Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 81: Was sind Allpträume? -------------------------------- Was sind Allpträume?  „Mitternacht. Nicht ein Laut vom Gehweg. Hat der Mond seine Erinnerungen verloren? Er lächelt allein. In dem Licht der Straßenlaterne sammeln sich verwelkte Blätter um meine Füße und der Wind beginnt zu klagen.“ (übersetzt aus dem Lied Memory (= Erinnerung) aus dem Musical Cats)     „Was sind Allpträume?“, fragte Ewigkeit mit großen Kulleraugen. „Hä?“, machte Vitali. Er war gerade erst von seinem Radiowecker aufgeweckt worden, um sich sogleich der über ihm schwebenden Ewigkeit gegenüber zu sehen. Vitali setzte sich auf, sodass Ewigkeit ihm ausweichen musste, und hielt sich den Kopf. Er wollte schlafen. Seine Augen konnte er kaum offen halten. Dämlicher Montag! „Was sind denn nun Allpträume?“, stocherte Ewigkeit weiter und schwebte schon wieder vor seiner Nase herum. „Ich bin müde.“, lallte Vitali. „Lass mich in Ruhe.“ Ewigkeit tänzelte in einem unruhigen Hin und Her in der Luft herum, als warte sie darauf, dass sich das nächste Level eines Spiels endlich geladen hatte. „Oh Mann!“, beschwerte sich Vitali, den ihre Ruhelosigkeit noch mehr störte als ihre Fragerei. Er stand auf und schlich wie eine Urform des Menschen in buckliger Haltung aus seinem Zimmer hinaus, um im Badezimmer seine Evolution nachzuholen. Ewigkeit folgte ihm. „Willst du mir auch noch ins Bad folgen?“, brummte er. Die Kleine schien das wirklich vorzuhaben. „Hast du kein Schamgefühl?“ Augenblicklich machte Ewigkeit ein erschrockenes Gesicht. „Was ist Schamgefühl?“ „Wieso frag ich überhaupt.“, grummelte Vitali und ging ins Bad, Ewigkeit hinterdrein. Vitali stöhnte. „Lässt du mich in Ruhe, wenn ich dir sage, was Albträume sind?“ Ewigkeit nickte eilig mit einem begeisterten Lächeln. „Na gut. Also“ Er stützte sich mit der Linken auf das Waschbecken vor sich. „Albträume sind schlechte Träume. Träume, in denen was Schlimmes passiert und du Angst hast.“ Ewigkeit sah ihn überrascht und ein wenig zweiflerisch an. „Wirklich?“ Vitali warf ihr einen Todesblick zu. „Ja, wirklich.“ Dass sie jetzt auch noch an seiner Autorität zweifelte, ärgerte ihn ungemein. „Hm.“ Ihr Blick ging nachdenklich nach oben. „Was noch?“, grummelte Vitali. „Ich glaube, es war was anderes.“ „Hä?“ „Allpträume.“ „Albträume sind nichts anderes!“, schimpfte er lautstark. „Aber –“ „Nichts aber! Und jetzt raus!“, befahl Vitali und öffnete die Tür. Unzufrieden schwebte Ewigkeit auf die Tür des Bads zu, dann drehte sie sich nochmals zu Vitali um. „Und du bist sicher –“ „Raus!“ Anstatt hinaus zu schweben, war Ewigkeit im nächsten Moment einfach verschwunden. Vitali stöhnte abgrundtief. Im nächsten Augenblick stand er plötzlich wie unter Strom und zerstrubbelte in einem jähen Anfall seine Haare bis sie völlig chaotisch in alle Richtungen abstanden. Warum musste sie auch gleich eingeschnappt sein?! Und das am frühen Morgen! Weiber… Grmpf. … Er würde sich später bei ihr entschuldigen.   