Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 63: Ablenkungsmanöver ----------------------------- Ablenkungsmanöver „Den Menschen vor sich selbst zu beschützen, ist ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Ziel.“ (Karl Talnop) Während die Beschützer ihre wertvolle Zeit mit Achterbahnfahren beziehungsweise einem Pläuschchen verbracht hatten, war Ewigkeit vollstens auf ihre lebenswichtige Aufgabe fixiert. „Was ist das? Was ist das?“, schrie sie Kai und Ellen in die Ohren, als sie die Süßigkeitenstände mit zahlreichem bunten Irgendwas entdeckte, und der süße Duft von gebratenen Mandeln und Magenbrot in ihr Näschen stieg, drehte sich in die andere Richtung und schrie abermals „Was ist das? Was ist das?!“ und deutete dieses Mal auf eine kleine Bahn, die im Kreis herumfuhr und nur für Kinder bis zu einer gewissen Größe zugänglich war. Die Bahn bestand aus mehreren Fahrzeugen nachempfundenen Sitzen, die aneinander hingen und durch einen Tunnel fuhren. Doch noch ehe Viviens Geschwister auf Ewigkeits Fragen antworten konnten, hatte die Kleine schon wieder etwas Neues entdeckt und schwirrte von einer Attraktion zur nächsten. Erst als sie in ihrem Vorwitz die Luftballons, die an der hinteren Wand in einem der Wägen aufgehängt waren, näher begutachten wollte und dabei fast von spitzen Pfeilen aufgespießt wurde, die ein paar Menschen – sie waren ganz gewiss von Schatthen besessen! – nach ihr warfen, schoss sie zurück zu Ellen und Kai und versteckte sich in Ellens sonnenblonden Haaren. Die beiden Kinder lachten. Ihre Mutter war derweil damit beschäftigt, Socken und andere unwichtige Utensilien einzukaufen, anstatt ihr Geld für etwas wirklich Sinnvolles auszugeben, wo es hier doch genug Spielzeugstände gab. Glücklicherweise hatte Kai, der ja schon ganze sieben Jahre alt war, die Erlaubnis ausgehandelt, sich mit seiner Schwester zusammen bis zum nächsten Süßigkeitenstand von ihrer Mutter zu entfernen, gerade so weit, dass diese sie noch sehen konnte und sich Kai und Ellen von ihrem Taschengeld etwas auch ohne die explizite Erlaubnis heraussuchen konnten. „Habt ihr schon irgendwelche Schatthen entdeckt?“, fragte Ewigkeit, immer noch in Ellens Haaren versteckt. Sie hatte Ellen und Kai kurzerhand zu ihren Hilfssheriffs ernannt auf der Suche nach den Feinden. Dass es pädagogisch wenig wertvoll war, zwei Kindern von der Existenz von grauen Bestien in Leichenoptik zu unterrichten, hatte ihr wohl niemand erzählt, und auch Kai und Ellen schienen sich daran wenig zu stören, schließlich war ihre große Schwester ja mit der sogenannten Erlösung dieser armen Monster betraut worden. „Nein.“, sagte Kai. „Nein.“, war auch Ellens Antwort. „In Ordnung.“ Ewigkeit verließ das Dickicht von Ellens blondem Haarschopf. „Sobald ihr etwas Verdächtiges seht, ruft ihr mich. Ich suche weiter.