Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 80: - 3. Band Gleichgewichts-Bedroher - [Angriff der Allpträume] Der Beginn eines Albtraums --------------------------------------------------------------------------------------------------- Der Beginn eines Albtraums   „Endlich Nacht, kein Stern zu sehn / Der Mond versteckt sich, / Denn ihm graut vor mir. / Kein Licht im Weltenmeer. / Kein falscher Hoffnungsstrahl. / Nur die Stille und in mir / Die Schattenbilder meiner Qual.“ (aus dem Lied Die unstillbare Gier aus dem Musical Tanz der Vampire) Dienstag, 02. Oktober, bis Sonntag, 07. Oktober - Beschattung der Testpersonen   Sonntag, 07. Oktober - Angriff auf Jahrmarkt. - Abtrennung des Angriffsbereichs durch Tarnzauber. - Datenerhebung durch Messgeräte an Schatthen abgeschlossen.   Samstag, 13. Oktober - Aus den Werten der Testreihe ergibt sich kein klares Muster. - Eindeutige Parallelen zu den Fähigkeiten von Schatthenmeistern. - Auflösung der Schatthen noch immer ungeklärt.   Grauen-Eminenz betrachtete seine Aufzeichnungen. Sonst verfasste er seitenlange Berichte über die Ergebnisse seiner Untersuchungen und ausgerechnet bei seiner ganz persönlichen Versuchsreihe war die Ausbeute so dürftig? Naja, war ja nicht gerade so, als ob er die langen Berichte freiwillig schrieb. Laut seinem Vertrag war er nun mal dazu verpflichtet bei den Experimenten, die er für die Organisation durchführte, jedes Detail festzuhalten. Üblicherweise handelte es sich dabei um Tests mit den Schatthen anderer Schatthenmeister. Das war so eine Art Schatthen TÜV, ob sie denn auch den Ansprüchen des renommierten Pandämoniums (Name seiner Organisation) genügten. Daher musste er auch immer eine bestimmte Zahl seiner Schatthen an das Pandämonium abgeben. Er fand das lächerlich. Und damit meinte er nicht mal den Titel seiner Schatthenmeistervereinigung, der offenbar auf John Milton’s ‚Paradise Lost‘ Bezug nahm, wo die Hauptstadt der Hölle Pandämonium genannt wurde. Was Originelleres war denen nicht eingefallen…  Zurück zum Schatthen TÜV. Wie gesagt. Lächerlich. Aber manche der Schatthenmeister bildeten sich enorm viel darauf ein, dass ihre Schatthen beste Qualität boten und den höchsten Ansprüchen genügten. Ihm war das ziemlich egal. Seine Schatthen entsprachen den Mindestanforderungen und mehr wollte er gar nicht. Er hatte die These aufgestellt, dass man geisteskrank sein musste, um besonders hochwertige, gewiefte Schatthen zu erschaffen, und darauf konnte er gerne verzichten. Seine abwertende Haltung konnte man natürlich auch als den selbstgerechten Versuch werten, die eigene Unterlegenheit herunterzuspielen. Aber ganz ehrlich: Er war sicher, die waren geisteskrank! Ihm fiel auf einem der zahlreichen Bildschirme um ihn herum die Mitteilung auf, dass er vier ungelesene Nachrichten in seinem E-Mail-Postfach hatte. Indem er eine entschiedene Bewegung ausführte, hatte er den entsprechenden Bildschirm vor sich und klickte auf die Schaltfläche. Zwei Mails waren Werbung. Die dritte war der hirnlose Newsletter für Schatthenmeister, in dem meist Tipps standen, die er sich schon in den ersten paar Monaten seiner Ausbildung selbst beigebracht hatte, und Termine für Fortbildungen, die ebenso unsinnig waren. Er hatte anfangs noch auf dringenden Wunsch seiner Organisation an diesen Gruppentreffen teilgenommen.   - Hallo, ich bin Holger und ich erschaffe Schatthen. - Hallo Holger. Wir kennen dein Problem, Holger. Wir fühlen mit dir.   Natürlich lief das nicht so ab – auch wenn der Gedanke ihn trotzdem immer zum Grinsen brachte – war ja alles hoch offiziell und selbstverständlich ging es hier um Berufliches. Und die anderen Schatthenmeister waren ja ach so stolz auf ihre Tätigkeit! – noch ein Grund, warum er sie nicht ausstehen konnte. Die einen prahlten die ganze Zeit, wie viele und welch starke Schatthen sie erschaffen konnten, wieder andere sprachen kein Wort und hatten stattdessen einen Blick drauf, als würden sie eine neue Fähigkeit ausprobieren: das Töten durch Blicke. Obwohl er schon öfters solche Blicke abbekommen hatte, war er bisher stets mit dem Leben davon gekommen, was entweder auf die Unfähigkeit dieser Schatthenmeister zurückzuführen war oder aber darauf, dass diese Fähigkeit doch nicht existierte. Wäre ja auch ziemlich ungeschickt, wenn man das versehentlich einsetzte. Man stelle sich nur vor, man geht zum Bäcker, das belegte Brötchen, das man haben wollte, ist schon wieder ausverkauft, man schaut böse, und plötzlich fällt das Verkaufspersonal tot um! Wenn das mal nicht unangenehm war. Dann musste man sich nur deswegen gleich einen neuen Bäckerladen suchen! Sicher war das die Ursache für die ganzen Back Shops ohne Bedienung, die überall aus dem Boden schossen.   Letzte Mail. Beim Anblick des Absenders und des Betreffs verzog sich Grauen-Eminenz‘ Miene.   Von: Pandämonium. Betreff: Auftrag.   Na toll. Hätte er sich ja denken können. In letzter Zeit hatte es keine Einsätze gegeben. Das Testen der Schatthen von Kollegen (Schatthen TÜV) war eine sehr unbeliebte Tätigkeit unter Schatthenmeistern, da sie mit permanenter Lebensbedrohung einherging. Das größte Problem war die Aufbewahrung und der Abtransport der Schatthen. Die fremden Schatthen sahen den Tester verständlicherweise nicht als ihren Meister an und starteten entsprechend Ausbruchsversuche, die nicht selten in der Tötung dieses Schatthenmeisters resultierten. Aus diesem Grund war seine Organisation dazu übergegangen nur willigen Mitgliedern diese Aufgabe zu übertragen. Diejenigen wurden entsprechend mit weniger anderen Aufträgen behelligt. Grund genug, dass er sich dafür entschieden hatte. Des Weiteren konnte man sich für die Aufgabe des Schatthen-Abholens und Transportierens melden. Und wer es sich zutraute, durfte sich für das Wiedereinfangen von entfleuchten Schatthen einsetzen lassen, wenn sie mal wieder einen Schatthenmeister getötet hatten – manchmal forderte der Betroffene auch noch rechtzeitig Hilfe an, konnte die Flucht aber nicht verhindern. Grauen-Eminenz hatte sich für jedes dieser Ämter eingetragen. Das war ihm weit lieber als die bescheuerten anderen Aufträge vom Pandämonium, die die Alternative gewesen wären. So blieb er die meiste Zeit von dergleichen verschont. Allerdings hatte die Anzahl der Einsätze in den letzten zwei Jahren abgenommen. Die Sicherheitsvorkehrungen der Schatthenmeister waren mittlerweile verbessert worden, sodass es seltener zu Problemen kam. Das hieß, dass er nun doch wieder mehr der anderen Aufgaben übernehmen musste. Und jetzt war es wohl mal wieder an der Zeit dafür. Er öffnete die E-Mail. Eigentlich hoffte er ja immer noch darauf, dass ihm die Organisation eine microSD Karte zuschickte, die er dann in seinen TabletPC stecken konnte, woraufhin ein Video abgespielt würde.   „Guten Morgen, Grauen-Eminenz, […Informationen über den Auftrag…] Ihr Auftrag, falls Sie ihn übernehmen, ist es, […genaue Nennung…]. Sollten Sie oder jemand aus Ihrem Team gefangen oder getötet werden, wird der Minister jegliche Kenntnis von Ihrer Operation abstreiten. Diese Nachricht wird sich in fünf Sekunden selbst zerstören. Viel Glück.“   Aber irgendwie wollte die Organisation ihm den Gefallen nicht tun. Kein Sinn für Nostalgie.   Sehr geehrter Herr Graue Eminenz, Na toll, jetzt arbeitete er doch schon lange genug für die, dass sie sich merken könnten, dass es Grauen-Eminenz hieß. GRAUEN-Eminenz! Nicht Graue Eminenz! Das war ein Wortspiel, verdammt noch mal! Wahrscheinlich unterkringelte Word ihnen die Bezeichnung und schon änderten sie es entsprechend. Diese …! Denen wäre es wohl lieber gewesen, wenn er als Pseudonym Herr Maier gewählt hätte. Schatthenmeister Herr Maier. Großartig. Und so furchteinflößend…   Sie werden in den nächsten Tagen eine Lieferung an die von Ihnen angegebene Adresse erhalten. Die Lieferung umfasst eine neue Form der Lichtlosen, die sie auf ihre Tauglichkeit untersuchen und den beiliegenden Anweisungen entsprechend einsetzen sollen.   Mit freundlichen Grüßen   Pandämonium   Grauen-Eminenz hatte schon gehört, dass andere Schatthenmeister-Vereinigungen Versuche mit Schatthen unternahmen und neue Formen der Lichtlosen erschufen, aber bisher hatte seine Organisation eher einen konservativen Standpunkt vertreten und solche Forschungen abgelehnt. Offenbar hatte sie dem Konkurrenzdruck nun aber doch nicht mehr standhalten können. Vielleicht hatte er auch irgendeine Fusion mit einer kleineren Organisation nicht mitbekommen. Er interessierte sich weniger für die ganzen internen Angelegenheiten. In seiner Ausbildung hatte er entsprechend dem Credo des Pandämoniums auch nicht viel über neue Formen der Lichtlosen gelernt, nur dass sie noch wenig erforscht und daher unsicher und unnötig seien – zumindest laut dem Pandämonium. ‚Lichtlose‘ war der Überbegriff für eine Klasse von Kreaturen, zu denen die Schatthen zählten. Historisch hatte man die ganze Klasse ‚Schatthen‘ genannt, aber aus Unterscheidungsgründen zu der Subklasse Schatthen hatte man sich auf einen Alternativbegriff geeinigt. Gebräuchlich war auch die Bezeichnung ‚Dämonen‘. Schatthen galten als die ältesten Vertreter dieser Rasse. Wobei die Subklasse Schatthen zwei Formen umfasste: die sogenannten Eigenschatthen und die Schlagschatthen. Zu letzteren zählten die Kreaturen, die von Schatthenmeistern erschaffen wurden. Einfachheitshalber ließ man dabei das „Schlag-“ weg und sprach schlicht von Schatthen. Im Gegensatz dazu war ein Eigenschatthen ein von einem Menschen in der eigenen Seele (unbewusst) erschaffener Schatthen, der nach dem Tod der Person weiter existierte. Solch ein Eigenschatthen besaß keinen Körper. Er war eine Art Geist. Grauen-Eminenz war nie einem solchen Exemplar begegnet, daher hielt er das Ganze für eine Legende, die sich aus alten Zeiten bis heute bewahrt hatte. Hoffentlich würde sich diese neue Spezies wenigstens als nützlich erweisen. Er sah auf die Uhrzeit. Zwei Uhr Nacht.   