Ewigkeit hatte sich in den Kurpark teleportiert. Es war noch stockdunkel. Finster, aber auch faszinierend. Von dem Farbspiel der Laubbäume war jetzt noch nichts zu erahnen, aber die frische, kalte Luft, die nach Laub und Erde duftete, füllte ihre Lungen und ihr Atem brachte kleine Wolken hervor, sobald er ihre leuchtende Hülle verlassen hatte. Das amüsierte sie, sodass sie gleich noch mehr ausatmete, mit ihrem Mund immer weitere Wölkchen formte und fröhlich strahlte. Ihre Atemwölkchen waren ihr eine willkommene Gesellschaft, wie sie so schwerelos vor sich hin trieben. Genau wie sie. Sie kicherte, um den Wolken ihre Fröhlichkeit zu zeigen und winkte ihnen zum Abschied. Dann fielen ihre Mundwinkel. Selbst die Wölkchen flohen vor ihr. Ewigkeit hob ihren weißblonden Lockenkopf und blickte hinauf in den Himmel. Der Mond war noch sichtbar, aber Wolken zogen an ihm vorbei und verdeckten ihn immer wieder. Sie schloss für einen Moment die Augen. Ihre Finger suchten wie automatisch das Medaillon um ihren Hals. Dann wurde sie von einer Sehnsucht gepackt, die so entsetzlich war, dass sie für einen Moment glaubte, sie habe sich eine schlimme Krankheit eingefangen. Ihr Herz tat ihr so weh. Aber gleichzeitig hatte das Gefühl so etwas Verführerisches, dass sie nicht wagte, den Moment zu unterbrechen. Stattdessen hielt sie krampfhaft ihr Medaillon umfasst. Eine unglaubliche Wärme durchflutete sie bei der Berührung und vertrieb mit Leichtigkeit Schmerz und Einsamkeit, um etwas anderes in ihr zu besingen, für das sie keinen Namen kannte.   Vitali hatte sich wie die anderen in der Schule eingefunden. Für die erste Doppelstunde war Wirtschaft angesagt. Während des Unterrichts klopfte es an der Tür und eine Gruppe von Schülern bat darum kurz hereinkommen zu dürfen. Etwas widerwillig stimmte Herr Mayer, der Klassen- und Wirtschaftslehrer, dem zu. Es war ihm anzusehen, dass er jähe Unterbrechungen nicht leiden konnte. Die vierköpfige Gruppe aus Schülern, die aus den höheren Klassen stammten, begann ihr Anliegen vorzubringen. Der Junge der Gruppe hielt dabei ein Plakat in Händen, das auch am Eingang der Schule gehangen, dem aber kaum jemand Beachtung geschenkt hatte. Ein dunkelhaariges Mädchen verkündete: „Am Freitag findet unsere Abiparty hier in der Aula statt. Das Motto ist Halloween. Wir würden uns freuen, wenn ihr kommen würdet. Karten werden heute und morgen in den beiden großen Pausen verkauft.“ Noch wenige Worte des Abschieds und die Gruppe verließ wieder das Klassenzimmer, um auch die anderen Klassen persönlich zu informieren. „Eine Abiparty in der Aula?“, fragte Ariane. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. Sie kannte es bloß, dass Abipartys in Discos stattfanden. Andererseits war es eine gute Idee, um Kosten zu sparen. Serena zuckte nur desinteressiert mit den Schultern. Offensichtlich konnte man mit ihr nicht über so etwas reden. Daher musste Ariane wohl oder übel warten, zumal Herr Mayer mit seinen Ausführungen fortfuhr, als wäre eine Abiparty eine Unterbrechung des Lehrstoffs nicht wert.   Nachdem die Schulglocke die Pause eingeläutet hatte, wandte Ariane sich an die anderen. „Wollen wir zu der Halloweenparty gehen?“ „So was Blödes.“, ächzte Serena. Ariane war von ihrer Nörgelei nicht sehr angetan. Warum musste Serena immer alles schlechtreden? „Also ich finde es eine schöne Idee.“ „Halloween ist am 31.“, meckerte Serena. „Nicht am 26.“ Ariane wandte sich an Vitali und Erik. „Was sagt ihr dazu?“ Erik sah sie spöttisch an. „Nächstes Jahr könnten wir auch den Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten feiern.