Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 68: Läuterung --------------------- Läuterung „Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger für sie reif ist.“ (Christian Morgenstern) Die Attacke traf die Feinde ohne Schwierigkeiten und hinterließ von ihnen nichts als einen glitzernden Schimmer. Die drei Apparaturen, die die Schatthen um den Leib getragen hatten, fielen zu Boden, doch ehe sie aufkommen konnten, wurden sie von einer Schwärze geschluckt, die dem plötzlichen Auftauchen der Schatthen zuvor glich. Anschließend waren auch sie verschwunden. Trust, Unite und Desire starrten entgeistert auf die leere Stelle. Change indes ließ einen Siegesschrei los. Schlagartig fuhr etwas durch die Atmosphäre, als würde sich die Luft für einen Moment krümmen. Das Gefühl jagte durch die Körper der Beschützer. Alles schien sich zu verschieben, ein Schwindelgefühl erfasste sie. Dann war es vorbei. Die Lichter gingen wieder an. Das Riesenrad begann sich wieder zu drehen. Verwundert wurden sie des plötzlich wieder einsetzenden Lebens um sich herum gewahr. Die ohnmächtigen Menschen erhoben sich wie von Geisterhand und richteten ihre Blicke auf sie. Schon fürchteten die Beschützer nun von Zombies attackiert zu werden. Doch die Leute wandten sich wieder ab, ja machten einen großen Bogen um sie. Entfernt konnten sie das Getuschel verstehen. „Was machen die da?“ „Was haben die an?“ Den Schutzschild konnten die Leute offensichtlich nicht wahrnehmen. Baff verfolgten die fünf, wie die Leute um sie herum ganz normal wieder ihre Tätigkeiten aufnahmen. Ein Mann Mitte vierzig ging auf Destiny und Change zu. „Ist es nicht etwas früh für Fasching?“ „Das ist Cosplay.“, antwortete Destiny schlicht. Der Mann schien das nicht zu kennen. „Und was ist mit dem?“ Er deutete auf den Ohnmächtigen auf Destinys Schoß. „Accessoire.“, sagte Destiny. „Wir brauchen einen Sanitäter!“, rief dagegen Desire, die hinzugerannt kam und sich zu Erik kniete. Ihr Schutzschild hatte sich aufgelöst. Der Mann war sich offenbar nicht sicher, was er davon halten sollte. „Sie spielt nur ihre Rolle.“, antwortete Destiny in unheimlicher Ruhe. „Was?!“, schrie Desire. „Ignorieren sie sie einfach.“, sagte Destiny weiterhin an den Mann gewandt. „Ja, der ist ständig ohnmächtig.“, versuchte Change zu helfen, handelte sich dafür aber einen bitterbösen Blick von Destiny ein. Dem Mann wurde das wohl immer suspekter, denn er zog ein verstörtes Gesich und entfernte sich schnurstracks wieder. „Wir müssen uns zurückverwandeln.“, forderte Destiny an Change gewandt. „Vor allen Leuten?“, fragte Change. „Ist mir egal! Die machen noch Fotos mit ihren Handys!“, rief Destiny beschämt. Noch schlimmer als das konnte es ihrer Meinung nach nicht werden. Ohne Weiteres nahm sie ihr normales Äußeres wieder an. Die Leute konnten denken, was sie wollten. Change folgte ihrem Beispiel. Desire indes hatte ganz andere Sorgen. „Was ist mit Erik?“, forderte sie zu erfahren. Doch keiner schien eine Antwort zu kennen, nicht mal Ewigkeit, die in einem Sicherheitsabstand zu Erik blieb. Jemand legte Desire von hinten eine Hand auf die Schulter. Sie sah auf und erkannte, dass es Unite war. „Wir kümmern uns drum.“ Dann stand auch sie in ihrer normalen Kleidung wieder da. Auch Justin hatte sich zurückverwandelt. Unzufrieden tat Desire es ihnen gleich. Die Leute um sie herum schienen dem sekundenschnellen Kleidungswechsel weniger Beachtung zu schenken als ihrem seltsamen Aufzug von zuvor. Nur manche schauten für einen Moment irritiert und schienen an ihrem Sehsinn zu zweifeln. Ein Pärchen kam jetzt näher heran und erkundigte sich nach dem Befinden des am Boden Liegenden. Andere Fremde stellten sich wie Schaulustige um die Gruppe auf. Vermutlich gingen sie davon aus, dass der Junge zu viel Alkohol getrunken hatte. „Er kommt gleich wieder zu sich.