Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 56: Betreten verboten! ------------------------------ Betreten verboten! „Reiße niemals einen Zaun ein, bevor du nicht weißt, warum man ihn aufgestellt hat“ (Gilbert Keith Chesterton) „Vitali! Telefon!“, rief Vicki durch den Flur des Hauses Luft. Sein großer Bruder kam die Treppe herunter. „Wer ist es denn?“, fragte Vitali. „Keine Ahnung. Irgendein Mädchen.“, gab Vicki zurück und hielt ihm das schnurlose Telefon hin. Vitali ergriff es und hob es mit nervösem Gesichtsausdruck ans Ohr. „Hallo?“ „Hallo!“, drang Arianes freundliche Stimme vom anderen Ende des Hörers. „Ach du bist es.“, sagte Vitali geradezu desinteressiert. „Hast du jemand anderen erwartet?“, wollte Ariane belustigt wissen. „Quatsch! Wen soll ich denn erwartet haben?“, rief Vitali energisch. Dann fügte er in normaler Lautstärke an: „Ich dachte bloß, du hast noch keinen Telefonanschluss.“ Es klang fast, als wolle er sich rechtfertigen. „Ich hab eine Festnetz-Flat auf dem Handy.“, erklärte Ariane. „Du hast auf deinem Handy nicht abgenommen.“ Da Vitali sein Handy grundsätzlich auf lautlos gestellt hatte und oft genug vergaß, es rechtzeitig aufzuladen, war es nicht verwunderlich, dass er den Anruf nicht mitbekommen hatte. „Was gibt’s?“ „Tut mir leid, wenn ich dich vom Lernen abhalte.“, entschuldigte sich Ariane, schließlich war es Sonntag und sie wusste, dass Vitali noch einiges an Arbeit vor sich hatte. „Ich werd’s überleben.“, entgegnete Vitali. „Schieß schon los.“ „Es geht um Erik.“ „Huh?“ „Was ist, wenn Eriks Vater der Schatthenmeister ist?“, stieß Ariane aus. Unglaube sprach aus Vitalis Stimme. „Weil er ihm ’ne Ohrfeige gegeben hat?“ „Findest du das etwa normal?“, fragte Ariane entsetzt. „Deswegen ist er noch lange nicht der Schatthenmeister.“, meinte Vitali spöttisch. „Aber das ist doch nicht alles, das gegen ihn spricht.“, beharrte Ariane. „Wir hatten ihn schließlich schon zuvor im Verdacht. Und jetzt…“ Sie stockte. „Wir können doch nicht zulassen, dass Erik die ganze Zeit in den Fängen des Schatthenmeisters ist.“ „Wir wissen doch gar nicht, ob er das ist.“, wandte Vitali ein. „Ich weiß, deshalb rufe ich an.“, eröffnete Ariane. „Hä?“ „Kannst du nicht mehr über Eriks Vater in Erfahrung bringen?“, bat sie. „Und wie soll ich das machen?“ „Du kannst doch Erik über ihn ausfragen.“, schlug Ariane vor. „Wieso machst du das nicht?“, versetzte Vitali. „Du sitzt neben Erik. Deshalb hast du viel öfter die Gelegenheit, mit ihm zu reden.“, begründete Ariane ihren Vorschlag. „Kerle reden nicht über so was!“, wehrte sich Vitali. „Oh Vitali, das sind bloß Klischees! Du möchtest dein Verhalten doch nicht von so etwas abhängig machen!“, plädierte Ariane. „Stimmt.“, sagte Vitali. „Mein Verhalten sollte unabhängig sein. Deshalb wird es dir auch nichts ausmachen, dich selbst um die Sache zu kümmern.“ „Vitali, komm schon!“, bat Ariane. „Mann, Erik merkt doch sofort, das was nicht stimmt, wenn ich ihn so ’nen Blödsinn frage.“ „Das ist kein Blödsinn!“, beschwerte sich Ariane. „Sei doch mal ehrlich. Glaubst du wirklich, Erik würde sich nicht wundern, wenn gerade ich ihn so was frage?“ Ariane gab ein resignierendes Geräusch von sich. Dann kam eine erneute Welle des Optimismus‘ in ihr hoch. „Wo du schon so selbstreflektiert bist, kannst du doch einen neuen Weg einschlagen, über dich selbst hinauswachsen, dein Ich neu definieren, und Erik nach seinem Vater fragen.“ „Ariane.“ „Ja?“ „Nein!“ „Och bitte, Vitali.“, flehte Ariane. „Nein.“ „Bitte, bitte.“ „Nein!“ „Bitte, bitte, bitte!“ „Nein, nein und nochmals nein!“ Ariane ließ nicht locker. „Tu es mir zuliebe!“ Genervt stieß Vitali die Luft aus. „In der Zeit, in der du mich hier voll laberst, könntest du genauso gut Erik anrufen.