Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 60: Leichen im Keller ----------------------------- Leichen im Keller „Es schlägt nicht immer ein, wenn’s donnert.“ (Deutsches Sprichwort 1876) „Hast du das Kuvert in den Hochsicherheitstrakt der Finster GmbH geschleust bekommen?“, fragte Vivien, nachdem sie die Doppelstunde Mathe hinter sich gebracht hatten. Erik antwortete so lässig, dass jeder Geheimagent vor Neid erblasst wäre. „Ich musste ein paar Tricks anwenden und die Alarmanlage lahmlegen. Aber du weißt ja: Für mich kein Problem.“ Er unterstrich seine Aussage mit einem gewinnenden Lächeln. „Was habt ihr so gemacht? „Wir haben gespielt!“, rief Vivien. Erik schaute zunächst zweifelnd. Dann zog sich sein linker Mundwinkel zu einem schrägen Grinsen nach oben. Seine Augen wanderten zu Ariane. „Und? Muss sich Ariane mir wieder an den Hals werfen?“ Die Empörung über seine Anspielung auf den ersten Schultag war Ariane deutlich anzusehen. Warum hatte Vivien auch so eine superpeinliche Geschichte erfinden müssen, um zu erklären, warum sie sich damals so verhalten hatte? Wenn sie sich an die Behauptung erinnerte, sie habe eine von Vitali und Vivien ausgedachte Pflicht erfüllen müssen, nachdem sie beim schnellstmöglichen Aufblasen eines Kondoms die Langsamste gewesen war, schämte sie sich immer noch! Doch es lag ihr fern, Erik gegenüber Schwäche zu zeigen. Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln. „Keine Sorge. Das eine Mal hat mich für alle Zeit vom Glücksspiel geheilt.“ Erik stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Schulbank ab und ließ sein Kinn auf seinem Handteller ruhen. „Schade.“ Er lächelte auf gehässige, bedrohliche Weise. „Dann werde ich ab jetzt wohl mitspielen müssen. Um meine Schulden zu begleichen.“ Für einen Moment wollte Arianes Kopf sich weigern, die Bedeutung dieser Bemerkung zu verarbeiten. Er… wollte es ihr zurückzahlen? Dass sie ihn damals umarmt hatte? Tausend Horrorszenarien, wie seine grausige Rache aussehen könnte, schossen ihr augenblicklich durch den Kopf. Ihre Stimme schrillte in einem Akt purer Notwehr auf: „Wir sind schon quitt!“ …Stille Die jähe Erkenntnis, was sie gerade wieder in sein Gedächtnis gerufen hatte, traf sie. Selbst Erik sah kurzzeitig völlig baff aus, eine wahrlich ungewohnte Reaktion von ihm. Mit einer fahrigen Bewegung wandte sich Ariane schnellstens ab und war völlig von ihrem Terminkalender eingenommen, als handle es sich dabei um das achte Weltwunder. Wieso hatte sie es bloß erwähnt? Wieso war sie bloß darauf zu sprechen gekommen? Es war nie passiert! Den Vorfall vor drei Tagen, diese Umarmung, gab es nicht! Unwillkürlich schrumpfte sie in sich zusammen. Diese Bemerkung würde er ihr nie verzeihen. Oh, wie gerne hätte sie jetzt Vitalis Kräfte besessen… „Ich zahle meine Schulden immer doppelt und dreifach zurück.“ Ariane horchte auf. Fassungslos wandte sie sich um und Eriks diabolisches Grinsen schlug ihr entgegen. Das durfte doch nicht … Von wegen getroffen und beleidigt! Dieses Scheusal drohte ihr auch noch! „Ich nehme keine Zinsen!“, entgegnete sie mit Nachdruck. Doch Erik legte es offensichtlich auf einen Schlagabtausch an. „Ich bestehe darauf!“ Arianes Stimme bekam den frostigen Klang klirrender Kälte. „Nicht nötig.