“, antwortete Serena abweisend. Vitali neben ihr nickte, als wäre Eriks Zustand alltäglich. Ariane nahm sich nicht die Zeit, um den beiden einen empörten Blick zuzuwerfen, sondern wandte sich direkt an das Pärchen: „Können Sie einen Sanitäter holen? In der Nähe war irgendwo ein Zelt vom Roten Kreuz!“ Den Gesichtern der beiden Personen war anzusehen, dass sie keine Ahnung hatten, wo sich besagtes Zelt befinden sollte. Vitali seufzte und sprang auf die Beine, um das Paar zu begleiten. Hinter dem Rücken des Paares bedeutete er den anderen, dass sie das Problem schnellstmöglich beheben sollten. Nur Ariane bekam es nicht mit, genauso wenig wie sie Serenas Blick sah, der deutlich verriet, für wie bescheuert sie die Idee mit dem Sanitätsdienst hielt. Justin beugte sich zu Ariane. „Er ist seit über einer halben Stunde ohnmächtig. Da reicht ein normaler Sanitäter nicht. Das ist keine normale Ohnmacht.“ Bestürzt sah Ariane zu ihm auf. Vivien kniete sich neben sie. „Setz deine Kräfte ein. So wie wenn du Destinys Paralyse aufhebst.“ Ariane zweifelte daran, dass das helfen würde. Aber in Ermangelung einer Alternative war sie bereit, es auszuprobieren. Entschlossen legte sie Erik beide Hände auf und schloss die Augen. Aufgrund ihrer Besorgnis war sie so aufgewühlt, dass sie erst wieder den Zugang zu dem Frieden in sich finden musste. Jedes Mal wenn sie sich zur Eile antrieb, entfernte sie sich wieder von der Quelle, an deren Ursprung sie gelangen musste. Sie versuchte durch langsameres Ausatmen ihre Nerven zu besänftigen. Schließlich fühlte sie die beruhigende Energie von ihrem Inneren über ihre Arme und Hände bis in ihre Fingerspitzen strömen und ließ sie ungehindert in Eriks Körper fließen. Etwas Unangenehmes durchfuhr sie. Gänsehaut. Was -? Das fühlte sich schrecklich an! Nein, sie durfte nicht aufhören! Und wenn sie Schmerzen erleiden müsste! Sie würde nicht aufhören! Noch mehr ihrer Kräfte wirkten auf Erik ein. Auch von dem immer bedrückender werdenden Gefühl, das sie befiel, ließ sie sich nicht aufhalten. Sie schüttelte es ab, konzentrierte sich auf die beruhigende Energie. Abrupt wickelte sich etwas Unsichtbares um ihren Körper und – „Zur Seite, bitte!“ Zwei Sanitäter kamen herbei. Ariane musste von Erik ablassen, auch Serena wurde weg gescheucht. Im gleichen Augenblick drang ein Husten aus Eriks Mund, als müsse er erbrechen. Die beiden Hilfskräfte in ihrer roten Kluft mit den reflektierenden Streifen und dem Logo des Roten Kreuzes knieten sich zu Erik. Einer von ihnen hatte einen roten Rucksack auf, den er nun eilig abnahm, während der andere Erik auf die Seite drehte. „Lass es raus.“ Doch Erik hustete bloß und stützte sich auf den Boden. „Er hat keinen Alkohol getrunken.“, klärte Justin sie auf. „Was ist passiert?“, wollte der Sanitäter mit dem Rucksack wissen. Justin antwortete. „Er ist bewusstlos geworden.“ Erik setzte sich gegen den Willen des Helfers auf. „Ich muss mich nicht übergeben.“, sagte er grimmig. Der erste Sanitäter holte aus dem Rucksack ein Blutdruckmessgerät und reichte es seinem Kollegen. Dieser legte es Erik an. „Seid ihr mit etwas gefahren?“, fragte der erste Sanitäter erneut Justin. „Er und Serena sind Riesenrad gefahren.“ „Nur das?“, bohrte der Sanitäter weiter. Justin nickte. „Ist sonst etwas passiert?