“ Verwegen erhob sie sich in die Lüfte, nickte den beiden verschwörerisch zu und flog davon. Sie schwebte weiter zwischen verschiedenen Attraktionen hindurch, ehe ihr einfiel, dass die Beschützer sie ja nicht entdecken sollten. Das hieß: Sie musste in Deckung gehen! Von einer Ecke zur nächsten schlüpfte sie, sich nach links und rechts umblickend und huschte weiter. Rechts kam sie an einem Kinderkarussell vorbei. Verwundert beobachtete sie die Menschenkinder, die sich zu einer lustigen Musik auf verschiedenen Tierfiguren und künstlichen Fahrzeugen im Kreis drehten. Sofort war Ewigkeits Vorsatz vergessen. Freudig flitzte sie zu einem überdimensionalen Schmetterling und löste mit ihrer Anwesenheit laute Begeisterung bei den mitfahrenden Kindern aus. Wenig erfreut darüber, dass eines der Kinder nach ihr schnappen wollte und daraufhin auch weitere auf diese grausame Idee kamen, ergriff Ewigkeit schnurstracks die Flucht. Diese Kinder mussten unter dem Bann der Feinde stehen! Sie musste sie schnellstens ausfindig machen, bevor noch andere Menschen ihrem unsichtbaren Einfluss erlagen. Erik ging durch die Reihe der Stände. Mit Argusaugen sah er sich um. Er suchte einen Stand, an dem sie zuvor vorbeigekommen waren. Einer mit bedruckten T-Shirts. Vielleicht in der Ecke der Geisterbahn im Westen. Er bog nach rechts, kam am Kettenkarussell vorbei und konnte von hier aus vorne rechts die Geisterbahn erkennen. Links davon, zwei Stände weiter, befand sich tatsächlich der gewünschte Stand neben einem Imbiss. Ewigkeit hörte das Schreien der Fahrgäste einer Höhenattraktion, sodass sie geschockt um sich blickte, um die Ursache ausfindig zu machen. Sie flog um das Fahrwerk herum, betrachtete dessen Rückseite und fand – nichts. Aber sicher kam sie den Schatthen näher! Ihr Einfluss auf diesem Rummelplatz war unverkennbar! Plötzlich horchte Ewigkeit auf und starrte auf die Rückseite der Geisterbahn. Schreckliche Geräusche glaubte sie aus dessen Inneren hören zu können und erschauderte. Stocksteif stand sie in der Luft und rang mit sich selbst. Sie ballte die kleinen Hände zu Fäusten und fasste sich ein Herz. Zielstrebig hielt sie auf die Geisterbahn zu. Mit seinem Einkauf in einer weißen Plastiktüte wollte Erik den Weg zurück zu den anderen einschlagen. Das Gedudel aus allen Richtungen und kreischende Stimmen drangen an sein Ohr, dann rissen sie jäh ab. Erik schrie innerlich auf. Ein qualvoller Schmerz schoss durch seinen linken Oberarm wie ein elektrischer Schlag. Fast wäre er zu Boden gegangen. Stattdessen war es nur seine Tüte, die im Staub landete. Vor Schmerz war er für eine Sekunde blind. Dann ebbte die Emotion ab. Sein Augenlicht und sein Hörsinn kehrten zurück. Automatisch wandte er den Blick nach links. Aus dem Eingang der Geisterbahn gafften ihn die grausigen Fratzen künstlicher Monster an. Für einen Moment fürchtete er, dass etwas anderes dahinter lauerte. Etwas, das diesen Schmerz ausgelöst hatte. War er jetzt wirklich am Verrücktwerden? Kurz schnappte er nach Atem, um sich zu beruhigen, dann richtete er seinen Blick auf die Tüte auf dem Boden. Mit einem Mal war sein Gesichtsausdruck wieder fest. Zu fest! Unbändiger Zorn loderte in seinen Augen auf. Mit tödlicher Miene packte er die Tüte und lief weiter. Dass auch hinter der Geisterbahn etwas zu Boden gegangen war, ahnte er nicht. Vitali ließ sich auf die Bank fallen. „Mann, bis der wiederkommt, hätten wir schon zweimal fahren können.“, maulte er. Entgegen Eriks Vorschlag hatten sie sich nicht gleich in der Schlange angestellt, sondern bei der Bank gewartet, zumindest die Fahrchips hatte Vivien bereits gekauft. „Vielleicht sollten wir uns wirklich schon anstellen.