“ Erik wurde dagegen immer freundlicher. „Dann war das wohl eine gratis Kostprobe.“ „Eher ein Zustellungsfehler.“ „Zu meinen Gunsten.“ „Zu meinem Bedauern.“, gab Ariane zurück. „In diesem Fall sehe ich mich natürlich zu einer entsprechenden Rückzahlung verpflichtet.“ Wieder grinste er. Ariane lächelte künstlich zurück. „Sehr freundlich, aber völlig unnötig.“ „Und doch angebracht.“ „Unwirtschaftlich.“ „Zugunsten zukünftiger Geschäftsbeziehungen.“ Er führte eine vielsagende Bewegung mit seinen Augenbrauen aus. „Die es nicht geben wird!“, sagte sie abweisend. „Wodurch eine korrekte Abrechnung umso wichtiger ist.“, beharrte er. Ariane riss der Geduldsfaden. Sie wurde laut: „Ich bin mit der bereits geleisteten Summe vollauf zufrieden!“ Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, dass der heutige Tag verflucht sein musste. Natürlich war auch Erik die verheerende Doppeldeutigkeit ihrer Worte nicht entgangen. Die bereits geleistete Summe – Die bereits geleistete Umarmung. In unübersehbarer Selbstzufriedenheit strahlte Erik sie an. „Danke.“ Und weidete sich an ihrer zwischen Scham und Entrüstung schwankenden Miene. Vivien mischte sich in heller Begeisterung ein. „Du hast sie umarmt?!“ Freudig klatschte sie in die Hände. Und Ariane war der festen Überzeugung gewesen, dass die anderen das Gespräch nicht verstehen würden! Bestürzt sah sie zu Erik. Er würde vor den anderen nicht zugeben, was am Montag passiert war, ganz sicher nicht! Das war viel zu peinlich! Für sie beide! „Am Montag.“, antwortete Erik leichthin und schlug Ariane damit K.O. Die verwirrten Blicke der anderen hefteten sich auf Ariane. Hatte sie nicht angedeutet, Erik habe eine beängstigende Reaktion auf ihren Versuch, etwas über seinen Vater herauszufinden, gezeigt? „Das ist nicht so wie ihr denkt!“, rief Ariane hektisch. „Aber du bist damit vollauf zufrieden.“, wiederholte Erik. Das reichte! Aufgebracht sprang Ariane von ihrem Platz auf und deutete erbost auf Erik. „Hättest du mich bloß geschlagen, dann hätte ich mich wenigstens wehren können!!!“ Im gleichen Moment galt ihr die Aufmerksamkeit sämtlicher Klassenkameraden. Noch eine Sekunde stand Ariane regungslos da, dann setzte sie sich mit steifen Bewegungen wieder hin und starrte die Schulbank an. Die anderen schauten zu Erik, der tat jedoch, als würde er ihre fordernden Mienen gar nicht bemerken. Den restlichen Vormittag sprach Ariane kein Wort mehr mit ihm. „Wenn Erik mit dir nach Hause läuft, dann kann ich doch den direkten Weg nehmen.“, flüsterte Ariane Serena in Physik zu. „Wegen Erik.“, stellte Serena desinteressiert fest. Ariane schwieg. „Ich sage ihm einfach, wir wollen ihn nicht dabei haben.“, meinte Serena trocken. „Nein!“, widersprach Ariane. Verständnislos sah Serena sie an. „Was ist das Problem?“ „Dass es nur wegen mir wäre!“ Skeptisch zog Serena die Augenbrauen zusammen. „Ist es doch auch.“ „Wenn er dich nach Hause begleitet, hat das nichts mit mir zu tun!“, erwiderte Ariane. Serenas Augenlider senkten sich zur Hälfte, als würde sie nicht glauben können, dass Ariane das gerade von sich gegeben hatte, allerdings verstand Ariane den Blick nicht. Ariane drehte sich wieder nach vorne, um die ellenlange Formel abzuschreiben, mit der gerade berechnet wurde, an welchem Punkt zwei Fahrzeuge sich trafen. Wer die Leute nach der Karambolage aus den Autowracks bergen musste, war in der Aufgabe nicht erwähnt worden. „Meinetwegen.