“ Justin schüttelte den Kopf. Derweil verkündete der zweite Sanitäter. „Zu niedriger Blutdruck.“ Er wandte sich an Erik. „Leidest du unter Blutarmut?“ „Nein.“, antwortete Erik genervt. „Nimmst du irgendwelche Medikamente.“ „Nein.“ „Anabolika?“ Erik funkelte ihn wütend an. „Nein.“ „Und du hast sicher nichts getrunken oder Drogen genommen?“ „Nein!“ „Ist das schon einmal passiert?“ Erik schwieg. „Vor kurzem.“, antwortete Justin. „Warst du beim Arzt?“, fragte der zweite Sanitäter. „Nein.“, brummte Erik. „Das ist nicht zum Spaßen!“, rief der erste Sanitäter. „Du solltest das ganz dringend untersuchen lassen. Es könnte etwas Ernstes sein! Ein Hirntumor oder so. Wir rufen den Krankenwagen.“ Er griff nach dem an seinem Kragen befestigten Funkgerät. Erik fuhr ihn an. „Nein!“ Der zweite Sanitäter wandte sich an seinen Kollegen. „Ganz ruhig.“ Dann drehte er sich wieder Erik zu. „Kannst du aufstehen?“ Mit Leichtigkeit kam Erik auf die Beine, wie um zu beweisen, dass alles bestens war. „Mir geht es gut!“ „Entschuldige, aber kann ich mir kurz deine Augen ansehen?“, bat der zweite Sanitäter. Erik stöhnte, aber widersprach nicht. Der zweite Sanitäter leuchtete ihm in die Augen und kontrollierte die Reaktion seiner Pupillen. „Unauffällig.“ Erik verdrehte die Augen. „Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“, sagte der zweite Sanitäter ernst. „Vor allem wenn das mehr als einmal vorgekommen ist. Du solltest das dringend abklären lassen.“ Eriks Blick wurde abweisend. „Wäre es dir lieber, ich lasse meinen Kollegen den Krankenwagen rufen?“ Erik biss kurz die Zähne zusammen. „Ich gehe zu meinem Hausarzt. „In Ordnung, aber such ihn gleich morgen auf.“ Erik nickte. Der erste Sanitäter wandte ein: „Wir können ihn doch so nicht alleine gehen lassen!“ „Jemand sollte ihn begleiten.“, stimmte der zweite Sanitäter zu. Serena rief: „Meine Mutter kann uns abholen!“ Der zweite Sanitäter nickte. „In Ordnung. Aber ihr solltet direkt nach Hause gehen.“ „Ich rufe sie an.“ Serena holte ihr Handy hervor, dessen Handynetz wieder verfügbar war, und musste kurz warten, bevor die Verbindung endlich aufgebaut war. „Ja, Mama, ja, ich weiß. Tut mir leid. Kannst du mich und die anderen abholen? Erik geht es nicht gut. Ja. Wir warten am Eingang. Ja. Danke.“ „Wir begleiten euch noch.“, sagte der erste Sanitäter. Erik brummte. „Nicht nötig.“ „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“, sagte indes Justin. Der erste Sanitäter lächelte. „Das ist unsere Arbeit.“ Der zweite sah Erik nochmals an. „Und du gehst morgen bitte wirklich zu deinem Arzt.“ Erik wirkte alles andere als begeistert, nickte aber. „Gut, ansonsten müsste ich nämlich jetzt deine Personalien aufnehmen, um sicher zu gehen, dass du das machst.“ „Das wird nicht nötig sein.“, sagte Erik. Justin erhob die Stimme. „Er ist sehr verlässlich.“ Der zweite Sanitäter richtete das Wort an ihn und die anderen. „Achtet darauf, dass er keine Dummheiten macht.“ Justin nickte und fing sich daraufhin einen wütenden Blick von Erik ein. Endlich ließen die beiden Sanitäter sie wieder alleine. Auch das Pärchen hatte sich verabschiedet. Einen Moment herrschte Schweigen. Nicht mehr unter Beobachtung zu stehen, hatte etwas Erleichterndes. Plötzlich lief Erik los. „Erik!“, rief Ariane und eilte ihm mit den anderen nach. Justin mahnte: „Du solltest es nicht übertreiben.“ Erik sah ihn nicht an. Seine Stimme klang nicht wütend, vielmehr nüchtern. „Was ist passiert?“ „Du bist zusammengebrochen.“, sagte Justin. „Wann soll das gewesen sein?“ Die anderen antworteten nicht direkt. „Ich bin nie aus dem Riesenrad ausgestiegen!