“ „Es ist doch noch viel auffälliger, wenn ich ihn deswegen anrufe.“, erwiderte Ariane. „Du traust dich bloß nicht.“, zog Vitali sie auf. „Hm.“, gab Ariane kleinlaut von sich. „Jetzt ehrlich?“, fragte Vitali. „Du weißt doch, dass wir nicht das beste Verhältnis haben.“ Vitali klang amüsiert: „Dafür hast du dich gestern aber ganz schön für ihn ins Zeug gelegt.“ „Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn jemand ungerecht behandelt wird. Da könnte ich aus der Haut fahren!“ „Das hab ich gesehen.“, lachte Vitali. „War es so schlimm?“ „Sagen wir so, du hast Erik damit ziemlich entmannt.“, alberte Vitali. „Entmannt?“, fragte Ariane verständnislos. „Ja. Du hast ihm die Männlichkeit genommen, ihn wie einen Schwächling hingestellt, ihn zum Waschlappen gemacht.“, umschrieb Vitali. „Ich habe es verstanden! Ich weiß nur nicht, wie du das meinst.“, präzisierte Ariane. „Na hör mal, du hast ihn vor seinem Vater verteidigt! Ein kleines, schwaches Mädchen hat den großen, starken, supertollen Erik Donner vor seinem Papi beschützt und er ist nur daneben gestanden und hat zugeguckt und hat keinen Ton rausgekriegt. Für uns Kerle ist das tödlich!“ „Das ist doch lächerlich!“, rief Ariane aus. „Im Kampf beschützen wir uns die ganze Zeit gegenseitig!“ „Jo, aber das war kein Kampf. Das war sein Vater.“ „Ach und weil ich ein Mädchen bin, muss ich da still bleiben?“, brauste Ariane auf. „Mann, wenn ich das gemacht hätte, wäre das genauso peinlich für ihn gewesen.“, stellte Vitali klar. „Warum?“, forderte Ariane zu erfahren. „Weil es sein Problem ist! Kapierst du das nicht?“, rief Vitali. „Es ist peinlich, dass du dich da eingemischt hast. Du hast ihn dadurch so hingestellt, als wäre er ein kleiner Junge, der sich nicht selbst wehren kann.“ Von der anderen Hörerseite kam für einen Moment keine Reaktion. „Äh, hallooo?“ Erst jetzt meldete sich Ariane wieder. Doch in ihrer Stimme schwang Unsicherheit. „Glaubst du das wirklich?“ „Was?“ „Dass ich Erik damit gekränkt habe?“ „Nicht gekränkt, eher naja… beschämt.“, verbesserte Vitali. „Das wollte ich nicht.“, sagte Ariane kleinlaut. „Willst du, dass er sich in dich verliebt?“ „Ganz sicher nicht!“, schimpfte Ariane empört. „Na also. Nach der Aktion brauchst du dir darüber auch keine Sorgen mehr machen!“, scherzte Vitali und prustete los. „Haha.“, zischte Ariane erbost. „Du bist echt doof.“ „Ihr wollt doch ’nen Kerl, der euch überlegen ist und euch beschützen kann. Wo kommen wir denn da hin, wenn die Frauen plötzlich die Männer beschützen.“ „Zur Gleichberechtigung!“, rief Ariane überzeugt. Höhnisch stieß Vitali Luft durch die Zähne. „Tss...“ „Was sollte das jetzt?“, rief Ariane ärgerlich. „Frauen wollen keine Gleichberechtigung. Frauen wollen nur eine Sonderbehandlung.“ „So ein Blödsinn!“ „Gibt es spezielle Männerbeauftragte? Oder Männerparkplätze? Nein! Gleichberechtigung würde doch heißen, dass Männer und Frauen überall die gleichen Rechte und Pflichten kriegen müssten. So ist es aber nicht. Ihr wollt immer ’ne Extrawurst.“ „Das stimmt überhaupt nicht! Frauen sind jahrhundertelang unterdrückt worden! Und jetzt müssen sie sich den Platz in der Arbeitswelt und überall sonst erst erarbeiten! Gleichberechtigung heißt nicht, dass Frauen zu Männern werden, sondern dass sie gleiche Chancen haben möchten!“ „Solange ihr die Kinder kriegt, werdet ihr nie die gleichen Chancen haben.“, entgegnete Vitali. Ariane stieß ein aufgebrachtes Geräusch aus und wurde laut. „Du bist ein Ignorant!“ „Ich sage nur, was Sache ist. Außerdem wisst ihr doch selbst nicht, was ihr wollt. Einmal macht ihr einen auf große Selbstständige und dann takelt ihr euch total für ’nen Kerl auf. Wenn das nicht widersinnig ist.“ „Mädchen machen sich für sich selbst hübsch!“, widersprach Ariane. „Ah ja, und die Stöckelschuhe tragt ihr auch zum Vergnügen.