“, zischte Serena zu ihrer Rechten. Ihre Stimme klang wütend, und als Ariane sich ihr wieder zuwandte, wurde ihr zu spät klar, wieso. Serena war eingeschnappt. Natürlich. Ariane hatte nur wegen so etwas Unwichtigem wie Erik den Heimweg nicht mit ihr gehen wollen. „Ich gehe mit!“, versuchte sie eilig, Serena wieder gnädig zu stimmen. „Tu dir keinen Zwang an.“ Die Bitterkeit von Serenas Stimme ließ alle Worte, die Ariane ihr noch gerne zur Entschuldigung gesagt hätte, auf ihrer Zunge zu Asche zerfallen. Auch auf dem Heimweg ließ Serenas schlechte Laune nicht nach. Mit Ariane sprach sie kaum ein Wort, und wenn, dann in einem Tonfall, der das Wiedereinsetzen der bedrückenden Stille geradezu wünschenswert machte. Nicht einmal Erik schaffte es heute, sie zum Lachen zu bringen. Die Verabschiedung war entsprechend kurz. Ein liebloses Tschüss und Serena trennte sich von ihnen, ohne sich nochmals nach ihnen umzudrehen. Erik starrte auf die harsch zugeworfene Eingangstür und wandte sich dann bestürzt an Ariane. „Was hast du mit ihr gemacht?“ Ariane platzte der Kragen. „Ich?! Du! Du bist an allem Schuld!“ Sie machte ihrem Unmut durch einen aufgebrachten Laut Luft, eine Mischung aus Ächzen und Stöhnen. Erik blieb ungerührt. „Das kannst du mir nicht erzählen. Sie hat kein derartiges Interesse an mir. Wieso sollte sie eifersüchtig sein?“ „Wer redet denn von Eifersucht?“ Ariane war nahe am Ausflippen. „Sie ist sauer, weil ich nicht mit euch zusammen laufen wollte! Überhaupt: Nicht jedes Mädchen steht auf dich!“ Erik hob die linke Augenbraue, als wolle er das in Frage stellen. Das regte Ariane nur umso mehr auf. „Ich verstehe nicht, wie ein normaldenkender Mensch an dir interessiert sein kann!“ Erik blieb die Ruhe selbst. „Wie gut, dass du kein normaldenkender Mensch bist.“ Fast wäre sie ihm an die Gurgel gegangen. „Eher würde ich mich in meinen schlimmsten Erzfeind verlieben!“ „Gut zu wissen.“, meinte er nüchtern. „Ich dachte, ich wäre dein Erzfeind.“ Ariane wusste langsam nicht mehr, wohin mit ihrer Empörung. „Kannst du aufhören, so verdammt ruhig zu sein!“ „Kommt drauf an, was du anzubieten hast.“ Er machte eine Armbewegung, als fordere er sie zu ihrem nächsten Schlag auf. Arianes Augen wurden schmal. Dank der Situation am Morgen in Kombination mit der durch Erik verursachten Streitigkeit mit Serena war sie alles andere als friedlich gestimmt. „Wir können über deinen Vater reden!“, zischte sie provokativ. „Und was willst du wissen?“, erkundigte sich Erik lässig. Ihre Augen verengten sich in Argwohn. Sicher war das nur ein Bluff. „Mit was verbringt er seine Freizeit?“, testete sie sein Angebot. „Meistens besucht er irgendwelche Veranstaltungen, um sich mit noch mehr Leuten zu vernetzen. Egal ob Auftritt des Musikvereins, Oper, Wohltätigkeitsveranstaltung, Kunstausstellung oder Sportfest. Ansonsten trifft er sich mit dem Bürgermeister und anderen einflussreichen Personen, geht golfen, spielt Squash, und versucht in unserem Keller, aus Leichenteilen ein Monster zu erschaffen.