“, sagte Erik entschieden, hielt an und musterte Serena. Ihre Jacke war immer noch an einer Seite aufgeschlitzt, bisher hatte keiner von ihnen dem Beachtung geschenkt. Erik stockte und änderte jäh seine Richtung, eilte zurück zum Riesenrad, rannte die Stufen hinauf zu dem Mann, der die Plätze zuwies. „Ist eine der Gondeln beschädigt?“ Der Mann sah ihn irritiert an. „Nein.“ „Sind Sie sicher?“ „Ey, was willst du, Kleiner? Die Gondeln sind alle sicher!“ Erik wandte sich ab und ging wieder die Stufen hinab. Die anderen warteten bereits auf ihn. Er gab ihnen keine Erklärung für sein Verhalten, sondern lief einfach an ihnen vorbei. Dennoch folgten sie ihm. Für Momente war Erik in Gedanken versunken. „Habt ihr Ewigkeit gefunden?“ Ewigkeit, die die ganze Zeit über auf Viviens Kopf gesessen hatte, sah die fünf überrascht an und deutete mit dem Zeigefinger auf sich. „Jupp.“, machte Vitali. „Und die Schatthen?“ Ariane Stimme schrillte auf: „Das ist doch jetzt völlig egal!“ Mit einem Mal fuhr Erik sie an. „Mir ist es nicht egal!“ Er deutete auf Serena. „Warum ist deine Jacke zerrissen?“ Serena schien das erst im diesem Moment wieder bewusst zu werden. Geschockt sah sie das Werk des Schatthens an. Und dabei konnte sie von Glück reden, dass die Bestie nicht ihre Haut erwischt hatte. „Das … war in der Gondel. Da stand so ein Metallteil raus, da hab ich mir die Jacke aufgerissen.“, sagte sie halblaut. Erik funkelte sie argwöhnisch an. „Achja?“ „Wovon redest du?“, forderte Justin von Erik zu wissen und nahm Serena damit aus der Schussbahn. Grimmig sah Erik ihn an. „Wir sind in der Gondel angegriffen worden. Irgendwas hat die Scheibe zertrümmert und Serena aus dem Fenster gezerrt. Dabei ist ihre Jacke zerrissen.“ Mit großen, neugierigen Augen musterte Vivien ihn. „Und dann?“ „Ich habe sie festgehalten und wieder reingeholt. Dann bin ich ohnmächtig geworden, weil die Wunde wegen den Schatthen geschmerzt hat.“ Vivien schien von dieser Schilderung völlig begeistert. „Das ist ja großartig!“ Sie kicherte vergnügt. „Was ist daran großartig?“, donnerte Erik. „Kannst du dich jetzt wieder an Secret erinnern?“, wollte Vivien freudig wissen. Erik stockte. Bilder kamen in ihm hoch. Bilder, die er während seiner Ohnmacht gesehen hatte. Graue Bestien. Ariane, vor einem Spiegelsplitter, ihr Mund bewegte sich, schrie einen Namen, hinter ihr eines der Monster. Eine Armbewegung. Er fühlte sich, als hätte er diesen Traum schon hundertmal gehabt, ohne es zu wissen. Nein, das konnte nicht sein. Er schüttelte den Kopf. Vivien klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. „Das kommt vielleicht noch. Bei unserem nächsten Einsatz.“ Erik sah sie ungläubig an. „Du leugnest also nicht, was gerade passiert ist?“ „Natürlich nicht.“ „Dieses Monster war echt.“, hakte er nach. „Natürlich.“ „Und wir sind angegriffen worden.“ „Natürlich.“ Von dieser Antwort war Erik nur noch verunsicherter. Vivien redete weiter. „Wir haben Ewigkeit gefunden. Aber da waren keine Schatthen. Dann sind wir zurück zu euch, aber da wurdet ihr schon angegriffen.“ Erik sah sie misstrauisch an. „Und wie sind wir aus der Gondel gekommen?“ Vivien deutete auf Vitali. „Er hat euch teleportiert.“ Eriks Augenbrauen zogen sich in purem Zweifel zusammen. „Teleportiert?“ Mit stolzgeschwellter Brust grinste Vitali wie ein Superheld. „Ihr wollt mich wohl verarschen!“, tobte Erik. Vivien sah ihn unschuldig an. „Wie seid ihr denn sonst aus der Gondel gekommen?“ „Das war meine Frage!“, wetterte Erik. „Aber dass ihr teleportiert wurdet, willst du nicht glauben.