“, höhnte Vitali. „Ja, manche Frauen tun das.“, entgegnete Ariane. „Außerdem gibt es auch Männer, die gerne Frauenkleider tragen!“ „Das sind keine Männer!“, begehrte Vitali heftig auf. Ariane antwortete leicht spöttisch. „Ich weiß nicht, ob du es wusstest, aber ob du phänotypisch ein Mann oder eine Frau bist, entscheidet ein einziges von 46 Chromosomen. Und ob du dich in diesem Körper richtig fühlst, steht noch mal auf einem anderen Blatt.“ „Ein Y-Chromosom allein macht einen noch lange nicht zu einem richtigen Mann!“, beanstandete Vitali. „Vitali, du denkst ständig in solchen Klischees! Ein richtiger Mann! Was ist denn ein falscher Mann? Du bist du! Du musst nichts Bestimmtes dafür tun! Man selbst entscheidet, was man ist.“ „Ja klar.“, spottete Vitali. „Wenn’s drauf ankommt, würdet ihr Weiber den Megamacho doch dem Weichei vorziehen.“ „So ein Unsinn!“, stieß Ariane aus. „Du kannst doch nicht einfach, alle in einen Topf werfen! Zu was für einer Gruppe zählst du mich denn? Tussi? Zicke? Dummes Blondchen?“, wollte sie entrüstet wissen. „Du bist was anderes.“, entgegnete Vitali kleinlaut. „Dich kann man nicht so einfach einordnen.“ „Das kann man bei keinem Menschen!“, sprach Ariane energisch. „Wenn du jemanden näher kennst, dann findest du immer ganz verschiedene Seiten an ihm. Und solche Begriffe wie Macho und Weichei sind nur abwertende Zuschreibungen, von denen man sich freimachen muss!“ „Meinetwegen…“, beendete Vitali das Thema. „Aber weißt du was?“ Seine Stimme wurde mit einem Mal erstaunlich positiv. „Du hast mich überzeugt! Frauen brauchen mehr Chancen, um sich beweisen zu können. Und um meinen Beitrag zur Emanzipation zu leisten, überlasse ich es dir, Erik auszufragen!“ „Das ist nicht fair!“, rief Ariane erregt aus. „Du hast mir das Wort im Mund umgedreht!“ „Willst du jetzt etwa wieder einen Rückzieher machen?“, fragte Vitali hämisch. „Das ist die Gelegenheit deine Gleichberechtigung zu beweisen!“ „Das hat überhaupt nichts mit Gleichberechtigung zu tun!“, schimpfte Ariane. „Du wälzt das einfach nur auf mich ab!“ „Ha! In Wirklichkeit hast du es doch auf mich abwälzen wollen. Ist ja schließlich deine Idee.“ „Ich finde das total gemein von dir!“, jammerte Ariane. „Tja, wie du gesagt hast, wenn man Menschen näher kennst, findet man die verschiedensten Seiten an ihnen!“, neckte Vitali sie. Ariane gab ein Grummeln von sich. „Na danke!“ Kurzes Schweigen trat auf. Geräuschvoll stieß Vitali schließlich die Luft aus. „Können wir’s so machen: Jeder von uns versucht, mehr darüber herauszufinden?“ „Und wer es als erstes schafft, bekommt vom Verlierer eine Pizza spendiert!“, erweiterte Ariane die Spielregeln. Vitali klang nicht begeistert. „Sonst noch was?!“ „Ansonsten versuchst du es erst gar nicht!“, sagte Ariane ihm auf den Kopf zu. Vitali ärgerte sich, dass sie damit genau den Punkt getroffen hatte. „Na fein.“, stimmte er widerwillig zu. Montags nach der Wirtschaftsarbeit war Vitali zunächst viel zu K.O., um sich der Befragung von Erik zu widmen. Erschöpft nahm er auf seinem Stuhl eine mehr liegende als sitzende Position ein. „Wenigstens ist es jetzt rum.“, seufzte er erschlagen. „Freu dich nicht zu früh.“, warnte Erik. „Da kommen noch ein paar Arbeiten.“ Vitali gab ein halb genervtes, halb jammerndes Geräusch von sich. „Erinner mich nicht dran. Ich brauche Ferien!“ Von der Wandseite drang Justins Stimme zu ihm. „Den einen Tag musst du noch durchhalten.“ Verwirrt blickte Vitali zu ihm nach hinten. „Hä?“ „Am Mittwoch ist der dritte Oktober.“, informmierte Justin. Hoffnungsvoll raffte sich Vitali wieder auf. „Ist das ein Feiertag?“ Ariane sah ihn ungläubig an. „Vitali, das ist unser Nationalfeiertag. Der Tag der Deutschen Einheit.“ „Ist doch egal. Hauptsache schulfrei!