Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 76: Hel – Serenas Unterwelt ----------------------------------- Hel – Serenas Unterwelt „Es gibt einen Ort, den ich kenne. Dort ist es nicht schön und wenige waren je da. Wenn ich ihn euch jetzt zeige, wird euch das vertreiben? Oder werdet ihr bleiben? Auch wenn es euch wehtut, auch wenn ich versuche, euch hinauszustoßen. Werdet ihr zurückkehren und mich daran erinnern, wer ich wirklich bin?“ (übersetzt aus dem Lied 'Dark Side' von Kelly Clarkson) Als Erik wieder zu sich fand, saß er noch immer auf dem Boden, nur dass der Boden nicht länger derselbe war. Noch ehe er sich umgesehen hatte, wusste er instinktiv, dass hier etwas völlig falsch war. Er fand sich in einer seltsam entstellten Realität wieder: Eine Ebene – grau – die in undefinierbarer Ferne in formlose Nebelschwaden überging. Das musste wieder eine Wahnvorstellung sein, eine Ohnmacht. Daran bestand kein Zweifel, denn alles hier wirkte wie ein verzerrter Traum. Doch fühlte es sich so fremd an, als wäre er in den Traum eines anderen eingedrungen. Erik stand auf. An diesem Ort zu verweilen, widerstrebte ihm. Etwas war unheimlich hier, als würde ihn etwas bedrohen, etwas Undefinierbares, das ihm auf merkwürdige Weise völlig vertraut und völlig fremd vorkam. Wie eine kranke Erinnerung, die nicht seine eigene war. Ohne darüber nachzudenken, setzte er einen Fuß vor den anderen, ging weiter und weiter, als würde ihn etwas rufen, anziehen, ihm etwas sagen und sich doch nicht offenbaren wollen tief in den Schwaden des mysteriösen Nebels. Seine Sinne wurden in schläfrige Betäubung gewiegt. Halb in Trance brach er durch die dichten Nebelschwaden, wo die Umgebung plötzlich heller wurde. Das Grau der Dämmerung. Er hörte jemanden sprechen, nicht weit von dem Punkt, an dem er stand, und folgte den Geräuschen. Indem er die nächste Nebelbank hinter sich ließ, fand er sich in einem Schulhof wieder. Mehrere Schüler wuselten umher. Als einer ungebremst auf ihn zu lief, schritt er geisterhaft durch Erik hindurch. Bestürzt griff Erik nach seinem eigenen Körper, als müsse er sicherstellen, dass er noch aus Fleisch und Blut bestand. Er versuchte, sich zu beruhigen. Was er sah, war die Illusion, nicht er selbst. Er ließ den Gedanken fallen. Etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auf einer einen halben Meter hohen Mauer oder Sitzgelegenheit – Erik konnte nicht genau sagen, um was es sich handelte – stand Serena und strahlte. Sie war weit schmächtiger als er sie kannte und ihre Gesichtszüge waren deutlich kindlicher. Er schätzte sie auf elf. Sie unterhielt sich gerade mit leuchtenden Augen mit zwei anderen Mädchen, die nicht nur aufgrund des Umstandes, dass Serena auf der Erhöhung stand, deutlich kleiner waren als sie. Offenbar gab sie in begeisterten Worten den Inhalt einer Anime--Serie wieder, was sie mit einer expressiven Armgestik untermalte, die selbst Vitali Konkurrenz gemacht hätte. Erik konnte sich nicht entsinnen, sie jemals auf so überschwängliche Weise agieren gesehen zu haben. All die Unschuld, die er nur Tage zuvor in ihrer ängstlichen Miene zu erkennen geglaubt hatte, sprach hier aus jeder ihrer Bewegungen, als habe sie nichts zu verstecken. Wie naiv. Das eine Mädchen kicherte. „Serena, du bist so kindisch.“ Serena lachte heiter und tänzelte über die Mauer. „Darüber könnte ich den ganzen Tag reden!“ Das Mädchen bekam einen höhnischen Ton in der Stimme, kaschiert durch eine fröhliche Verspieltheit. „Das kann ich mir denken.