“, sagte Vivien, als wäre das ungewöhnlich. „Natürlich nicht!“, schrie Erik. „Hm.“, machte Vivien. „Was würdest du stattdessen glauben?“ Erik war von der Frage überrumpelt. Doch Vivien schien auf eine Antwort zu warten. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. „Das ist totaler Schwachsinn!“, knurrte er. „Alsooo…“ Vivien sah ihn forschend an. „Erinnert sich Erik nicht an das, was passiert ist, weil er es nicht glauben will?“ Wieder war Erik unfähig, ihr Gesprochenes einzuordnen. Vivien zuckte mit den Schultern. „Niemand zwingt dich.“ Seine Muskulatur verkrampfte sich. Im gleichen Moment hörte er Arianes besorgte Stimme seinen Namen sagen und spürte eine sachte Berührung an seinem Arm. Überstürzt riss er sich von ihr los und warf ihr einen feindseligen Blick zu, als unterstelle er ihnen, ihn boswillig an seinem Verstand zweifeln zu lassen. Getroffen wich Ariane zurück. Alles an Erik drückte eine solche Abscheu vor der Wahrheit aus, dass es ihr die Brust zusammenschnürte. Sie hatte Serenas Ausbruch von Unwillen erlebt, als Eternity sie über ihre Rolle als Beschützer aufgeklärt hatte. Serena war dabei so aufbrausend, zornig, aber gleichzeitig furchtbar verletzlich gewesen. Das hier hatte eine ganz andere Qualität. Es wirkte nicht wie die augenblickliche Ablehnung einer Situation, sondern als sei Eriks Widerwille viel umfassender, gewaltiger. Tiefgehender. Etwas, das er um jeden Preis verteidigen musste. In Justins Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie mussten diese ganze Aktion sofort abbrechen! Erik würde die Wahrheit nicht akzeptieren. Ganz im Gegenteil! Er wehrte sich so heftig dagegen, dass es Justin daran erinnerte, wie Erik Vivien bei ihrem Kräfte-Einsatz einen Stromschlag verpasst hatte. Justin hatte das ungute Gefühl, etwas Bedrohliches stünde davor aus Erik auszubrechen, wenn sie ihn auch nur einen Schritt weiter an den Abgrund der Wahrheit führten. Doch wie sollte er das Ganze jetzt noch stoppen? Ehe er eine Antwort darauf finden konnte, war bereits Vivien geradezu beiläufig zwischen Ariane und Erik getreten. Ihre Stimme klang so unbekümmert, dass Justin einmal mehr von ihr beeindruckt war. „Dein Charakter, deine Entscheidung.“, verkündete sie Erik. „Was soll das?“, forderte Erik lautstark. Vivien machte den Eindruck, seine Aggressivität gar nicht wahrzunehmen. Sie hob verwundert die Augenbrauen. „Na, jeder von uns kann seine Ideen einbringen. Normalerweise nehmen wir direkt das erste, was vorgeschlagen wird, damit es nicht zu Verwirrungen kommt. Aber wenn jemand ganz unzufrieden ist, kann er einen Verbesserungsvorschlag machen.“ „Wovon redest du eigentlich?!“, donnerte Erik. Nun zog Vivien ein verwundertes Gesicht. „Reden wir nicht vom selben?“ „Nein, ich –“ Erik unterbrach sich und hielt sich den Kopf. Er wusste selbst nicht mehr, wovon er eigentlich – nein, ob er darüber reden wollte! Das war alles völlig absurd. Es konnte nicht ... Er musste einer Wahnvorstellung erlegen sein! Nein, er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Serena unterbrach das Schweigen. „Meine Mutter wartet.“ Frau Funke war mit dem VW Bus gekommen, in den die sechs gerade so passten. Sie hatten sich entsprechend der Reihenfolge ihres Aussteigens platziert. Erik und Ariane hinter dem Fahrer und dem Beifahrer, Justin, Vivien und Vitali auf der Rückbank und Serena auf dem Beifahrersitz. „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Serenas Mutter. „Erik ist kurz ohnmächtig geworden.“, sagte Serena kleinlaut. „Geht es dir jetzt besser?