“, freute Vitali sich. Fröhlich mischte sich Vivien ein. „Und morgen ist der zweite Oktober!“ „Wow und heute ist der erste Oktober.“, meinte Serena sarkastisch. „Haben wir jetzt die Daten durch?“ Erik drehte sich zu Vivien um. „Hast du morgen Geburtstag?“ „Nee nee.“, antwortete Vivien. „Aber in meinem Kalender steht, dass morgen das Schutzengelfest ist. Ist doch cool!“ „Ja, und so weltbewegend.“, spottete Serena. „Wenn wir da nicht schulfrei haben, ist es unwichtig.“, stimmte Vitali zu. Vivien blieb euphorisch. „Ich finde, es ist eine tolle Idee, den Schutzengeln zu danken.“ Erik schnaubte spöttisch. „Wenn du meinst.“ „Glaubst du nicht an Schutzengel?“, wollte Vivien von ihm wissen. Erik antwortete nüchtern. „Für mich ist das religiöser Unfug. Der einzige, der auf einen aufpasst, ist man selbst.“ Vivien kicherte hell. „Bestimmt hast du bisher nur nicht richtig darauf geachtet. Also ich kann deine Schutzengel ganz genau sehen!“ Zynismus zeigte sich auf Eriks Gesicht. In diesem Moment kam der Sportlehrer der Jungs ins Klassenzimmer. „Der Sportunterricht heute Mittag entfällt. Auch für die Mädchen.“, verkündete er. „Sagt’s weiter.“ Und schon ging er weiter zur nächsten Klasse. Vitali stieß einen Freudenruf aus. „Es gibt Engel!“ Nach dem Unterricht verließen sie gemeinsam das Schulgebäude. Die fünf warteten darauf, dass sich Erik von ihnen verabschiedete, damit sie sich noch kurz über Beschützerangelegenheiten unterhalten konnten. Er machte jedoch keinerlei Anstalten, sich von ihnen zu trennen. „Willst du nicht heim?“, fragte Vitali irritiert. Erik hob die linke Augenbraue. „Willst du mich loswerden?“ Vitali grinste spitzbübisch. „Immer.“ Erik grinste zurück. „Ich dachte mir, von jetzt an sollte ich meine Freundin nach Hause begleiten.“ Ohne zu zögern legte er seinen Arm um Serena, woraufhin diese ihn missbilligend ansah, derweil Vitalis Gesicht sich unschön verzog. Bevor Vitali jedoch etwas sagen konnte, rief Ariane freudig aus: „Du willst mit uns mitgehen?“ Dass sie so begeistert darüber sein würde, hatte Erik nun wirklich nicht erwartet. Aber von jetzt an würde er auf alles vorbereitet sein! „Nein.“, sagte er überheblich. „Ich will nur mit Serena mitgehen. Mit dir hat das nichts zu tun.“ Arianes Freude schlug in Empörung um. „Worauf wartest du denn dann noch?“, zischte sie. Erik sah daraufhin auf Serena. „Ja, worauf warten wir eigentlich noch?“ Genervt rollte Serena mit den Augen. „Wenn ihr beide euch streiten wollt, lasst mich da raus.“ Vivien klang vergnügt. „Lass ihnen doch den Spaß! Wenn du und Vitali euch streitet, sagen wir doch auch nichts,.“ „Was, ihr sagt da nichts?!“, stieß Serena aus. „Wie oft krieg ich denn zu hören, dass wir uns vertragen sollen!“ Vivien zog ein argloses Gesicht. „Oh. Du hättest doch sagen können, dass es dich stört, wenn wir eure Flirtversuche unterbrechen.“ „Wir flirten nicht!“, schrie Serena. „Das will ich doch hoffen, Schatz!“, sagte Erik in gespieltem Ernst. „Ach, halt die Klappe.“, grummelte Serena halblaut. Erik grinste amüsiert. Schließlich trennte sich die Gruppe. Ariane drehte sich nochmals zu Vitali um und zeigte ihm den erhobenen Daumen. Wehleidig sah Vitali ihr nach, denn er wusste, dass Ariane sich als Belohnung nicht gerade die billigste Pizza aussuchen würde. Aber noch war ja nicht gesagt, dass es ihr wirklich gelang, Erik auszuquetschen. Hätte sie doch bloß Serena vorher eingeweiht! Ariane ärgerte sich über sich selbst. Gemeinsam mit Serena wäre es ein Leichtes oder zumindest leichter gewesen, im Gespräch mehr über Eriks Vater herauszufinden. Aber so war sie nun gezwungen, abzuwarten, um nicht Gefahr zu laufen, dass Serenas Kommentare unbeabsichtigt ihre Pläne durchkreuzten. Der Heimweg zog sich hin und als sich Serena schließlich verabschiedet hatte, kam endlich Arianes Gelegenheit. „Erik, was ich dich noch fragen wollte.