“, sagte schließlich Ariane. Als habe er nur auf diesen Satz gewartet, kam Erik weiter hinten um die Ecke gebogen, und er sah nicht gut aus. Nicht gut für jemanden, der sich ihm widersetzen wollte. „Hey!“, rief Vitali ihm unbekümmert entgegen und stand von der Bank auf. Er schien der einzige zu sein, der Eriks Wut nicht sofort erkannt hatte, dabei sprang diese einem wahrhaft ins Auge. Mit festen Schritten kam Erik auf die fünf zu und seine gesamte Haltung machte keinen Hehl daraus, dass er Schreckliches im Sinn hatte. Geistesgegenwärtig packte Vivien Justin und Ariane und riss beide schnellstmöglich in die entgegengesetzte Richtung mit sich fort. Erstaunlicherweise zogen Ariane und Justin direkt mit, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was Vivien damit bezweckte. Erik hätte ihnen nicht folgen können, ohne einen gehörigen Sprint hinzulegen – was ihm durchaus zuzutrauen war – doch der Logik nach würde er sich zunächst auf die beiden Zurückgebliebenen stürzen. Serena und Vitali starrten den drei Flüchtenden völlig verdattert hinterher, hatten aber nicht die Gelegenheit zu reagieren. Erik hatte sie erreicht. Vivien, Ariane und Justin suchten Schutz in einer Seitennische. Erik war ihnen nicht gefolgt. „Was jetzt?“, wandte Ariane ein. „Wir warten.“, verkündete Vivien. Justin und Ariane schauten entgeistert. Trotz des Wissens, dass es für diese Erkenntnis reichlich spät war, wandte Ariane ein: „Wir können Serena und Vitali doch nicht einfach alleine lassen.“ Auch Justin plagte das schlechte Gewissen. Sie hatten die beiden dem Löwen zum Fraß vorgeworfen. Vivien jedoch kicherte vergnügt und eröffnete strahlend: „Die beiden sind unsere Geheimwaffe!“ Was auch immer das bedeuten sollte… Eriks Augen spießten die beiden Übriggebliebenen auf. Seine Stimme schien seinem Nachnamen gerecht werden zu wollen. „Wo wollen die hin?“, donnerte er bedrohlich. Wie aus der Pistole geschossen antworteten Vitali und Serena zeitgleich – leider nicht dasselbe. „Zur Toilette.“ – „Was essen.“ Die Blicke der beiden schnellten zueinander und wieder nach vorn. „Sie wollten zur Toilette und dann was essen.“, entschied Vitali dümmlich grinsend. Serena gaffte ihn ungläubig an. Sie wandte sich wieder an Erik. „Die Mädchen wollten auf die Toilette und Justin wollte was essen.“ „Und wieso wollte nicht Justin auf die Toilette und die Mädchen was essen?“, hielt Vitali entgegen. „Darum!“ „Ich glaube aber, dass Justin auf die Toilette musste.“, beharrte er. „Ja, weil du nie zuhörst!“, keifte Serena. „Du hörst nicht zu.“, gab Vitali zurück. „Du hörst nicht zu!“ „Nein, du!“ „Du!“ Bei ihrem schnellen Wortwechsel kam Erik nicht einmal mehr dazu, irgendetwas einzuwerfen. Als würden die beiden ihn ignorieren. Serena schrie gerade: „Du hörst nie zu! Nicht im Unterricht und auch sonst nicht!“ „Ach ja?!“ „Ja!“ „Egal!!“, brüllte Erik dazwischen. Serena und Vitali gafften ihn bloß an, nicht beeindruckt, sondern wie zwei streitende Kinder, die der vollen Überzeugung waren, jede Berechtigung zum Streit zu haben, die es nur geben konnte. Wie sollte man mit so was arbeiten?! „Okay.“, sagte Erik gefasst. „Ich will von euch wissen, was hier gespielt wird.“ Serena und Vitali gafften ihn an. „Die Wunde. Secret. Und dieses Buch, das nirgends zu finden ist.