“ Jetzt war Ariane restlos entnervt. „Halloween kommt aus Irland und wurde dort als Samhain-Fest gefeiert. Es ist keltischen Ursprungs.“ Angesichts ihrer Belehrung hob sich Eriks linker Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Ariane wandte sich ab und drehte sich zu Vivien und Justin. „Und was sagt ihr?“ „Ich finde es toll!“, meinte Vivien strahlend. Serena schimpfte: „Du findest alles toll.“ Vivien lächelte unbekümmert, als fände sie an Serenas Behauptung nichts Verwerfliches. Nun mischte sich auch Vitali ein, indem er das Wort an Serena richtete. „In deiner Welt hatten wir ja auch schon genug Halloween für die nächsten paar Jahre.“ Damit traf er einen wunden Punkt. Serena schrumpfte in sich zusammen, während Ariane und Justin Vitali sofort entschiedene Blicke zuwarfen. Erik hatte nichts von dem erwähnt, was vorgefallen war. Wahrscheinlich hielt er das Ganze nur für einen Traum. Aber wenn Vitali mit seinem losen Mundwerk nicht aufpasste, würde das die längste Zeit der Fall gewesen sein. „So schlimm sieht es bei Serena zu Hause nun auch wieder nicht aus.“, antwortete indes Vivien. „Sie hatte keine Zeit aufzuräumen.“ Justin musste wieder einmal feststellen, dass Vivien schneller improvisierte als er. Anstatt Vitali auch noch verdächtige Blicke zuzuwerfen, hatte sie seine Aussage einfach umgedeutet, um Erik so auf die falsche Fährte zu locken. „Hä?“, machte Vitali. „Ich meinte –“ Justin fiel ihm ein wenig zu laut ins Wort: „Ich bin auch dafür, dass wir auf die Halloweenparty gehen!“, In diesem Moment erhob sich Erik lautstark von seinem Platz. Das Geräusch des Stuhls, der über den Boden quietschte, ließ Justin und Ariane zusammenzucken. Erik lief auf die Tür des Klassenzimmers zu, ohne sie jeglichen Blickes zu würdigen. „Wohin gehst du?“, fragte Ariane und konnte den erschrockenen Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken In einer geradezu genüsslichen Langsamkeit drehte sich Erik ihr zu. Sein Anblick tilgte sofort den Gedanken, er sei sauer. Aus seiner ganzen Haltung sprach einmal mehr seine anmaßende Selbstgefälligkeit. Er schenkte ihr einen herablassenden Blick. „Karten kaufen.“ Serena begehrte auf. „Ich hab nicht gesagt, dass ich mitgehe!“ Erik stützte sich auf ihren Tisch und lehnte sich mit dem Oberkörper bedrohlich zu ihr. „Du wirst doch mein freundliches Angebot nicht ausschlagen wollen.“ Seine ganze Ausstrahlung unterband Serenas Protest, er fixierte sie an wie ein Raubtier seine Beute. Serena wich nach hinten. Offenbar genügte Erik das als Antwort. Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zog er sich ebenfalls zurück und ging aus der Tür. Ariane bemerkte Serenas Entsetzen mit etwas, das Genugtuung nahe kam. Die ganze Zeit hatte Serena es immer hingestellt, als wären Vitali und sie verrückt. „Verstehst du jetzt, was Vitali und ich meinten?“ Serena hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass Ariane Grund zu ihrer Frage hatte. „Ewigkeit nennt ihn ja immer den unheimlichen Jungen.“ Ihre Antwort gefiel Ariane nicht. Kleinlaut murmelte sie: „Er ist nicht unheimlich.“ Sie starrte auf die Tischplatte und erinnerte sich an den Moment, als sie selbst Angst vor ihm gehabt hatte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie wollte das nicht denken. Derweil hatte Justin Vitali daran erinnert, dass er den Vorfall von Freitag gegenüber Erik nicht mehr erwähnen sollte. Vitali hatte sich zu ihnen gestellt. „Welchen Freitag? Der erste Freitag oder der letzte Woche?