“ Ariane starrte ihn reaktionslos an. „Nur um sicher zu gehen. Das mit dem Monster -“ „Ist das einzige, das stimmt. Alles andere sollte ein Scherz sein.“ Sauertöpfisch sah Ariane ihn an, dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. „Wieso erzählst du mir das?“ „Damit du glaubst, dass wir im Keller ein Monster haben.“ Sie sparte sich eine schlaue Antwort. In möglichst entkrampfter Stimmlage setzte sie fort. „Wieso erzählst du mir das jetzt und letztes Mal…“ Sie sprach nicht weiter. „Du hast doch vorhin gesagt, ich hätte dich besser schlagen sollen.“, erwiderte er und sah das offenbar als Antwort an. Ariane teilte diese Ansicht nicht. „Und?“ „Jetzt können wir’s ja drauf ankommen lassen.“ Ariane war sich nicht sicher, ob sie das witzig finden sollte. „Gut.“, sagte sie in einem Anflug von Trotz. „Warum hast du Streit mit deinem Vater?“ Nichts schien Erik heute aus der Fassung bringen zu können. „Weil er dich aus dem Haus geworfen hat.“, sagte er nonchalant. „Vorher!“ Nun wurde er doch still. Ariane musste auf seine Antwort warten. Als sie endlich kam, klang Eriks Stimme nicht mehr so locker. „Weil ich nicht er bin.“ Er wandte sich zum Gehen. Ariane ging davon aus, dass die Fragestunde jetzt vorbei war. Beide setzten sich in Bewegung. „Noch was?“, fragte Erik unvermutet, als habe ihm das gerade entlockte Geständnis nichts weiter ausgemacht. Ja! Hat dein Vater dich zufällig vor fünf Wochen K.O. geschlagen, dich ins Schatthenreich verfrachtet und deine Erinnerungen manipuliert? Sie entschied sich, das nicht zu fragen. „Wie hängen dein Vater und Herr Finster zusammen?“ Langsam wurde Erik skeptisch. „Warum interessiert dich das?“ „Weil…“, Ariane zog das Wort lang genug, um sich eine Erklärung zu überlegen. „…du Finster nicht leiden kannst.“ Eriks Blick wurde kurz kalt, als wolle er sagen, dass diese Tatsache selbsterklärend war. „Sie sind Anwalt und Klient. Und sie treffen sich manchmal auf Ausstellungen. Ansonsten gehen sie ihre eigenen Wege. Finster ist nicht so der gesellige Typ.“ Ariane war verdutzt. „Und dein Vater ist gesellig?“ „Er ist ständig unter Leuten.“ Ariane war anzusehen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es jemanden geben sollte, der sich freiwillig in Herrn Donners Nähe aufhielt. Erik antwortete auf ihre ungeäußerte Frage. „Mein Vater ist ein einflussreicher Mann. Man schneidet ihn nicht.“ Klar. Wer wollte diesen Mann schon zum Feind haben? „Finster kam mir sehr viel umgänglicher vor.“, meinte sie. Spöttisch zog Erik die Stirn kraus. „Ein Typ, der seine Zeit mit alten Schriften und Legenden verbringt?“ Ariane bedachte ihn mit einem strafenden Blick. „Ein Typ, der seine Kinder nicht schlägt.“ „Weil er keine Kinder hat.“, wandte Erik ein. „Warum kannst du ihn nicht leiden?“ „Warum kannst du ihn leiden?“ „Weil er nett ist.“, teilte Ariane ihm mit. „Dito.“ Arianes Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass sie dem nicht folgen konnte. „Er ist zu nett.“ „Wenn Menschen dich nicht wie Dreck behandeln, sind sie dir unsympathisch?“ Erik lächelte süffisant. „Deshalb hab ich ja auch eine Schwäche für dich.“ „Ich behandle dich nicht wie Dreck!“, empörte sich Ariane, ohne Eriks Wortwahl jegliche Bedeutung beizumessen. Er versuchte es mit einer neuerlichen Andeutung. „Aber du könntest ruhig etwas liebevoller sein.