“, fragte Frau Funke. Erik gab nur einen kurzen Laut von sich. „Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen.“, sagte Serena. „Du hast Glück gehabt, dass du da nicht gelandet bist.“, meinte Frau Funke. Wieder nur ein kurzer zustimmender Laut. Er hatte aus gutem Grund behauptet seinen Hausarzt aufzusuchen. Mit den Sanitätern weiter herumzustreiten, hätte nichts gebracht. „Du solltest auf deinen Kreislauf achten.“, empfahl Frau Funke. „Hast du momentan viel Stress? Was isst du denn so?“ Serena unterbrach sie. „Lass ihn jetzt in Ruhe, Mam.“ „Okay. Aber die Ärzte schieben dich bloß durch die Röhre und machen sonst welche Experimente mit dir. Oder pumpen dich mit Medikamenten voll, damit die Pharma-Industrie daran verdient.“ Frau Funke war eine erklärte Gegnerin der Schulmedizin. Vitali verzog das Gesicht bei ihrem Geschwätz, Erik ignorierte es. Scheu linste Ariane zu ihm hinüber. „Erik?“ Er gab ein Brummen von sich, das bestätigte, dass er sie gehört hatte. „Soll ich mit dir zum Arzt gehen?“ Jetzt erst drehte Erik ihr sein Gesicht zu. Hätte er nicht so abgekämpft ausgesehen, wäre sein Ausdruck wohl als spöttisch zu bezeichnen gewesen. Auch seine Stimme hatte kaum noch die Kraft seiner höhnischen Bemerkung den richtigen Klang zu geben. „Willst du mit mir zur Leibesvisitation?“ Ariane schaute, als würde sein Kommentar sie mehr langweilen als ärgern. Beide wandten sich ab und schwiegen, bis der Wagen Arianes Zuhause erreicht hatte. Ariane bedankte sich für die Mitnahme, sie sah noch einmal zu Erik, der sie geradezu zu ignorieren schien. Sie verabschiedete sich und stieg aus. „Ich hab noch Bruno.“, fiel es Vivien ein. Sie holte Eriks Teddy aus dem Rucksack. Erik nahm ihn entgegen. Dann waren sie auch schon bei seinem Haus angekommen. Ein kurzes Danke sagend, stieg Erik aus dem Wagen und ging zu seiner Haustür. Der Wagen wartete, bis er die Tür aufgeschlossen hatte, und setzte dann seinen Weg fort, um auch die anderen nach Hause zu bringen. Erik trat ins Innere, den Teddy unter seinem Arm, und tastete nach dem Lichtschalter. Wie immer war es still im Hause Donner. Still, altehrwürdig und unbelebt. Erik legte Bruno kurz auf der hölzernen Ablage ab, zog die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Alles sehr langsam. Er griff den Arm des Teddys und schritt auf die breite Treppe zu, berührte das edle Holz, aus dem das Treppengeländer geschnitzt war, betrachtete den roten Stufenbesatz. Jeden Schritt nahm er bewusst war. Vom ersten Absatz gingen rechts und links zwei Treppenläufe ab, die in den ersten Stock führten. Für einen Moment schien die Entscheidung, nach rechts oder links zu gehen, sinnlos. Er zögerte für eine Millisekunde, starrte vor sich, wandte sich nach rechts. Im ersten Stock angelangt, löschte er das Licht unten und betätigte den Lichtschalter für den ersten Stock. Mit langsamen Schritten brachte er das verbleibende Stück zu seinem Zimmer hinter sich, öffnete seine Zimmertür. Das Licht des Ganges flutete in die Schwärze, bis Erik das Licht ausschaltete. Es blieb der fahle Mondschein, der durch die Fenster, ins Zimmerinnere sank und dem Interieur einen gespenstischen Anblick verlieh. Erik schloss die Tür hinter sich, stand für einen Augenblick stumm da. Stand da und sah ins Leere. Der Teddybär glitt aus seiner Hand, als ihn die Kraft verließ. Mit beiden Händen bedeckte er seine Augen, fuhr mit ihnen auf und ab, wie um etwas fortzuwischen. Seine Mundwinkel senkten sich und seine Hände verkrampften vor seinem Gesicht. Sein Schluchzen hörte niemand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)