einzuladen?“ „Schon.“, entgegnete Vivien leichthin. „Aber…“ Sie sah ihn verschwörerisch an. „Ich glaub nicht wirklich dran!“ Amüsiert schüttelte Erik den Kopf „Hey, das war mein Spruch!“, rief Vitali gut gelaunt. „Ich verlange Schadensersatz!“ Vivien lachte. Als der Bus vor ihrer Schule wieder zum Stehen kam, hatten sie miteinander ausgemacht, sich am Samstag in einer Woche bei Erik zu treffen. Die Lehrerin entließ ihre Klasse, woraufhin jeder seines Weges ging. Auch Erik löste sich von ihnen und wünschte ein schönes Wochenende. Nachdem ihre Klassenkameraden außer Hörweite waren, wandten die fünf sich aneinander. „Wir müssen zum Park gehen!“, rief Vivien. „Wozu?“, fragte Vitali irritiert. „Ihr habt doch auch ihre Stimme gehört.“, sagte Vivien und senkte den Blick. Die anderen erinnerten sich an die Worte, die während dem Kampf ihren Geist berührt hatten. Es war die Stimme des Schmetterlingsmädchens gewesen. Ganz sicher! Ariane legte ihre Hand auf Viviens Schulter. „Vivien, das heißt nicht…“ Bevor sie weiterreden konnte, hatte Vivien wieder das Wort ergriffen. „Dass wir letztes Mal nicht in unser Versteck konnten, war sicher nur, weil wir nicht daran geglaubt haben. Diesmal klappt es ganz sicher!“ Keiner der anderen antwortete. Dann holte Serena ihr Handy hervor und betätigte die Kurzwahl. „Mama, ich bin’s. Es könnte etwas später werden, ich geh noch kurz mit zu Vivien. – Nein, ich esse dort nichts. – Ja, ich bleib nicht so lange. Bis dann. Tschüss.“ Anschließend beendete sie das Telefonat und sah die anderen an. „Worauf warten wir noch?“ Daraufhin sprang Vivien ihr in die Arme. Vor ihrem kleinen Holzhäuschen angekommen, ging Vivien langsamen Schrittes auf die alte, knarrende Türe zu und ergriff zuversichtlich die metallene Türklinke. Dann hielt sie ihre Linke hinter ihren Rücken, um den anderen zu verdeutlichen, dass sie eine Kette bilden sollten. Als sie Vitalis Hand spürte, öffnete sie schließlich die Tür, ohne jeden Zweifel, dass sich ihr daraufhin das zeigen würde, was sie sehen wollte, und trat hindurch. Vivien stand im Aufenthaltsraum, dem Aufenthaltsraum, den sie gemeinsam entworfen hatten. Daraufhin zog sie an Vitalis Hand, sodass er mit den anderen ebenfalls die Schranke übertrat. Tatsächlich war alles da, als wäre nie etwas passiert. Die fünf sahen einander wortlos an und liefen dann wie auf Kommando allesamt nach links zu ihren Räumen, wo am breitesten Punkt des Ganges die gläserne Konstruktion stand, die wie eine Mischung aus Schloss und Kinderwiege wirkte und mit weißem Stoff ausgelegt war. Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Keine Ewigkeit, kein gar nichts. Sie ließen die Schultern hängen. Nur Vivien starrte weiterhin auf die kleinen Kissen, als müsse sie nur lange genug hinsehen, um Ewigkeit doch noch zu entdecken. „Wir…“, sagte sie leise. „Wir haben sie ja noch nicht gerufen!“, stieß sie mit einem Mal aus. „Wir müssen sie rufen! Dann kommt sie ganz bestimmt!“ Sofort machte sie sich an die Umsetzung dieser Idee. „Ewigkeit! Ewigkeit, komm her!“ Sie sah in die Höhe, als würde die Kleine in der nächsten Sekunde auftauchen. „Komm bitte zurück! Wir warten alle auf dich!“ Weitere Momente verstrichen. „Bitte komm doch! Hörst du mich, Ewigkeit?! Wir brauchen dich!