“ Erfolglos. Ariane ging nicht darauf ein. „Zurück zum Thema.“ Erik konnte sich seine Belustigung über ihre Immunität gegen jegliche Andeutungen in eine gewisse Richtung nicht verkneifen. Dann setzte er das Gespräch fort. „Er ist falsch. Wie einer der mit seinem freundlichen Gesicht, die hässliche Fratze dahinter verstecken will.“ „Quatsch.“ Erik zuckte mit den Schultern, was darauf hindeutete, dass er nicht vorhatte, sie von seiner Sichtweise zu überzeugen. „Wie kommst du darauf?“, fragte Ariane nun von sich aus. „Sechster Sinn.“ Bei dem Begriff musste Ariane sofort an Secrets Fähigkeiten denken. „Hinter dem, was er den Leuten zeigt, ist etwas anderes.“, versuchte Erik, es verständlich zu machen. Ariane senkte den Blick. „Ist das nicht bei den meisten Menschen so?“ Der weiche Klang ihrer Stimme ließ Erik aufhorchen. Es hörte sich an, als wisse sie, wovon sie sprach. Er sah, dass ihre Augen nun geradeaus gerichtet waren, ihr Haupt stolz erhoben, als müsse sie sich dadurch aufrechthalten. Als sie seine Aufmerksamkeit bemerkte, lächelte sie ihn freundlich an. „Ist doch so.“ Erik musste sich eingestehen, dass dieses Mädchen jedes Mal, wenn er es durchschaut zu haben glaubte, etwas tat, um seine Mutmaßungen durcheinander zu bringen. In ernstem Ton fragte er: „Gehörst du auch dazu?“ Ariane schaute betreten. Sie sagte nichts. Etwas an ihrer Reaktion ließ ihn den Satz bereuen, obwohl ihm das lächerlich vorkam. Ein fast trauriges Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. „Wahrscheinlich nicht so sehr wie du.“ Erik gefiel diese Bemerkung nicht. Für ein paar Sekunden waren seine Augen fest auf sie fixiert, als wolle er sie damit in einen Bann schlagen oder ihr Gedächtnis manipulieren, um diese Erkenntnis aus ihrem Kopf zu löschen. „Wegen Secret…?“ Ariane fuhr zusammen, und hoffte, dass Erik es nicht gesehen hatte, obwohl sie wusste, dass es ihm nicht entgangen sein konnte. Erik verlieh seiner Stimme einen undurchsichtigen Ton. „Wer ist Secret?“ Ariane schluckte und bemühte sich normal zu sprechen. „Die Romanfigur. Das weißt du doch.“ Wo war Vivien wenn man sie brauchte?!! „Aus Balance Defenders?“ Eriks Blick war unglückverheißend. „Ja.“ Ariane verfluchte ihre Stimmbänder, die einfach nicht fürs Lügen gemacht waren. „Kannst du mir das Buch mal ausleihen?“ Panik. „Das – geht nicht.“ „Warum nicht?“ Arianes Herz begann zu rasen. Sie sah auf den Weg. Es war nicht mehr weit. Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Lauf. Erik war sofort wieder an ihrer Seite, mit verschlagener Färbung in der Stimme. „Willst du mir nicht antworten?“ „Doch!“, stieß Ariane eilig aus. „Aber ich darf nicht.“ Aaah! Was hatte sie sich bei diesem Satz gedacht?!! „Du darfst nicht?“ Hohn kam in seinen Blick und dahinter eindeutige Schadenfreude. Er wusste, dass er sie in die Enge getrieben hatte. Und die Gewissheit, dass sie ihm nicht mehr entkommen konnte, erfüllte ihn offensichtlich mit einer übergroßen Zufriedenheit. „Nein, ich darf nicht.“, wiederholte Ariane in einem verzweifelten Versuch, Zeit zu schinden. „Und warum nicht?“ „Das darf ich nicht sagen.“ Die Erwartung, seine Beute gleich zu bekommen, ließ Eriks Stimme immer düsterer werden. „Gibt es denn etwas, das du darfst?