“, spottete er. Mit dem ‚ersten Freitag‘ nahm er offenbar Bezug auf die Nacht ihrer Entführung. „Beides.“. meinte Justin. Vitali stöhnte. „Der könnte sich ja auch echt mal erinnern. Wie macht der das bloß! Ich meine, wie kann er das ignorieren, was letzte Woche passiert ist?“ „Vielleicht ist es besser so.“, sagte Justin. Ariane hatte Einwände. „Wenn er sich irgendwann wieder erinnert und wir ihm nichts gesagt haben, dann wird er sich verraten fühlen.“ „Äh? Wir sagen es ihm doch dauernd!“, entgegnete Vitali verständnislos. Serena unterbrach: „Könnten wir das Ganze besprechen, wenn er nicht jede Sekunde wieder durch die Tür kommen kann?!“ Ariane schwieg. Sie hielt es immer noch für falsch, Erik nicht in ihr Geheimnis einzuweihen. „Vielleicht kann er es gar nicht.“, überlegte Justin laut. Ariane drehte sich verwirrt zu ihm. „Was?“ Justin stellte eine These auf. „Der Schatthenmeister könnte sein Gedächtnis durch einen Mechanismus davon abhalten, dass es sich Informationen merkt, die mit den Beschützern zusammenhängen.“ Vitali hob die Arme und legte die gefalteten Hände auf seinen Hinterkopf: „Das würde mehr Sinn ergeben.“ Er sah jedoch nicht überzeugt aus. Vivien lächelte optimistisch. „Er wird sich schon zum richtigen Zeitpunkt erinnern.“ Sie fuchtelte mit dem Stift, den sie in der Hand hielt, wie mit einen Dirigentenstab, um ihre Worte zu unterstreichen. „Und solange müssen wir einfach Vertrauen haben!“ Sie schenkte Justin einen vielsagenden Augenaufschlag. Verschämt wusste Justin nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Das ist nicht genug.“, klagte Ariane, die Viviens Flirtversuch noch weniger wahrzunehmen schien als Justin. „Könntet ihr jetzt endlich –“, Serena kam nicht dazu den Satz zu beenden. „Worüber redet ihr?“, kam es in lauerndem Ton von der Tür. Erik hatte das Klassenzimmer wieder betreten. Die anderen stockten. Doch wie stets war Vivien um keine Antwort verlegen. „Wir überlegen, wie wir Secret in das Spiel mit einbinden, ohne dass er sich dabei erinnern muss.“ Erik sah sie für einen Moment stumm an, als könne er aus ihrer Miene etwas ablesen. „Und wieso soll er sich nicht erinnern?“ „Weil er sich sonst an die schlimmen Sachen erinnert.“, antwortete Vivien unbekümmert lächelnd. Erik zog die Augenbrauen zusammen. „So schlimm kann es nicht sein, dass er lieber im Unwissen gelassen werden will.“ „Aber würde er das denn glauben?“, fragte Vivien mit regelrecht vorfreudigen Augen. „Dass ihr von Monstern entführt wurdet und magische Kräfte entwickelt habt?“ Erik schaute spöttisch. „Genau.“, sagte Vivien, als würde sie eine Tatsache bestätigen. „Würdest du uns das abkaufen?“ Erik zögerte. Wieder kam er sich vor, als müsste er überlegen, wo Realität anfing und Fiktion aufhörte oder umgekehrt. Diese Vermischung von Wirklichkeit und Rollenspiel würde ihn noch ins Irrenhaus bringen. Für einen Augenblick wollte er sich tatsächlich die Frage stellen, ob er ihnen das glauben könnte, wollte testen, wie er auf die Möglichkeit reagieren würde, dass nichts davon erlogen, sondern alles echt war. Dann fiel ihm ein, wie man es umgehen könnte, Secret die Wahrheit zu sagen: Indem man behauptete, es handle sich dabei nur um ein Rollenspiel. Alles drehte sich