“ Dann verstummte sie und die fünf warteten… Und warteten … Stumm standen sie da und sahen sich um nach jeglichem Zeichen des kleinen Schmetterlingsmädchens. Sie wussten, wie lächerlich es war, und gaben bald die Hoffnung auf. Einzig Vivien wollte es nicht wahrhaben und keiner der anderen wollte sie aus ihrer Illusion reißen. Doch als auch nach drei Minuten – drei endlos langen Minuten! – keine Reaktion kam, hörten sie leises Schluchzen aus Viviens Richtung. „Vivien…“ Justin streckte seine Hand nach ihr aus, getraute sich jedoch nicht, sie zu berühren. „Sie ist nicht gekommen.“, flüsterte Vivien. Im nächsten Moment war sie, ehe Justin es recht erfasst hatte, auch schon in seine Arme gesprungen. Verzweifelt klammerte sie sich an ihn und drückte sich gegen seine Brust. „Ich war mir so sicher.“, schluchzte sie. Während die anderen nur hilflos zusehen konnten, schloss Justin, zuerst noch zaghaft, schließlich seine Arme sachte um sie. Viviens herzzerreißendes Schluchzen tat ihm in der Seele weh. Zaudernd und unbeholfen strich er ihr über das orangefarbene Haar, um sie zu beruhigen. Ihre Tränen tränkten sein Sweatshirt. „Vivien.“ Er suchte verzweifelt nach Worten. „Du…“ Er schnappte nach Luft. „Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Sie ist bei uns. Sie wird immer bei uns sein. Sie ist uns nicht böse wegen dem, was geschehen ist.“ Er machte eine kurze Pause und spürte Viviens heftiges Zittern. Seine Worte brachten überhaupt nichts! Wieso konnte er ihr nicht helfen? Er drückte sie fester an sich und hielt inne. Als er anschließend weitersprach, klang seine Stimme genauso ruhig, entschlossen und vertrauensvoll wie es sein Blick gewesen war, als Vivien auf dem Bergfried schon fast selbst aufgegeben hatte. „Auch wenn wir sie jetzt nicht mehr sehen können, können wir sie immer noch in unseren Herzen spüren. Nicht wahr?“ Vivien schniefte und er spürte ein schwaches Kopfnicken an seiner Brust. Dann ließ sie jeglichen Widerstand gehen und sank ermattet vollends in seine Arme. Erst als weitere Momente verstrichen waren, in denen Vivien die Geborgenheit in Justins Nähe genossen hatte, löste sie sich langsam und ganz vorsichtig von ihm, wischte sich die Tränen aus den Augen. Ein aufrichtiges, scheues Lächeln huschte kurz über ihre Lippen, als sie mit unsicherem Blick aus ihren tief dunkelblauen Augen zu Justin aufsah. „Tut mir leid, ich hab dein Oberteil total durchnässt.“, hauchte sie schüchtern. Justin dachte für einen Moment, bei ihrem Anblick müsse er vor Glück sterben. Er schluckte heftig und musste seinen Blick von ihr abwenden. Er spürte jetzt schon die Hitze in seinem Gesicht und konnte nicht auch noch riskieren, dass Vivien seine Gefühle in seinen Augen ablesen konnte, zumal er Gefahr lief, einem Schwindelanfall zu erliegen. Eben hatte er sich noch unter Kontrolle halten können, um ihr beizustehen, aber jetzt genügte allein ihr Anblick, um ihn vollkommen aus der Bahn zu werfen. „Das .. das macht doch nichts.“, sagte er stockend und lächelte verlegen. „Ja.“, mischte sich Vitali ein. „Es ist wohl eher so, dass er das Teil jetzt nie mehr waschen wird!“ Vitali lachte herzhaft, während Justin im Erdboden versinken wollte, was man seinem Gesichtsausdruck auch deutlich ansehen konnte. Ariane gab Vitali einen Klaps gegen den Oberarm wie es sonst Serena tat. „Bist du zu Serena mutiert?“, fragte er verständnislos, während Serena Vivien eine Packung Taschentücher entgegenhielt, die diese dankend annahm, um daraufhin mächtig zu schnäuzen. Serena drehte sich mit abweisendem Blick zu ihm. „Ich hätte fester zugeschlagen.