“, wurde er konkreter. Serena und Vitali gafften ihn an. Wieso kam er sich hier eigentlich wie der Idiot vor??!! „Raus mit der Sprache!“, forderte Erik in seiner Machtlosigkeit umso lauter. Serena sah Vitali an, dieser zuckte bloß mit den Schultern. Erik war kurz davor zu explodieren und hatte nichts, woran er seine Wut auslassen konnte! Wo war Ariane?! Sie zuckte wenigstens schön zusammen und schaute verstört, wenn er ihr solche Fragen stellte! „Fahren wir jetzt endlich Achterbahn?“, war stattdessen Vitalis Reaktion, woraufhin Serena ihm eine Klaps gegen den Hinterkopf gab. „Hey, das ist gesundheitsschädlich!“ „Bei dir schadet das nichts mehr.“ Und wieder ging es mit einem neuerlichen Streit weiter. Erik war in der Hölle gelandet. Vivien sah auf ihre Armbanduhr. „So. Wir können zurückgehen.“ Auch Justin kontrollierte die Uhrzeit. Sie waren gerade mal fünf Minuten hier gestanden, schweigend, während sich Ariane und er darüber den Kopf zerbrochen hatten, was mit ihrer Geheimwaffe gemeint war. „Sie müssten ihn jetzt völlig demotiviert haben.“, setzte Vivien grinsend fort. Ariane und Justin tauschten fragende Blicke aus. Keiner von ihnen wurde aus Viviens Worten schlau. Ariane war alles andere als zuversichtlich. „Erik wird stinksauer sein, dass wir einfach weggelaufen sind.“ Leichte Sorgenfalten erschienen zwischen ihren Augenbrauen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was Erik mit ihnen anstellen würde! Augenblicklich hatte sie das Bild von Erik vor Augen, in einem langen weißen Kittel mit einer Schutzbrille, wie man sie bei Chemieexperimenten trug, in den Händen zwei Reagenzgläser mit grellfarbigem Inhalt und vor ihm – auf eine riesige Platte gespannt – sie fünf, verzweifelt sich zu befreien versuchend, während Blitze am Himmel durch die geöffnete Decke des Laboratoriums zuckten und sich mit Eriks wahnsinnigem Lachen mischten. Aaaaah!!!! Vivien wischte den Einwand mit einer lockeren Handbewegung hinfort. „Ach was. Serena und Vitali haben sich sicher etwas einfallen lassen.“ „Aber wir wissen nicht was!“, erwiderte Ariane. Sherlock Vivien kombinierte: „Sie hatten nicht viel Zeit zum Nachdenken, also werden sie auf die Grundbedürfnisse zurückgegriffen haben. Toilette oder Essen oder beides.“ Arianes Stimme klang immer verzweifelter. „Und wenn nicht?“ Vivien sah sie überrascht an. Sie deutete auf Justin. „Also wenn ich etwas weiß, das Justin gerne wissen möchte. Wer ist dann in der stärkeren Position?“ Ariane zog ein fragendes Gesicht. „Du.“, sagte sie ohne zu Zögern. „Du hast das Angebot und er die Nachfrage.“, spann sie weiter. „Aber wenn er es nicht wissen wollte, dann hättest du umsonst dieses Angebot, wodurch er wieder in der stärkeren Rolle wäre, was ein gegenseitige Abhängigkeit nahelegt.“ Vivien sah etwas unzufrieden aus. Ariane dachte eindeutig zu weit. „Ja, schon, wenn ich wollte, dass er es weiß. Aber das will ich ja nicht.“, sagte sie. Justin klinkte sich ein. „Erik will Informationen von dir, aber er ist auf dich angewiesen, um sie zu bekommen.“ Ariane wirkte unerwartet verschüchtert. „Aber es macht mir Angst, wenn er etwas von mir wissen will.“ Ernst sah Justin sie an. „Warum?