um ihn, Realität war eingelassen in die Fiktion, Fiktion eingelassen in die Realität, wie in einer unendlichen Spiegelung. Er erinnerte sich, dass er als kleiner Junge gerne mit dem Spiegelschrank bei ihnen zu Hause gespielt hatte, indem er sich zwischen zwei Türen stellte, die sich beim Öffnen der beiden aneinander grenzenden Schrankteile aufeinander zu bewegten. Je weiter er sie an sich heran zog und so einander annäherte, umso mehr Spiegelbilder von ihm entstanden in der immer enger werdenden Nische zwischen den Spiegeltüren. Ein ewiger Kreis aus Spiegelungen. Damals hatte ihm das Spaß gemacht. Jetzt machte ihm die Vorstellung Angst. Denn während er damals die Türen wieder schließen und die Spiegelungen bis auf eine verschwinden lassen konnte, hatte er nun das Gefühl, dass die Türen ihn zerquetschen würden, wenn er noch länger in sie blickte. Das war grotesk! Er wollte darüber nicht nachdenken! Es war doch nur eine Scherzfrage gewesen! Wie konnte er darüber nur ernsthaft nachdenken? Das zeugte ja schon davon, dass er einen Schatten hatte. Was war nur mit ihm los? „Absurd.“, antwortete er knapp und wandte sich den Karten in seiner Hand zu. Er hielt sie so, dass die anderen sie sahen. „Zwei hab ich geschenkt bekommen.“ „Geschenkt?“, fragte Ariane überrascht. „Die Verkäuferinnen mochten mich.“, entgegnete Erik, als sei das alltäglich. „Die sind zwei Jahre älter als du!“, rief Ariane geradezu empört. „Du wirst doch keine Altersdiskriminierung unterstützen.“, höhnte Erik amüsiert. Als Ariane darauf nichts entgegnete, fügte er nonchalant hinzu: „Ich bin nun mal attraktiv.“ Ariane brauste auf. „Wie kann man das nur so ausnutzen?“ „Ich nutze nichts aus.“, sagte Erik und hielt ihr eine Karte hin. Dann hob er in einer aufreizenden Bewegung die Augenbrauen. „Ich erfreue die Leute nur mit meiner Anwesenheit.“ „Das ist doch -!“, schimpfte Ariane, derweil Vitali laut forderte, eine der Umsonst-Karten zu bekommen. Erik erinnerte ihn daran, dass das nicht sehr gentleman-like war. „Ist mir egal!“, rief Vitali. „Du wirst deine Karte schön bezahlen!“, schrie Serena ihn an. „Wenn ich da mitgehen muss, obwohl ich nicht will, dann wirst du das ja wohl noch zahlen können!“ Vitali antwortete locker: „Kann ich doch nichts dafür, dass du dir von Erik Angst machen lässt!“ Während die beiden sich in einer ihrer üblichen Streitigkeiten ergingen, verteilte Erik die Karten an Vivien und Justin. „Die Karten haben je sechs fünfzig gekostet. Mit den Kostenlosen also sechsundzwanzig Euro. Von jedem von euch krieg ich vier Euro. Wir teilen das gerecht.“ Ariane unterbrach ihn. „Rechnerisch müssen es mehr als vier Euro sein.“ Erneut dieses spöttische Grinsen. „Wenn du mir dreiunddreißig Komma Periode drei Cent geben willst.“ Sie drückte ihm einen fünf Euro Schein in die Hand. „Jetzt zahlen du und ich fünf Euro.“ Kurz schien er widersprechen zu wollen, dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen und trat er zu Vitali, um ihm seine Karte zu überreichen. „Ihr könnt mir das Geld auch morgen geben.“ „Vielen Dank, dass du sie uns billiger gibst.“, sagte Justin. „Keine Ursache.