“, begann sie und bemühte sich, ihre Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.. „Du und dein Vater… Habt ihr eigentlich gemeinsame Interessen? Ich meine, was macht dein Vater denn so in seiner Freizeit?“ Nicht dass sie davon ausging, dass Erik etwas antwortete wie: ‚Er erschafft Schatthen und versucht die Weltherrschaft an sich zu reißen.‘ Eriks Gesicht verzog sich in Unglauben. „Was?“ Ariane versuchte sich an einem unschuldigen Lächeln. „Hat dein Vater irgendwelche Hobbys?“ „Wie kommst du jetzt darauf?“ Skepsis legte sich auf seine Züge. „Es interessiert mich einfach.“, entgegnete Ariane, noch immer lächelnd. „Und wieso?“ Langsam aber sicher wurde Ariane das künstliche Lächeln anstrengend. „Einfach so eben!“ Noch einen Moment sprach kompletter Zweifel aus Eriks Miene, dann wurde daraus Unwille. „Wenn du dir irgendwelche Pläne ausdenken willst, damit ich mich mit meinem Vater besser verstehe, vergiss es sofort wieder!“ Die Lässigkeit war aus seiner Stimme gewichen, doch Ariane registrierte es nicht. Zu überrascht war sie über seinen Einfall. Seine Idee war ein gutes Alibi für ihre Befragung! Daher griff sie den Gedanken kurzerhand auf. „Man könnte es doch versuchen! Wenn du dich etwas anstrengst, dann –“ Mitten im Satz brach sie ab. Eriks mörderischer Blick schnürte ihr die Luft ab. Purer Zorn sprach augenblicklich aus seiner gesamten Erscheinung. „Halt dich da raus!“, stieß er scharf aus. Es war eine unmissverständliche Drohung. Schockiert und eingeschüchtert wurden Arianes Schritte langsamer. Wie hätte sie auch verstehen können, was ihr Kommentar aus den Tiefen seiner Seele schlagartig ans Tageslicht zerrte. Ohne auf ihre Reaktion zu achten, lief Erik mit unvermindertem Tempo weiter – sein Gesicht eine Maske des Zorns. Ariane verspürte eine Mischung aus Entrüstung und Unruhe. Empört und verängstigt durch Eriks plötzliche Aggressivität biss sie die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Mit großen Schritten holte sie ihn wieder ein. „Glaubst du, es wird besser, wenn du deine Probleme verdrängst?“ Überreizt stoppte Erik in der Bewegung, drehte sich abrupt zu ihr um und hielt ihr warnend die Hand entgegen. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. „Das geht dich überhaupt nichts an!“ Aufgebracht schlug Ariane seine Hand beiseite. „Benimm dich nicht wie ein Kind!“ Das hätte sie nicht tun sollen… Eriks Reaktion war beängstigend. Sein Hass fiel Ariane an und versuchte ihr Innerstes zu zermalmen. Von Eriks Stimme war nur noch ein tobsüchtiges Knurren geblieben. Langsam und bedrohlich spie er die Worte aus: „Wag es nicht, mich noch einmal so zu nennen.“ Seine Raserei weckte umso mehr Widerstand in Ariane. „Warum? Weil du die Wahrheit nicht ertragen kannst?“ Ein Augenzwinkern lang starrte Ariane in Eriks wutverzerrtes Gesicht und obwohl ihr Gesichtsausdruck nicht an Unbeugsamkeit verlor, zitterte sie innerlich vor Angst, dass Erik seine Wut nicht unter Kontrolle halten und sie sich in roher Brutalität entladen würde. Brutalität, die sich gegen sie richtete. Und wie nah sie damit an der Wahrheit lag. Nur mit größter Mühe gelang es Erik, sich abzuwenden. Tonlos, die Zähne fest zusammengebissen, und den Blick starr nach vorne gerichtet, entfernte er sich mit festen Schritten von ihr. „Erik!“, schrie sie ihm hinterher, doch er reagierte nicht. Ariane konnte nicht mehr zurück. Ein innerer Drang hielt sie davon ab, die Sache einfach auf sich bewenden zu lassen. Obwohl sie nicht wusste, was geschehen würde, wenn sie nicht endlich stoppte, konnte und wollte sie hier nicht abbrechen. Sie rannte Erik hinterher und packte ihn entschlossen am Arm. Mit einer harschen, brutalen Bewegung riss sich Erik los. „Fass mich nicht an!!!