“ „Justin weiß, dass ich das nicht so gemeint hab.“, verteidigte sich Vitali. „Stimmt’s? Justin! Kumpel!“ Ungläubig sah Justin zu ihm. Plötzlich brach Vivien in lautes Gelächter aus. Verwirrt starrten die anderen sie an. Sie fing sich langsam wieder und atmete befreit auf. „Ich hab euch furchtbar lieb.“ Für einen Moment waren sie sprachlos. Dann ging Vitali zu ihr und verwuschelte ihr Haar. „Was redest du denn da? Das hört sich ja an, als würden wir dich gleich alle verlassen!“ Vivien lachte auf. „Das sollte man sich viel öfter sagen!“ Vitali drückte ihren Kopf spielerisch zur Seite. „Ach Quatsch.“ Er lächelte sie an. „Wir haben dich auch lieb.“, sagte Ariane zärtlich. Vitali warf seine Arme in die Höhe. „Mann, Mann. Gefühlsduselei über Gefühlsduselei!“ „Kann man dich irgendwo abschalten?“, ächzte Serena. „Jetzt, wo du’s sagst!“, rief Vitali, als hätte er eine jähe Erkenntnis gehabt. „Bei manchen Menschen wäre das echt nützlich!“ „Ja, bei dir!“, zischte Serena. Vitali schien sie gar nicht zu hören und grinste sie an. „Wäre praktisch, dich abschalten zu können.“ Serena warf ihm einen wütenden Blick zu. „Natürlich, dann müsstest du noch weniger denken!“ Vitali zog eine gewollt dümmlich Grimasse und sagte in unterbelichtetem Tonfall: „Noch weniger?“ Serenas Gesicht zuckte, hastig biss sie sich auf die Unterlippe, um ihren Mund vor ungewollten Regungen abzuhalten. „Wollen wir noch etwas hier bleiben?“, fragte Justin. Vitali lachte: „Bis dein Oberteil getrocknet ist?“ „Bis dir die dummen Sprüche ausgegangen sind.“, konterte Justin. Serena schrie entsetzt auf: „Ich will hier drin nicht sterben!“ Vivien und Ariane brachen daraufhin in ein Lachen aus, während Vitali Justin freundschaftlich angrinste. Gemeinsam gingen sie zurück in den Aufenthaltsraum und breiteten sich auf der wunderbar gemütlichen Couch aus. „Hach, so könnt es bleiben.“, seufzte Vitali zufrieden und streckte seine Arme und Beine weit von sich. Ariane neben ihm sah ihn schmunzelnd an. „Schön wäre es.“ „Wir haben doch heute bewiesen, dass wir alles schaffen können!“, rief Vivien. Ihre Traurigkeit war verflogen, zumal Justin ihr gestattet hatte, sich dichter neben ihn zu setzen als üblich. Justin klang weniger zuversichtlich. „Wäre dieser Schutzschild nicht gewesen, dann wäre unsere Attacke zu spät gekommen. Dann hätten uns die Schatthen ...“ Vivien stupste ihn an und zog einen verspielten Schmollmund. „Sei doch nicht so pessimistisch! Vielleicht haben wir ja das Schutzschild ausgelöst.“ Justin fuhr sich verlegen durch die Haare, ehe er antwortete. Es war ihm ein wenig peinlich, Vivien zu widersprechen. „Die Schatthen sind daran verdampft. Sie sind zu dem gleichen grauen Dunst geworden wie als wir diese anderen Kräfte eingesetzt haben.“ Ariane schaute schockiert. „Du meinst, jemand von uns hat wieder diese Kräfte benutzt?“ Justin schüttelte den Kopf. „Ich glaube eher, dass der Schatthenmeister selbst das gemacht hat.“ „Hä?!“ Vitali verzog das Gesicht. „Er hat die Dinger doch auf uns gehetzt! Wieso sollte der uns beschützen?!“ „Er hatte nie vor, uns zu töten.“, meinte Justin. „Von Anfang an nicht. Sonst würden wir nicht mehr hier sitzen. Er will uns in seine Gewalt bringen oder uns manipulieren oder beides. Keine Ahnung. Aber auf alle Fälle will er uns nicht tot sehen.“ Arianes Stirn legte sich in Falten. „Das ist auf erschreckende Weise positiv.“ „Fragt sich bloß, wie lange es dauert, bis er seine Meinung ändert.