“ Ursprünglich hatte Erik vorgehabt, ihm die Karte zu schenken. Schließlich wusste er, dass Justin nicht viel Geld hatte und sein Erspartes für die ganzen Fahrten auf dem Jahrmarkt ausgegeben hatte. Aber er wollte Justin nicht das Gefühl geben, dass er auf ihn herabsah. Für ihn war es nicht leicht zu entscheiden, wie man sich anderen gegenüber verhielt, die weniger Geld hatten. Er wollte niemanden durch unbedachtes Handeln beleidigen. Er hatte als Kind erlebt, dass Leute seine naive Spendierfreude als Angeberei fehldeuteten. Dabei hatte er denjenigen einfach nur eine Freude bereiten wollen. Er hatte nie den Wunsch gehabt, Freunde zu haben, wozu sich also welche kaufen? „Du hättest sie uns auch ganz umsonst geben können.“, nörgelte Vitali, nachdem sie sich wieder gesetzt hatten. „Du würdest dich von mir aushalten lassen, was?“ Vitali schaute ihn mit schwer unterdrücktem Grinsen an. „Wozu bin ich denn sonst mit dir befreundet?“ Erik boxte ihm spielerisch gegen die Schulter. „Man muss auch annehmen können!“, scherzte Vitali nun breit grinsend. „Bei dir ist das nicht annehmen, sondern ausbeuten!“, zickte Serena von ihrem Platz aus. Vitali blieb ruhig. „Sagt die Richtige.“ Serena wurde aufbrausend. „Mir braucht niemand Geld geben!“ „Aber du beutest meine Zuneigung aus.“ Serena erstarrte. „Ich muss dich ständig retten und komme dadurch in Lebensgefahr. Wenn das mal nicht ausbeuten ist!“ Erik tippte ihm auf die Schulter. „Weißt du, was du gerade gesagt hast?“ „Hä?“ Vitali drehte sich zu Serena, aber die hatte sich verschämt abgewandt. Er sah erneut zu Erik. „Was denn?“ Erik grinste breit und musste sich vor Belustigung auf den Tisch stützen. „Du bist so ein Trottel.“ „Wieso?“ Erik lachte bloß. „Hey, wieso?“, drängte Vitali. „Wiesooooo?“   Eine Plexiglasscheibe mit Einwegspiegel gewährte vom Beobachtungsraum aus Einblicke in den Versuchsraum. An der Wand neben der Sichtscheibe befand sich eine lüftungsschachtgroße Öffnung. Grauen-Eminenz hatte sie der Größe des Allptraum-Behälters angepasst. Den der Lieferung beigelegten Informationen hatte er entnommen, dass man über ein Eingabesystem die gewünschte Anzahl der Allpträume wählen konnte, die freigelassen werden sollte. Eine weitere Notiz hatte ihn darüber aufgeklärt, an welcher Seite der Allptraum ‚ausgespuckt‘ würde. Entsprechende Stelle hatte er so platziert, dass der Allptraum in den Versuchsraum befördert werden würde. Der Versuchsraum selbst war entlang der Wände durch eine Energiebarriere abgeschirmt. Grauen-Eminenz hoffte, dass das einen etwaigen Fluchtversuch des Allptraums vereiteln würde. Durch eine in die Wand integrierte Schleuse war der Versuchsraum mit einem Nebenraum verbunden, in dem ein Schatthen wartete. Zum richtigen Zeitpunkt hatte Grauen-Eminenz vor, die Schleuse zu öffnen und den Schatthen in den Versuchsraum zu entlassen. Die Kameras standen bereit, um den daraufhin stattfindenden Kampf der beiden Lichtlosen aufzuzeichnen. Ob auf einem Video jedoch überhaupt etwas zu sehen sein würde, war noch ungeklärt. Nur weil seine Vorgesetzten die wahnwitzige Behauptung aufgestellt hatten, ausgerechnet sein Schatthenreich besäße die nötige Frequenz, auf der Allpträume sichtbar wurden, hieß das noch lange nicht, dass er ihnen das einfach abkaufte. In den Infos war immer nur davon die Rede gewesen, dass Allpträume in Traumwelten agierten. Aber Probieren ging ja bekanntlich über Studieren. Grauen-Eminenz bediente die Automatik des schwarzen Behälters und stellte die Anzeige auf Eins ein. Er sah auf, hinein in den leeren