“ Weil er mich einmal fast geschlagen hätte, wollte Ariane jetzt nicht antworten. Außerdem war es damals nicht um Secret gegangen. Andererseits war das wohl keine Entschuldigung. Aus der Skepsis auf Justins Gesicht wurde Besorgnis. Seine Stimme klang sanft. „Denkst du, er würde dir etwas antun?“ Ariane begegnete Justins Blick verstört und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden und sie nichts dagegen unternehmen konnte. Sie wollte das vor den anderen nicht zugeben. Niemals! Aber als Erik sie so angesehen hatte – sie hatte solche Angst gehabt. Ariane hielt sich den Mund zu, um ein Schluchzen zu unterdrücken, doch sie schaffte es nicht. „Ich weiß nicht.“, presste sie hervor. „Ich weiß nicht.“ Sie hätte es so gerne gewusst. Wieso sagte sie so etwas?! Erik war doch niemand, der einem etwas antat! Aber… Wieder schoss ihr sein damaliger Gesichtsausdruck durch den Kopf, die gewaltbereiten Augen. Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, wie um damit die Gedanken fortwischen zu können. „Er hat Angst.“, drang es aus ihrem Mund. „Schreckliche Angst.“ Sie schlang ihre Arme um sich, wie um sich selbst Halt zu geben. Eriks hilfesuchende Umarmung. Er hatte gezittert. Arianes Blick fuhr wieder auf. „Was, wenn ich ihm nicht helfen kann?!“ Ihr Gesicht zeugte von innerer Qual. Justin legte ihr ganz sachte die Hand auf die Schulter. „Das ist auch nicht deine Aufgabe.“ Seine Stimme war so weich und tröstend wie Honig. Ariane sah ihn kurz wortlos an, dann ließ sie den Kopf leicht sinken. „Ich will ihn beschützen.“ „Ich weiß.“ Seine Stimme legte sich wie heilender Balsam auf ihre aufgepeitschte Seele. „Aber es hilft Erik nicht, wenn es dir schlecht geht.“ Seine Worte schienen auf magische Weise die Schwere von ihren Schultern zu nehmen. „Wir können niemand anderen beschützen. Nur uns selbst.“ Empörung schoss in Ariane hoch. Der Gedanke, dass ihr Beschützer-Dasein völlig sinnlos war, wenn sie nicht schützen könnte, was ihr wichtig war, nahm für einen Augenblick ihr ganzes Wesen ein. Kurz wollte sie Justin anschreien, ihm lauthals widersprechen, aber… sein Blick war so voller Mitgefühl und Verständnis – als spräche er eine tiefe Wahrheit aus – dass die beruhigende Stille jenseits seiner Augen auf sie überging. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und etwas Aufforderndes blitzte darin auf. „Bist du bereit, das zu tun?“ Ariane nickte entschieden, als hätte er dadurch ihren Kampfgeist wiedererweckt. Sie lächelte mit neuer Energie. „Ich besorge uns ein Alibi!“ Mit diesen Worten lief sie los, um ihre Tarnung zu untermauern. Justin sah Ariane lächelnd hinterher, dann hörte er Vivien neben sich. „Woher wusstest du, was du sagen musst?“ Justin streifte sie mit den Augen. Ein melancholisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Als ich zehn war, wurde meine Mutter schwer krank. Was ich zu Ariane gesagt habe, hat mein Vater damals zu mir gesagt.“ Er sah zu Boden, als das Gefühl der Erinnerung in ihm erwachte, hilfos zu sein und schuldig, weil er nichts tun konnte. Im gleichen Moment spürte er, wie Vivien seine Hand ergriff. Überrascht starrte er sie an. Daraufhin legte sie auch noch ihre zweite Hand auf die eine, die sie bereits umschlossen hielt, und schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. „Das ist schon lange her.