Ewigkeit saß auf dem Fenstersims von Justins Zimmer. Der Beschützer schlief bereits. Ewigkeit konnte nicht schlafen. Sie blickte in den schwarzen Himmel auf, wo der zunehmende Halbmond mit seinem sehnsuchtsvollen Licht eine Sichel in die Finsternis schnitt. Ein Gefühl wurde in ihr wach, das sie nicht verstand. Als wolle sie um jemanden weinen. Sie umklammerte den goldenen Anhänger ihrer Kette, den sie die ganze Zeit in ihren Händen verborgen hatte. Dann hielt sie der Empfindung nicht mehr stand. Sie drückte das Medaillon gegen ihre Wange und begann ganz leise zu schluchzen, in der Hoffnung, dass ihre Tränen sie mit dem verbanden, was sie so sehr betrauern wollte.   Erik schreckte aus dem Schlaf. Es war finster in seinem Zimmer. Die Uhrzeit-Anzeige seiner Stereoanlage im Regal leuchtete in rotem Licht. Zwei Uhr Nacht. Ein grauer Mann. Er schloss die Augen wieder und versuchte das Bild abzuschütteln. Er wollte gar nicht wissen, was Freud zu seinen Träumen gesagt hätte. Sicher irgendetwas über Kastrationsängste. Er öffnete wieder die Augen. Als Kind hatte er Angst vor der Dunkelheit gehabt. Er wusste nicht, wieso ihm das gerade jetzt einfiel. Das drückende Gefühl in seiner Brust musste das verursachen. Er setzte sich auf. Sein ganzer Körper tat weh, als hätte er eine Grippe. Er spürte den Schweiß auf seinem Rücken. Der schwache Schimmer, der durch die Fenster fiel, reichte gerade so aus, um den Weg zu dem Waschbecken in seinem Zimmer zu finden. Er knipste das Licht über dem Waschbecken an und bereute es sogleich. Der grelle Schein war grässlich. Dann stach ihm sein Spiegelbild ins Auge. Er sah blass aus wie seit Jahren nicht mehr und hatte tiefe, dunkle Augenringe, als hätten ihn Erinnerungen im Traum wachgehalten. Das ausgezehrte Gesicht, das ihm entgegen starrte, erinnerte ihn auf entsetzliche Weise an den kleinen Jungen, der sich nicht wehren konnte, der nichts weiter wusste als zu weinen. Es fühlte sich an, als würde er sich in seiner eigenen Vergangenheit wiederfinden, als würde sie ihn verfolgen, hätte ihn eingeholt – überholt! Als würde er mit jeder Sekunde weiter darauf zu gehen, wieder zu dem werden, was er einmal gewesen war – schwach und erbärmlich. Der Gedanke machte ihn krank. Er wollte dieses Gesicht nie wieder sehen. Er knipste das Licht aus. Aber nach wenigen Sekunden konnte er erneut die Züge des Jungen im Spiegel erahnen, als würde nichts dieses Bild davon abhalten können, sich für immer an ihn zu klammern wie ein böser Geist.   Erik erwachte früh am nächsten Morgen, obwohl es Samstag war. Nach seinem Albtraum hatte er nicht wieder in einen ruhigen Schlaf gefunden. Sein Körper war schweißgetränkt. Entsprechend begab er sich direkt unter die Dusche. Was auch immer ihn in seinem Schlummer heimgesucht hatte, hinterließ auch im Wachzustand seine Spuren. Sein Ich fühlte sich grau und abgestumpft an. Automatisch musste er an Secret denken und drehte das Wasser weiter auf, um die unliebsame Erinnerung zusammen mit dem Moschus-Shampoo den Abfluss hinab zu spülen. Der Regler stieß auf Widerstand. Stärker würde der Wasserschwall nicht mehr werden. Erik fühlte den Strahl heftig auf sein Haupt prasseln und seinen Körper hinab fließen, er versuchte, sich allein auf dieses Gefühl zu konzentrieren, auf das Gefühl des Wassers auf seiner Haut, das mit Gewalt versuchte, alles von ihm weg zu schwemmen. Aber es misslang ihm. Er hob seinen Kopf und der Wasserstrahl schoss ihm ins Gesicht. Dann musste er nach Luft schnappen und lehnte sich Hilfe suchend gegen die geflieste Wand. Er war