“, warf Serena ein. Justin fuhr fort. „Auf jeden Fall wird er nicht aufgeben, bis er das hat, was er will. Als er gemerkt hat, dass wir nicht seine Kräfte einsetzen, hat er nochmals Nachschub an Schatthen geschickt. So viele wie noch nie.“ „Gehen dem die Dinger denn nie aus?“, schimpfte Vitali. „Wir müssen auf alles gefasst sein.“, sagte Justin. „Der Schatthenmeister ändert seine Strategie. Er wird nicht nochmals das Gleiche versuchen. Vielleicht hat er sogar schon eine neue Idee, wie er uns einfängt. Wenn das überhaupt noch sein Ziel ist.“ „Was, wenn er nächstes Mal nicht mehr die Schatthen schickt?“, überlegte Ariane laut. Vitali sah sie irrtiert an. „Das wäre doch gut!“ „Ja, aber nützen unsere Kräfte überhaupt gegen etwas anderes?“, entgegnete sie. „Wie, was anderes?“, fragte Vitali. „Na, gegen andere Monster.“, antwortete sie. Vitalis Gesicht verzerrte sich. „Du meinst, es gibt noch mehr solcher Viecher?“ „Wer weiß.“ „Wir wissen auch nicht, ob unsere Kräfte etwas gegen den Schatthenmeister selbst ausrichten würden.“, fügte Serena hinzu. „Aber wir haben doch noch andere Kräfte!“, rief Vivien optimistisch wie eh und je. „Damals im Schatthenreich haben wir sie doch automatisch eingesetzt!“ „Toll.“, spottete Vitali. „Kräfte, bei denen wir nicht wissen, was für welche es sind, und auch nicht wie sie funktionieren.“ Vivien zuckte locker mit den Schultern „Dann müssen wir es eben ausprobieren!“ „Ausprobieren?“, fragte Ariane verwundert. „Ja, so wie wir in unsere Gefühlswelt gekommen sind und dort unsere Wappen wiedergefunden haben. Wir wussten doch auch nicht, wie das geht.“, erwiderte Vivien siegessicher. Ariane sah sie fragend an. „Also sollen wir einfach auf gut Glück etwas ausprobieren und hoffen, dass dabei etwas rauskommt?“ „Genau!“, rief Vivien freudig. Serena warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich sollte langsam heim.“ Justin nickte und stand auf. „Treffen wir uns morgen wieder hier. 13 Uhr?“ Die anderen nickten und erhoben sich. Ariane wandte sich an Serena. „Du hast doch noch das Heftchen mit dem Artikel über Außersinnliche Wahrnehmungen.“ Serena horchte auf. „Stimmt.“ „Vielleicht wäre es hilfreich.“, meinte Ariane. „Ich bring es mit.“ Vivien strahlte über das ganze Gesicht. „Ich freu mich schon drauf!“ Den Tag drauf saßen die fünf wie geplant erneut auf ihrem Sofa. Serena hatte das Heft vor ihnen auf dem Couch-Tisch ausgebreitet und auf einen Extrazettel die einzelnen Außersinnlichen Wahrnehmungen, die in dem Artikel genannt wurden, aufgelistet. „Es stehen leider nicht viele verschiedene drin. Das Übliche eben: Telepathie, Telekinese, Hellsehen, Hellhören und Präkognition.“ „Was genau bedeuten diese Begriffe?“, hakte Ariane nach, die sich damit nicht auskannte. Serena setzte zu einer Erklärung an: „Telepathie ist Gedankenübertragung, also Gedankenlesen und Gedankensenden. Und Telekinese oder auch Psychokinese genannt, das ist, wenn man einen Gegenstand bewegt, ohne ihn anzufassen.“ „Cool!“, rief Vitali. „Lässt du mich ausreden?“, beschwerte sich Serena. Vitali schaute mürrisch. „Also Hellsehen heißt, dass man etwas weiß oder sieht, was gleichzeitig stattfindet.“, erklärte Serena. „Wie Secret mit der Kugel.“, vermutete Justin. Serena nickte. „Ich denke schon.“ Sie fuhr fort. „Hellhören ist, wenn man dieses gleichzeitige Ereignis hört. Und Präkognition ist, wenn man über Ereignisse aus der Zukunft schon vorher Bescheid weiß.