Raum jenseits der Glasscheibe, und wartete das Ergebnis ab. Nichts. Entweder war der Allptraum weiterhin unsichtbar oder es war keiner in dem Raum. Grauen-Eminenz berührte die Scheibe und schaltete dadurch die Energieanzeige ein. Sollte sich etwas Energiereiches in dem Raum befinden, sollte es dadurch sichtbar werden. Der Raum war leer. Plötzlich machte die Box neben ihm ein seltsames Geräusch, das ihn unwillkürlich an die Geisterfallen der Ghostbusters erinnerte. Im gleichen Moment loderte eine Energie in Rot und Gelb auf der Scheibe vor ihm auf. Augenblicklich tippte Grauen-Eminenz die Scheibe nochmals an, um wieder auf normale Sicht umzustellen. Und tatsächlich! Dort war eine Kreatur zu sehen. Sie war klein mit grüner Haut und stachelbesetzten Fledermausflügeln und erinnerte ihn an einen koboldhaften Wasserspeier. Die Augen waren groß, leuchtend, überragt von zwei Augenwülsten, die aussahen wie boshaft zusammengezogene Augenbrauen. Das breite Maul nahm das gesamte Gesicht ein und war zu einem diabolischen Grinsen verzogen, das scharfe Eckzähne entblößte. Der Gesichtsausdruck wirkte, als befinde sich die Kreatur kurz vor einem euphorischen Ausbruch in ekstatischen Wahnsinn. Irgendwie fühlte sich Grauen-Eminenz nun noch mehr wie ein Geisterjäger. Nur dass er derjenige war, der dieses Ding auf die Menschheit loslassen sollte, anstatt es einzufangen. Irgendwie klang diese Aufgabe weniger reizvoll. Er schüttelte den Kopf, sah auf das Schaltpult vor ihm und kontrollierte, ob die Kameras das Bild ebenso einfingen. Die Videoaufnahme bestätigte dies. Das war ein erster Erfolg. Noch einmal nahm Grauen-Eminenz den Allptraum in Augenschein, der in dem Raum herumflog, ohne dabei mit seinen Flügeln schlagen zu müssen. Dann betätigte er einen Knopf und an der gegenüberliegenden Wand öffnete sich eine Luke. Der Schatthen ließ nicht lange auf sich warten. Er stürmte in den Raum, wie auf der Suche nach etwas, das er zerstören konnte. Blutrünstig ließ er seinen gierigen Blick durch den Raum schweifen, fand aber nichts, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Schließlich verharrte er in der Mitte des Raumes. Das kleine fliegende Ding interessierte ihn nicht. Selbst einer Fliege hätte der Schatthen mehr Beachtung geschenkt. Dafür näherte sich der Allptraum dem Schatthen umso interessierter. In geeignetem Abstand umkreiste er ihn einmal, zweimal, als würde er ihn inspizieren. Plötzlich stockte er. Es sah aus, als würde er an dem Schatthen riechen, dann verzog sich sein Maul in einer belustigten Mimik, ehe sein Kopf sich ruckartig in Grauen-Eminenz‘ Richtung drehte. Das unheimliche Grinsen der Kreatur wurde noch breiter. Ihr Kopf drehte sich kurz, ihr Blick schweifte über die Umgebung, während sie die Luft einsog, als würde sie Witterung aufnehmen. Sie ließ ein schrilles Gekicher erschallen, das Grauen-Eminenz durch Mark und Bein ging. Etwas in Grauen-Eminenz verkrampfte sich. Schlagartig schoss der Allptraum auf die Scheibe zu, als wisse er genau, dass Grauen-Eminenz an dieser Stelle stand. Die Kreatur funkelte ihn mit einem irren Blick an. Einem gierigen Wahnsinn. Dann zuckte etwas durch den Körper des Lichtlosen und seine Gestalt verformte sich auf groteske Weise. Der Allptraum machte einen Satz zurück, schwoll an, als würden tausende Geschwüre seinen Körper