kurz davor loszuweinen. Mit einer harschen Bewegung drehte er das Wasser ab, riss das Handtuch von der Duschwand, trocknete sich in überstürzten Bewegungen ab und stürzte aus der Dusche. Er zog seine Unterwäsche an und trat an den Spiegel, starrte seinem Spiegelbild mit wütendem Blick entgegen. Ein junger Mann mit stechend blaugrünen Augen starrte ihm aggressiv entgegen. Seine Züge waren ungewöhnlich gut aussehend, aber sie hatten etwas Hartes an sich, etwas, das er mit Stärke assoziierte. Als hätte ihn der Anblick beruhigt, wandte er sich ab. In seinem Zimmer zogen seine Gedanken weitere Kreise. Dieses Mal hatte er seine Wahnvorstellung vor Serena und den anderen nicht erwähnt. Er hatte sie nicht danach gefragt, ob er ohnmächtig geworden war. Er hatte das Thema einfach totgeschwiegen. Nicht einmal darüber nachdenken wollte er. Die Quellen seiner Wahnvorstellung waren offensichtlich. Er hatte Serena ohnmächtig am Boden vorgefunden, er wusste um ihre Probleme und Sorgen, und er hatte den Wunsch, ihr zu helfen, sie zu beschützen. Das in Verbindung mit den Geschichten der fünf von Gleichgewichtsbeschützern und magischen Fähigkeiten, gemischt mit irgendwelchen sonstigen Fantasien in seinem Kopf, hatten vernunftgemäß einen solchen Traum ergeben. Ja, wenn man es analytisch betrachtete, ergab das alles einen logischen Sinn. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Wenn er so weiter machte würde er noch in der Klapse landen. Er verließ sein Zimmer und ging hinunter in die Küche. Unverhofft traf er dort auf seine Mutter. Sie trug nicht wie üblich ein schwarzes Kostüm, sondern sportliche Freizeitkleidung, als hätten die Frauenmagazine es an ihr gesehen und es daraufhin als Merkmal für selbstbewusste, starke Frauen verkauft. Selbst in Freizeitkleidung wirkte sie noch immer Respekt einflößend und erhaben. Sie hätte wohl selbst im Schlafanzug geradewegs in ein Meeting von Firmenchefs platzen und die Leute dort das Fürchten lehren können. Was es war, das andere an ihr Furcht einflößend fanden, hatte Erik nie verstanden. Er hatte nicht eine Sekunde seines Lebens Angst vor seiner Mutter gehabt. Nicht wie andere Kinder, wenn sie etwas angestellt hatten. Andererseits hatte er ohnehin immer die Regeln befolgt. „Du schon wach?“, fragte seine Mutter überrascht. Er war wohl der einzige Mensch, der aus ihrer kühlen Stimme und ihrem unbewegten Gesichtsausdruck Überraschung herauszulesen vermochte. „Du noch da?“, gab er zurück. „Meine Schwester kommt nächstes Wochenende.“ Seine Mutter hatte eine eigenwillige Art, ihm Informationen mitzuteilen. Keine Einführung, kein Hinwenden zum Thema, einfach das Aussprechen dessen, was sie ihm noch hatte sagen wollen und wozu sie bisher nicht gekommen war. Dies war dem Umstand geschuldet, dass sie ihn so gut wie nie sah und keinen Fuß in sein Zimmer setzte – als wäre es heiliger Boden, den sie aus ihrer atheistischen Überzeugung heraus mit Verachtung strafte. „Aha.“, machte Erik. „Sie bleibt anderthalb Wochen.“ Erik hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten. Auch fragte er nicht, ob sein Vater schon darüber Bescheid wusste, auch wenn es ihn interessierte. Sein Vater hasste Tante Rosa. Sie war die jüngere Schwester seiner Mutter und war schon immer eine Art schwarzes Schaf der Familie gewesen. Das genaue Gegenteil seiner Mutter. Anstatt einen sinnvollen Beruf zu erlernen, war sie in der Weltgeschichte umhergereist, hatte verschiedene Männergeschichten gehabt und war nie über den ‚Kleine Schwester‘-Status hinaus gewachsen. Mit ihren nunmehr über vierzig Jahren benahm sie sich immer noch wie ein Teenager. Zumindest ging Erik davon aus. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Zu den Zeiten ihrer Besuche war er im Internat gewesen. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass man Erik nicht unnötig zu diesen Familientreffen nach Hause holen und dadurch von seinen Studien ablenken dürfe. Erik sah den wahren Grund darin, dass sein Vater ihn so wenig wie möglich dem schlechten Einfluss dieser Person aussetzen wollte. Nicht dass sich der Taugenichts-Defekt durch die Luft übertrug! Man konnte ja nicht vorsichtig genug sein. Die tiefe Abneigung, die sein Vater für seine Schwägerin empfand, beruhte auf Gegenseitigkeit. Als Erik noch klein gewesen war, hatte er Rosa sich gegenüber seiner Mutter ständig über seinen Vater beschweren hören. Seine Mutter hatte auf ihre übliche gekonnt ignorierende Weise darauf reagiert: als hätte sie die Worte gar nicht vernommen oder als seien sie es nicht wert, jeglichen Kommentar dazu abzugeben. Erik war weniger locker damit umgegangen. Bei jedem schlechten Wort, das Rosa über seinen Vater fallen gelassen hatte, hätte er ihr am liebsten wehgetan. Als eine Art Ersatz war er zum Schweigen übergegangen. Egal wie oft sie versucht hatte, mit ihm zu reden, er hatte sie nur böse angefunkelt und ignoriert. Rosa jedoch hatte das bloß ein Lachen entlockt. Darüber war Erik damals nur noch wütender geworden. Im Nachhinein fragte er sich, ob er das nicht nur gemacht hatte, um sich seinem Vater näher zu fühlen. „Sie wird im Gästezimmer übernachten.“ „Hat sie wieder mit einem Typen Schluss gemacht?“ Nun zeigte ihm seine Mutter ein kaltes, spitzbübisches Grinsen. Nur ihr einer Mundwinkel war gehoben, während der andere geradezu tadelnd nach unten zeigte, auch ihre Augenbrauen wirkten eher ermahnend, doch Erik wusste, dass er seine Mutter amüsiert hatte. „Du hast sie schon lange nicht mehr gesehen.“, sagte sie. Erik behielt für sich, dass das nicht an ihm lag. Seine Mutter schien es trotzdem zu verstehen und deutete erneut eine Art Lächeln an. Für Erik war das schon zu viel Lächeln auf einmal. Es machte auf ihn einen verstörenden Eindruck, wenn seine Mutter zu oft auch nur ansatzweise freundlich schaute. Es schien die Weltordnung zu gefährden. Er sah zum Kücheneingang. „Dein Vater ist in die Kanzlei gefahren.“ Erik sagte nichts. Er brauchte ihr nicht noch bestätigen, dass sie seine Gedanken gelesen hatte. Deshalb blieb sein Blick auf den Kücheneingang gerichtet. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er widerstand dem Impuls zusammenzuzucken und seine Mutter entsetzt anzustieren. Die Berührung währte nur einen Atemzug. Der flüchtige Kontakt war ihm so fremd, als hätte sie ihm plötzlich ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen. Nicht einmal als er als kleines Kind verprügelt worden war und direkt vor ihren Augen geweint hatte, hatte sie ihn berühren können. Sie war vor ihm gestanden - mit ihren perfekt gestylten pechschwarzen Haaren und ihren stechend blauen Augen - und hatte ihn angesehen, als wäre er ein Angestellter, der sich über das Verhalten der anderen Mitarbeiter beklagte. Nicht ein einziges Wort hatte sie gesagt, war einfach dagestanden wie eine tote Götterstatue. Machtvoll und erhaben. Als Erik sich zu ihr wandte, zeigte sie ihm den gleichen würdevollen Blick wie in seiner Kindheitserinnerung. Es war die gleiche Frau. Die Jahre hatten die Härte ihres Ausdrucks nur noch gefestigt. Dann jedoch hoben sich die Mundwinkel seines Gegenübers sachte und zeigten Erik einen Menschen, der ihm fremd war. Tamara Donner verließ den Raum, ohne noch etwas zu sagen.   