“ Ariane blieb stehen. „Ich darf mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, ich darf in die Schule gehen, ich darf ohne Beaufsichtigung fernsehen und alleine einkaufen gehen.“, zählte sie sich an den Fingern ab. Aber ihr Versuch, Erik von seinem Ziel abzubringen, scheiterte. Kurz nur lächelte er belustigt, dann war da wieder der gierige Ausdruck des Jägers. Ariane konnte nicht entkommen. In ihrer Not fiel ihr nur eines ein: „Du musst Vivien fragen!“ Wie eine Katze, die kurz überlegen musste, welches Spielzeug sie ergreifen sollte, nachdem plötzlich ein zweites aufgetaucht war, wog Erik seine Möglichkeiten ab. „Dann sollte ich sie vielleicht gleich mal anrufen.“ Er holte sein Handy aus der Hosentasche. „Jetzt?“, warf Ariane in viel zu hoher Tonlage ein. „Soll ich sie dir vorher geben, damit du sie vorwarnen kannst?“, meinte er spöttisch. „Bis morgen ist ihr vielleicht etwas eingefallen.“ Trotz wallte in Ariane auf. Er unterschätzte Vivien gewaltig! Mit wiedergefundener Selbstsicherheit verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Nur zu.“ Wenn ihre plötzliche Überzeugung ihn auch nur ein bisschen verunsicherte, dann zeigte er es zumindest nicht. Mit wenigen Fingerbewegungen hatte er Viviens Nummer herausgesucht. Ariane sah, wie er das Handy von sich weg hielt, bis die Verbindung aufgebaut war. Er legte es sich an die Ohrmuschel und behielt den Blickkontakt mit ihr bei, als wolle er sie dadurch mürbe machen. Doch jetzt da Vivien mit ins Spiel getreten war, strotzte Ariane nur so vor Willenskraft. Sekunden verstrichen. Erik begann ein ungeduldiges Gesicht zu machen. Nach einer Weile gab er es auf. „Tja, geht keiner ran.“ Er nahm das Handy vom Ohr. Ariane rutschte das Herz in die Hose. „W-warte!“, gab sie heiser von sich. „Bei mir nimmt sie bestimmt ab!“ Sie zog ihren Rucksack von den Schultern. „Du hast es sicher nicht lange genug klingeln lassen!“ Sie holte ihr Mobiltelefon hervor und setzte wieder den Rucksack auf. Gerade wollten ihre Finger über das Display fliegen, als Eriks Hand sich auf das Handy legte. „Als würde sie bei dir abnehmen, wenn sie es bei mir nicht tut.“, meinte er großspurig. „Dann versuchen wir es eben auf dem Festnetz!“, rief sie. „Ariane.“ Sein Gesichtsausdruck und sein Ton erinnerten sie an die Art, wie privilegierte Menschen manchmal sprachen. So als wüssten sie alles viel besser und wollten einen beschwichtigen. „Das wird doch jetzt nicht nötig sein.“ Ariane starrte ihn argwöhnisch an. Wenn Menschen auf diese Weise redeten, hatten sie etwas zu verheimlichen! Ihre Augen wurden zu zwei Schlitzen und ihr Mund öffnete sich in Entrüstung. Sie sprach die Worte langsam und schneidend aus. „Du hast gar nicht angerufen!“ Eriks Miene blieb unbewegt, bis auf ein kurzes Zucken. Das genügte völlig. „Du Mistkerl!