“, sagte er hastig, um sie zu beruhigen, und wich verlegen ihrem Blick aus. „Du bist wundervoll.“, sagte sie in ungewohnt ruhigem, ja liebevollem Ton. Die Worte und ihre Stimmlage ließen wieder Blut in seinen Kopf schießen. Für Momente herrschte Schweigen. Justin wagte es nicht, in ihre Richtung zu sehen, noch immer hielt sie seine Hand. Dann erkannte er, dass Ariane zurückkam und wollte Vivien seine Hand entziehen, doch sie ließ ihn nicht los. Hilflos starrte er sie an, woraufhin Vivien geradezu enttäuscht von ihm abließ, als hätte sie lieber weiter mit ihm Händchen gehalten. Er durfte darüber nicht nachdenken, seinem unruhigen Herzschlag nicht mehr Aufmerksamkeit widmen, stattdessen konzentrierte er sich auf Ariane, die sie gerade erreichte. Stolz präsentierte Ariane ihre Errungenschaft. Sie hatte sich für ein vegetarisches Pizzastück als Alibi entschieden und lächelte so überglücklich, als sei dieses Stück Fast Food der rettende Erlöser, der sie aus den Klauen des Zweifels befreit hatte. Im gleichen Moment erklang hinter Ariane eine unsagbar entnervte Männerstimme. „Hier seid ihr.“ Arianes Reaktion auf ihn war wohl das absolute Gegenteil von dem, was Erik erwartet hatte. Sie strahlte ihn so glückselig an, als habe sie Ewigkeiten auf diesen Augenblick gewartet. Funktionierte sein böser Blick etwa nicht mehr?! In seinem Schlepptau hatte er Serena und Vitali, die sich gerade darüber stritten, wie man Wäsche richtig zusammenlegte oder etwas ähnlich Sinnfreies. Er hatte längst aufgehört, zuzuhören, was die beiden einander an die Köpfe warfen. Und jetzt hatte er sich auf Arianes verängstigte Miene gefreut, die ihm endlich wieder das Gefühl geben sollte, ernst genommen zu werden. Und was war? Sie lächelte!!! „Warum seid ihr weggelaufen?“ Mit rauer Stimme versuchte Erik noch einmal, deutlich zu machen, dass er schlechter Laune war und man ihn besser nicht ignorierte. Ariane strahlte. Mit dem Pizzastück in den Händen sah sie aus, wie einer Pizza-Werbung entsprungen. Jetzt hätte Erik gerne einen Spiegel parat gehabt, um zu kontrollieren, ob seine Gesichtsmuskeln auch wirklich das taten, was er ihnen befahl. Denn das konnte einfach nicht die passende Reaktion darauf sein. Vivien machte ein überraschtes Gesicht. „Haben dir Serena und Vitali nicht Bescheid gegeben?“ Erik schaute sie an, als wäre das ein schlechter Scherz. In seinem Rücken konnte er Vitali und Serena hören, die sich erneut darüber stritten, wessen Aussage die verkehrtere gewesen war. „Siehst du, Ariane wollte was essen!“, triumphierte Vitali. „Du hast gesagt, die Mädchen wollten was essen!“ „Ja und? Ariane ist doch ein Mädchen!“ „Ein Mädchen! Nicht zwei Mädchen!“ „Achja? Du hast behauptet, Justin wollte was essen. Hast mal wieder nicht zugehört.“ „Wie soll ich auch zuhören, wenn du Idiot immer dazwischenquasselst!“ „Dann hör mir halt nicht zu.“ „Tu ich nicht!“ „Ja klar.“ „Halt die Klappe!“ „Halt du doch die Klappe.“ „Halt du die Klappe!“ „Du!“ „Du!“ „Du!“ Erik war einem Nervenzusammenbruch nahe. „Sie haben mal wieder nicht zugehört.“, merkte Ariane an. „Weil sie immer in ihrer eigenen Welt sind.“, fügte Justin hinzu. „Die Liebe!“, frohlockte Vivien. „Wir sind nicht verliebt!!!