Wieso brauchten die vom Pandämonium nur immer so lange, um ihm etwas zu schicken? Es war schon Sonntag! Langsam sollte das Paket doch angekommen sein! Er hatte schon mehrmals die Verbindungstür zu dem Lager benutzt, wo das Paket ankommen sollte. Natürlich konnten sie es nicht in sein Schatthenreich liefern. Schließlich besaßen sie keinen Zutritt dazu. Noch so ein Vorteil seines Schatthenreichs. Es war keine gängige Methode, mit seinen mentalen Kräften einen Zugang zu einem eigenen Reich zu schaffen und sich dort zu bewegen. Es war auch nicht Teil seiner Ausbildung gewesen, aber er hatte darüber gelesen, als er auf der Suche nach einem Ort war, wo keiner unbemerkt hinkommen konnte. Er traute dem Pandämonium nicht und auch wenn er sich an den Vertrag hielt, hatte er die Befürchtung, dass sie den Grund für seine Treue für sich ausnutzen könnten. Deshalb war er umso begeisterter von dieser Methode gewesen. Sie war nicht sonderlich genau beschrieben worden, aber nach endlosen Versuchen war es ihm schließlich gelungen, sie zu meistern. Er hatte dem Pandämonium gegenüber zwar angeben müssen, dass er diese Dimension erschaffen hatte, aber da sie keiner ohne Erlaubnis betreten konnte, oder zumindest nicht ohne dass er etwas davon mitbekam, war das nicht weiter schlimm. Seine Lehrmeister hatten ihm auf diese Information hin in schillernden Farben beschrieben, welche entsetzlichen Gefahren eine so unausgereifte Technik mit sich brachte. Schließlich konnte jederzeit alles zusammenbrechen und ihn begraben. Grauen-Eminenz sah das lockerer. Bei anderen Einrichtungen wusste man nie, wie fest das Material war und wie viel Energie es aushielt. In seinem Schatthenreich konnte er dagegen alles regeln und kontrollieren. Okay, manchmal formten sich die Räume um, wenn er sich ihnen nicht genug widmete und manchmal gingen ganze Bereiche verloren. Das war eben dem Prozess des Vergessens geschuldet. Er konnte sich ja nicht an alles erinnern. Aus diesem Grund war er auch dazu übergegangen, alle Bereiche schriftlich festzuhalten, mitsamt einem Vermerk zu den Eigenschaften und einem Bild. Die Alternative wäre gewesen, sich extra Räumlichkeiten zu mieten und sich um deren Instandhaltung zu kümmern. Dann noch die Kosten und der Papierkram und die involvierten Menschen! Nein, danke. Da war ihm das so lieber. Ach, er würde einfach noch mal schauen, ob das Paket nun endlich angekommen war. Die Leute vom Pandämonium würden ja wohl kaum auf eine christliche Tradition der Arbeitsruhe am Sonntag pochen können. Wieder stand er auf und ging zu der Tür, die er extra für diesen Zweck in sein Schatthenreich integriert hatte. Er öffnete sie und spürte sogleich den kalten Hauch der Luft ihm entgegen strömen. Als er in die verlassene Lagerhalle trat, hallten seine Schritte auf dem Betonboden. Oh Mann, er konnte kein Paket entdecken. Langsam war er frustriert. Er hatte darauf gehofft, sich