“ Sie entriss ihm sein Handy, das zu ihrem Glück noch entsperrt war, und hatte einhändig die Anrufliste angewählt, ehe er überhaupt reagieren konnte. Ihr Verdacht bestätigte sich. Wütend drückte sie ihm sein Mobiltelefon gegen die Brust, ihre Augen funkelten ihn so feindselig an, dass jeder andere wohl getroffen gewesen wäre. Aber nicht Erik. Ariane wirbelte herum. Schnellen Schrittes lief sie davon. Dieser Betrüger! Lügner! Heuchler! Das dumme Blondchen wird schon darauf hereinfallen! Sie hätte ihm am liebsten eine gescheuert! Erik steckte sein Handy zurück in seine Hosentasche und beeilte sich nicht, ihr hinterherzulaufen. Gemächlich setzte er den Weg fort. Nur seine Schritte wurden größer und etwas zügiger, wodurch er Ariane trotz ihres Tempos schnell wieder eingeholt hatte. Ohne sie anzusehen, ging er neben ihr her, als wäre nichts gewesen. Als er schließlich das Wort ergriff, war seine Stimme nicht mehr scherzhaft oder durchtrieben. Er klang gedankenversunken, als spräche er mit sich selbst. „Ich habe sie wieder gespürt. Die Wunde…“ Jäh war Arianes Zorn verpufft. Ihre Schritte wurden langsamer. Sie sah Erik an. Sein Gesicht war weiter nach vorne gewandt. Zum Glück. So konnte er nicht ihre besorgte Miene sehen. Kurz davor, sich nach seinem Zustand zu erkundigen, hielt Ariane gerade noch rechtzeitig inne. Er tat es schon wieder! Er log! Um sie zurück in die Falle zu locken! Aber da hatte er sich geschnitten. Dieses Spielchen konnten zwei spielen! „Hast du sie noch alle?“ Sie setzte ihren eiskalten Blick auf und mischte ihn mit dem verächtlichsten Ausdruck, den sie zustande brachte. „Das ist eine Romanfigur! Du solltest echt zum Psychiater.“ Der unausstehliche Ton war ihr richtig gut gelungen. Sie lief weiter und wartete auf Eriks Reaktion, aber es gab keine. In ihren Augenwinkeln erkannte sie, dass er einfach nur stumm geradeaus tarrte. Sein Gesicht – eine undurchdringliche Maske. Er wandte sich ihr nicht zu. Jeden Schritt, den er schwieg, wuchs das nagende Gefühl in Ariane, mit ihren gehässigen Worten etwas Schreckliches angerichtet zu haben. Sie schalt sich selbst: Eben hätte sie ihn für seine Unverschämtheit noch ohrfeigen können und jetzt tat er ihr leid? Trotzdem. Für Erik musste die Sache schon schwer genug sein, auch ohne dass sie ihm einredete, er habe einen geistigen Schaden. Wie musste er sich fühlen? Nach weiteren Schritten in bedrückender Stille erreichten sie Arianes Zuhause. Erik wartete nicht auf eine Verabschiedung. Er lief einfach weiter. „Erik!“ Er blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um. „Es tut mir leid.“ Sie konnte nicht anders. „Was ich gesagt habe… Ich habe es nicht so gemeint.“, stammelte sie. „Ich war wütend.“ Erik rührte sich noch immer nicht. „Du bist nicht verrückt!“ Keine Reaktion. „Vielleicht hast du Schmerzen im Arm vom Training. Muskelkater. Oder du hast einen Muskelriss oder so was. Du solltest vielleicht zum Arzt.“ Er drehte sich einfach nicht um! Ariane spürte Empörung über sein kindisches Beleidigtsein in sich aufkommen. Musste sie ihm denn immer hinterher rennen? Sie stöhnte genervt auf. „Wolltest du mich jetzt nicht schlagen?!“ Dieses Mal drehte er sich um. „Verlockendes Angebot, aber ich stehe leider nicht auf SM-Spielchen.“ Er lächelte wieder. Arianes Mund verzog sich spöttisch. „Dafür bist du aber ziemlich sadistisch.“ Erik grinste kurz. Dann trat wieder das gefährliche Glitzern in seine Augen, das sie nicht zu deuten vermochte. „Aber“ Seine Stimme wurde rau. „wir hätten da noch die ausstehenden Rückzahlungen.“ „Von wegen!“, rief Ariane keck und rannte auf ihr Haus zu. Eriks leises Lachen folgte ihr nach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)