“ Erik hasste diesen Ton. Er hatte ihn zu oft gehört in seinem Leben. Serena strahlte. Unwillkürlich trat Erik vor, wie um Serena zu warnen, aber bevor er sie erreicht hatte, löste sich das Bild auf. Er drehte sich um und stand mit einem Mal in einem Klassenzimmer. Serena stand mit ihrem Rücken zu ihm, vor einer Bank, an der die beiden Mädchen von zuvor saßen. Sie schien versteinert. „Wir haben ausgemacht, dass Isabelle dieses Jahr neben mir sitzt. Tut mir leid.“ „Aber wieso habt ihr nichts gesagt?“, fragte Serena. „Vergessen.“ Serena rührte sich nicht. „Da hinten sind noch Plätze frei.“ Serena hob kurz den Kopf. Erik konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber allein ihre Körperhaltung sagte ihm, wie sie sich fühlte. Zu groß für ihr Alter, zu groß, als dass es zu ihrem kindlichen Gemüt gepasst hätte, stand sie hilflos da, als hätte man sie in eine Welt gestoßen, deren Regeln sie nicht verstand, als würde man Dinge von ihr erwarten, deren Sinn ihr nicht begreiflich war. Sie torkelte hilflos in die letzte Reihe und setzte sich. Tränen bahnten sich ihren Weg ihre Wangen entlang. Die Mädchen, die vor ihr saßen, bedrängten sie daraufhin mit Fragen, offensichtlich besorgt. Doch ihre Freundlichkeit schien Serena eher noch zu verstören. Obwohl sie ihnen antwortete, machte sie dabei eine verletzliche Miene, an der die netten Worte der Mädchen nichts ändern konnten. Zum ersten Mal glaubte Erik nun etwas in ihrem jungen Gesicht zu sehen, was sie auch in ihrer sechzehnjährigen Form besaß. Diese ängstliche Verschlossenheit, ein Wissen, betrogen zu werden, das schon zuvor dagewesen sein musste, noch tiefer liegen musste. Die Tür zum Klassenzimmer wurde geöffnet, doch als Erik sich umdrehte, sah er einen anderen Raum, aus dessen Inneren Serena gerannt kam. „Wartet!“, schrie sie laut. Erik sah noch wie ihre beiden Freundinnen um die Ecke rannten und kicherten. Serena stürzte hinterher und schrie den Namen des einen Mädchens, obgleich viele andere Schüler umherstanden. Plötzlich rutschte sie aus und knallte zu Boden. Die Umstehenden gafften sie an. Mit eingezogenem Kopf versuchte sich Serena aufzurappeln. Ihr Körper war verkrampft vor Scham. Sie kam wieder auf die Beine und schrie den Namen des Mädchens noch schriller als zuvor. Erik lief ihr nach, die Treppen hinunter. Bei Serenas Geschwindigkeit musste er sich nicht sonderlich beeilen. Sie war offenbar noch nie sportlich gewesen. Hilflos sah sie sich auf dem großen Schulhof um, entschied sich für eine Richtung und lief den Weg entlang zu einem kleinen Platz, grün bewachsen, wo die beiden Mädchen saßen. „Wieso seid ihr weggelaufen?“, fragte sie atemlos. Die beiden kicherten bloß. „Du brauchst uns ja nicht hinterherlaufen.“ „Lieber klein und zackig als groß, dumm und dappig.“, sagte eine von ihnen. Erik biss die Zähne zusammen. Serenas Haltung konnte er ansehen, wie sehr der Satz sie traf. Sie konnte doch nichts für ihre Größe. Plötzlich lösten ihre Freundinnen sich auf. Serena lief den Weg zurück, allein. Eine aus dem Nichts erschienene Lehrerin sprach sie an. „Wieso bist du so alleine?“ „Eva-Maria ist heute krank.“ „Du könntest doch mit den anderen Mädchen laufen.“ Serena sah beschämt zu Boden. Erik glaubte ihre Gedanken überdeutlich zu hören: ‚Ich bin nicht wie die anderen.‘ Das Bild wandelte sich und Serena saß alleine in einer Bank. Nicht in einem Klassenraum, sondern in der Leere stehend, während schwarze Schemen an ihr vorüber zogen. Ohne Charakter, ohne Existenz. So saß sie da, blinzelte. Gefangen in einem Karussell von Andersartigkeit. ‚Ich bin anders. Ich bin anders. Anders. Anders…‘ Erik wollte auf sie zugehen und ihr sagen, dass das nicht stimmte, doch allein der Gedanke daran, ließ seinen Mund austrocknen, etwas wehrte sich so vehement gegen ihn, dass er den Druck auf seinem Körper spürte wie eine riesige Hand, die ihn zerquetschen wollte. ‚Komm mir nicht zu nahe!