“ Vitali streckte seine Rechte in die Höhe, als wäre er in der Schule. „Also ich nehm die Telekinese!“ „Das ist keine Versteigerung.“, zickte Serena ihn an. „Wisst ihr noch? Secret hat das eingesetzt.“, brachte Ariane vor. „Er hat die Schatthen mit einer einzigen Bewegung wegschleudern können.“ „Typisch.“, maulte Vitali. „Ich will was und der Muskelprotz kriegt es.“ Ariane schüttelte belustigt den Kopf. „Er hatte diese Fähigkeit schon vorher.“ „Wir können sicher noch ganz viel mehr als diese Sachen!“, rief Vivien freudig aus. Ariane packte aus ihrer Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier und hielt es den anderen hin. „Wir haben auch noch die Texte aus der Ausgrabungsstätte.“ „Die bringen doch sowieso nix.“, meckerte Vitali. Vivien hatte einen anderen Vorschlag. „Ich bin dafür, dass wir uns einfach so noch ein paar Kräfte überlegen!“ Eifrig holte sie ihren Collegeblock und etwas zu schreiben aus ihrem Rucksack. „So, und jetzt schreiben wir alles auf, was uns einfällt!“ „Wie jetzt? Einfach alles?“ Vitali schaute verdutzt. „Jupp. Einfach alles!“, stimmte Vivien zu. „Was Superhelden eben so können.“ „Fliegen natürlich!“, stieß Vitali aus und Vivien schrieb auf. „Und superstark sind sie! Und können mit ihrem Röntgenblick durch Wände sehen. Und die hören alles supergenau. Und haben Eisatem. Und können mit ihrem Atem einen Sturm machen.“, ratterte Vitali herunter. „Du bist nicht Superman!“, bremste Serena ihn. „Wieso denn nicht?“, grinste Vivien, als wäre Serenas Einwand ihr vollkommen unverständlich. Ariane lächelte. „Versuchen kann man es ja.“ „Wenn wir jetzt geklärt hätten, dass ich Superman bin, kann ich ja weitermachen.“, sagte Vitali in selbstherrlichem Ton. „Also was hätten wir da noch. Hmm... Ein superelastischer Körper, ein Laserblick, sich unsichtbar machen, sich verflüssigen, im Dunkeln sehen, die Gestalt von jemand anderem annehmen, Wände hochgehen, Unverwundbarkeit, Energie absaugen-“ „Wem willst du denn Energie absaugen?“, unterbrach Ariane. „Etwa den Schatthen?“ „Das ist ja nur eine Auflistung.“, entgegnete Vitali. „Liste aber etwas langsamer auf.“, bat Justin. „Vivien kommt sonst nicht mit dem Schreiben nach.“ „Ja, ja, ja. Immer nur meckern.“ Auf diesen Kommentar hin kicherte Vivien leise. Anschließend setzte Vitali seine Aufzählung in gemäßigterem Tempo fort. „Gedankenkontrolle. Hypnose. Superschnell sein. Sich vervielfältigen“ „Noch mehr von deiner Sorte?“, schrie Serena. „Das hat mir gerade noch gefehlt!“ „Ja, ich weiß, dass dir das fehlt. Das brauchst du nicht extra erwähnen.“, konterte Vitali lässig. Serena funkelte ihn grimmig an. „Woher hast du all diese Ideen?“, fragte Justin ihn interessiert. „Comics, Videospiele, Serien. Das übliche.“, antwortete Vitali. „Wir sollten aber auch die Kräfte bedenken, die wir schon einmal eingesetzt haben.“, wandte Ariane ein. Vivien zählte auf und kritzelte eifrig auf ihren Block. „Also ein Schutzschild, … Lähmung, … Gedankenlesen, … Fliegen, aber das haben wir schon, und Gefühle und Kräfte teilen. Und dann kommen noch die Fähigkeiten mit unseren Elementen hinzu.“ „Wie genau stellt ihr euch das jetzt überhaupt vor?“, wollte Serena wissen. „Wie wollt ihr denn rausfinden, welche Fähigkeiten wirklich klappen?“ „Erstens: Nicht ‚ihr‘. Wir! Und zweitens, wir versuchen’s einfach!“, meinte Vivien. „Vielleicht kommen die Kräfte ja ganz automatisch zu uns!