“, schrie Serena. Vivien strahlte die anderen an. „Das hören sie komischerweise immer.“ Erik war mittlerweile nur noch entnervt. Jeglicher Wunsch, Fragen jedweder Art zu stellen, war ihm restlos vergangen. Hauptsache, er hatte endlich Serena und Vitali vom Hals! Raaah, wieso hatten die keinen Ausschaltknopf! Ariane übergab ihr Pizzastück an Justin und trat zu Erik, als habe sein ungewohnt expressionistisches Mienenspiel sie beunruhigt. „Alles okay?“ Er schaute sie säuerlich an und brachte sie damit zum Innehalten, während er zum wiederholten Male seine Gedanken umwälzte. Der Schmerz in seinem Arm, den er eben empfunden hatte, das Wegrennen der anderen und nun wieder diese völlige Alltäglichkeit. Er begriff nicht mehr, was echt war und was seiner Fantasie entsprang. Bildete er sich die Parallelen zwischen diesem Schmerz und dem Verhalten der anderen nur ein? Er konnte es wirklich nicht mehr sagen, wollte nicht mehr darüber nachdenken. Er hasste jeden Gedanken daran, wollte jeden einzelnen verdrängen, zerquetschen, ein für alle Mal ausrotten, um für immer von diesem Klärschlamm an stinkenden Überlegungen verschont zu bleiben! Jede Sekunde, die er daran verschwendete, machte ihn wahnsinnig und ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. War er wirklich verrückt geworden? Er wollte nicht mehr darüber nachgrübeln, schüttelte seine Skrupel ab und bemühte sich, endlich wieder in der Realität anzukommen. Er stöhnte in restloser Entnervtheit und überwand sich dazu, Normalität anzunehmen. Ariane hatte Eriks Gesichtszüge während seines Gedankengangs verfolgt, war daraus aber nicht schlau geworden. Nun gewahrte sie eine Veränderung, denn mit einem Mal schien er aus seiner Gedankenstarre zu erwachen. Noch immer mit Furchen auf der Stirn streckte er plötzlich seine linke Hand aus und hielt ihr eine weiße Plastiktüte entgegen, als wolle er ihr mit dem Inhalt drohen. „Für dich.“, knurrte er. Arianes Augenbrauen zuckten für einen Moment – unsicher, ob sie ihre Position ändern und aus dem besorgt skeptischen Gesichtsausdruck einen anderen machen sollten. Schließlich wurde ihre Mimik gefasst und sie nahm die Tüte entgegen, hochkonzentriert und bereit, mit allen Schrecknissen umzugehen, die ihr aus der Tüte entgegenkommen wollten. Mit bedachter Bewegung zog sie etwas Rosafarbenes aus der Tüte hervor. Verwundert faltete sie es auf, um zu erkennen, dass es sich dabei um ein T-Shirt handelte. Gerade wollte sie protestieren, als sie den Aufdruck genauer betrachtete. Ihre Augen wurden groß. Auf der Vorderseite waren bedeutende Daten der Weltgeschichte von 1700 bis 1900, auf der Rückseite von 1900 bis heute abgedruckt. Ein unwillkürliches Strahlen nahm ihre Gesichtszüge ein. Sie hob den Blick und … – ihre Mundwinkel senkten sich abrupt wieder. „Es ist rosa.“, sagte sie so distanziert und desinteressiert sie nur konnte. „Ich wollte mit Edding noch groß Geschichts-Barbie draufschreiben.“, meinte Erik, immer noch etwas übellaunig. Ariane wollte ihn böse anschauen, doch sie freute sich zu sehr, um es noch länger zu verbergen. Sie lächelte Erik so überglücklich an, dass sie, ohne es zu wissen, jeden seiner Gedanken an mysteriöse Schmerzen endlich vergessen machte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)