‘ Noch einmal, lauter, schriller, hilfloser: ‚KOMM MIR NICHT ZU NAHE!‘ Erik bekam keine Luft mehr. Er wollte ihr sagen, dass sie aufhören sollte, aber er konnte nicht. Plötzlich packte ihn die Wut. Er war nicht der Grund, dass sie so war! Sie hatte kein Recht, ihn dafür leiden zu lassen. „Hör auf!“, brüllte er. Seine Umgebung verschwand. Justin stand am hinteren Ende eines Klassenzimmers, das nicht seines war. Die Schüler, die mit dem Rücken zu ihm saßen, waren auch zu jung, um am Wirtschaftsgymnasium zu sein. Sie waren vielleicht dreizehn, vierzehn. Es schien Pause zu sein, denn sie unterhielten sich angeregt. Justin war verwirrt. Er fand nur eine Erklärung für diese plötzliche Vision: Seine Fähigkeit, Erinnerungen zu sehen, musste wieder eingesetzt haben und zwar weit intensiver als das Mal zuvor. Plötzlich erregte eine Person, die allein in der zweiten Reihe von hinten an der Fensterseite saß, seine Aufmerksamkeit, so als hätte er sie schon einmal gesehen. Unsicher, ob er sich überhaupt bewegen können würde, trat er ein paar Schritte vor. Je näher er dem Mädchen mit den langen braunen Haaren kam, desto mehr wuchs die Ahnung in ihm zur Überzeugung heran, dass das Serena sein musste. Ihre Körperhaltung war verkrampft, ihre Schultern weit nach oben gezogen wie in einer Schutzhaltung. Ihr Kopf war leicht gesenkt. Ehe er sie ganz erreicht hatte und ihr Gesicht sehen konnte, wurde plötzlich etwas von hinten auf ihre Bank geworfen. Er erkannte erst auf den zweiten Blick, dass es sich nicht um eine Granate oder sonstige Waffe, sondern um ein Bonbon handelte. „Hier! Gegen den Mundgeruch.“, rief eine Stimme von der hinteren Bank. Justin drehte sich um und sah zwei Mädchen in der Bank sitzen. Sie wirkten etwas älter. Die eine war relativ hübsch, die andere groß und stark. Doch beide hatten diese harte Ausstrahlung. Er sah wieder zu Serena oder zu derjenigen, die er für Serena hielt. Sie regte sich nicht. „Hey! Willst du heut nicht mit uns reden?“, rief das zweite Mädchen. Justin konnte den Ton nicht ganz identifizieren. Es klang nicht einfach höhnisch und auch nicht bloß drohend, es hatte etwas Tonloses, das man nicht richtig einzuordnen wusste. Die Größere begann wieder zu sprechen. „He, wann ist dein Geburtstag? Wir würden dir gern was schenken.“ „Ja, damit du nicht mehr so stinkst.“ Als Serena noch immer nicht reagierte, schoben die beiden Mädchen ihren Tisch näher an sie heran. Serena wirbelte herum und sprang auf. „Lasst mich in Ruhe!“ Sie stieß den Tisch der beiden mit aller Kraft zurück, sodass das Handy der einen auf dem Boden landete. Die beiden Mädchen schrien. „Hast du sie noch alle?“ Die beiden sahen Serena an, als wäre sie eine wild gewordene Irre, die ohne jeglichen Grund aggressiv wurde. Die Schlankere von beiden stand auf, um ihr Handy vom Boden aufzuheben. Sie sah ehrlich bestürzt aus. „Warum hast du das gemacht?“, rief sie verständnislos. Davon verschüchtert, entschuldigte sich Serena. Aus ihrem Gesicht sprach die jähe Reue. Ängstlich beugte sie sich zu dem Mädchen. „Ist es noch ganz?“ Das Mädchen sah sie an, als hätte Serena ihr eine Ohrfeige gegeben. Es sagte nichts. Die zweite sprach. „Wir versuchen nur nett zu dir zu sein!