“ „Wäre es nicht doch sinnvoller, zunächst unsere anderen Kräfte besser unter Kontrolle zu bringen?“, wandte Ariane ein. „Ich konnte sie kaum einsetzen.“ Justin nickte. „Das werden wir auf alle Fälle weiterhin trainieren. Wir müssen das täglich üben.“ „Wie sollen wir das denn machen?“, fragte Vitali irritiert. „Ich vermute, dass unsere Kräfte für andere Menschen gar nicht sichtbar sind.“, eröffnete Justin. Die anderen sahen ihn an. „Ich bin mir dabei zwar nicht sicher und wir sollten dennoch vorsichtig sein, aber es ist notwendig, dass wir diese Kräfte auch zu Hause einzusetzen üben und das konsequent.“, verkündete er. „Aber wenn es nicht klappt, klappt es nicht.“, warf Vitali ein. „Jeder von uns weiß, wie er die Kräfte auszulösen hat, was schwierig ist, ist die Kontrolle der eigenen Gefühle.“, erwiderte Justin. „Man darf sich nicht von den Umständen durcheinander bringen lassen.“ „Leichter gesagt als getan.“, antwortete Ariane. „Das stimmt.“, gestand Justin ein. Er erhob sich. „Aber wir sollten anfangen. Langes Reden bringt uns nicht weiter.“ „Genau was ich hören wollte!“, rief Vitali und sprang auf. Die fünf entschieden sich, in den Trainingsbereich anstatt in den Meditationsraum zu gehen – zumal sie nicht einmal wussten, ob dieser überhaupt noch existierte, schließlich hatte Eternity ihn erfunden und sie war nicht mehr da. Sie verwandelten sich. „Wir stellen uns in einer Reihe auf!“, rief Unite. Die anderen folgten der Anweisung. „Und jetzt –“, Unite stockte kurz. „Schließt die Augen und hört auf euer Inneres.“ Sie machte es den anderen vor. Ihre Stimme wurde zu einem esoterischen Flüstern, das wohl Eternity nachahmen sollte. „Hört in euch hinein. Da ist etwas in euch, das euch ruft. Etwas, das darauf wartet, von euch entdeckt zu werden. Etwas, das nur ihr finden könnt, wenn ihr euch nur darauf einlasst.“ Change und Destiny kam das Ganze ziemlich lächerlich vor. Unites Stimme schwoll zu pathetischer Größe an. „Ruft eure Kraft zu euch! Ruft sie her und lasst sie durch euren Körper fließen!“ „Ich hoffe, mit meiner Kraft, kann ich sie davon abhalten, noch länger in diesem Ton zu reden.“, wisperte Destiny, woraufhin Change neben ihr prusten musste. Trust wurde streng. „Unite gibt sich wirklich Mühe. Ihr könntet dankbarer sein.“ Desire ergriff das Wort. „Was ist, wenn man die Auswirkung der Kräfte nur an jemand anderem sehen kann? Zum Beispiel die Lähmung, von der Serena erzählt hat.“ „Hey, ich spiel nicht das Versuchskaninchen!“, rief Change. „Am Schluss setzt sie mich noch in Brand oder sonst was!“ Destiny grinste unheimlich. „Weißt du, die Idee find ich jetzt gar nicht schlecht.“ Change warf ihr einen mürrischen Blick zu. „Wir versuchen es erst mal so.“, beendete Trust das Thema. Daraufhin konzentrierten sich die fünf erneut. Als sich nach einiger Zeit noch immer kein Effekt zeigte, entschied Unite, dass sie sich auf den Boden setzen sollten. Mit geschlossenen Augen schlugen sie, jeder für sich, erneut den Weg ein, der sie sonst immer zu ihren Wappen führte. Irgendwo in ihrem Inneren blieben sie stehen, wie an der Pforte zu ihrer Seele. Sie warteten und unausgesprochen ließen sie ihren Wunsch, ihre Kräfte zu entdecken, erklingen, gleich einer Schwingung, die zum Ton eines Liedes wurde. Dann verharrten sie, lauschten auf die Antwort, die weder in Worten, noch Bildern kam, sondern so nebelhaft und ungreifbar war wie alles, was sie hier in ihrem Innern fühlten. Ihre Brust begann zu glühen. Es war keine