wenigstens mit etwas Arbeit davon ablenken zu können, dass seine eigenen Untersuchungen momentan nur in Sackgassen führten. Er kam sich schon vor, wie die Leute, die alle paar Minuten ihre Mailbox oder irgendeine App checkten. Dann bemerkte er eine pechschwarze Box im Schatten einer Ecke. Sofort hob sich seine Stimmung. Er näherte sich dem Objekt. Die Oberfläche war edel, matt glänzend wie ein Handy-Gehäuse. An der Vorderseite war der Verschluss angebracht wie bei einem Tresor. Oben auf dem Deckel war eine durchsichtige Einschiebetasche, in der ein dickes schwarzes Kuvert steckte. Er zog es heraus und öffnete es. Daraufhin hielt er einen ganzen Stapel Papier in Händen.   Schatthenmeister 436854253894 Er wusste jetzt nicht, ob er diese Anrede besser finden sollte, als die ständige Falschschreibung seines Namens. Es handelte sich um ein Formular über die Lieferung und deren Inhalt: Einhundert Allpträume. Grauen-Eminenz sah noch mal auf die Bezeichnung des Inhalts. Allpträume? Er ließ die Lieferungsbestätigung hinter die anderen Blätter in seiner Hand gleiten. Daraufhin hatte er eine Artenbeschreibung vor sich.   Kurzinfo Spezies: Allptraum Diese in den Sechzigern vermutlich durch einen Unfall entstandene Art zählt zu der körperlosen Klasse der Lichtlosen. Sie besitzt die Eigenschaft, tiefsitzende Ängste in Menschen aufzuspüren und als Grundlage für Trugbilder zu benutzen. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um real existierende Entitäten handelt.   Was zum Teufel war eine ‚Entität‘? Gingen die davon aus, dass jeder Schatthenmeister einen Doktortitel hatte oder wollten sie bloß den Absatz von Fremdwörterbüchern steigern? Er überflog die nächsten Zeilen.   Kontroverse - Bla - Angstzustände als Energiequelle - Bla - noch nicht ausreichend erforscht - Bla Traumwelt-Theorie -- fehlende empirische Belege-- Psyche von Menschen … im Schlafzustand auf der gleichen Frequenz … wie die Allpträume -- Eigenschaft des Ängste Aufspürens - mutierter Spiegelneuronen - Angstbilder heraufbeschwören, die der Schlafende als Albtraum erlebt. Sichtbar sind Allpträume nur in einem Frequenzbereich, der dem Traumzustand ähnelt. Allgemein gelten Allpträume als physisch wenig gefährlich. Nur in Fällen von bestehenden Erkrankungen, wie einer Herzinsuffienz, kann es zu Todesfolge kommen.   Was auch immer eine Herzinsuffienz war… Wahrscheinlich Herzschwäche. Es folgte eine Auflistung von Referenzen, Titel, die weitere Informationen für den interessierten Leser lieferten. Deren Lektüre wurde wärmstens empfohlen! Grauen-Eminenz blätterte um, ohne dem weitere Beachtung zu schenken. Er hasste es, wenn die Leute anfingen in ihrem Expertenjargon zu schreiben, als müsse man verstehen, was sie damit meinten. Hier nun fand er die Beschreibung seines Auftrags. Er wollte sich die Vorfreude nicht vermiesen und blätterte darüber hinweg, worauf er auf einen ganzen Katalog an Sicherheitsvorkehrungen stieß. Kein Wunder waren das so viele Seiten… Er steckte den Papierberg wieder in das Kuvert und richtete seinen Blick auf die schwarze Tresor-Box. Erst mal musste er diese Dinger zu sich ins Schatthenreich schaffen. Nun bereute er es doch, dass er keinen Mitarbeiter hatte, der die Fracht für ihn hätte tragen können. So ein buckliger Assistent namens Igor wäre doch ganz nett gewesen.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)