“ Plötzlich verschwamm das Bild vor Justins Augen und bildete sich neu. Mit einem Mal stand er in dem Vorraum der Mädchentoiletten. Serena stand dort, von einigen Mädchen umringt. „Hör mal, Serena, wir wollen dir was Gutes tun.“ „Ja.“, stimmte eine andere zu. „Wir wollen dich aufstylen, damit du nicht mehr so langweilig aussiehst.“, erklärte eine weitere. „Wir schminken dich.“, sagte eine, die nicht so aussah, als würde sie viel davon verstehen. „Und deine Klamotten solltest du ändern.“ Serena stand da und hörte aufmerksam zu. Wieder wechselte die Umgebung. Nun stand Justin in einem Bus. Es musste sich um den Bus handeln, der Klassen zum Sportunterricht fuhr, denn die Insassen waren alles Schüler mit Sporttaschen. Serena stand vor ihm. Mit ihrer bunten Jacke stach sie aus der Masse heraus. Auch ihr Rucksack mit dem verspielten Muster ließ sie kindlicher erscheinen als ihr großer Wuchs es vermuten ließ. Neben Serena saßen die beiden Mädchen von zuvor. „Wo sind deine Freunde?“, fragte die Größere. Serena schwieg. Justin lief vor sie, um ihr Gesicht zu sehen. „Hast du keine Freunde?“ Serenas Blick ging nach vorne. Justin folgte ihm und sah die Mädchen, die er eben um sie herum gesehen hatte. Er besah sich nochmals Serenas Gesicht. Sie hatte den Blick wieder gesenkt, als würde sie niemanden dadurch beschämen wollen, indem sie behauptete, mit ihm befreundet zu sein. Ihre angeblichen Freunde schienen dem zuzustimmen, keinen interessierte es, wie Serena hier stand. Sie war ganz allein in einem Bus voller Leute. „Weißt du, warum dich keiner leiden kann? Weil du komisch bist.“ Die Aussage machte Justin wütend. Und dass Serena diesem Gerede ausgesetzt war, machte ihn noch wütender. „Lasst sie in Ruhe!“, schrie er die beiden Mädchen an, auch wenn er wusste, dass sie ihn nicht hören konnten. Er wandte sich wieder Serena zu. „Serena.“ Sie reagierte nicht. Natürlich nicht. Das hier war längst geschehen. Die Vergangenheit konnte er nicht ändern. Vivien rannte. Sie rannte der Gestalt hinterher, die wie ein Phantom durch die Dunkelheit vor ihr geisterte. Der Weg, auf dem sie lief, war links und rechts von Straßenlaternen gesäumt, die ihr kränklich gelbes Licht auf den Boden fallen ließen und an ihr vorbeizogen. „Serena!“, schrie sie. Sie wusste, dass sie hier in Serenas Welt sein musste. Das war das einzige, was Sinn ergab. So wie Serena damals in Vitalis Seelenwelt gelandet war, war Vivien jetzt in Serenas gezogen worden. Mit dem Unterschied, dass Serenas Unterbewusstsein sie zu leiten schien. Vielleicht hatte Serena sie und die anderen ja deshalb hier hineingesogen – um ihnen etwas Wichtiges zu zeigen! Vivien rannte weiter, doch wurde ihr klar, dass das Rennen nichts nutzte. Sie würde ewig dem unendlich gewundenen Weg durch die Dunkelheit folgen. Sie blieb stehen. „Serena! Serena, wenn du mir etwas zeigen willst, dann tu es! Ich werde dir zuhören.“ Für einen Moment geschah gar nichts. Kein Ton war zu hören. Um Vivien herum gab es nur eine undefinierbare schwarze Weite jenseits des Lichtes der Straßenlaternen. Etwas Unheimliches ging von diesem Unbekannten aus. Vivien kratzte ihren Mut zusammen. Sie musste die Straße verlassen. Ihr Herz klopfte laut, als wolle es sie warnen, nicht vom rechten Weg abzukommen. Sie kam sich vor wie Rotkäppchen. Aber wie unbedeutend wäre das Märchen geworden, wenn sie dem Wolf nicht begegnet wäre. Vivien machte den ersten Schritt weg von der Straße. Sofort ging ein Schauer über ihren Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Sie schüttelte die Angst ab. „Serena! Ich lass dich nicht alleine!“, schrie sie und lief los in die Finsternis. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)