unangenehme Hitze. Um genau zu sein, handelte es sich vielleicht gar nicht um Wärme, die sie da verspürten. Aber es war das einzige, das sie benennen konnten und dem, was sie empfanden, noch halbwegs nahe kam. Es war ein Druck, als wolle etwas aus ihnen heraus, etwas Drängendes, etwas das eine Form bekommen wollte. Als sie noch näher hinsahen, wenn von ‚sehen‘ die Rede sein konnte, zeigte sich jedem von ihnen etwas anderes. Nicht dass es allen gleichzeitig gelungen wäre, es in sich zu finden, aber die Zeit war nun ohnehin bedeutungslos und was die anderen machten, war für die eigene Erkundung unwichtig. Was zählte, war allein das eigene Erleben. Change fühlte etwas Leichtes in sich, das sich auf seinem gesamten Körper ausbreitete. Mit jedem Atemzug schien er mehr Teil der Luft zu werden, die er in sich aufnahm. Das Gefühl seines Körpers änderte sich allmählich. Sachte, angenehm kühl und erfrischend ließ das übliche Körperempfinden von ihm ab, bis er schließlich an einen Punkt kam, der ihm für einen kurzen Moment Angst einjagte. Es war ein Punkt, an dem er alles loslassen musste. Ohne jeden Halt, wie schwankend auf einem Drahtseil stehend, sah er verängstigt in das Ungewisse, das ihn zu sich rief. Dann, wie von taumelnder Vorfreude gepackt, ließ er los, sprang, ließ alles gehen und war frei. Mit einem nie zuvor verspürten Gefühl in sich sog Change nochmals die Luft ein und öffnete langsam die Augen, doch sein Blick war anders als sonst. Ungläubig gaffte Change auf die Beine, die er eben noch im Sitzen untergeschlagen hatte, doch diese Beine, obgleich er sie noch fühlen konnte, waren mit einem Mal verschwunden! Gleiches galt für seine Hände und den restlichen Teil seines Körpers. Nichts an ihm war mehr sichtbar. Nach dem ersten Augenblick des Schocks und der Sprachlosigkeit, wollte Change schon vor freudigem Erstaunen und Aufregung laut auflachen, drückte aber im letzten Moment seine unsichtbaren Hände auf seinen ebenfalls nicht länger sichtbaren Mund und betrachtete mit einem Grinsen die anderen. Die übrigen Beschützer hatten allesamt ihre Augen geschlossen und daher noch nicht bemerkt, dass eines ihrer Mitglieder verschwunden war. Changes Grinsen wurde noch ein wenig breiter. Mit schelmischem Blick wandte er sich in Destinys Richtung und rieb sich die Hände in böser Absicht. Was gab es Besseres als jemanden zu erschrecken, wenn man unsichtbar war? Ja, vielleicht war es ein billiger Einfall, aber das machte es nicht weniger spaßig! Change lachte lautlos in sich hinein. So leise als möglich erhob er sich und trat dann auf Zehenspitzen hinter Destiny. Kurz noch überlegte er, was er ihr antun würde, ehe er sich für das altbewährte An-den-Haaren-Ziehen entschied. Und schon schnellte seine Hand zu Destinys braunem Haarschopf vor. Sobald Changes Fingerspitzen Destiny berührten, ging ein fürchterlicher Schlag durch seinen Körper, sodass er sich nicht länger rühren konnte. Doch was viel schlimmer war, war das entsetzliche Gefühl, das ihm augenblicklich die Luft abschnürte. Wie ein Dolch war etwas in ihn hineingefahren und in ihm stecken geblieben. Übelkeit kam in ihm hoch und ließ seine Umgebung verblassen, bis er nur noch den Fremdkörper wahrnahm, der sich immer tiefer in ihn hineinbohrte, ehe er an einer Stelle verharrte, die so grausam persönlich war, dass niemals, niemals, etwas dorthin hätte finden dürfen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)