“ Seine Stimme war so erschütternd und gewaltbereit, dass Ariane vor Entsetzen fast schwarz vor Augen wurde. Im gleichen Moment kreischte sie schrill auf. „Hör auf!“ Ihre Züge konnten ihre Gefühlsregung nicht länger vertuschen. „Siehst du denn nicht, was du tust? Du wirst genau wie dein Vater!“ Schlagartig erstarrte Erik. Der Zorn in seinem Gesicht wandelte sich jäh zu einer Art Ohnmacht. Durch ihre brennenden Tränen hindurch sah Ariane, wie sein Blick zu Boden glitt. Halb erstickt hauchte sie. „Es … tut mir leid.“ Alles war zu viel. Eriks Wandel zu einem komplett Fremden, jemandem, von dem sie sich bedroht fühlte, der ihr Angst machte! Mit wirrem Kopf wich sie vor ihm zurück. Wie vor einer wilden Bestie. Etwas packte sie am Handgelenk! Ariane stieß einen heiseren Schreckenslaut aus. Eriks erbarmungsloser Griff hielt sie fest, ohne dass er dabei aufblickte. Panisch sog Ariane Luft in ihre Lungen, aber auch das half nichts. Sie hatte erdrückende Angst! Und konnte das Schluchzen nicht länger zurückhalten. Im gleichen Atemzug ließ Erik von ihr ab. Sie sah, dass seine Hand leicht zitterte. Noch immer starrte er zu Boden. Eine Sekunde wollte Ariane weglaufen. Ganz weit weg. Weg von Erik. Aber gleichzeitig konnte sie es nicht. Sie hatte furchtbare Angst, in seiner unmittelbaren Nähe zu sein, und doch … Ariane hörte Erik nach Atem ringen. Er schluckte hart. Und so groß und durchtrainiert er war, und so große Angst er ihr machte, in diesem Augenblick bildete sie sich ein, etwas ganz anderes in ihm zu sehen: ein kleines verschüchtertes Kind, einsam und verlassen, unfähig sich zu regen. Vielleicht war es Mutterinstinkt, vielleicht Beschützer-Instinkt, Atem holend kratzte Ariane allen ihr verbliebenen Mut zusammen, dann streckte sie zaghaft ihre Hand aus. Noch einmal stockte sie in der Bewegung, kam Furcht in ihr hoch, ehe sie vorsichtig Eriks Hand berührte. Als hätte sie ihm einen schmerzhaften Hieb versetzt, schnellte Eriks Kopf zu ihr, sodass sie fast vor Schreck ihre Hand wieder zurückgezogen hätte. Sie sah in seine Augen und erkannte darin mindestens genauso viel Furcht wie sie selbst hatte. Erik blinzelte und schlug die Augen nieder, woraufhin sie seine Hand nun vollends ergriff. Ganz fest. Für Augenblicke drückte sie seine Hand. Schwach kam ein Flüstern aus seinem Mund. „Warum tust du das?“ Kurz suchte Ariane nach Worten. Nein, sie suchte nach einer Antwort! „Ich weiß nicht.“, gestand sie. Wieder herrschte Schweigen. Langsam blickte Erik auf, blickte sie an, und die Qual, die Ariane in seinen Zügen las, raubte ihr den Atem. Sie konnte nicht anders. Sie trat einen Schritt weiter auf ihn zu, überwand die Distanz zwischen ihnen, ohne zu wissen, was jetzt zu tun war. Darüber brauchte sie sich auch nicht länger Gedanken machen. Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, fand sie sich in Eriks Armen wieder. Er drückte sie so fest an sich wie es nur ging ohne schmerzhaft zu sein. Mit der rechten Hand hielt er ihren Kopf fest, mit der anderen ihren Oberkörper. An ihrer linken Wange fühlte sie sein glühendes Gesicht, das er fiebrig an ihres presste. Und ob es ihr unbändiges Herzklopfen war oder seines, konnte sie nicht mehr sagen. Das heftige Rauschen ihres Blutes, der Geruch seiner Haut und seine hilfeflehende, innige Umarmung ließen alles zu einem seltsamen Mischmasch verschmelzen, so dass sie nicht länger sicher war, ob sie wachte oder träumte. Sie wusste auch nicht, wie lange dieser Zustand andauerte, wie lange sie seine Körperwärme spürte, wie lange das unbekannte Schwindelgefühl in ihrem Kopf und ihrem ganzen Körper anhielt. Es konnten mehrere Minuten gewesen sein, aber genauso gut ein Augenzwinkern. Sie wusste nur, dass sie die Augen geschlossen und nicht länger darüber nachgedacht hatte; bloß noch Eriks schwächer werdendes Zittern, seinen anfangs hektischen Atem und schließlich seinen wieder ruhiger werdenden Herzschlag in sich aufgesogen hatte, während das heiße, bebende Pochen in ihren Adern ihr schwummrig werden ließ. Zu einem ungewissen Zeitpunkt hatte sich Eriks Griff gelockert und nach und nach waren sie voneinander weg getorkelt, stumm und wirr. Für Momente standen sie sich wortlos gegenüber, ohne einander anzusehen. „Sprich ... es nie wieder an.