zerfressen, wuchs zu menschlicher Größe heran, ehe der schwarze Klumpen, zu dem er verkommen war, plötzlich wieder Farbe annahm, als hätte man ein Bild wieder scharf gestellt – das Bild einer blutüberströmten Person. Der Ausdruck des leichenblassen Gesichts schwankte zwischen Orientierungslosigkeit und Ohnmacht. Die dunklen Augen rollten, als drohe die Person die Besinnung zu verlieren. Von einer Wunde an ihrem Oberkörper ausgehend färbte sich ihre Kleidung in leuchtendes Rot. Die gebrechlichen Glieder drohten unter ihr nachzugeben, dann riss sie in einem letzten Aufbäumen den Kopf wieder hoch und starrte Grauen-Eminenz direkt in die Augen. Im gleichen Moment streckte sie hilfesuchend die Hand nach ihm aus. Mehr und mehr Blut quoll aus ihrem Inneren hervor, während ihr Gesicht immer bleicher und verzerrter wurde bis sie ihr Gegenüber in purem Hass anfunkelte. Die nach ihm ausgestreckte Hand war in eine vor Pein verkrümmte Haltung übergegangen. Schließlich fielen ihre Arme herab und sie erhob ihren Kopf zum Himmel. Ihre Augen verdrehten sich nach oben, nur noch das Weiß war sichtbar. Mit einem Schrei aus Hass und Schmerz warf sie sich zu Boden, In grausiger Erregung bäumte sie sich immer wieder auf, stieß kaum noch menschliche Klagelaute aus und versuchte sich auf die Scheibe zu zu schleppen. Ihre blutverschmierte Hand klatschte auf das Glas. Dann wurde ihr Blick wieder weich, weich und verletzlich, hilflos. „Hilf mir…“ Die Gestalt riss ihren Kopf zurück, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und begann zu kreischen. Grauen-Eminenz war zurück getorkelt, sein Blick immer noch von der grässlichen Vision gebannt. Erbarmungslos drangen ihre Schreie auf ihn ein. Sie begann seinen Namen zu rufen. Seinen richtigen Namen. Schmerzverzerrt. Hassverzerrt. Hilflos. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er warf sich auf den Boden, weg von der Erscheinung. Er musste sich die Ohren zuhalten, bedeckte seine Ohrmuscheln mit beiden Händen. Seine Atmung war hysterisch, er zitterte. Er krümmte sich, griff sich verzweifelt an die Brust, hyperventilierte. Es war nur eine Illusion. Eine Illusion.   Wieder konnte Ewigkeit nicht schlafen, etwas wühlte ihr Inneres auf, als würde ein Teil von ihr Leid erfahren. Sie verließ ihren Platz neben Arianes Bett und schwebte lautlos zum Fenster. Für Momente starrte sie hinaus. Graue Wolken zogen an der hellen Mondsichel vorbei und schluckten ihr Licht. Ewigkeit teleportierte sich nach draußen, als wolle sie dem Mond zu Hilfe eilen. Hier hörte sie das Rascheln der Blätter, das der Wind erzeugte, während er durch die Bäume am Straßenrand fuhr. Der Schein, der sie umhüllte, schützte ihren Körper vor der Kälte. Mit ihrem Mund sog sie die kühle Luft in ihre Lungen. Sie war unruhig und wusste nicht, was sie tun sollte. Rastlos flog sie hin und her, durch die orangefarbenen Lichthöfe der Straßenlaternen. Ihr Kopf schien übervoll, als hätte ihr jemand zu viele Eindrücke auf einmal vermittelt. Eindrücke, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Wie sollte sie jemals wieder Schlaf finden, wenn in der Nacht noch viel mehr in ihrem Kopf vorzugehen schien als den ganzen Tag über? Als speise eine andere Quelle ihr Denken. Sie ergriff ihr Medaillon und wusste nicht weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)