“, sagte Erik schleppend und heiser. Reflexartig nickte Ariane. Weitere Sekunden verstrichen, dann machte Erik einen Ausfallschritt und lief an ihr vorbei. „Lass uns gehen.“ Perplex starrte Ariane ihm nach und brauchte noch einen Moment, bevor sie ihm zaghaft folgte – immer in wenigen Schritten Abstand. Minutenlang fiel kein einziges Wort. Keiner sah den anderen an. Nur ab und zu hob Ariane den Blick und beobachtete, wie er vor ihr lief. Etwas an Eriks Art, an seinem Gang, an seiner ganzen Ausstrahlung, erinnerte sie so heftig an Secret, dass sie sich des absurden Gedankens nicht erwehren konnte, er könne sich plötzlich wieder an alles erinnern. Der Drang, diese Vermutung bestätigt zu wissen, wurde übermächtig. Ariane holte Luft. „Secret…“ Der Junge vor ihr blieb abrupt stehen. Ariane kam es wie eine Ewigkeit vor, bevor er sich endlich zu ihr umdrehte. Secrets gefühlsleerer Blick begegnete ihr – ohne Erkennen. Ariane schluckte. Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, dann erschien ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen. „…So hieß er. Der Junge aus dem Roman.“ Der Schwarzhaarige nahm ihren Kommentar stumm zur Kenntnis, drehte sich wieder um und ging weiter. Diesmal schloss Ariane zu ihm auf. Grauen-Eminenz saß in einem abgedunkelten Raum, einen imaginären Bildschirm vor sich. Er ging nochmals die Aufnahmen durch, die er von den Kämpfen seiner Auserwählten gemacht hatte. Es waren insgesamt drei. Ein Video vom Supermarkt, eines vom Entschaithaler Kurpark und schließlich jenes von der Burg Rabenfels. Letzteres hatte ihm keinerlei neuen Erkenntnisse geliefert. Auch der Angriff im Kurpark war nicht sehr aufschlussreich gewesen. Die Bilder waren nicht von Blickfenstern eingefangen worden, sondern stammten aus der Sicht der Schatthen. Entsprechend hatte die Aufnahme jedes Mal gestoppt, wenn der jeweilige Schatthen zerstört worden war. Daher wusste Grauen-Eminenz nicht, was nach diesem Kampf geschehen war. Was zum Teufel diese plötzliche Sinneswandlung in seinen Auserwählten ausgelöst hatte! Er wusste überhaupt nicht, wie sie die Kräfte, die er ihnen verliehen hatte, einfach so wieder unter Kontrolle hatten bringen können. Wie auch immer. Er wandte sich der Aufnahme vom Supermarkt zu. Diese lieferte eindeutig das beste Bildmaterial. Für gewöhnlich dauerte ein Blickfenster zu erzeugen zwar eine Weile, je nachdem wie geübt man darin war, aber wenn sich elektrische Leitungen in der Nähe befanden, an die man andocken konnte, war das etwas anderes. Daher hatte er die zahlreichen Leuchten im Supermarkt angezapft und so trotz der sehr kurzfristigen Entscheidung, den Angriff im Supermarkt auszuführen, das gesamte Innere überwachen können. Im Park und in der Burg war dies natürlich nicht möglich gewesen. Er spielte das Video ganz zurück. Leider hatte er die Blickfenster erst kurz vor dem Einschleusen der Schatthen aktivieren können. Es hatte alles sehr schnell gehen müssen, daher war auch keine Tonspur aufgezeichnet worden. Zunächst hatte er nun das gesamte Innere der Filiale aus der Vogelperspektive vor sich, zoomte dann aber zu der Ecke, in der die fünf mit einem Einkaufswagen standen. Sie unterhielten sich augenscheinlich und liefen dann weiter. Auf einmal machten sie seltsame Bewegungen, als würde etwas sie in Panik versetzen. Anschließend ließen sie ihren Einkaufswagen stehen und rannten auf den Hauptgang des Supermarkts zurück, sprachen dort mit einer Kundin, die sich ohne Antwort schnell von ihnen entfernte, und liefen dann mit einem Mal wieder zurück in die Ecke, aus der sie gekommen waren, als wollten sie sich verstecken. Er hielt das Bild an. Dieses Verhalten seiner Auserwählten hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht mitbekommen, da er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, die Schatthen einzuschleusen und zu befehligen. Ansonsten hätten diese verdammt dummen Kreaturen noch ein Blutbad angerichtet, das er im Gegensatz zu ein paar umgestürzten Regalen nicht mehr hätte rückgängig machen können. Das war interessant. Diese abrupte Verhaltensänderung war eingesetzt, bevor die fünf etwas von den Schatthen hatten wissen können. Hatten sie etwas davon gespürt? Vielleicht hatten sie einen sechsten Sinn. Aber warum waren sie dann nicht sofort geflohen? Unwichtig. Wie es schien, hatten diese Bälger die Fähigkeit, die Präsenz der Schatthen zu erspüren, und das war entscheidend. Mehr konnte er aus den Videos auch nicht erfahren. Außerdem lieferten sie ihm keinerlei Hinweise auf die Kräfte seiner Auserwählten. Grauen-Eminenz hielt kurz inne. Was war mit dem Zeitraum, in dem sie in seinem Reich eingesperrt waren? Das Labyrinth hatte nichts Großartiges gezeigt, nur ein paar spontan eingesetzte Taschenspielertricks, und das Spiegelkabinett hatte ihm zumindest gezeigt, dass ungeheures Potential in ihnen schlummerte oder zumindest in dem dunkelhaarigen Mädchen. Aber was war mit vorher? Was war mit der seltsamen Verwandlung? Er hatte sie bisher ganz außer Acht gelassen. Er machte eine Handbewegung und der Bildschirm veränderte sich. Die Gedanken aufs Äußerste konzentriert ging er seine Aufzeichnungen durch. 31. August. Die Unendlichen Ebenen. Da war es. Die Aufnahme war um einiges besser als alle anderen Videos, schließlich handelte es sich hier um sein Reich und damit hatte er vollkommene Befehlsgewalt über alles. Doch wirklich aufschlussreich war sie auch nicht. Wieder sah er das helle Licht, das seine Schatthenarmee vor über einer Woche ausgelöscht hatte, aber wie dieses Licht entstanden war, woher es stammte, war nicht ersichtlich. Die fünf hatten nicht einmal den Ansatz dazu gemacht, eine Macht herbeizurufen und dennoch war sie erschienen. Und dann waren da noch diese runden Lichter, die er nicht erkennen konnte und die anscheinend für die Verwandlung verantwortlich waren. Gereizt stieß er den Atem aus. So kam er nicht weiter. Er musste ihre Kräfte im konkreten Fall analysieren. Ihre Essenz, ihre Zusammensetzung, den Akt des Heraufbeschwörens. Sein Versuchskaninchen kam ihm wieder in den Sinn. Erik saß in seinem Zimmer auf einem Sessel und las einen Artikel auf seinem Smartphone, als seine Zimmertür geöffnet wurde. Er drehte sich um. Ohne ein Wort des Grußes legte sein Vater ihm ein großes Kuvert auf das Sideboard. „Das gibst du morgen bei Finster ab.“ Sein Vater wartete erst gar nicht seine Reaktion ab, sondern wandte sich zum Gehen. Wütend ballte Erik die Hände zu Fäusten und wollte gerade Widerspruch einlegen, als ihm Arianes Bild durch den Kopf schoss und er zögerte. Im nächsten Atemzug war sein Vater auch schon aus seinem Zimmer verschwunden. Erik stand auf und lief hinüber zu dem Kuvert. Er nahm es in die Hand und betrachtete es unwillig. Arianes Worte ertönten in seinem Kopf: ‚Wenn du dich etwas anstrengst, dann ...‘ Aufgebracht warf er das Kuvert zurück auf das Sideboard und biss die Zähne zusammen. Ein Zittern ging über seinen Körper und er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Das hatte er längst hinter sich! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)